Cover.jpg

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1 | Auf den Schwingen des Adlers

Kapitel 2 | Ein Funkel Hoffnung

Kapitel 3 | Ich war noch niemals in Berlin Berlin

Kapitel 4 | Abenteuer in Istanbul

Kapitel 5 | Kick and Russ

Kapitel 6 | Gehe in Friedhelm

Kapitel 7 | Caio ist kein Weihnachtsmann

Kapitel 8 | Abstieg des Randalemeisters

Kapitel 9 | Entschuldigen Sie bitte, ist das der Sondermüll aus Wolfsburg?

Kapitel 10 | Eintracht Frankfurt international!

Kapitel 11 | Vehnstaub in Europa

Kapitel 12 | Vollexperten und Verkehrssünder

Kapitel 13 | Auf jetzt!

Kapitel 14 | Sie haben Krebs

Kapitel 15 | Bruda, schlag den Ball lang!

Kapitel 16 | United Colors of Frankfurt

Kapitel 17 | Einmal Eintracht, immer Eintracht

Epilog

Flieg, junger Adler! Artig blickt die Nachwuchshoffnung der Frankfurter U 19 in die Kamera. Marco Russ aus Hanau gilt im Sommer 2003 als umsichtiger Abwehrmann und kluger Ballverteiler, so richtig hat ihn die große Fußballwelt aber noch nicht auf dem Zettel. Das soll sich bald ändern. © IMAGO / Alfred Harder

Der Abstieg der Eintracht 2004 in die 2. Bundesliga ist für Russ (vierter von links) die große Chance zur Bewährung. Ein Jahr später darf er bereits mit seinem Herzensverein den Wiederaufstieg feiern. Mit ihm jubeln von links nach rechts: Daniyel Cimen, Aleksandar Vasoski, Alexander Huber und Chris. © IMAGO / Alfred Harder

Berlin, Berlin, wir verlieren in Berlin: Sensationell schafft es Aufsteiger Frankfurt 2006 ins DFB-Pokalfinale und trifft dort auf den großen FC Bayern. Lange ist die SGE gegen das Starensemble um Roy Makaay (links) ebenbürtig, dann trifft Claudio Pizarro zum Tor des Tages. © IMAGO / ActionPictures

Der Förderer: Trainer Friedhelm Funkel (ganz links) beglückwünscht seinen Schützling Marco Russ (ganz rechts) zum späten Ausgleichstreffer gegen Arminia Bielefeld. Neben Funkel Torwart Markus Pröll und Kapitän Christoph Spycher. 2007 / 08 beendet die Eintracht auf einem sicheren Mittelfeldplatz. © IMAGO / Team 2

Leidenschaft für Budenzauber: Als begeisterter Hallenfußballer freut sich Russ natürlich besonders über einen Sieg wie dem beim Hallencup 2009 in Halle/Westfalen. Was wohl aus dem hübschen Präsent geworden ist, dass Russ dort in der Hand hält? © IMAGO / pmk

Russ an der Seite seiner langjährigen Partnerin Janina, mit der er zwei Kinder hat. Trotz der Trennung stand sie ihm später in den schweren Monaten der Krebserkrankung zur Seite. Motto der beiden während dieser Leidenszeit: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. © IMAGO / Hartenfelser

Drei Verteidigertypen unter sich: Während sich Russ um Wolfsburgs Arne Friedrich kümmert, sucht Maik Franz (rechts) noch nach Unterstützung. „Bad Boy“ Franz erlebte Russ als Abwehrkollegen knallhart und abseits des Rasens handzahm. © IMAGO / Sven Simon

Auf den ersten Blick ein Foto aus guten Tagen, doch in den zwei Jahren beim VfL Wolfsburg wird Marco Russ nicht glücklich. Trainer-Manager Felix Magath hatte sich zunächst um seine Verpflichtung bemüht, dann aber aussortiert. Für Russ die sportlich schwierigste Phase seiner Karriere. © IMAGO / Jan Huebner

Alte Liebe, neues Glück: Armin Veh holt Russ zurück nach Frankfurt und der wächst in den Folgejahren immer mehr zu einer der wichtigsten Stützen innerhalb der Mannschaft heran. © IMAGO / Uwe Kraft

Eintracht Frankfurt spielt international! 2013 / 14 übersteht die Eintracht sensationell die Gruppenphase der Europa League und trifft in der anschließenden ersten K.o.-Runde auf den großen FC Porto. Nach zwei fantastischen Spielen (2:2 und 3:3) scheidet die Eintracht nur aufgrund der Auswärtstordifferenz aus. IMAGO / Jan Huebner

Torjubel auf ganz großer Bühne. Beim 2:2 im Hinspiel hatte Russ noch den späten Ausgleichstreffer erzielt. Unser Foto zeigt ihn beim Jubel an der Seite von Stürmer Joselu, dem kurz zuvor das 1:2-Anschlusstor gelungen war. © Wilfried Witters

Im Frühjahr 2016 überschlagen sich die Ereignisse im Leben des Fußballers. Nach einer dramatischen Aufholjagd verhindert die Eintracht gerade noch so den direkten Abstieg, muss nach einer Niederlage am letzten Spieltag gegen Werder Bremen (im Bild Werder-Stürmer Anthony Ujah) aber in die Relegation. Dort wartet der 1. FC Nürnberg. © IMAGO / Claus Bergmann

24 Stunden vor dem Hinspiel gegen Nürnberg stellt sich heraus, dass Marco Russ an Hodenkrebs erkrankt ist. Trotzdem führt er seine Mannschaft aufs Feld und wird dafür von den Zuschauern gefeiert. © IMAGO / Jan Huebner

Durch ein Eigentor von Russ endet die Partie mit 1:1. Nach dem Schlusspfiff verabschiedete sich der Kapitän gemeinsam mit seinen Kindern Vida (auf dem Arm) und Moses (an der Hand) von den Fans. Keiner weiß, ob und wann er wieder zurückkehren wird. Der Termin für die OP steht bereits fest: Es ist der Tag des Relegationsrückspiels. © IMAGO / Schüler

Vor dem zweiten Match gegen Nürnberg spielen sich bewegende Szenen ab. Eine davon zeigt dieses Foto: In Solidarität mit ihrem erkrankten Kollegen laufen die Spieler von Eintracht Frankfurt im Trikot mit der Nummer 4 auf. © IMAGO / Jan Huebner

Eine OP, zwei Chemotherapien und Wochen der Regeneration später zeigt sich Russ am Rande der Saisoneröffnung 2016 / 17 erstmals wieder in der Öffentlichkeit. Dass er so offensiv mit seiner Krankheit umgeht, bringt ihm viele Bewunderer und Unterstützer ein. Ex-Trainer Friedhelm Funkel: „Marco ist ein echtes Vorbild.“ © IMAGO / Jan Huebner

