Ursula blickte mit feuchten Augen auf den Stahlhelm neben sich. Eine Träne rollte ihre Wange herunter, als sie den Standesbeamten fragen hörte: „Nehmen Sie, Ursula Klausen, Andreas Hermann zu Ihrem rechtmäßig angetrauten Ehemann?“
„Ja“, antwortete sie, bemüht, ihre Stimme ruhig und fest klingen zu lassen. Sie strich eine imaginäre Strähne ihres schulterlangen, blonden Haars hinters Ohr, streckte ihre Hand aus und ließ ihre Fingerkuppen über das harte und kalte Metall des Stahlhelms gleiten.
Sie würde keine Antwort erhalten. Der Helm war stumm und ihr Verlobter weit weg an der Ostfront, außerstande, Heimaturlaub für seine eigene Hochzeit zu bekommen. Unendlich traurig stellte sie sich ihren geliebten Andreas vor, wie er in diesem Moment neben einem weißen Schleier saß, anstatt hier, neben seiner Braut. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wenn zwei verliebte Menschen heirateten, sollten sie dies auch gemeinsam tun.
Der Standesbeamte fuhr mit den Formalitäten fort und las die Einverständniserklärung des Bräutigams vor, bevor er die beiden Trauzeugen bat, die Heiratsurkunde zu unterzeichnen.
Ursula steckte den goldenen Ehering an ihren Ringfinger und flüchtete sich in Tagträume. Dies sollte der glücklichste Tag ihres Lebens werden, aber der Krieg, der Andreas von ihrer Seite gerissen und in den Schützengraben geschickt hatte, hatte alles ruiniert. Und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich unentwegt um ihren Verlobten zu sorgen.
Seufzend ließ sie ihren Blick über die fünf anwesenden Gäste schweifen, die sich in dem kargen Raum im dritten Stock des Standesamts versammelt hatten. Ihre zukünftige Schwiegermutter, eine ältere Base und ihre Mutter, würdevoll wie eine Nonne. Ihre Schwestern Anna und Lotte, die beide ein aufgesetztes Lächeln zur Schau trugen. Das Lächeln verschwand in dem Moment, als sie Ursulas Blick bemerkten. Dann sahen sie beide gleichzeitig weg.
Schlagartig kochte die Wut in ihr hoch. Es war ja nicht so, dass sie den Glauben an den Führer oder an den Krieg verloren hatte. Ganz im Gegenteil: Der Führer hatte der deutschen Bevölkerung versichert, dass die Niederlage bei Stalingrad nur ein vorläufiger Rückschlag war, und Ursula glaubte ihm. Mehr noch, sie klammerte sich mit jeder Faser ihres Seins an seine Worte. Als ob der Glaube an Hitlers Aussagen Andreas' sichere Rückkehr garantierte. Seine Rückkehr zu ihr, seiner Ehefrau.
Aber gleichzeitig krochen Zweifel in ihr Herz. Der Krieg hatte ihr die Männer genommen. Ihr Vater, ein Mann in den Vierzigern – dessen weißblonde Haarfarbe und elektrisierende blaue Augen sie geerbt hatte – war nicht hier, um sie zum Altar zu führen oder mit seinen kratzigen Lippen über ihre Wange zu streichen. Für Ursula war er immer ein Fels in der Brandung und ihr Beschützer gewesen. Es zerriss ihr das Herz, zu wissen, dass er da draußen in den Schneestürmen des harten sowjetischen Winters kämpfte, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Richard.
Richard war kaum mehr als ein Junge von sechzehn Jahren gewesen, als die Nazis ihn und seine Freunde aus der Schule geholt und in den Krieg geschickt hatten. Schuljungen, die nicht auf die Härte und die Grausamkeiten an der Front vorbereitet gewesen waren.
Sehnsucht ergriff Ursula, als sie sich an den Tag vor Richards Abreise erinnerte: Die Uniform hatte seine schlaksige Statur noch dünner aussehen lassen und das blonde Haar war zerzaust, als er den Helm aufgesetzt und mit einem schiefen Grinsen versucht hatte, seine Mutter zu beruhigen.
