Allmählich senkte Dämmerung sich auf den Fluss. Ein Batobus drehte die letzte Runde des Tages und verließ die Haltestelle Montebello wie ein großes gläsernes Insekt, das gegen die Strömung dicht an der Wasseroberfläche dahingleitet. Auf der anderen Seite des Seinearms, jenseits vom Square Jean-XXIII, trat das Flaggschiff Notre-Dame de Paris mit seiner hohen Silhouette seine reglose Reise in die Nacht an, wie es dies Abend für Abend unveränderlich tat, seit man im Jahr 1163 mit seinem Bau begonnen hatte.
Unter all den Spaziergängern, Touristen und Joggern, die den Quai um diese Uhrzeit bevölkerten, gab es zwei, die den Fluss mit besonderer Aufmerksamkeit betrachteten. Der Ältere und Korpulentere hatte unter seinem beigefarbenen Blouson, den er jahrein, jahraus trug, eine Pistole der Marke Sig Sauer 9mm Parabellum versteckt; der Jüngere, Schlankere, trug keine Waffe, und genau darüber unterhielten sie sich in diesem Augenblick.
»Glaub mir, ein Bulle ohne Waffe ist wie ein Typ ohne Klöten. Willst du deine Knarre noch ewig in der Schublade liegen lassen?«
Der andere antwortete nicht und starrte in die grünlichen Strudel des Flusses.
»Hör zu, mein Freund. Wie oft muss ich dich noch decken? Monsieur geht nicht mehr zum Schießtraining, Monsieur springt vor Schreck an die Decke, wenn er ein Magazin klicken hört, Monsieur steht der Schweiß auf der Stirn, sobald wir zu einem Einsatz aufbrechen, Monsieur kippt aus den Pantinen, wenn er einer Obduktion beiwohnen muss. Was ist das für ein kindisches Getue? Okay, du hast auf einen Trottel geschossen. Der Typ ist gestorben, okay. Aber das ist zwei Jahre her, okay? Und die Generalinspektion hat dich reingewaschen, vergiss das nicht! Also, mein lieber Gombrowicz, hör endlich auf, die erschrockene Jungfrau zu spielen, ja?!«
Der Lieutenant stopfte die Fäuste in die Taschen seiner Jeans.
»Geh mir nicht auf den Sack, Landard!«
»›Geh mir nicht auf den Sack!‹ Mehr hast du mir nicht zu sagen? Und wenn du auf einmal einem besoffenen Penner mit einer Axt gegenüberstehst, der mit dir kurzen Prozess machen will, was dann?«
»Wieso sollte ein Penner mit einer Axt unterwegs sein?«
»Weil er Holz hacken will! Was glaubst du denn!? Diese Menschen leben wie in der Steinzeit. Sie mampfen Ravioli aus der Dose, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist und die sie in der Glut erhitzt haben. Ihr Treibstoff ist billigster roter Fusel. Und wenn sie keinen Platz in der Notunterkunft gefunden haben, dann lassen sie ihren Ärger an uns Bullen aus!«
»Mag sein. Und ab und zu findet man auch einen unter ’nem Frachtkahn eingeklemmt, mit Folterspuren am Körper.«
»Ich sag’s doch: Das sind Wilde! Aber im Grunde sind es arme Schweine. Suff, Depressionen, Arbeitslosigkeit … Es fängt ganz harmlos an, doch eh du dich’s versiehst, bist du ganz unten angelangt. Nach drei Monaten gerätst du aus dem Lot, nach sechs Monaten bist du ein Tier. Du scheißt auf den Boden, frisst aus der Mülltonne, fletschst die Zähne und machst die Passanten an. Ich kenne sie, die Pariser Clochards. Also, mein lieber Gombrowicz, ab morgen schnallst du dir wieder das Pistolenholster um, ja? Befehl vom Chef. Haben wir uns verstanden? Ehrlich gesagt habe ich keine große Lust, dich als Bullenhaschee vom Boden zu kratzen.«
Der junge Polizist nickte lau. Landard zündete sich eine Zigarette an und schlug dann den Weg stromaufwärts ein. Gombrowicz folgte ihm, wie ein bockiges Kind trottete er ein, zwei Meter hinter ihm her, die Hände noch immer in den Taschen. Sie überquerten den Pont de l’Archevêché, dann schloss Gombrowicz endlich auf.
