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Der Körper lag auf dem Rücken. Das weiße Licht, das durch die Fensterscheiben drang, hob die Maserung der Haut hervor, als wäre sie auf ein Pergament gemalt, das durch das Wasser, die Zeit und den Tod brüchig geworden war. Über das Geschlechtsteil hatte man ein Laken geworfen – dabei war Scham hier sicherlich fehl am Platz –, das auch die obere Hälfte der Beine bedeckte. Der Kopf war nach links geneigt und lag auf einem Stück Holz, die dichten braunen Locken waren feucht, schmutzig und blutig verklebt. In dieser unnatürlichen Lage drückte das Kinn auf den Adamsapfel und bildete eine Art Kropf, wodurch das Gesicht feist wirkte und daher in krassem Widerspruch zu dem erschreckend dürren Körper stand. Ein struppiger Bartflaum wie bei einem Pubertierenden umrahmte frühzeitig gealterte Züge, die mit ihrem halb grotesken, halb tragischen Ausdruck an eine antike Maske erinnerten. Unweigerlich zogen die Hände und die Füße die Blicke des Betrachters an: Sie waren durchbohrt.

Ein Metrozug fuhr über die Seine, beschrieb einen Bogen und kam über der Voie Mazas mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Dr. Saint-Omer rauschte in den Raum mit dem verblichenen orangefarbenen Linoleumboden, gefolgt von einem Fotografen der Spurensicherung und dem gerichtsmedizinischen Assistenzarzt.

»Es sind von Ostern noch ein paar Eier da, wenn Sie mögen, Lieutenant Gombrowicz. Ich empfehle niemandem, mit leerem Magen einer Autopsie beizuwohnen. Es ist ein bisschen wie beim Fliegen: Bei Turbulenzen ist es immer besser, etwas im Magen zu haben. Das ist aber nicht Ihre erste Obduktion, oder?«

Gombrowicz murmelte eine ausweichende Antwort, während der Mediziner mit seiner behandschuhten Rechten das Laken anhob, um die Hüften des Toten freizulegen. Ein zusammengeschrumpeltes, beschnittenes Glied kam zum Vorschein. Der Lieutenant musste an eine Trockenfrucht denken, eine Pflaume, Dattel oder Feige – und sah augenblicklich zu seinen Sportschuhen hinunter, bei deren einem ein Schnürsenkel offen war.

Unter Klicken und Piepen seiner Kamera begann der Fotograf um den Edelstahltisch herumzutanzen, der im Blitzlichtgewitter aufflackerte. Saint-Omer trank seinen Kaffee aus, während er den Toten betrachtete. Er warf den Becher in den für medizinische Abfälle bestimmten Mülleimer und kratzte sich den kahlen Schädel.

»Gut … Also ein Clochard am frühen Morgen. Zumindest ist er beim Bad in der Seine ein bisschen sauberer geworden. Tut mir leid, ich ziehe nun mal den Tod dem Schmutz vor. Haben Sie auch Aufnahmen in bekleidetem Zustand gemacht?«

Der Fotograf checkte mit dem Zeigefinger die gespeicherten Aufnahmen, und ohne einen Augenblick vom Display seiner Canon aufzusehen, gab er einen unbestimmten Laut von sich, der den Arzt zufriedenzustellen schien.

»Haben Sie die Kleidungsstücke alle aufgelesen? Ist alles hier?«

Der Assistent bejahte mit einer unmerklichen Bewegung des Kinns.

»Körpermaße, Gewicht, Röntgen, alles erledigt?«

Der Assistent nickte erneut, worauf der Gerichtsmediziner mit einem kurzen quietschenden Geräusch die Hände über seiner Plastikschürze kreuzte.

»So, wen haben wir denn da? Nicht identifiziertes Individuum männlichen Geschlechts, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, nordafrikanischer Typus. Die Leiche wurde am 21. April gegen Ende des Tages aufgefunden, sie trieb in Höhe der Haltestelle Port de Montebello des Batobus. Zyanose des Gesichts, schön blauviolett. Augen turgeszent. Ödeme an den Lidern. Schaumpilzbildung an den frontalen Gesichtsöffnungen. Zahlreiche Hämatome an Knien und Unterarmen, die vielleicht vom Schleifen über den Flussgrund herrühren; allerdings neige ich eher zu der Überzeugung, sie stammen von den vergeblichen Versuchen, vor dem endgültigen Ersticken an Land zu gelangen. Die Untersuchung der Lungen wird den Beweis für die Hypothese ›Tod durch Ertrinken‹ erbringen. Der Mazerationsgrad der Haut lässt auf eine Verweildauer unter Wasser zwischen zwei und vier Tagen schließen. Die Epidermis löst sich an Händen und Füßen. Spuren von Verwesung am Hals und in der Brustgegend. Schauen Sie mal, dieses tiefe Grün hier, Lieutenant, ist doch wirklich erstaunlich, was für Farben der Tod hervorbringt. Interessieren Sie sich für Malerei?«

Gombrowicz starrte angestrengt auf seinen offenen Schnürsenkel und versuchte, sich auf nichts anderes als das dünne weiße Band zu konzentrieren, das sich auf dem abgenutzten Linoleumboden schlängelte. Saint-Omer redete weiter, ohne auch nur ein einziges Mal aufzusehen.