I’ll be back: Zwar ist Russ im Oktober 2016 noch weit davon entfernt, wieder selbst auf dem Platz zu stehen, aber die Haare wachsen wieder und die Kollegen aus der Bundesliga können ihm zeigen, wie sehr sie ihm die Daumen gedrückt haben. Wie in diesem Falle die Bayernspieler Mats Hummels (links) und Rafinha. Beide hatten Russ kurz nach Bekanntgabe seiner Erkrankung private Nachrichten geschrieben. © IMAGO / Revierfoto

28. Februar 2017: Das vielleicht schönste Comeback in der Geschichte von Eintracht Frankfurt. Im Viertelfinale des DFB-Pokals wird Russ kurz vor dem Abpfiff eingewechselt. Und ist tatsächlich wieder zurück auf dem Platz. Den Zweikampf gegen den Krebs hat er gewonnen. © IMAGO / Nordphoto

Wie emotional diese Rückkehr auch für seine Familie ist, zeigt dieses Bild. Nach dem Schlusspfiff wird er von Ex-Frau Janina und Töchterchen Vida in Empfang genommen. Sohn Moses muss mit Grippe von zu Hause zuschauen. © IMAGO / Revierfoto

Oh, wie ist das schön: 2018 gewinnt Eintracht Frankfurt sensationell gegen den DFB-Pokal gegen die übermächtigen Bayern und reißt nach dem Spiel das Olympiastadion ab. Für Marco Russ (Mitte) ist es der größte sportliche Triumph seiner Laufbahn. Mit ihm reißen ab von links nach rechts: Kevin-Prince Boateng, Danny Blum und Alex Meier. © IMAGO / Jan Huebner

Da ist das Ding: Während Russ den Pokal nach allen Regeln der Kunst liebkost, hält Kollege Aymen Barkok die Szene für die Nachwelt fest. © IMAGO / Jan Huebner

Ein Bild mit Symbolcharakter: Vor allem der überragenden Zusammenarbeit innerhalb der Mannschaft macht aus Eintracht Frankfurt einen verdienten DFB-Pokalsieger 2018. Einer der Fixpunkte in diesem Gefüge: der schreiende Herr in der Mitte. © IMAGO / photoarena / Eisenhuth

Man sieht es Marco Russ, Marius Wolf und Kevin-Prince Boateng (von links nach rechts) vielleicht nicht an, aber alle drei müssen in diesem Moment wahnsinnig dringend pinkeln. Erleichterung verschafft dann erst Frankfurts Oberbürgermeister. © IMAGO / Jan Huebner

So nah liegen Freud und Leid beieinander: 13 Monate nach dem Triumph von Berlin reißt sich Russ in einem Spiel gegen den FC Vaduz die Achillessehne. Was viele da befürchten, aber er zunächst nicht wahrhaben will: Es ist das Ende seiner Fußballer-Laufbahn. © IMAGO / Revierfoto

Frankfurter Schule: Kurz nach der schlimmen Verletzung senden seine Kollegen, hier vertreten von Kumpel Timothy Chandler, einen Gruß vom Rasen. © IMAGO / Revierfoto

Trotz OP, trotz Reha – im Sommer 2020 entscheidet sich Russ dafür, seine Karriere als aktiver Spieler zu beenden. Für den letzten Spieltag wird er noch einmal in den Kader berufen und kann sich auf dem Platz von seinen Kollegen verabschieden. © IMAGO / Poolfoto

Gutes Auge: Seit der Saison 2020 / 21 arbeitet Russ als Analyst bei der Eintracht. Seine Aufgabe: Stärken und Schwächen des kommenden Gegners herausarbeiten. Kurz vor dem letzten Gespräch für dieses Buch verlor die Eintracht mit 2:5 gegen Borussia Dortmund. Über den alles überragenden Mann an diesem Tag, Erling Haaland, sagt der frühere Verteidiger Russ: „Wenn er sich nicht verletzt, dann ist Haaland in den kommenden Jahren der beste Stürmer der Welt.“ © IMAGO / Kessler-Sportfotografie

VORWORT

Ein guter Trainer vergisst nie, dass er auch mal jung war und Mist gebaut hat. Als Greenhorn tritt man nicht nur einmal ins Fettnäpfchen und genau das habe ich als junges Talent bei Bayer Uerdingen auch getan. Glück für mich, dass ich mit dem leider schon verstorbenen Klaus Quinkert einen Trainer hatte, der mich für meine Fehler zwar bestrafte, mir aber jedes Mal die Chance gab, aus diesen Fehlern zu lernen und dadurch ein besserer Profi zu werden.

Viele Jahre später trainierte ich die Frankfurter Eintracht. Keine ganz leichte Aufgabe, weil der Klub gerade abgestiegen war und erst in allerletzter Sekunde die Lizenz für die Zweite Bundesliga bekommen hatte – sonst wäre dieser große Verein sogar in die Drittklassigkeit gerutscht. Gemeinsam mit Heribert Bruchhagen war es meine Aufgabe, die Eintracht wieder dahin zu führen, wo sie hingehörte: in die Erste Bundesliga. Allerdings standen uns dafür nur sehr bescheidene finanzielle Mittel zur Verfügung. Und wie das im Spitzenfußball nun mal so ist: Wenn kein Geld vorhanden ist, schlägt die Stunde der Eigengewächse. Für unsere Talente aus dem Nachwuchsbereich wie Patrick Ochs, Benni Köhler oder eben Marco Russ war die schwierige Situation der Eintracht das große Glück und eine Chance, sich zu beweisen. Marco war mir von Beginn an aufgefallen. Ein technisch versierter Verteidiger mit sehr gutem Stellungsspiel, der das Geschehen gut antizipieren konnte. Auch war er groß und kopfballstark, nur an seiner Robustheit musste er noch arbeiten, was bei einem so jungen Kerl ja ganz normal war. Gleichzeitig schätzte ich seine offene, kommunikative Art, die dazu beitrug, dass er sehr schnell von der Mannschaft und vom Trainerteam akzeptiert wurde. Vom ersten Tag an war mir klar, dass sein Weg in die Erste Liga führen würde.

