Die Protokollführerin steckte den Kopf aus der Tür und gab den beiden Beamten, die auf einer Bank auf dem Flur warteten, ein Zeichen, ins Büro der Untersuchungsrichterin einzutreten. Claire Kauffmann schlug die Beine übereinander und klappte die Akte zu, in der sie gerade gelesen hatte.
»Lange nicht gesehen, meine Herren.«
Landard fläzte sich auf einen Stuhl und zog eine Zigarette aus der Jackentasche.
»In meinem Büro werden Sie aufs Rauchen verzichten, Commandant! Ihnen brauche ich doch wohl nichts über das Rauchverbot zu erzählen, oder?«
Nach einem vielsagenden Blick zu Gombrowicz hinüber steckte er das Päckchen wieder ein.
»Aber gern doch, Madame. Ich würde es mir nie verzeihen, Ihre Grünpflanzen erstickt zu haben. Hübsches Bürochen. Wie fühlt man sich so als Untersuchungsrichterin?«
»Wie Sie sehen, habe ich nicht mehr Platz als vorher, aber ich will mich nicht beschweren. Kommen Sie gerade aus dem Gerichtsmedizinischen Institut?«
»So ist es, Madame.«
»Und?«
Landard fasste die Untersuchungsergebnisse von Dr. Saint-Omer zusammen, die er eine Stunde zuvor im Auto aus dem armen Gombrowicz herausgepresst hatte. Die junge Richterin hörte ihm zu, ohne seinen Blick zu erwidern, und machte sich Notizen auf einem Block, die sie später mit dem Bericht des Gerichtsmediziners abgleichen würde.
Ihre linke Hand, mit der sie auch schrieb, strich immer wieder eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Dabei kam jedes Mal ein Piercing zum Vorschein, das aber sogleich wieder durch die störrische Strähne verdeckt wurde. Die lose Art und Weise, wie Claire Kauffmann ihre Haare hochsteckte, ließ befürchten, dass das ganze Gebäude jeden Moment einstürzen und sich eine seidige Kaskade über ihren schmalen weißen Nacken ergießen könnte. Doch dazu kam es nie, der wirre blonde Haarknoten blieb allen Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz wundersamerweise intakt.
»Lieutenant …? Lieutenant? Haben Sie die Geschehnisse von heute Morgen schon verarbeitet, oder sind Sie im Geiste immer noch bei der Autopsie?«
Gombrowicz wurde aus seinen Träumereien gerissen. Die roten Lippen bewegten sich, und die Stimme, die aus diesem Mund kam, richtete sich an ihn. Er brabbelte ein paar unverständliche Silben. Die Ermittlungsrichterin hielt kurz inne – aus Erstaunen oder Entrüstung – und wandte sich dann an Landard.
»Fassen wir zusammen: Tod durch Ertrinken, Wunden an Händen und Füßen sowie seitlich am Thorax, zugefügt durch mindestens zwei Angreifer. Und wie sieht es mit der Identifizierung aus? Sind Sie da schon weiter?«
Der Commandant richtete sich auf.
»Durchaus, Mademoiselle. Wir haben einen Namen. Vielmehr einen Spitznamen. Mouss … Sagt Ihnen der was?«
»Sollte er das?«
»Mmh … Ja!«
Landard schwieg, zog sein Feuerzeug heraus und spielte damit. Claire Kauffmann kannte ihn zu gut, um ihm seinen kleinen persönlichen Triumph zu gönnen: dass er zum derzeitigen Stand der Untersuchungen mehr wusste als sie. So nahm sie denn ihre Lektüre wieder auf und murmelte nur: »Lassen Sie sich Zeit, Commandant.«
Endlich steckte Landard das Feuerzeug ein, grinste aber weiterhin.
»Mouss, der Typ aus Notre-Dame. Fällt es Ihnen jetzt wieder ein? Letztes Jahr zu Weihnachten. Die Obdachlosen, das Tränengas, das Sondereinsatzkommando? Fällt der Groschen jetzt? Das ist unser Toter aus der Seine.«
»Mouss, der Clochard? Der die Kathedrale besetzt hielt im Namen des Rechts auf Wohnen oder so etwas?«
Die junge Frau schwenkte ihren Drehstuhl zum Rechner. Ihre Lippen bewegten sich stumm, während ihre Finger über die Tastatur hasteten.
»Also … ›Mouss + Obdachlose + Notre-Dame de Paris‹. Klar, Tausende von Treffern. Wenn die Presse erfährt, dass man ihren Helden in die Seine geworfen hat, bricht kollektive Hysterie aus. Damit wir uns also recht verstehen, meine Herren: einstweilen kein Sterbenswörtchen, zu niemandem.«
Sie überflog einen Artikel nach dem anderen, las manchmal einzelne Passagen vor, vielleicht nur für sich selbst, vielleicht aber auch für ihre beiden Zuhörer, von denen der jüngere sich im Hintergrund die Beine in den Bauch stand.
»Besetzung der Kathedrale Notre-Dame durch Obdachlose. Notre-Dame wird evakuiert … Die Polizei schreitet ein … Sonderkommando einsatzbereit … Halten die Clochards von Notre-Dame bis Weihnachten durch?«
Die rebellische Haarsträhne machte sich wieder bemerkbar. Da sie ganz auf den Bildschirm konzentriert war, versäumte es Claire Kauffmann, sie zurückzustreichen, und Gombrowicz begann sich schon Hoffnungen zu machen.