Mutter hatte ihre Sorgen und Ängste nicht ausgesprochen und auf ihrem Gesicht hatte derselbe ernste Ausdruck gelegen, den sie auch heute trug. Trotzdem hatte Ursula deutlich die Verzweiflung ihrer Mutter darüber gespürt, dass sie ihr Kind in den Krieg schicken musste.
„… ich erkläre Sie hiermit zu Frau Ursula Hermann.“ Die Stimme des Beamten riss sie zurück in die Gegenwart. Sie stand auf und nahm die Glückwünsche der wenigen Gäste entgegen.
Mutter umarmte sie für einen kurzen Moment und hielt sie dann auf Armeslänge von sich. „Du siehst reizend aus, mein Liebling.“
„Danke, Mutter. Anna und Lotte waren eine große Hilfe.“ Ursula winkte ihren Schwestern zu. Die ein Jahr jüngere Anna hatte Ursulas blonde Locken hochgesteckt und ihr einen leuchtend roten Lippenstift verpasst. Die Farbe betonte ihre Lippen zu zwei perfekten Bögen und kontrastierte wunderbar mit ihren leuchtend blauen Augen.
Sowohl Anna als auch Lotte hatten ihre Kleiderkarten zusammengelegt, damit Ursula ein neues Kleid und eine Handtasche für ihren großen Tag hatte kaufen können. Sie sah hinunter zu ihrem wadenlangen, dunkelblauen Rock aus schwerer Wolle und dem taillierten Jäckchen in derselben Farbe. Die einzige Reverenz an diesen besonderen Anlass war ein weißer Spitzenschal, der um ihre Schultern drapiert war. Ihre Mutter hatte sie mit dieser wertvollen Aufmerksamkeit überrascht, die sie aus einem alten Vorhang genäht hatte.
Ursula war immer stolz auf ihre Wespentaille und ihre weiblichen Hüften gewesen, aber als sie ihre Hände über den Rock gleiten ließ, spürte sie darunter nichts als Knochen. Obwohl die Regierung genügend Rationen verteilte, um jeden einigermaßen satt zu bekommen, erlaubten diese gewiss nicht, dass man Fett ansetzte.
„Alles Gute“, beglückwünschte ihre Schwiegermutter sie mit einem formellen Handschlag. Die Frau war in dieser besonderen Situation verständlicherweise um Worte verlegen. Ihr Sohn konnte bei seiner eigenen Trauung nicht anwesend sein. Genauso wenig wie ihr Ehemann, der als vermisst gemeldet war.
Die ältere Base tupfte mit einem makellos weißen Taschentuch über ihre Augen und wandte sich schnell ab. Auf diese Art und Weise zu heiraten, brachte die brutale Realität des Krieges zutage, wo doch normalerweise jede Frau – und jeder Mann – in Berlin ihr Bestes tat, diese Realität zu verdrängen.
Ursula seufzte. So sehr sie auch die Vision des Führers unterstützte, Deutschland wieder zu altbekannter Größe zu verhelfen, so hasste sie doch die Begleiterscheinungen, die damit einhergingen. Eine Hochzeit ohne Bräutigam zum Beispiel.
„Ich freue mich so für dich.“ Ihre jüngste Schwester warf sich in ihre Arme. Lotte war nicht wie andere Mädchen. Sie scherte sich nicht groß um ihr Aussehen und sogar noch weniger darum, ein gepflegtes und damenhaftes Verhalten zu bewahren. Auch zu dieser besonderen Gelegenheit umrahmten ungezähmte, flammend rote Locken ihr Gesicht. Gerade sechzehn geworden, benahm sie sich noch immer wie eine Sechsjährige. Ein Hitzkopf, der sich weigerte, gesellschaftliche Normen anzuerkennen, und der glaubte, ein Mädchen könne alles tun, was auch ein Junge tat.
„Danke, Lotte“, murmelte Ursula.
„Aber du siehst überhaupt nicht wie eine Braut aus“, sagte Lotte.