Aber auch ins nächste Fettnäpfchen. Und das passierte, als er sich eines Tages mitten im Winter krank meldete und wir durch Zufall herausfanden, dass er stattdessen mit seiner Freundin shoppen gegangen war. Umgehend beorderte ich ihn zu mir, ließ mir die Situation erklären und als mir klar wurde, dass er einfach nur eine Dummheit begangen hatte, beließ ich es bei einer Ermahnung und schickte ihn für ein paar Monate zurück in die zweite Mannschaft. Ich würde wieder auf ihn zählen, wenn er mir dort beweisen könne, dass es ihm ernst mit der Eintracht sei. In den kommenden Wochen schaute ich regelmäßig bei der U23 vorbei und sah einen Marco Russ, der sich mit vollem Einsatz in die Zweikämpfe warf und sich auch sonst tadellos verhielt. Spätestens da war mir klar: aus dem Jungen wird mal ein richtig guter Bundesligaspieler.

Und genauso ist es gekommen. Nicht nur das: In Frankfurt ist Marco erst zu einem unverzichtbaren Stammspieler und später zu einer absoluten Führungskraft gereift, an dem sich die Kollegen orientieren konnten und mit dem sich die Fans – zurecht – identifizierten. Dass einer so lange ein und demselben Verein treu bleibt, ist in der heutigen Zeit natürlich nur noch sehr selten. Umso beeindruckender, dass Marco – mit Ausnahme der schwierigen Zeit in Wolfsburg – in all den Jahren nur für einen Klub gespielt hat und dort heute als Vereinslegende gefeiert wird.

Dass er auch außerhalb von Frankfurt großen Respekt unter Fans und Fußballern genießt, hat sicherlich auch damit zu tun, wie er mit dem großen Schicksalsschlag in seinem Leben umgegangen ist. Vielleicht ist das sein bester Zweikampf gewesen: die Art und Weise, wie er seine Krebsdiagnose angenommen und wie er die Krankheit schließlich erfolgreich bekämpft hat. Ich war tief betroffen, als ich von seiner Erkrankung hörte und konnte es nicht glauben, dass er seine Mannschaft noch am Tag der Diagnose in der Relegation aufs Feld führte. Ich habe ihm damals eine SMS geschickt und alles Gute gewünscht. Gottseidank ist das dann auch so gekommen. Ich finde es besonders beeindruckend, wie offen er mit seiner Krankheit umgegangen ist. Das passiert im Fußball viel zu selten. Und gerade deshalb ist Marco zu einem Vorbild geworden – nicht nur als Spieler auf dem Rasen, sondern als Mensch abseits des Rampenlichts.

Längst ist die Frankfurter Eintracht ohne Marco Russ nicht mehr vorstellbar. Die Verantwortlichen haben gut daran getan, ihn auch nach dem Karriereende in anderer Funktion weiter zu beschäftigen. Der Fußball und die Eintracht sind seine große Liebe und wenn einer Herzblut für den Verein vergießt, dann ist das ein Gewinn für alle Beteiligten.

Ich wünsche Marco für die Zukunft, dass er gesund bleibt und mit diesem Buch nicht nur aus dem Innenleben eines Fußballprofis berichtet, sondern den Menschen auch Mut macht, auf sich aufzupassen und sich von den Niederlagen des Lebens nicht umwerfen zu lassen. Das nächste Spiel ist bekanntlich immer das Wichtigste.

Friedhelm Funkel

PROLOG

Der 28. Februar 2017. 285 Tage nach der Diagnose.

90. Minute im Viertelfinale des DFB-Pokals. Gegen Arminia Bielefeld führen wir mit 1:0. 39.000 Fans sind im Stadion und schreien meinen Namen. RUSS! RUSS! RUSS! Wie sehr habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt.

285 Tage. Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Und wie sie manchmal tatsächlich alle Wunden wieder heil werden lässt.

Ich schaue mich um. Versuche zu verstehen, was hier gerade abgeht. RUSS! RUSS! RUSS! Die vielen tausend Stimmen fühlen sich an wie die feste Umarmung der Kurve. Sie sagt mir, dass ich noch am Leben bin.

Auf meiner Brust, direkt über meinem Herzen, spüre ich den Adler, der auf unser Trikot gestickt ist. Er war schon Zeuge so vieler Abenteuer und Dramen. Das Leder meiner Schuhe schmiegt sich eng an meine Füße. Die Stollen versinken in dem Quadratmeter Rasen, der heute meine Eingangspforte ist. Dorthin, wo ich hingehöre. Und wo ich so lange nicht sein durfte.

Mein Name hallt noch immer durch das Stadion. Früher, auf dem Bolzplatz, habe ich nach Toren immer die Augen geschlossen und flog im Geiste auf die Kurve zu. Ich stellte mir vor, wie um mich herum Menschen in Schwarz und Weiß und Rot vor Freude explodieren, wie sie ihre Fäuste ballen und sich mein Jubel mit dem ihren vermengt. In Gedanken bin ich gerade wieder dort. Ganz am Anfang, als es nur mich gab und den Ball.

Ich öffne die Augen, stehe am Spielfeldrand und warte auf meine Einwechslung. Auf mein Comeback, das eigentlich gar nicht mehr möglich schien. Der Ball will einfach nicht ins Aus. Wie lange stehe ich schon hier? 20 Sekunden? Fünf Minuten? Ich rieche den Rasen. Viele große Schlachten wurden hier schon geschlagen. Oft genug war ich mit dabei. Dieser Rasen hat den Schweiß des Triumphes und die Tränen der Enttäuschung aufgesaugt. Gewinnen und verlieren. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich so viele Menschen in den Fußball verlieben. Weil nirgendwo schöner gewonnen und nirgendwo trauriger verloren wird. Weil sich nirgendwo das Leben so verdichtet wie auf dem Fußballplatz.

Sieg oder Niederlage. Was bedeutet das schon, wenn du am Leben bist? Wenn du am Leben sein darfst?

Mein Herz schlägt immer schneller. Ich spüre die Kraft und Energie. Für ein paar Minuten wird sie bestimmt reichen. Aber auch für die Verlängerung eines Pokal-Viertelfinales? Die vielen tausend Stimmen lassen die Zweifel verfliegen. Eigentlich war meine Einwechslung heute noch gar nicht geplant. Jemanden, der 285 Tage kein Spiel machen konnte, schickt man nicht beim Stand von 0:1 in der 90. Minute auf den Rasen. Doch der Trainer hat anders entschieden. Er glaubt an mich. Glaubt, dass ich genau der richtige Mann dafür bin, den letzten gefährlichen Ball aus dem Strafraum zu schlagen und den Sieg zu sichern. Was fühlt sich eigentlich besser an: die Willkommensschreie der Fans oder das Vertrauen meines Trainers? Ich bin nicht einfach noch am Leben. Ich bin wieder da!

