Mitten in die Pampa hatte er sich geflüchtet, noch weiter als bis Poissy, und wer mit ihm reden wollte, musste dorthin fahren. Dreißig Minuten ab Paris-Nord, und dann immer die Rue de la Gare entlang, die sich als endlose Linie hinzog, eingezwängt zwischen Feldern, der Francilienne und der Nationale 1.
Seit zwei Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen, seit dem Fall mit der Madonna von Notre-Dame und den Schüssen, die Gombrowicz vor der Kathedrale abgegeben hatte. Soviel sie wusste, fasste der junge Lieutenant seine Dienstwaffe seitdem nicht mehr an und ließ sie ganz bewusst in der Schublade seines Schreibtischs am Quai des Orfèvres liegen. Und sie, die allzu strenge Staatsanwältin, die sich in dem Prozess zu große Freiheiten erlaubt hatte, war versetzt worden und nun Ermittlungsrichterin.
Claire Kauffmann verlor sich in ihren Erinnerungen. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch war sie schließlich am Ziel und betrat ein großes altes Gebäude, dessen ockerfarbener Putz vor kurzem aufgefrischt worden war. Drinnen wies man ihr den Weg zu einem anderen, modernen Gebäude im Hintergrund. Dort angekommen, wäre sie beinahe wieder umgekehrt. Was suchte sie hier bei diesem Mann, der ihr einmal, als sie sich im Dunkel ihrer Vergangenheit zu verlieren drohte, die Hand gereicht hatte? Doch da kam schon eine ehrenamtliche Helferin auf sie zu. Nach kurzem Zögern sagte sie ihr, wen sie zu sprechen wünsche; die Angesprochene nickte eifrig und erwiderte, sie werde sie hinbringen, sonst riskiere sie, »nie mehr ans Tageslicht zurückzufinden«.
Sie durchquerten einen großen Raum mit Regalen an den Wänden, das Frühlingslicht fiel durch großflächige Fenster herein. Die Ehrenamtliche gab die Führerin:
»Das hier ist unser Verteilerzentrum. Wie der Name schon sagt, lagern wir hier erst einmal alles, bevor es dann in die entsprechende Archivabteilung gebracht wird. Im Moment bewahren wir alles auf, was die Initiative in den letzten Jahren so gesammelt hat, selbst wenn wir mehr bekommen, als wir verwerten können. Das sind wir den Leuten schuldig.«
Sie bestiegen eine Art Lastenaufzug, der sie nach unten fuhr. Dann bogen sie in einen Flur mit lauter gelben und grünen Brandschutztüren ein. Plastikröhren und Kabelstränge zogen sich an der Decke entlang. Die Begleiterin öffnete eine der grünen Türen.
»So, jetzt lasse ich Sie allein, Sie finden ihn am Ende des dritten Ganges; er ist gerade mit einer Lieferung Spielzeug und Puppen beschäftigt. Er bringt Sie dann wieder nach oben.«
Claire Kauffmann dankte und bog dann in den angegebenen Gang ein. Zu beiden Seiten drängten sich Regale voller Kartons, auf denen die Namen französischer und auch ausländischer Städte standen. Als sie das Ende des Ganges erreicht hatte, war niemand zu sehen. Sie zögerte zu rufen und bog in den nächsten Gang ein, den vierten, wenn sie richtig mitgezählt hatte. Diesmal standen da Regale mit naiv anmutenden bunten Zeichnungen, ob von Erwachsenen oder Kindern, ließ sich nicht sagen.
Ratlos kehrte sie um und bog in einen Seitengang ein, der ihr einladender vorkam als die anderen; sie hörte ein Geräusch, erst klang es wie ein Atmen, dann wurde es lauter und verwandelte sich in ein heiseres Brummen. Endlich stieß sie auf eine Art Lichtung inmitten der aufgetürmten Kartons. Dort stand ein Tisch mit einer daran befestigten Klemmlampe. Deren gelber Lichtkegel zeichnete einen einsamen Kreis in den kalten bläulichen Schimmer der Neonleuchten an der Decke. Ein kleiner ausgemergelter Mann saß dort und brabbelte vor sich hin wie ein frühzeitig gealtertes Kind, während er rostiges, zerschlissenes und verbeultes Spielzeug sortierte, Feuerwehrautos, Teddybären und Puppen, die zu Hunderten auf, unter und um den Tisch verstreut lagen, als hätten die Kartons ihr Inneres nach außen gestülpt. An dem Jackett über der Stuhllehne schimmerte ein Anstecker, ein schlichtes Kruzifix.