„Sag so etwas nicht, Lotte“, tadelte Mutter sie mit erhobener Augenbraue. „Ursula sieht bezaubernd aus. Man braucht kein weißes Kleid, um eine Braut zu sein. Was zählt, ist das Gefühl im Herzen.“
Lotte schmollte und öffnete ihren Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder, als ihre Mutter die zweite Augenbraue hob. Dieser Blick konnte einen Löwen im Sprung außer Gefecht setzen.
„Los, meine Damen! Wir haben eine Stunde, um zu feiern.“ Anna hakte sich bei Ursula unter. Nur ein Jahr auseinander waren beide trotz ihrer Charakterunterschiede seit ihrer Kindheit unzertrennlich.
Die drei Schwestern gingen Arm in Arm die Stufen des Verwaltungsgebäudes hinunter, die anderen Frauen folgten einige Schritte dahinter.
Lotte erhob wieder ihre Stimme. „Warum hast du nicht gewartet, bis Andreas nach Hause kommt? Sie war furchtbar seltsam, deine Hochzeit. Jetzt bist du mit einem Stahlhelm verheiratet“, sagte sie mit einem Kichern.
Anna blickte sie böse an. „Ursula hatte ihre Gründe. Falls du es nicht gemerkt hast, es herrscht Krieg.“
„Als ob das jemand nicht bemerken könnte … Dieser dumme Krieg ist der Grund allen Übels. Das heißt, eigentlich ist unser Führer der Grund allen Übels. Ohne seine Selbstüberschätzung und seine Entschlossenheit, jedes Land um uns herum zu erobern und unschuldige Menschen zu unterdrücken, müssten wir all diese Scheiße nicht durchleben“, rief Lotte und ihre Stimme wurde mit jedem Wort schriller.
„Pst“, sagten Anna und Ursula gleichzeitig und tauschten besorgte Blicke aus.
Sekunden später ertönte die Stimme ihrer Mutter hinter ihnen. „Charlotte Alexandra Klausen, muss ich dir den Mund mit Seife auswaschen?“
Lotte wie auch ihre Schwestern wussten, dass sie in Teufels Küche kamen, wenn ihre Mutter ihren vollen Namen benutzte.
„Nein, Mutter, es tut mir leid“, erwiderte sie, aber rollte abfällig mit den Augen. Als sie das Erdgeschoss erreichten, konnte Lotte ihre Neugier nicht mehr länger zurückhalten. „Also, warum die Eile? Bist du guter Hoffnung?“
„Natürlich nicht.“ Ursula sah ihre Schwester empört an. „Und was weißt du überhaupt von diesen Dingen? Du bist viel zu jung für so was.“
„Ich weiß genug. Tante Lydia ist jedes Mal in anderen Umständen, nachdem Onkel Peter auf Heimaturlaub war“, gab Lotte mit ihrem Wissen an. Sie hatte die letzten zwei Jahre bei ihrer Tante auf dem Land gelebt und zweimal miterlebt, wie diese schwanger geworden war.
Anna unterdrückte ein Grinsen und wandte sich an ihre Mutter und die beiden anderen Frauen. „Lotte und ich haben unsere Bezugsscheine gesammelt und wir laden euch alle zu Ersatzkaffee und Kuchen ein.“
Ursula drückte Annas Arm, dankbar für die Ablenkung. So sehr sie ihre jüngste Schwester liebte, ihre ungehemmte Ausdrucksweise war, gelinde gesagt, anstrengend. Lotte posaunte stets heraus, was sie dachte, und bedachte weder die Konsequenzen noch die Gefühle anderer.
Es war ja nicht so, dass sich Ursula diese Frage nicht schon selbst mehrmals gestellt hätte. Der Grund, warum sie mit der Hochzeit so gedrängelt hatte, war, weil sie sichergehen wollte, dass keiner von ihnen starb, bevor sie verheiratet waren. Es klang morbid, aber es war die Wahrheit. In dieser furchtbaren Zeit lungerte der Tod an jeder Ecke und niemand konnte sich sicher sein, den nächsten Tag noch zu erleben. Sie wollte – nein, sie musste mit Andreas den Bund der Ehe schließen. Jetzt konnte nicht einmal der Tod ihre Liebe zerstören.
Frau Ursula Hermann.