Unzählige Gedanken jagen mir durch den Kopf. Bratwurst und Pokale beim VfB Großauheim. Fußball 2000 im heimischen Wohnzimmer. Das erste Spiel für Eintracht Frankfurt. Abstiege, Aufstiege. Klassenerhalt und Europapokal. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! 12 000 Frankfurter in Bordeaux. 2:2 in Porto. Die Diagnose. Das Eigentor gegen Nürnberg. Mit Moses und Vida auf dem Rasen. Siege. Niederlagen. Leben. Mein Leben.

In diesem Moment wird das Spiel unterbrochen. Von der Anzeigetafel leuchtet mein Name. RUSS! RUSS! RUSS! Dieser eine Moment für die Ewigkeit. Auf jetzt!

Kapitel 1

AUF DEN SCHWINGEN DES ADLERS

Mein erstes Stadion hieß Marina. Statt auf Rasen spielten wir auf Asche, unsere Fans waren die Kinder auf den Rutschen, Schaukeln und Wippen am Seitenrand. Das Estadio Marina war ein kleiner Bolzplatz in der Großauheimer Marienstraße – daher der Name. Großauheim ist ein Stadtteil von Hanau, hier bin ich 1985 zur Welt gekommen. Wer in Hanau aufwächst und sich in den Fußball verliebt, der kommt an Eintracht Frankfurt nicht vorbei. Bei mir und meinen Kumpels war es genauso. Wenn wir uns nach der Schule auf dem Marina trafen, wurden wir zu den Helden aus dem Waldstadion. Anfang der 90er hatte die Eintracht eine große Mannschaft zusammen, die fantastischen Fußball spielte. Uli Stein, Uwe Bindewald, Uwe Bein, Andy Möller, Tony Yeboah, später Jay-Jay Okocha – für uns Jungs auf dem Bolzplatz waren sie ferne Idole. Wie von einem anderen Stern schien auch ihr Stil zu sein. „Fußball 2000“ nannte man das damals, und im Waldstadion schmeckte es an den Spieltagen tatsächlich nach Aufbruchstimmung, Zukunft und einem neuen Jahrtausend.

Fußball spielte in meiner Familie nicht nur einfach eine wichtige Rolle, Fußball war unser Leben. Mein Vater arbeitete als Trainer beim VfB 06 Großauheim und war ständig auf dem Vereinsgelände, meine Mutter verbrachte ihre Wochenenden ebenfalls auf dem Sportplatz. Klar, dass mein jüngerer Bruder Nico und ich bald zum Klubinventar gehörten, wenn wir nicht gerade den Bolzplatz aufmischten oder in unserem Hof dem Ball nachjagten. Die Spiele der ersten und zweiten Mannschaft waren für uns Pflichtprogramm, und wenn die Alten anschließend um den Grill standen, spielten wir so lange weiter, bis die Sonne unterging. Alles drehte sich bei uns um Fußball. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mit meinen Eltern mal in einen Freizeitpark gefahren wären. Schade eigentlich, wenn ich daran denke, wie viel Spaß meine eigenen Kinder hatten, als wir vor ein paar Jahren Disneyland besuchten.

Meine Mutter war sehr streng und autoritär, manchmal geradezu kalt und gefühllos. Mein Vater war eher der Spaßvogel der Familie. Wenn wir Kinder mal Scheiße bauten, konnte er uns nie lange böse sein. Aber wirklich liebevoll bin ich nicht erzogen worden. Das wirkt bis heute nach. Es fällt mir sehr schwer, meine Gefühle zu zeigen. Oft wirke ich auf andere wie ein Eisklotz. Ich kann nicht weinen. Nur einmal habe ich richtig geheult: bei meinem ersten Liebeskummer. Aber selbst als später meine Kinder geboren wurden, blieben meine Augen trocken. Meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, habe ich nie gelernt. Vielleicht ändert sich das ja mal irgendwann. Ich würde es mir wünschen.

Mein Talent auf dem Rasen, der für unsere Familie die Welt bedeutete, war recht früh erkennbar. Sehr zur Freude meines Trainers – meines Vaters. Wir hatten einen richtig guten Jahrgang. Jedes Jahr durften wir Kreismeisterschaften und Kreispokalsiege bejubeln, mehr als 100 Tore pro Saison waren für uns keine Seltenheit. Selbst der Nachwuchs von Eintracht Frankfurt hatte gegen uns keine Chance. Wenn wir bei Turnieren aufeinandertrafen, hieß der Sieger meistens VfB 06. Worüber sich dann auch Eintracht-Legende Jan Furtok freute: Sein Sohn kickte bei uns in der Mannschaft.

Für meinen Bruder war das damals keine einfache Zeit. In der Fußballerfamilie Russ stand ich als talentierter Kicker im Mittelpunkt und Nico in meinem Schatten, darunter hat er sehr gelitten. Zumal recht früh die große SGE ihre Fühler nach mir ausstreckte. Schon in der F-Jugend nahm der Klub Kontakt zu meinen Eltern auf, doch zunächst blieb ich in Großauheim. Meine Eltern träumten weiter von einer Bundesligakarriere ihres Sohnes. Der Marco bei der Eintracht, das war das Ziel. Natürlich war das auch meine Wunschvorstellung, aber ehrlich gesagt beschäftigte ich mich als kleiner Junge nicht mit dem, was morgen oder in ein paar Jahren passierte. Ich wollte Fußball spielen, Tore schießen, Medaillen gewinnen und am Wochenende die tödlichen Pässe von Uwe Bein bewundern.

Zwei Jahre später war es dann so weit. Ich spielte inzwischen in der D-Jugend Bezirksauswahl und damit regelmäßig gegen den Nachwuchs der Eintracht. Nach einem Turnier kam einer der Frankfurter Betreuer auf mich zu und fragte, ob ich nicht mal Lust hätte, zum Probetraining vorbeizukommen. Als ich die Sache mit meinen Eltern besprach, kamen wir zu dem Ergebnis, es doch einfach mal zu versuchen. Bald darauf durfte ich beim „Adler-Tag“ zeigen, was ich alles so in Großauheim gelernt hatte, und, siehe da, nach einer ganzen Reihe von Übungen wollten sie mich gleich dabehalten. Aus heutiger Sicht war dieser Wechsel der Startschuss für meine Karriere als Profifußballer, doch daran war damals noch nicht zu denken. Ich freute mich einfach darauf, das Trikot meines Lieblingsvereins zu tragen und als frisch gebackener D-Jugend-Neuzugang Teil der Adler-Familie zu sein. Ich hatte keine Probleme, neue Freunde zu finden. Ein paar von uns Jungs schafften es später nach ganz oben. Schlussmann Jan Zimmermann wurde zu einem meiner engsten Kumpels, heute ist er Torwarttrainer bei der Eintracht. Auch mit Alexander Huber verstand ich mich gut, allerdings spielte er einen Jahrgang über mir. Ein Jahr älter war auch Patrick Ochs, mit dem ich später viele Schlachten schlagen sollte. Sein Vater Reiner wurde mein erster Trainer, ein richtig guter Typ, bei dem ich in zwei Jahren eine Menge lernen durfte.