»Sie sind nicht leicht zu finden, Pater Kern. Haben Sie immer noch kein Handy?«
»Eigentlich will ich ja auch unauffindbar sein, Claire. Wie sind Sie mir auf die Spur gekommen?«
»Ich habe im Gemeindehaus von Poissy angerufen. Dort hat man mir die Adresse vom Centre Wresinski gegeben.«
Der Priester erhob sich und ging auf die Richterin zu. Im Neonlicht traten seine Runzeln deutlich hervor. Er sah müde aus. Und noch magerer als damals, wenn das überhaupt möglich war. Sein von der Krankheit gezeichneter Körper erinnerte sie an die Skulpturen Giacomettis, die immer ins Nirgendwo zu schreiten schienen, aber nie ankamen.
»Wie geht es Ihnen gesundheitlich?«
Pater Kern hielt ein verbeultes Spielzeugauto in den knochigen Händen.
»Sehen Sie hier diesen Rennwagen, Claire? Er wurde aus alten Getränkedosen vom Müll gebastelt. Ein Wunder an Präzision und Erfindungsgeist. Dem kleinen Jungen, der ihn gebaut hat, bedeutete er genauso viel, als hätte man ihn in einem Luxusgeschäft gekauft. Man könnte meinen, er stammt aus den Slums von Kalkutta oder Manila. In Wirklichkeit wurde er jedoch in den verkohlten Trümmern eines niedergebrannten Roma-Lagers bei Drancy gefunden.«
Er ließ seinen von der Gicht steifen Finger einen Augenblick über die Räder gleiten.
»Wie es mir geht? Nun, seit fast zwei Jahren hatte ich keinen Anfall mehr, immerhin. Der nächste wird wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen …«
»Sagen Sie, Pater, was machen Sie hier unten eigentlich?«
»Ich helfe. Ich bin Freiwilliger und gehe den Leuten hier ein wenig zur Hand. Ich klassifiziere und sortiere Gegenstände aller Art. Genau das ist die Aufgabe des Centre Wresinski: Wir bewahren auf, was die Armen auf dieser Erde hinterlassen haben, die Spuren derjenigen, die das Elend in den Augen der Welt unsichtbar gemacht hat. Spielzeug, Zeichnungen, Gemälde, Briefe, Postkarten, Fotos … Wir bewahren hier auf, was sie mit ihren Händen erschaffen haben, die Kämpfe, die sie führten, das Unrecht, das sie erlitten haben. Auf Tonbändern, Super-8-Filmen und jetzt auf Computern speichern wir ihre Gesichter und Stimmen, ihr Lachen, ihr Lächeln. Das ist der Grund, weshalb ich hier wie ein Maulwurf lebe, Claire. Wir arbeiten am kollektiven Gedächtnis des allergrößten Elends, und glauben Sie mir, dieses Gedächtnis ist ein unermesslicher Schatz.«
Er drückte der jungen Frau das Spielzeugauto in die Hand.
»Und Sie, Claire? Was führt Sie hierher?«
»Sie predigen gar nicht mehr in Notre-Dame?«
»Nein, schon seit letztem Winter nicht mehr. Aber ich habe das Gefühl, das wissen Sie alles schon.«
»Stimmt, ich habe mich erkundigt, bevor ich zu Ihnen kam.«
Sie wusste nicht, wie sie beginnen sollte, und spielte nun ihrerseits mit den Rädern des Autos.
»Aber Sie waren dabei, Pater, nicht wahr? Letzte Weihnachten, als die Clochards die Kathedrale besetzt hielten?«
Kern zögerte. Schweigend schaute er Claire an. Sie kannte diesen Beichtvaterblick, den er manchmal annahm, jenen Ausdruck von Geduld und Wohlwollen, der einen dazu bewog, sich zu öffnen. Diesmal aber war Pater Kerns Gesicht von einer grenzenlosen Müdigkeit gezeichnet. Sie hatte das Gefühl, nicht einem Menschen aus Fleisch und Blut gegenüberzustehen, sondern einem aus verrosteten Teilen zusammengesetzten Körper voller Risse, dessen Mechanismus klemmte und dessen Skelett jeden Augenblick zerbrechen konnte. Auf einmal begriff, nein, fühlte sie eher, was den kleinen Priester in seinem Innersten dazu gebracht hatte, sich hier unter die Erde zu flüchten, zwischen all diese leblosen Objekte und Reliquien der Vergangenheit, weit weg vom Tageslicht und dem Chaos der Welt.