»Der Anführer der Obdachlosen tritt vor die Presse … Wohnungen für alle, Schluss mit den Dringlichkeitsdebatten … Ein charismatischer Anführer … Mouss, der König der Bettler …«
Sie beugte sich leicht vor und griff nach ihrem Stift. Dabei löste sich eine Strähne auf der Hinterseite des Haarknotens und fiel ihr auf die cremefarbene Bluse, die den Träger eines BHs durchschimmern ließ. Gombrowicz, der sie im Profil sah, wurde wieder etwas schwummrig.
»Spannungen mit linkem Spektrum verschärfen sich … Heftige Diskussionen auf dem Platz vor Notre-Dame … Innenminister verbürgt sich für die republikanische Ordnung …«
Unter ihrem Schreibtisch setzte die Richterin beide Füße wieder nebeneinander. Weiter oben glitt die blonde Strähne plötzlich auf die Schulter herab. Gombrowicz schloss die Augen.
»Die Clochards von Notre-Dame halten durch … Erklärung der Ministerin für Wohnungsbau für morgen früh angekündigt …«
Die ersten Anzeichen einer allgemeinen Auflösung kündigten sich an. Würde der lose geschlungene Haarknoten das fragile Gebäude noch halten können?
»Regiert an Heiligabend das Chaos? Räumung erscheint nunmehr unvermeidlich … Machtprobe zwischen den Obdachlosen und der Polizei hat begonnen … ›Wir halten Notre-Dame ohne Gewalt besetzt‹, erklärt Mouss … ›Wir sind bereit‹, bestätigt der Innenminister.«
Der Lieutenant hielt es nicht mehr aus. Würde er nun endlich erleben, wie die blonde Haarflut sich über den Nacken von Claire Kauffmann ergoss? Und vielleicht blieb sie so bis zum Ende des Gesprächs? Oder den ganzen Tag über? Vielleicht ginge Claire Kauffmann ja mit ihm essen?
»Der Herold der Pariser Clochards trotz polizeilicher Überwachung aus dem Krankenhaus geflohen. Er soll sein Zimmer im Hôtel-Dieu am Arm eines Krankenpflegers verlassen haben. Seit gestern Morgen wurde er nicht mehr gesehen.«
Unmittelbar bevor sich der Haarknoten löste, hob die Staatsanwältin die Hand, umfasste gedankenlos die Haarflut und wickelte sie wieder auf. Dann stach sie ihren schwarzen Kugelschreiber in das blonde Nest, um es zusammenzuhalten.
»Wir sind keinen Schritt weitergekommen, meine Herren. Ein junger Mann schafft es innerhalb einer Woche landesweit auf die Titelseite der Zeitungen und spaltet ganz Frankreich, dann ist er von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. Momentan haben wir trotz einer Lawine an Presseberichten nichts als einen Rufnamen oder, besser gesagt, einen Spitznamen: Mouss. Fangen Sie mit Ihren Ermittlungen im Obdachlosenmilieu an? Ich besorge Ihnen einen entsprechenden Untersuchungsbefehl.«
»Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen, Frau Richterin. Gombrowicz, hast du Lust auf einen kleinen Verdauungsspaziergang nach dem Abendessen? Ein kleiner Bummel über die Quais. Nach deinem Toten von heute Morgen werden sie dir quicklebendig vorkommen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie besser riechen werden …«
Der junge Lieutenant griff nach der Türklinke, ließ sie aber sofort wieder los; seine Hand zitterte, als er auf das Ohr der Richterin deutete.
»Ist der neu, Ihr …«
Mit dem Zeigefinger berührte er nun sein eigenes Ohr und deutete dann wieder auf das Gesicht der jungen Frau.
»Der … Der ist neu, oder? Ist er aus Gold? Jedenfalls sehr hübsch …«
»Lieutenant?«
»Frau Richterin?«
»Gehen Sie mal besser mittagessen, ich glaube, das haben Sie nötig. Und danke, dass Sie heute Morgen in der Autopsie so tapfer waren.«
Gombrowicz ging als Erster hinaus, dicht gefolgt von Landard, der bereits wieder eine Zigarette zwischen den Fingern hatte. Die Protokollführerin wollte aufstehen, um die Tür zu schließen, doch Claire Kauffmann hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Commandant?«, rief sie den beiden Kriminalpolizisten hinterher.
Seufzend blieb Landard stehen.
»Commandant … Es gibt doch sicher eine Akte über diesen Mouss irgendwo im Präsidium. Wenn man eine Woche lang die gesamte Pariser Polizei in helle Aufregung versetzt, muss es darüber doch irgendwas Schriftliches geben, oder?«
»Durchaus denkbar, Madame.«
»Ich hätte die Akte gern so rasch wie möglich. Kennen Sie nicht jemanden bei der Auskunftsabteilung?«
Landard zündete sich die Zigarette an und nahm einen langen Zug.
»Ich kümmere mich.«
»Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Commandant. Und vergessen Sie bitte nicht, dass Sie hier im Gebäude nicht rauchen dürfen.«
Wieder im Büro angelangt, setzte sie sich an den Schreibtisch, zog den Stift aus dem Haarnest und schüttelte unmerklich den Kopf. Die blonden Locken fielen ihr in den Nacken. Auf dem Bildschirm stand noch der Artikel, den sie zuletzt gelesen hatte. Unter der Titelzeile in dicken Lettern prangte ein Foto, das an Heiligabend auf dem Vorplatz von Notre-Dame aufgenommen worden war. Eine dichte Menschenmenge hielt unzählige Transparente hoch, eingekeilt zwischen den Beamten der Bereitschaftspolizei. Im Hintergrund ragte die Silhouette der Kathedrale auf, alle Gitter und Tore geschlossen.
»Madame Le Maguer«, sagte Claire Kauffmann zu ihrer Protokollführerin, »könnten Sie mir, bevor Sie Mittag machen, die Telefonnummer des Pfarrhauses von Poissy heraussuchen?«