Inhalt
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Maike Johnke
Impressum
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2017 united p. c. Verlag
ISBN Printausgabe: 978-3-7103-3021-6
ISBN e-book: 978-3-7103-3131-2
Lektorat: Dr. phil. Ursula Schneider
Umschlagfoto: www.pixabay.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: united p. c. Verlag
www.united-pc.eu
Prolog
So schnell er konnte rannte Mark durch die dunklen Gassen des alten Industriegebiets am Rande der Stadt. Sein Atem ging keuchend, das Blut rauschte in seinen Ohren und er hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Immer wieder sah er voller Panik nach rechts und links, um zu sehen, ob jemand hinter ihm war oder sich in den vielen Ecken und Winkeln in seinem Umfeld versteckte und auf ihn lauerte. Doch er schreckte nur vor seinem eigenen Schatten und dem Hallen seiner Schritte zurück.
Wie ein gehetztes Tier, flüchtete er instinktiv einfach ins Dunkle hinein. Die Orientierung hatte er schon nach wenigen Minuten verloren. Sein einziges Ziel war nun, aus dem dunklen Sumpf der leer stehenden Gebäude heraus und wieder in den belebten Teil der Stadt zukommen.
Nach wenigen Augenblicken kam er an einer etwas größeren Kreuzung zum Stehen, um Atem zu schöpfen und einen genaueren Blick in seine Umgebung zu werfen. Erfüllt von der vagen Hoffnung, etwas zu sehen, das ihm bekannt vorkam. Sein Herzschlag pochte in seinem Hals. Das Einzige aber, was er erkennen konnte, waren leere Lagerhallen und skelettartige verfallene Metallzäune, die sich wie knochige Krallen von gefolterten Sklaven zum Himmel reckten.
Wo verflucht noch mal war er?, fragte er sich.
Er wandte sich nach rechts und folgte der mit Schlaglöchern übersäten Straße. Er hatte dort das Gefühl, etwas mehr Licht zu haben, um auf eventuelle Angreifer schneller reagieren zu können. Um Kräfte zu sparen, war er in einen langsamen Trab gefallen. Sein Puls beruhigte sich nun ein wenig.
Was hatte er sich nur dabei gedacht, schimpfte er innerlich. Hierherzu kommen war der reinste Irrsinn. Sich so eine Story entgehen zu lassen, aber auch undenkbar.
Die Straße machte eine langgezogene Linkskurve und verlief im Nichts.
Sackgasse.
Wieder eine seiner vielen Fehlentscheidungen.
Das nächste Mal musste er unbedingt besser recherchieren und sich eine Straßenkarte von der Gegend besorgen, in der er ermitteln wollte. Aber der Tipp war einfach zu heiß gewesen, um unnötig Zeit zu verschwenden.
Jetzt hatte er den Salat.
Es war mucksmäuschenstill. Eine bedrückende und reizbare Stille. Nicht einmal die nachtaktiven Grillen waren noch zu hören. Wie sehr sehnte er sich nach dem Lärm der belebten Hauptstraße und ein paar freundlichen Gesichtern. Irgendwie musste er doch hier wieder nach draußen finden.
Er sah sich den hohen Gitterzaun am Ende der Straße, an der er stand, noch etwas genauer an und entdeckte ein paar Meter von ihm entfernt einen etwa 50cm hohen Riss in den Maschen. Hier hatte der Rost den Metallstäben so zugesetzt, dass diese auseinandergesprungen waren. Mit etwas Mühe würde er sich dort hindurchquetschen können.
Mark ging vor dem Spalt in die Hocke und begann hektisch, an den spitzen, kantigen Stäben zu biegen, bis der Spalt etwa so breit war, dass er mit dem Oberkörper hindurch kam. Ein Gefühl sagte ihm, dass er sich beeilen solle.
Ohne Rücksicht auf eventuelle Kratzer und Risse, die er sich zufügen könnte, schlängelte er sich durch den Spalt hindurch und ins Freie. Auf der anderen Seite fiel er flach auf den Bauch. Schnell rappelte er sich wieder hoch. Seine Kleidung würde er, falls er überlebte, eh später wegschmeißen können.
Er kroch auf allen vieren eiligst in den dunklen Schatten eines nahe stehenden Gebüsches und in Sicherheit.
Keine Sekunde zu früh. Mehrere grell flackernde Lichtkegel von Pechfackeln tauchten zwischen den Lagerhallen auf. Aufgeregte Stimmen wehten zu ihm herüber, von denen er das Gesagte zwar nicht verstand, deren Ton ihm aber deutlich machte, dass die Botschaft keinen freundlichen Inhalt enthielt.