Ihr neuer Name rief ein kleines Lächeln hervor. Zwar war Andreas nicht bei ihr, aber wenigstens sein Name war es. Er vertiefte ihre Verbindung und zeigte jedem, dass sie ihm gehörte. Sie würde eine respektable Soldatenfrau abgeben. Mit zweiundzwanzig Jahren war es sowieso höchste Zeit für sie, wenn sie nicht als alte Jungfer enden wollte. Natürlich hatte ihre Hochzeit noch einige praktische Aspekte. Es war Andreas' Vorschlag gewesen und zuerst hatte sie sich dagegengestellt. Er hatte sichergehen wollen, dass sie versorgt war, falls das Schlimmste eintreten sollte. Im Falle seines Ablebens wäre sie abgesichert und würde eine Witwenrente bekommen.
Eine Sehnsucht zerrte an ihrem Herz, als ihre Gedanken zum geheimen Grund ihrer Hochzeit wanderten. Sie wollte vorbereitet sein, wenn Andreas auf Heimaturlaub war. Mutter würde ihrer unverheirateten Tochter niemals erlauben, Zeit allein mit einem Mann zu verbringen. Aber nun konnte sie Ursulas Ehemann nicht mehr das Recht verwehren, das Bett mit seiner Frau zu teilen.
Ihre Wangen erröteten und sie hoffte, dass keiner ihre Gedanken lesen konnte. Ein Kind. Das war es, was sie wollte. Es würde ihr einen Grund geben, ihre fürchterliche Arbeitsstelle zu kündigen.
„Was möchtest du?“ Annas Stimme durchbrach ihre romantischen Träumereien.
„Ich?“ Ursula sah verwirrt auf. In Gedanken ganz woanders hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie eine Bäckerei betreten hatten und sie nun vor der Auslage stand und die süßen Delikatessen anstarrte. Verglichen mit der Zeit vor dem Krieg war es ein ärmliches Angebot, aber dennoch machte ihr Herz einen Sprung bei dem Anblick der zuckrigen Süßspeisen.
„Hmm.“ Sie sog den Duft der Gebäcke ein, ihre Augen sprangen von einem Stück zum nächsten. Andreas liebte Sahnetorte. Ursula leckte sich über ihre Lippen und erinnerte sich an die Zeit, kurz bevor er eingezogen worden war. Er hatte seine Finger in Schlagsahne eingetaucht und sie auf ihrer Nase verteilt. Dann hatte er sie wieder sauber geküsst.
Aber es gab keine Sahnetorte in der Auslage.
„Ich nehme den Pfannkuchen“, sagte sie und setzte sich an einen der Tische, während sich Anna um alles kümmerte. Einige Minuten später brachten Anna und die Bäckersfrau sechs Tassen dampfenden Ersatzkaffee und sechs Teller mit süßen Stückchen.
Ursula biss in ihr golden gebratenes Röllchen, bedeckt mit einem Hauch Puderzucker und gefüllt mit köstlicher Erdbeermarmelade.
Nach einigen Minuten sorgloser Plauderei warf Ursula einen Blick auf die Uhr an der Wand. „Es tut mir leid, aber ich muss zur Arbeit.“ Sowohl sie als auch Anna hatten für ihre Hochzeit nur einen halben Tag freibekommen.
„Ich auch. Gehen wir doch zusammen zur Elektrischen“, sagte Anna und drückte ihre Mutter, bevor sie sich von Andreas‘ Mutter und der älteren Base verabschiedete.
„Bis heute Abend, Mutter.“ Ursula lehnte sich vor und ihre Mutter presste, sehr zu ihrer Überraschung, ihre Hände fest zusammen.
„Es tut mir leid, mein Schatz. Wenn der Krieg vorbei ist, bekommst du eine richtige Hochzeit. Mit Kirche, Bräutigam, Brautkleid und allem“, sagte Mutter mit einem leichten Zittern in der Stimme. Es war einer der seltenen Momente, in denen sie Gefühle zeigte, und es erfüllte Ursulas Herz mit – ja, mit was? Trost? Verzweiflung?
„Bist du glücklich?“, fragte Anna, als sie sich bei ihr unterhakte und beide die Bäckerei auf dem Weg zur Elektrischen verließen.