Rein sportlich war der Sprung vom VfB 06 zur großen Eintracht extrem. Plötzlich spielte ich nicht mehr gegen die Jungs aus Kesselstadt oder Steinheim, sondern gegen den hoch gehandelten Nachwuchs aus Stuttgart oder München. Auf Turnieren traten wir gegen die Crème de la Crème der europäischen Fußball-Elite an. Gleich in meinem ersten Einsatz hieß der Gegner Girondins Bordeaux. An meiner Spielweise änderte sich aber wenig. Ich blieb der Arbeiter im Mittelfeld, der unauffällige Typ, der den Laden zusammenhielt. In den Vordergrund spielte ich mich nie. In die Hessenauswahl wurde ich erst in der B-Jugend berufen. Da standen andere viel krasser im Fokus. Das Über-Talent schlechthin war Baldo Di Gregorio, der regelmäßig zum begabtesten Kicker ausgezeichnet wurde. Seine Vita zeigt aber, dass Talent nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit einer großen Karriere im Seniorenbereich: Zu einem Erstligaspiel hat es für Baldo später auch aufgrund von Verletzungen leider nie gereicht. Dabei galt er damals als der nächste Charly Körbel. Einer, der es später aber sogar zum neuen „Bomber der Nation“ bringen sollte, war Mario Gomez. Gemeinsam mit Tobias Weis, Christian Gentner und Marvin Compper bildete er beim VfB Stuttgart die erfolgreichste Achse unseres Jahrgangs. Wenn Mario in Fahrt kam, schoss er alles kurz und klein.

Für mich war es gar nicht so nachteilig, nicht so sehr im Rampenlicht zu stehen. Im Fahrwasser der Frankfurter Schule verbesserte ich stetig mein Spiel, wurde von Jahr zu Jahr robuster und sammelte Erfahrungen. Von einer professionellen Jugendarbeit, wie sie heute bei der Eintracht und anderen Profiklubs zu sehen ist, waren wir damals zwar noch weit entfernt, aber natürlich bewegte ich mich jetzt auf einem ganz anderen Niveau als in Großauheim. Der Leistungsdruck war von Anfang an spürbar. Nach jeder Saison gab es Einzelgespräche mit den Spielern, in denen entschieden wurde, wer im Verein bleiben durfte oder die Eintracht verlassen musste.

Den entscheidenden Moment in meiner noch jungen Karriere erlebte ich nach meiner ersten Saison in der B-Jugend. In dieser Spielzeit rutschte ich das erste Mal auf die Position als Innenverteidiger. Irgendwann zu Beginn der Spielzeit stellte mich der Trainer in die Viererkette, und offenbar erledigte ich meinen neuen Job so gut, dass ich die komplette Saison über hinten drinblieb. Weil ich außerdem zum Kapitän gewählt worden war, machte ich mir große Hoffnungen, auch im nächsten Jahr Spieler von Eintracht Frankfurt zu sein. Entsprechend groß war der Schock, als ich beim obligatorischen Abschlussgespräch unseren Nachwuchskoordinatoren Holger Müller und Armin Kraaz gegenübersaß und zu hören bekam: „Sorry, Marco, aber du musst dir einen neuen Verein suchen. Wir planen für die neue Saison schon mit anderen Spielern, das wird wahnsinnig schwer, einen Platz für dich im Kader zu finden. Wir glauben nicht, dass es für dich reicht.“ Wie in Trance wankte ich aus dem Büro. Die Nachricht musste ich erst mal verdauen. War’s das jetzt? Aus der Traum von einer Karriere bei der Eintracht? An die Bundesliga verschwendete ich damals keinen Gedanken. Alles, was ich wollte, war, ein Adler zu bleiben. Was sollte denn jetzt aus mir werden? Wobei, die Frage ließ sich relativ einfach beantworten: Wer damals bei der Eintracht aussortiert wurde, ging zu den Offenbacher Kickers. Doch als eingefleischter Frankfurt-Fan hegte ich selbstverständlich eine gesunde Abneigung gegen den Rivalen aus der Nachbarstadt. Was also tun?

Völlig durcheinander schlich ich nach dem Termin bei Müller und Kraaz zurück auf den Trainingsplatz. Hatte ich nicht erst vor wenigen Wochen noch im proppenvollen Waldstadion als Balljunge aushelfen dürfen, um schon mal etwas Bundesligaluft zu schnuppern? Hatte ich nicht in all den Jahren bewiesen, dass ich mit meiner Spielweise für jede Mannschaft ein Gewinn sein konnte? Am Platz angekommen, nahm mich unser Trainer Ralf Falkenmayer zur Seite. Ralf war eine Frankfurter Legende, ein begnadeter Kicker, der sogar vier Länderspiele auf dem Buckel hatte. „Und“, fragte Ralf, „nächstes Jahr B1-Jugend?“„Ne“, antwortete ich kurz angebunden, „die wollen mich nicht übernehmen.“ Da wurde Ralf richtig sauer und marschierte umgehend in das Büro, aus dem ich eben von meinem Platz an der Sonne vertrieben worden war. Ich habe nie erfahren, was genau er seinen beiden Kollegen gesagt hat, aber es dürften deutliche Worte gewesen sein, denn tatsächlich ließen sie sich von ihm umstimmen. „Okay“, hieß es ein paar Tage später, „wir versuchen es mit dir.“ Dass er sich für mich eingesetzt hat, werde ich Ralf bis an mein Lebensende nicht vergessen. Ohne ihn wäre ich wohl nie Profifußballer von Eintracht Frankfurt geworden. Keine Ahnung, wo ich stattdessen gelandet wäre. Möglicherweise in Offenbach …

Doch so blieb ich und begann irgendwann davon zu träumen, eines Tages vor 40 000 Zuschauern im Waldstadion aufzulaufen, auch wenn es bis dahin noch ein sehr langer Weg war.