»Genereller Zustand sehr schlecht. Kachexie infolge gravierender Mangelernährung. Extreme Magerkeit. Völlig verschmutzt. Angeborene Atrophie des rechten Arms und dadurch bedingte Unfähigkeit, die Hand zu bewegen. Zahlreiche Hautverletzungen infolge von Flohbissen oder Krätze. Sekundärinfektion in Form eines Geschwürs am Bein. Ist das Ihr erster Obdachloser, Lieutenant …? Zahlreiche Fußprobleme, diverse Dermatosen und Parasitosen; man darf sie aber nicht mit den Blasen verwechseln, die von dem langen Verbleib unter Wasser herrühren …«

Der Gerichtsmediziner hielt mitten im Satz inne, trat einen Schritt zurück – gerade so lange, dass der Fotograf ein paar Nahaufnahmen von den Füßen machen konnte – und redete danach weiter, als hätte er sich nie unterbrochen.

»Jedenfalls sind es immer dieselben Krankheiten, an denen Penner zugrunde gehen. Manchmal reichen schon ein paar Wochen, und das Verhältnis zum Körper ändert sich völlig, was dazu führen kann, dass Infektionen einfach nicht wahrgenommen werden. Ich weiß noch, im November letzten Jahres wurde hier die Leiche eines Vierzigjährigen eingeliefert – der aber gut und gern für einen Siebzigjährigen durchgegangen wäre –, dessen eine Socke buchstäblich mit der Haut verwachsen war, weil er sie monatelang nicht ausgezogen hatte. Zu solchen Anomalien, Lieutenant, kommt man nur, wenn man das Bewusstsein für den eigenen Körper vollkommen verliert. Der Körper wird einem fremd, er ist wie ein Stück Treibgut, das davonschwimmt. Der Bursche hier stellt keine Ausnahme dar: Lange hätte er es ohnehin nicht mehr gemacht.«

Gombrowicz bückte sich und band den Schnürsenkel seines Turnschuhs zu. Als er sich wieder aufrichtete, überkam ihn ein leichter Schwindel, und er drückte die Schultern gegen die Wand. Er hatte heute den ganzen Morgen nichts zu sich nehmen können. Beim Gedanken an die bevorstehende Autopsie war ihm der Magen schon seit dem Vorabend wie zugeschnürt.

Saint-Omer löste seine Hände vom Bauch und stützte sie auf dem Seziertisch ab.

»Die Stigmata an Händen und Füßen sind allerdings absolut ungewöhnlich; es sind tiefe Wunden, zugefügt mit einem Stichel, einem Schraubendreher, vielleicht auch einem großen Nagel. Und dann …«

Der Gerichtsmediziner stach mit seinem latexüberzogenen Finger in eine fünfzehn Zentimeter lange Wunde seitlich unterhalb des Brustkorbs.

»Und dann haben wir ja noch die Wunde hier an der Seite, die von einem Cutter oder einem sehr spitzen Messer herrührt, was noch auf einen zweiten Angreifer schließen lassen könnte. Erinnert er Sie nicht an jemanden, dieser junge Mann? Wie er da so liegt, während sich das Frühlingslicht über seinen Körper ergießt, sieht er nicht aus wie ein Mantegna?«

Gombrowicz sah von seinen Schuhen auf.

»Wer ist das?«

»Andrea Mantegna. Ende 15. Jahrhundert. Ein Meisterwerk. Das Bild hängt in Mailand.«

»Glauben Sie, das hilft uns bei der Identifizierung?«

Zum ersten Mal seit Beginn der Autopsie wandte sich der Gerichtsmediziner von der Leiche ab und betrachtete den jungen Kriminalbeamten über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg.