„Das bin ich. In gewisser Weise. Aber wer kann wirklich glücklich sein, solange dieser Krieg wütet?“
Anna nickte und seufzte. „Alles wird besser werden. Eines Tages. Wir haben uns. Und unsere Arbeit, die uns davon abhält, zu viel nachzudenken.“
„Wenigstens magst du deine Arbeit. Aber mein menschenverachtender Posten als Gefängniswärterin? Ich wünschte, ich könnte kündigen.“
„Du kannst kündigen und die Behörden nach einer anderen Aufgabe fragen“, schlug Anna vor.
„Wenn der Führer glaubt, dass ich meinem Land mit dieser Arbeit am besten diene, wer bin ich, das anzuzweifeln?“
Anna rollte mit den Augen. Sie hatten diese Diskussion bereits unzählige Male geführt. Anna selbst hatte mit aller Macht dafür gekämpft, zur Universität gehen zu dürfen, um Humanbiologie zu studieren. Ein Wissenschaftler zu werden, das war unerhört für ein Mädchen. Unangemessen, hatte Mutter gesagt. Du wirst nie einen Ehemann finden, hatte sie hinzugefügt. Und Vater hatte genickt.
Ursula kicherte, als sie sich daran erinnerte. Schließlich hatte Anna eingelenkt und eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Mutter und Vater waren ob dem Sinneswandel ihrer Tochter erleichtert gewesen. Nur Ursula wusste, dass die Ausbildung zur Krankenschwester ein Teil des größeren Plans ihrer Schwester war, finanziell unabhängig zu werden und sich nach dem Krieg ohne das Einverständnis ihrer Eltern in eine Universität einschreiben zu können.
Im Gegensatz zu Anna kämpfte Ursula nie. Sie war stolz darauf, ihr Schicksal mit Würde zu akzeptieren. Sie tat, was man von ihr erwartete. Wie jede gute Tochter und Frau gehorchte sie ihren Eltern und der Regierung. Bald würde sie ihrem Ehemann gehorchen. So war das Leben eben.
Die Behörden hatten entschieden, dass ihre Rolle im Einsatz für das Vaterland die der Gefängniswärterin war. Ob sie es mochte oder nicht, war unwichtig. Man musste nun einmal Opfer für das Wohl der Volksgemeinschaft erbringen. Und so sehr ihr Magen sich jedes Mal zusammenzog, wenn sie diesen schrecklichen Ort betrat, sie würde es mit Fassung ertragen.
Bis sie guter Hoffnung war. Dann hätte sie einen triftigen Grund, um zu kündigen. Dann würde sie eine stolze und glückliche Mutter werden.
„Bis heute Abend.“ Ursula küsste ihre Schwester auf die Wange, als jede von ihnen eine Elektrische in die entgegengesetzte Richtung nahm.
Sie lehnte ihren Kopf gegen das Fenster und blickte nach draußen. Auf dem Weg zum Gefängnis fuhr sie an Geröllhaufen und Bildern der Zerstörung vorbei. Dem Schrecken des Krieges konnte man nicht entfliehen. Niemals. Nirgendwo.
Aber andererseits hatte das Nazi-Regime so viel Gutes für Deutschland und die Deutschen getan, da war der Krieg ein kleines Opfer auf dem Weg zu neuer Größe.
In ihrer Kindheit, bevor es den Führer gegeben hatte, waren die Straßen Berlins in stetes Grau getaucht gewesen, die Menschen verschwammen mit den Gebäuden. Geld wurde zu nichts weiterem als einem Gerücht und Gesichter zeugten von schrecklicher Sorge.
Die Zeit verging und der Führer erlöste Deutschland aus seiner Verzweiflung. Die Straßen erwachten zum Leben, als ob eine plötzliche Explosion aus Farben die Welt in Rosatönen bemalt hätte. Natürlich ging dieser Wohlstand nicht ohne Opfer einher. Aber in seinen Reden betonte Goebbels stets, dass dies alles nur vorübergehend war. Großes erwartete diejenigen, die würdig waren.
Ursula wollte sich als würdig erweisen.