Die Aufstellung in der Innenverteidigung erwies sich auf lange Sicht als Glücksfall für mich. Hier konnte ich meine Stärken ideal ausspielen: Übersicht, Antizipation, Zweikampfverhalten. Die Härte und Abgezocktheit, mit der ich in späteren Jahren in Verbindung gebracht wurde, musste ich natürlich erst noch erwerben. Heute sind die Jungs aus dem Nachwuchsbereich zwar körperlich, technisch und taktisch viel weiter, als wir es damals je waren, doch auch sie müssen sich Woche für Woche an das Tempo und die Intensität im Profibereich gewöhnen. Das ist ein Prozess. Man muss es wirklich wollen. Meine Motivation war, für den Verein meines Herzens spielen zu können. Die Liebe zur Eintracht wuchs sogar von Jahr zu Jahr. Unvergessen, wie die SGE 1999 den Abstieg in die Zweite Liga mit jenem historischen 5:1-Sieg am letzten Spieltag gegen den 1. FC Kaiserslautern verhindert hatte. Mein Vater musste Mitte der zweiten Halbzeit vor lauter Aufregung vor die Tür und spazieren gehen. Die letzten Tore dieses denkwürdigen Spiels verpasste er, schonte aber das angegriffene schwarz-weiße Herz. Nur zwei Jahre später stiegen wir dann doch ab. Und als sich die Mannschaft 2003 mit einem irren 6:3-Erfolg gegen Reutlingen in allerletzter Sekunde die Rückkehr in die Erstklassigkeit sicherte, war ich live mit dabei. Wir A-Jugend-Spieler bekamen Karten vom Verein, regelmäßig fand ich mich auf der Baustelle Waldstadion ein. Allerdings in gebührenden Abstand zu den Frankfurter Ultras. Der direkte Kontakt zu unseren heißblütigsten Fans war mir als Jugendspieler nicht so ganz geheuer. Im Laufe der Jahre sollte sich das ändern.

Ich gehörte also weiterhin zum Verein, an meiner Position änderte sich wenig. Heraus stachen andere, ich blieb eher unter dem Radar. Meine Trainer wussten aber offensichtlich, was sie an mir hatten. Schritt für Schritt wurde ich als A-Jugendlicher an die erste Mannschaft herangeführt. Irgendwann lud mich Willi Reimann, Trainer der ersten Mannschaft, zu einem Freundschaftsspiel ein. Kurz darauf stand ich mit meinen Helden gemeinsam auf dem Rasen. Einer von ihnen war Andreas Möller, der seine Karriere an alter Wirkungsstätte ausklingen ließ. Andy war eine Legende. Welt- und Europameister, Champions-League-Sieger, UEFA-Cup-Sieger, Deutscher Meister –der Mann hatte fast alles gewonnen, was es im Weltfußball zu gewinnen gibt. Mit ihm zusammen auf dem Platz zu stehen, war das Größte, auch wenn mein Auftritt zitternd vor Ehrfurcht war. Später, als ich selbst zu den Alten gehörte, habe ich junge Kerle wie Marc Stendera oder Sonny Kittel vor Trainingseinheiten oder Testspieler immer zur Seite genommen, um ihnen Mut zu machen: „Spiel einfach so, wie du immer spielst.“ Leichter gesagt als getan, aber vielleicht hat es ihnen ja geholfen.

Wobei die heutige Spielergeneration deutlich mehr Selbstvertrauen hat. Dafür sorgt eine viel umfassendere Ausbildung, als wir sie genossen haben. Ich verhielt mich als junger Spieler wie ein Lehrling, der zum Meister aufschaut und ja keine eigene Meinung hat. Zweimal in der Woche durfte ich mittrainieren, ab und an kam ich bei Freundschaftsspielen zum Einsatz. Einmal sogar auf der Doppelsechs gemeinsam mit Eintracht-Legende Alex Schur, mein bis dato größtes sportliches Highlight. Willi Reimann erlebte ich als sehr strengen und autoritären Übungsleiter. Sein Wort war Gesetz – und ich war der Letzte, der sich darüber beschwerte. Bei meinen Einsätzen für die Profis merkte ich, wie weit ich noch entfernt war von so ausgekochten Routiniers wie Uwe Bindewald oder Oka Nikolov. Oka war damals bereits seit fast einem Jahrzehnt bei der Eintracht, meine komplette Jugend hatte ich ihn bewundert. Es kam mir fast unwirklich vor, mit so einer Ikone plötzlich gemeinsam in der Kabine zu sitzen. Typen wie er oder Bindewald wurden von den Fans verehrt, weil sie so lange einem Verein die Treue hielten. Diese besondere Verbindung zu einem Klub und seiner Kultur war auch mein Ideal, sie trieb mich sogar mehr an als die – zugegeben unwahrscheinliche – Aussicht auf Titel und Triumphe. Während ich mich nach und nach in Position für den ersehnten Profivertrag brachte, kämpfte die SGE verzweifelt um den Klassenerhalt und musste am Ende erneut den Gang in die Zweite Liga antreten.

Aus heutiger Sicht war diese sportliche Katastrophe vielleicht sogar ein Glücksfall für mich. Absteiger haben in der Regel keine prall gefüllte Vereinskassen, die Eintracht war Anfang des neuen Jahrtausends ohnehin chronisch klamm. Statt auf teure Transfers musste die Klubführung auf junge Talente aus den eigenen Reihen setzen. Am 1. Dezember 2003, also just zu dem Zeitpunkt, wo der Verein ums Überleben in der Ersten Liga kämpfte, wurde Heribert Bruchhagen als neuer Vorstandsvorsitzender vorgestellt. „Herri“ hatte es als aktiver Fußballer in die Zweite Bundesliga geschafft und anschließend Karriere als Manager gemacht. Bevor er nach Frankfurt kam, war er zwei Jahre lang Geschäftsführer der DFL gewesen. Der Mann kannte sich also aus. Nur folgerichtig, dass eine seiner ersten Amtshandlungen darin bestand, unseren A-Jugend-Trainer Klaus Schäfer aufzusuchen, um ihn zu fragen, wer von seinen Jungs wohl das Potential hätte, in der neuen Saison zu den Profis zu wechseln. Schäfer nannte Bruchhagen drei Namen: Jan Zimmermann, Christopher Reinhard – und Marco Russ. Nach dem Treffen mit dem neuen Vereinsboss kam Schäfer zu mir: „Sieht ganz gut aus für dich. Die können sich das durchaus vorstellen mit dem Profivertrag. Also mach weiter so und gib richtig Gas!“