»Und, wie ist der Plan heute Abend?«
»Wir gehen spazieren, Richtung Austerlitz. Immer den Fluss entlang. Genau den Weg, den der Leichnam getrieben ist, bevor er unter das Schiff geriet. Wir beobachten. Wir warten. Gleich wirst du ganz andere Bilder sehen als den Postkartenblick von ›Paris-by-Night‹!«
Tatsächlich leerten sich die Quais immer mehr, je weiter sie stromaufwärts gingen und je dunkler es wurde. Sie kamen zum Pont de la Tournelle. Auf einmal gewahrten sie huschende Schatten im Halbdunkel, von irgendwoher aufgetaucht, von den Brückenpfeilern, aus Bäumen, Büschen und den Nischen der Ufermauern, die sie vom Verkehr wenige Meter über ihnen trennten. Krummbeinig und keuchend tapsten sie dahin, in viel zu weiten Kleidungsstücken, setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als gingen sie über rohe Eier oder Schmierseife.
Die beiden Polizisten steuerten auf den Pont de Sully zu. Die Schatten scharten sich nun zu kleinen Grüppchen zusammen, in der Hauptsache waren es Männer. Es war nahezu unmöglich, ihr Alter zu bestimmen, mit ihrem schwankenden Gang wirkten sie wie einsturzreife Gebäude. Hin und wieder zeichnete sich die plumpe Silhouette einer Frau ab, die, unter dicken Kleidungsschichten begraben, mit kleinen, unendlich langsamen Schritten hinter den Männern hertappte oder sich von ihnen entfernte.
Sie kamen zum Port Saint-Bernard, wo die Uferböschungen sich zum Freiluftmuseum der Skulptur weiteten. Dort, an der langen Promenade, wo Beton bereits das Grün verdrängte, zwischen den Kunstwerken aus Marmor oder Bronze, die ihre unruhigen Schatten auf den Boden warfen, schlug eine Gruppe Clochards ihr Lager auf, Schlafsäcke, Decken und Planen wurden ausgebreitet, Zelte errichtet. Abend für Abend entstand dieses Behelfslager, dessen Einzelteile tagsüber hinter den Büschen eines Square oder unter den Bodengittern einer Bushaltestelle versteckt waren, während ihre Bewohner von Metro zu Metro, von Bahnsteig zu Bahnsteig, von Gleis zu Gleis liefen, um zu betteln. Wenn man sie so sah, wie sie mitten in einer Bewegung innehielten, von plötzlichem Stumpfsinn befallen und wie zu Stein erstarrt, hätte man sie auch mit den Statuen verwechseln können.
»Clodoville oder Frankreichs schlimmste Schmuddelecke. Na, Gombrowicz, glaubst du immer noch, dass unser Land so glänzend dasteht? Oder bist du wie ich der Ansicht, dass bei der nächsten Wahl diese Scheißregierung hinweggefegt werden sollte?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er eine Taschenlampe aus der Jacke und ging auf ein verwaschenes rotes Zelt zu, in das sich gerade eine der Gestalten gezwängt hatte. Er bückte sich, und sein Kopf verschwand in der Öffnung. Der junge Lieutenant sah, wie der Lichtschein das Zeltinnere abtastete und in eine Art riesigen Lampion von der Farbe getrockneten Blutes verwandelte. Der Obdachlose wirkte mit seinem eckigen Schatten an der Zeltwand wie ein unter einem Lampenschirm gefangenes Insekt. Nach weniger als einer Minute zog Landard den Kopf mit angewiderter Miene zurück.
»Puh, stinkt das da drin!«
»Was hat er gesagt?«
»Nichts.«
»Hast du ihn gefragt, ob er Mouss kannte?«
»Hoffentlich habe ich mir keine Flöhe eingefangen.«
»Kannte er Mouss?«
»Flöhe oder Läuse!«
»Hast du ihn denn nicht nach Mouss gefragt?«
»Gar nichts hat er gesagt, der Bursche. Er hat mich nur mit offenem Mund angestarrt, als würde er jede Sekunde abkratzen. Nur Luft kam raus, ein heiseres Pfeifen, wie bei einem platten Fußball, aus dem die Luft entweicht. Keinen Ton hat er von sich gegeben.«
»Verdammter Mist!«
Sie zogen von Unterschlupf zu Unterschlupf, von Zelt zu Schlafsack, ohne auch nur eine einzige sinnvolle Auskunft von den Clochards zu erhalten. Die Nacht wurde immer dunkler, der Fluss hatte sich inzwischen pechschwarz gefärbt, und die menschlichen Umrisse, die über die Ufermauern geisterten, schienen im Schweigen verschlossen.