»Jetzt fällt es mir wieder ein … Das letzte Mal waren Sie mit Ihrem Vorgesetzten da, Commandant … Wie hieß er noch gleich? So ein untersetzter Typ …«

»Landard.«

»Landard, genau. Ist Ihr Aufpasser heute gar nicht mit von der Partie?«

»Er wartet unten im Hof und raucht vermutlich eine Kippe nach der anderen.«

»Wussten Sie nicht, dass es sich um einen Obdachlosen handelt? Bei dem Mann da auf dem Seziertisch, meine ich.«

»Ein Ertrunkener, hieß es nur.«

»Verstehe. Also … Sollen wir den Knaben mal aufschnippeln?«

Saint-Omer zückte ein Skalpell und zeichnete mit leichter Hand, gerade so, als würde er mit einem Pinsel über eine noch jungfräuliche Leinwand fahren, ein großes Y von den Schultern bis hinab zur Schamgegend. Eine gebliche Flüssigkeit quoll aus der Wunde. Der Gerichtsmediziner hob die Ränder an und legte die Rippen frei, dann griff er nach einer großen Zange, um die Rippen zu durchtrennen. Die inneren Organe kamen zum Vorschein, ein bestialischer Geruch erfüllte den Raum. Der Arzt atmete tief ein.

»Haben Sie Parfum an sich, Lieutenant? Denn das intensiviert den Geruch noch. Versuchen Sie nicht, dagegen anzugehen. Im Gegenteil, inhalieren Sie ganz tief. Glauben Sie mir, das ist die einzige Art, damit fertig zu werden.«

Gombrowicz’ Magen krampfte sich zusammen, er hielt die Luft an, um sich nicht übergeben zu müssen.

»Falls Ihnen schlecht wird, da links von Ihnen auf dem Metallwägelchen steht eine Schüssel.«

Der Kriminalbeamte spürte, wie ihm der Schweiß von den Achseln rann. Ein Hauch seines Deos, Ozeanfrische, drang ihm in die Nase, und er biss die Zähne noch ein wenig fester zusammen: Der Duft verstärkte den Leichengeruch tatsächlich.

Saint-Omer hatte sich schon wieder über die sterblichen Überreste des Ertrunkenen gebeugt.

»Wunderbare Farben hier im Innern, aber, o Gott, was für ein Schlachtfeld! Spuren einer Pneumonie mit Komplikationen, Anzeichen für Tuberkulose … Der Junge hier hatte die Lungen eines Greises. Übrigens, Lieutenant, am Tod durch Ertrinken besteht kein Zweifel. Hier drin steht das Wasser. Die mikroskopischen Untersuchungen und die Analysen werden es lediglich bestätigen.«

Während der Gerichtsmediziner mit Umsicht die Eingeweide herausnahm – Herz, Leber, Lunge – und sich dann von unten zum Schädel hocharbeitete, trat der Assistent an den Inox-Tisch und wog jedes innere Organ.

»Sehen Sie, Lieutenant, dieses Häufchen Fleisch und stinkende Gedärme, das ist das Leben. Der Tod ist nun mal Teil des Lebens, und ein Gerichtsmediziner ist selbstverständlich ein Arzt, der sich mit dem Lebenden beschäftigt. Dieser Clochard hier auf unserem Obduktionstisch, ob Sie’s hören wollen oder nicht, ist ein Kunstwerk, ein wahrer Schatz, ein Meisterwerk, ein Caravaggio, ein Tizian, ein Uccello. Hören Sie mir überhaupt zu, Lieutenant?«

Das Linoleum schwankte vor seinen Augen, während er an Landard dachte, der in aller Seelenruhe seine Zigarette im Innenhof des Gerichtsmedizinischen Instituts rauchte. Im Hof, also an der frischen Luft. Gombrowicz unterdrückte einen Fluch, aus Furcht, er könnte sein gestriges Abendessen nicht mehr bei sich behalten.

Dr. Saint-Omer ging um den Obduktionstisch herum und entwirrte das Haar des jungen Mannes ein wenig. Dann zückte er erneut das Skalpell und schnitt die Kopfhaut von einem Ohr zum anderen auf. Sein Assistent setzte die Kreissäge an.

»Bevor ich ihnen die Haut über den Kopf ziehe, Lieutenant, betrachte ich sie immer noch einmal eingehend. Das habe ich von jeher gemacht, denn wissen Sie, die Nase, der Mund, das Lächeln, der immer wieder andere Gesichtsausdruck, das macht doch den Menschen aus …«

Plötzlich hielt Saint-Omer inne. Aufmerksam studierte er die Züge des Toten, als habe er eine plötzliche mystische Erleuchtung.

Endlich hob er den Blick und sah zu Gombrowicz hinüber, der begriff, dass die medizinische Routine unterbrochen war.