Sie gab ihm das Spielzeug zurück und entschuldigte sich, ihn behelligt zu haben. Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, als sie hörte, wie das Auto scheppernd auf den Betonboden fiel und das Echo durch den ganzen Untergrund hallte.
»Er ist tot, nicht wahr?«
Sie drehte sich um. Zu Pater Kerns Füßen lag der in tausend Stücke zersprungene Miniatur-Rennwagen.
»Seine Leiche wurde vor drei Tagen aus der Seine gefischt. Ich bin mit den Ermittlungen beauftragt.«
Der Priester bückte sich und begann die Teile aufzusammeln.
»Eines Tages musste es ja so kommen. Er hatte so etwas tief Verzweifeltes an sich in allem, was er tat. Gleichsam Selbstmörderisches. Von Anfang an.«
»Mouss hat sich nicht umgebracht, Pater. Er wurde ermordet. Man hat ihm Hände und Füße durchbohrt, bevor er im Wasser landete.«
»Hände und Füße, sagen Sie?«
»Und außerdem seitlich eine Wunde zugefügt.«
»Großer Gott! Und wissen Sie schon, wer das getan hat?«
»Ich habe gerade erst die Ermittlungen aufgenommen. Die Leiche wurde heute Morgen obduziert. Wir werden die Obdachlosen auf den Quais befragen. Vielleicht finden wir einen Zeugen. Vielleicht auch einen Schuldigen.«
Kern legte die zerbrochenen Teile auf den Tisch.
»Sie scheinen mir selbst nicht davon überzeugt zu sein. Sonst wären Sie ja nicht hergekommen. Sie werden nichts erreichen. Die Obdachlosen werden schweigen.«
»Sie haben einen guten Draht zu ihnen, stimmt’s? Während der Besetzung von Notre-Dame waren Sie die ganze Zeit bei ihnen.«
»Ich habe damals ganze zwei Wintertage in ihrer Gemeinschaft verbracht. Dass ich sie kenne, würde ich daher niemals zu behaupten wagen, das wäre respektlos. Diejenigen, die sich brüsten, ihre Leidensgenossen zu sein, nur weil sie ein paar Stunden mit ihnen im Zelt geschlafen haben, sind Marktschreier oder Sozialvoyeure. Zwischen denen, die ein Dach überm Kopf haben, und denen, die das nicht haben, liegt ein Abgrund. Ich wäre sehr überrascht, wenn Ihre Ermittler auch nur das Geringste herausbekämen. Die Obdachlosen haben ein heiliges Grauen vor der Polizei. Wen hat man dazu bestimmt?«
»Landard und Gombrowicz.«
»Grüßen Sie Gombrowicz von mir. Und jetzt, Claire, wenn Sie so freundlich wären …«
»Pater, ich bin hergekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche!«
»Meine Hilfe?«
»Sie müssen mir berichten. Das, was Sie bei der Besetzung von Notre-Dame gesehen haben. Sie haben Mouss gekannt. Sie sind der Einzige, der bemerkt haben könnte, ob Mouss sich Feinde gemacht hat, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kathedrale.«
»Mouss war während dieser Weihnachtstage der Held von ganz Frankreich. Auf einmal hatte er sehr viele Freunde. Und mindestens genauso viele Feinde. Als das Medienecho verhallt war, hörte man nur noch von Letzteren etwas.«
»Wollen Sie mir nicht mehr darüber erzählen?«
»Ich bin kein guter Erzähler. Und außerdem …«
»Außerdem?«
»… und außerdem habe ich ihn selbst ja auch im Stich gelassen. Ich habe nichts unternommen, als die Polizei kam, um ihn festzunehmen. In gewisser Weise habe ich ihn sogar der Polizei ausgeliefert. Sie verstehen daher sicherlich, dass ich mich nicht mehr berechtigt fühle, den Kommissar zu spielen. Diesmal nicht, tut mir leid. Und nun, Mademoiselle Kauffmann, sofern Sie keinen Untersuchungsbefehl oder ein ähnliches Dokument bei sich haben, verabschiede ich mich von Ihnen. Der Fahrstuhl befindet sich am Ende des Gangs.«
Ohne ihre Reaktion abzuwarten, nahm er wieder seinen Platz am Tisch ein, im warmen Lichtkegel seiner Architektenlampe, inmitten all der Spielzeugteile, deren eines unwiederbringlich zerbrochen war.