Am Rande eines Lagerfeuers blieben beide stehen. Ein Mann, der unglaublich viele Schichten Kleidung übereinandertrug, versuchte sich an den Flammen zu wärmen. Er warf einen unförmigen zuckenden Schatten auf den Asphalt. Als er ihre Schritte hörte, hob er den Kopf, und Gombrowicz bemerkte sofort, dass ihm ein Auge fehlte. Die linke Augenhöhle war leer, doch das schwarze Loch schien ihn mit einer Schärfe anzustarren, bei der ihm unbehaglich wurde.
Landard hielt ihm ein Foto hin, das im Gerichtsmedizinischen Institut aufgenommen worden war.
»Kennst du den?«
Der Einäugige betrachtete das Porträt im Schein der Flammen und gab es dann zurück. Er zog einen verkohlten Stock aus dem Feuer, an dessen Ende eine dampfende Wurst steckte.
»Mögen Sie eine Knacker? Die sind gut! Keine verdorbene Ware, nein, die habe ich aus dem Franprix in der Rue Monge.«
Landard hielt ihm erneut das Foto unter die Nase.
»Ich glaube, du hast nicht genau hingeschaut. Sieh’s dir noch mal an. Dann lassen wir dich in Ruhe essen.«
Der Clochard rührte sich nicht.
»Das muss ich mir nicht noch mal ansehen. Das ist Mouss. Das wollten Sie doch wissen, oder? Er sieht sehr friedlich aus so im Tod. Sehr gelassen. Man könnte meinen, der Mantegna in Mailand.«
Gombrowicz durchforstete seine Erinnerungen an die Obduktion am Morgen. Der Gerichtsmediziner hatte doch auch diesen italienischen Maler erwähnt, unmittelbar vor der eigentlichen Sezierung, kurz bevor der widerliche Geruch ihm in die Nase gestiegen war.
»Wieso kennst du Mantegna?«
Der Einäugige blies auf seine Wurst.
»Ich war mal Maler, vor langer Zeit. Und heute noch verdiene ich mir ein paar Euro, indem ich Reproduktionen von Gemälden aufs Pflaster kritzele. So hab ich abends was zu futtern.«
Er sprach deutlich und drückte sich gewählt aus, fast zu sehr, als stamme er aus einer anderen Welt. Wenn er plötzlich in den Gassenjargon verfiel, so legte er ganz bewusst leichte Übertreibung in seinen Tonfall. Landard, der mit Kunst nichts anfangen konnte, kam wieder auf das eigentliche Thema zurück.
»Du wusstest schon, dass Mouss tot ist?«
Der Einäugige biss krachend in die Wurst und kaute, indem er gleichzeitig Luft einsog.
»Hier wussten alle Bescheid. Als ihr am Port de Montebello seine Leiche aus dem Wasser gezogen habt, beobachteten euch viele Augenpaare.«
»Was soll das heißen?!«
»Damit will ich sagen, Herr Polizist vom Quai des Orfèvres, dass die Clochards die Augen von Paris sind. Wir sind Tag und Nacht da und haben nichts anderes zu tun als zu beobachten. Zu beobachten und zu saufen. Niemand bemerkt uns, niemand achtet mehr auf uns, wir sind schon mit dem Asphalt verschmolzen. Und wir sind überall, wir sehen alles und speichern es. Um dann für immer zu schweigen. Natürlich wussten wir alle, dass Mouss tot war, was glauben Sie denn? Ein Penner ist mehr wert als eine Überwachungskamera und muss nicht ständig gewartet werden!«
Der Einäugige verstummte, fuhr dann aber fort:
»Wollen Sie ganz bestimmt keine Knacker? Ich rede gern bei einem guten Essen. Wenn ich aber sehe, dass meine Gäste die feinen Pinkels spielen und sich zieren, vergeht mir die Lust zu reden. Und dann sage ich gar nichts mehr.«
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