»Sehen Sie nur, Lieutenant … Das ist doch … Kommen Sie ruhig näher. Unglaublich … Den kenne ich doch …«

Das waren die letzten Worte, die der junge Beamte hörte. Sein Körper schwankte und neigte sich wie ein Baumstamm nach links. Während er das Gleichgewicht verlor, hörte er noch das Scheppern des Metallwägelchens, das mit ihm ins Trudeln geriet, und sah die Schüssel über den orangefarbenen Linoleumboden schlittern. Dann tauchte er in völliges Dunkel und tiefes Schweigen ein.

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Landard trat seine Zigarette mit der Schuhsohle aus. Die Luft kam ihm für Ende April ausgesprochen mild vor. Vorhin war ein Leichenwagen vorgefahren und hatte ihn aus seiner brütenden Stimmung gerissen. Er erhob sich von den Stufen zum Hof, auf denen er gesessen hatte, und steuerte einen Sonnenfleck auf dem rissigen Asphalt an. Nach zwei, drei Schritten stand er richtig und spürte, wie die Sonne ihm das Gesicht wärmte. Da bekam er Lust auf eine neue Zigarette, und er zog das unvermeidliche blaue Päckchen aus der Tasche, auf dem die schwarze Silhouette einer Zigeunerin in einer weißen Rauchwolke tanzte.

Plötzlich schwang die Glastür zum Hof auf, und Gombrowicz, fahl im Gesicht wie die Mauern ringsum, wankte heraus und stützte sich auf die Mülltonnen, deren gelbe Plastikdeckel ihn aber an die Abfalleimer im Obduktionsraum erinnerten, so dass er sich mit einem Schluckauf angeekelt abwandte.

»Alles in Ordnung, Kleiner?«

»Verdammt, Landard, hättest mir aber auch vorher sagen können, dass es ein Penner war, der da ertrunken ist.«

»Macht doch keinen Unterschied, oder? Tote riechen immer ziemlich streng, ob nun Clochard oder nicht.«

»Hast du mal ’ne Zigarette für mich?«

»Hab mir gerade die letzte angezündet, sorry.«

»Dann lass mich mal ziehen!«

Mit einem Seufzer reichte Landard seinem Mitarbeiter die Zigarette, die eben noch zwischen seinen Lippen gesteckt hatte. Der junge Mann nahm einen tiefen Zug, und seine Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Grau.

»Gehen wir?«

»Wieso?«

»Bloß weg von diesen Aasgeiern!«

»Ist doch ganz nett hier!«

»Für dich vielleicht. Ich brauche dringend eine Fanta!«

»Die kriegst du am Automaten im Justizpalast. Du hast es nur deshalb so eilig wegzukommen, weil du Miss Feldwebel wiedersehen möchtest.«

»Du bist ein Arschloch, Landard.«

»Gib’s ruhig zu, dass dir die kleine Richterin gefällt.«

»Du bist ein richtiges Arschloch.«

»Ich weiß.«

»Ich hau ab. Außerdem habe ich sowieso die Schlüssel.«

»Auf der Ablage liegen noch ein paar Eier von Ostern, falls du was Süßes brauchst.«

Gombrowicz steuerte schon auf den Ausgang zur Place Mazas zu, als sich in der ersten Etage auf dem Flur zum Obduktionssaal ein Fenster öffnete.

»Lieutenant? Warten Sie einen Moment … Lieutenant!«

Gombrowicz kehrte noch einmal um. Von oben sah Saint-Omer wie von einem Adlerhorst herab.

»Geht’s Ihnen besser, Lieutenant?«

Landard war näher getreten und stand nun unterhalb des Fensters.

»Docteur Saint-Omer, seien Sie mir gegrüßt!«

»Commandant Landard! Was für eine Überraschung! Wie geht’s?«

»Und? Der Clochard mit den durchlöcherten Händen? Irgendwas Auffälliges entdeckt?«

»Zwei, drei interessante Schattierungen, verborgen unter einem Haufen Leid. Gerade habe ich mit Ihrem kleinen Lieutenant darüber gesprochen. Ich war mir sicher, ihn schon mal gesehen zu haben, Ihren Unbekannten aus der Seine. Wissen Sie, wer es ist?«

Gombrowicz hatte sich neben seinen Vorgesetzten gestellt. Von unten sah der Gerichtsmediziner mit seinem blanken Schädel in der Tat wie ein Aasgeier aus.

»Gerade, als ich mir einen Kaffee holte, ist es mir eingefallen. Das ist der Junge aus Notre-Dame. Erinnern Sie sich, es ging durch alle Zeitungen … Vor vier oder fünf Monaten, um Weihnachten herum. Wie hieß er noch? Mouss? Ja, ich glaube, das war’s: Mouss.«