Das musste er mir natürlich nicht zweimal sagen. In jedem Training und in jedem Spiel haute ich mich voll rein. Regelmäßig war Bruchhagen bei unseren Auftritten am Riederwald Zaungast, ich wusste genau, dass in seiner Hand meine Zukunft als Fußballer lag. Und eines Tages erhielt ich schließlich die erlösende Nachricht, dass ich zur neuen Saison zu den Profis aufrücken sollte. Die Verantwortlichen sahen mein Talent und meinen Willen, mich ständig verbessern zu wollen, und diese Kombination gab am Ende den Ausschlag. Im Frühjahr 2004
bestellte mich Bruchhagen auf die Geschäftsstelle, die wegen verschiedener Umbaumaßnahmen in einem provisorischen Pavillon untergebracht war. Gemeinsam mit meinem Vater saß ich ihm und Vizepräsident Klaus Lötzbeier gegenüber und bekam den ersten Lizenzspielervertrag meines Lebens vorgelegt. Als Jugendspieler hatte ich bis dahin lediglich die Fahrtkosten erstattet bekommen, so etwas wie ein Grundgehalt gab es nicht, Prämien nur für die Nationalspieler. Umso beeindruckter war ich, als ich die Summe auf dem Vertrag entdeckte: 2500 Euro pro Monat – brutto. Für mich war das damals ein Riesenbetrag. Doch noch viel entscheidender als die Zahl war das Wappen, das auf dem Schriftstück prangte. Als ich den Stift nahm, um mich als Spieler Eintracht Frankfurt mit Haut und Haaren zu verschreiben, hatte ich nur den Adler im Blick. Mehr Motivation ging für mich gar nicht. Ohne auch nur einen Satz aus dem Vertrag zu verhandeln, setzte ich meine Unterschrift auf das Papier. Von diesem Augenblick an gehörte ich selbst zu den Adlern vom Main. Blieb nur die Frage: Wie hoch würden mich meine Schwingen wohl tragen können?

Kapitel 2

EIN FUNKEL HOFFNUNG

Marco Russ in der Bundesliga – wenn mir das jemand ein paar Jahre zuvor prophezeit hätte, ich hätte ihn wohl ausgelacht. Auch wenn es sich nur um die Zweite Liga handelte, für mich war der Start in die Saison 2004/05 der berühmte Sprung ins kalte Wasser. In meinem Fall vom Fünf-Meter-Turm ins Eiswasser, denn schon bald sollte ich feststellen, wie sehr die Uhren anders tickten bei den Profis. Wenige Tage vor dem Start in die neue Spielzeit war ich 19 Jahre alt geworden. Ein richtiger Grünschnabel, der sich vom ersten Gehalt einen Golf III kaufte und die Dinge des Lebens auf die leichte Schulter nahm. Eine Einstellung, die mit dem Dasein als Lizenzfußballer nicht wirklich kompatibel ist. Vor allem dann nicht, wenn man gerade frisch aus der Jugend zu den Senioren gedraftet wurde und sich die ersten Einsatzminuten erst mal hart erarbeiten muss. Schon in den ersten Tagen in der Vorbereitung merkte ich, wie sehr ich meine neue Aufgabe unterschätzt hatte. Hier musste man wirklich jede Übung hochkonzentriert und gewissenhaft angehen. Und nicht wie ich, der nach einem Spinning-Kurs im Fitnessstudio die durchgeschwitzten Sportklamotten einfach liegenließ, statt sie dem Zeugwart zu überreichen. Eine Kleinigkeit, aber auch Kleinigkeiten sind auf diesem Niveau entscheidend. Und das musste ich erst mal lernen. Mein Glück, dass ich auf strenge, aber fürsorgliche Lehrer traf, die mir das ein oder andere Mal pädagogisch wertvolle Tritte in den Hintern gaben. Zeugwart-Legende Franco Lionti machte mir geduldig, aber lautstark deutlich, was man als Profifußballer auch zu beachten hatte. Zum Beispiel seinen Turnbeutel ordnungsgemäß abzugeben.

Begierig sog ich alle neuen Eindrücke in mich auf, meine laxe Lebenseinstellung bedeutete nicht, dass ich nicht gewillt war, unbedingt dazuzulernen. Und genau darum ging es in dieser ersten Saison: als junger Neuling immer besser zu verstehen, wie das Fußballgeschäft funktionierte. Es dauerte nicht lange, und ich war morgens der Erste und abends der Letzte beim Training. Und meinen Beutel habe ich immer persönlich abgeliefert, Ehrenwort.

Ich profitierte dabei von einer gesunden Selbsteinschätzung. Natürlich brannte ich auf meine ersten Einsätze, gleichzeitig war mir klar, dass noch viel Arbeit vor mir lag, um in der Mannschaft voll akzeptiert zu werden. Die Hierarchie im Team war ziemlich klar und wurde nicht hinterfragt. Anders als heute, wo eine Hackordnung nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen ist. Wir Jüngeren hatten uns ganz hinten anzustellen und gefälligst zu tun, was uns die älteren Spieler sagten. Wenn das Training vorbei war, war es selbstverständlich, dass wir die Tore wegtrugen und die Bälle einsammelten. Mir machte das nichts aus, ich fand es nur natürlich, dass ich mir als junger Kerl erst mal meine Sporen verdienen musste.

Unsere damalige Mannschaft hatte die unterschiedlichsten Charaktere in ihren Reihen. Da war wie gesagt Alex Schur, der bereits seit 1995 für die Eintracht spielte und sich gerade endgültig bei den Fans unsterblich gemacht hatte, weil er auch nach dem Abstieg in Frankfurt geblieben war. Alex war ein total lockerer Typ, der gerne Scherze machte. Gemeinsam mit Oka Nikolov sorgte er dafür, dass ich mich sehr schnell als vollwertiger Teil der Mannschaft fühlte. Einer meiner Konkurrenten in der Defensive war unser Kapitän Jens Keller, dessen Karriere bereits im Herbst angekommen war und der mich als Rivalen um seinen Stammplatz betrachtete. Im Vergleich zu Alex Schur war er sehr verbissen und verschlossen. Vorne im Zentrum hatten wir Arie van Lent, ein unheimlich abgezockter Typ, mit allen Wassern gewaschen. Arie hatte Erfahrung ohne Ende und von dieser Erfahrung konnte ich profitieren. Allerdings auf recht schmerzhafte Art und Weise, denn jedes Mal, wenn ich meine 70 Kilo in den Zweikampf gegen Arie warf, blockte er mich ganz locker ab, machte eine Körpertäuschung und war auf und davon. Die Duelle mit ihm im Training verbesserten mein Spiel von Mal zu Mal.

Wir waren eine gesund zusammengewürfelte Mannschaft aus Jung und Alt, unerfahren und routiniert. Verantwortlich für diese Mischung war Heribert Bruchhagen. Schon damals musste sich Herri einiges an Kritik gefallen lassen, den Fans war seine zurückhaltende, fast biedere Art oft ein Dorn im Auge. Sie wünschten sich spektakuläre Neuzugänge, doch Bruchhagen ging es erst einmal darum, die Eintracht wieder in ruhige Fahrwasser zu bringen. Wir waren als Fahrstuhlmannschaft verschrien und durch den Stadionumbau für die WM 2006 chronisch klamm, der Ruf der launischen Diva vom Main haftete uns immer noch an. Bruchhagen wollte das ändern und legte letztendlich das Fundament für den Erfolg in der Gegenwart. Er hat den wankenden Klub mit seiner besonnenen Art damals vor dem Absturz bewahrt. Viele wissen gar nicht, wie schlecht es um die Eintracht bestellt war. Wenn wir damals eine Pandemie gehabt hätten, wäre der Verein in wenigen Monaten am Ende gewesen.

Für mich als Jungprofi war es mit der Ruhe erst mal vorbei. Denn als solcher war ich auf einmal ein interessantes Thema für die Medien und für die Fans mit ihren Hoffnungen und Erwartungen. Auf einmal sollte ich Autogramme schreiben und Interviews geben. Etliche von diesen Anfragen lehnte ich ab, ich war schlichtweg zu scheu, um in der vordersten Linie zu bestehen. Einen Berater hatte ich damals noch nicht. Karlheinz Förster, der ehemalige Weltklasse-Verteidiger, wollte mich unter seine Fittiche nehmen, doch wozu brauche ich einen Berater, fragte ich mich, wenn ich meinen Vertrag eh schon unterschrieben hatte? Bald darauf nahm ich dann doch die Dienste eines Experten in Anspruch, aber viel zu tun hatte der Mann zunächst nicht.

Einen der wichtigsten Wegbereiter meiner noch jungen Laufbahn habe ich noch gar nicht vorgestellt. Was irgendwie auch passend ist, denn Friedhelm Funkel ist einer, der gerne im Hintergrund arbeitet. Zur neuen Saison war er Trainer in Frankfurt geworden, eine Entscheidung, die sich als sehr klug und umsichtig erweisen sollte. Anders als Willi Reimann suchte Funkel von Anfang an den Kontakt zu uns Spielern. Den gebürtigen Neusser habe ich als lockeren, umgänglichen Typen kennengelernt, als jemanden, der sich seit Jahrzehnten in der Fußballszene bewegt und diese Routine jeden Tag ausstrahlt. Dabei konnte er ordentlich auf den Putz hauen, wenn er es für nötig hielt. Offenbar hatte der neue Coach ein gewisses Faible für mich. Vielleicht erkannte er sich ja selbst ein bisschen in mir wieder. Ich glaube, er ahnte, dass ich einmal ein sehr wertvoller Spieler für die Eintracht werden konnte. Ohne solch einen Vertrauensvorschuss schafft es kein Nachwuchsspieler, sich in der Bundesliga durchzusetzen. Schon bald sollte ich das Vertrauen von Friedhelm Funkel allerdings auf eine harte Probe stellen …

Fünf Tage nach meinem 19. Geburtstag begann meine erste Profisaison mit einem Auswärtsspiel gegen Alemannia Aachen. Aachen hatte damals eine spannende Truppe mit Erik Meijer, dem jungen Simon Rolfes, Sérgio Pinto und Urgestein Willi Landgraf. Mir war klar, dass ich an diesem Tag nicht zum Einsatz kommen, ja nicht mal im Kader stehen würde. Aber Funkel wollte mir die Möglichkeit geben, schon etwas Zweitligaluft zu schnuppern. „Marco“, sagte er in der Woche vor dem Spiel zu mir, „ich nehme dich als 19. Mann mit, du setzt dich auf die Bank und schaust dir das Ganze einfach mal an.“ Gesagt, getan. Und so half ich beim Ein- und Auspacken des Mannschaftsbusses, machte mich mit den anderen warm und sah vor 20 000 Zuschauern am Tivoli, wie uns Reiner Plaßhenrich kurz vor Schluss das 1:1 einschenkte. In den kommenden Wochen war ich immer wieder als 19. Mann Teil der Zweitliga-Reisegruppe, meine Einsätze hatte ich in der zweiten Mannschaft, die in der Oberliga Hessen spielte. Für mich war das okay, ich stellte keine großen Ansprüche, sondern war froh, dabei sein zu dürfen und zu lernen.

Am neunten Spieltag mussten wir auswärts beim Spitzenreiter Fürth antreten. Erstmals hatte mich Funkel für seinen Kader nominiert. Zumindest theoretisch bestand jetzt die Möglichkeit, mein Profidebüt zu feiern. Christian Lenze brachte uns in Führung, bevor Sascha Rösler und Roberto Hilbert für Fürth trafen und unsere Gegner nach einer Stunde wieder in Front brachten. Währenddessen machte ich mich gemeinsam mit den anderen Kollegen von der Bank an der Seitenlinie warm, lockerte die Muskeln und sog die Atmosphäre auf. Zehn Minuten waren noch zu spielen, als mich Funkels Co-Trainer Armin Reutershahn zu sich rief. „Oha“, dachte ich, „jetzt geht es los.“ Letzte Instruktionen und dann schickte mich Funkel ins Feuer. Für den ausgewechselten Du-ri Cha sollte ich noch einmal Dampf nach vorne machen, um vielleicht doch noch einen Punkt mitzunehmen. Natürlich war ich mega angespannt, doch der erste Sprint über den Rasen wirkte wie eine Befreiung aus der Schockstarre. Adrenalin überschwemmte meinen Körper, ich war bereit, in diesen letzten Minuten alles reinzuwerfen, was ich anzubieten hatte. Kurz vor dem Abpfiff bekamen wir noch eine Ecke zugesprochen. Wie so oft im Training erprobt, rannte ich zum kurzen Pfosten, verlängerte mit dem Kopf – und drehte jubelnd ab, als einer meiner Mitspieler den Ball über die Linie drückte. Ausgleich in letzter Minute, Vorlage Marco Russ. Wie geil war das denn, bitte? Doch das schöne Gefühl hatte nicht lange Bestand. Entsetzt blickte ich zur Seitenlinie, wo der Assistent die Fahne gehoben hatte. Abseits, kein Tor. Endstand: 2:1 für die SpVgg Greuther Fürth. Bitter. Es dauerte aber nicht allzu lange, bis ich die Niederlage verdaut hatte. In den ersten zehn Zweitligaminuten meiner Karriere hatte ich mich ganz ordentlich verkauft. Prüfung bestanden. So konnte es weitergehen.