Sie suchten ihn immer noch. Zum Glück war der Moment der Überraschung auf seiner Seite gewesen und er hatte sich einen kleinen Vorsprung erlaufen können. Mark versuchte, mit den dunklen Schatten des Strauches, in dem er saß, zu verschmelzen. Die vielen Kratzer, die er sich vom Zaun und vom Strauch zugezogen hatte brannten wie Feuer auf seiner Haut. Seine Knie waren von der großen Anstrengung ganz wackelig und er hatte das Gefühl, sich kaum auf den Beinen halten zu können, sollte er gezwungen sein, noch weiter um sein Leben zu laufen.
Dass er um sein Leben rannte, war unbestreitbar. Was er gesehen hatte, wollte von diesen Herren bestimmt keiner an die Öffentlichkeit kommen lassen. Aus ihrer Sicht würde ein kleiner, unbedeutender Journalist, wie er es war, nicht weiter ins Gewicht fallen. Eine Leiche mehr oder weniger würde den Braten auch nicht mehr fett machen.
Er war der Story seines Lebens auf die Spur gekommen und niemand würde ihn davon abhalten können, die ganze Geschichte ans Tageslicht zu zerren.
Die Lichter verschwanden langsam wieder. Sie hatten das Loch im Zaun nicht bemerkt und waren wohl zu dem Schluss gekommen, dass er in eine andere Richtung gelaufen sein musste. Viele Verstecke gab es auf dem Gelände ja nicht.
Sehr gut, dachte Mark und erhob sich wieder aus seiner hockenden Position, wobei seine Knie heftig protestierten. Er humpelte weiter ins freie Feld hinaus.
Irgendwo dahinten musste es eine Straße geben. Er würde sie schon finden.
Seine Verfolger hatte er jetzt wohl endgültig abgehängt. Im Dunkeln suchte er sich einen Weg durch kniehohes, nachtfeuchtes Gras auf unebener Erde. Die Sterne leuchteten ihm schwach den Weg.
Nachdem er ein paar Hundert Meter querfeldein gelaufen war, sah er die Lichter der großen Industriestraße, die zurück in das Zentrum der Stadt führte. Dort würde er bestimmt auf irgendwelche Kneipen, Imbissbuden oder sonst was treffen, wo es ein Telefon gab, sodass er sich ein Taxi nach Hause bestellen konnte.
Er hatte leider feststellen müssen, dass der Akku von seinem Handy ausgerechnet an diesem Abend nicht aufgeladen und er damit von der Außenwelt abgeschnitten war.
Langsam kehrten wieder Energie und Leben in seinen Körper zurück und er mobilisierte seine letzten Reserven, um aus eigener Kraft an sein Ziel zu kommen.
Kapitel 1
Freitag, etwa 12 Stunden zuvor
Mark Kater war 28 Jahre jung und hatte vor drei Jahren sein Journalistik-Studium beendet. Er arbeitete für das Wochenblatt in Sankt Augustin, bei dem er Jahre zuvor schon ein Praktikum abgeschlossen hatte, als Journalist für Freizeit und Stadtaktivitäten.
Sankt Augustin ist eine kleine Stadt zwischen Bonn und Siegburg und gehört zum Rhein-Sieg Kreis. Auch wenn es sich kaum vermuten ließ, war die Kleinstadt ausgesprochen großflächig und in vielerlei Dingen eigenständig und unabhängig von den benachbarten Großstädten.
An sich war das Schreiben von Kleinstadt News keine besonders aufregende Tätigkeit. Hier mal ein Wochenmarkt, da ein Volleyballturnier oder, als Highlight, ein Frühlingsfest mit Wohltätigkeits- und Spenden-Gala. Auch das jährliche Weinfest erfreute sich großer Beliebtheit.
Ein Tag nach dem anderen plätscherte ereignislos dahin und das Ganze hatte etwas von einer schlechten Seifenoper.
Da er in dieser Stadt geboren und aufgewachsen war, kannte er die Gepflogenheiten und die Menschen in- und auswendig.
Im Gegensatz zu seinen meisten Freunden war er in der Heimat geblieben und nicht der Karriere wegen in eine Großstadt wie Köln oder Bonn gezogen. Er mochte Umstellungen und Veränderungen nicht wirklich und freute sich jeden Abend darauf, sich in sein gemütliches, 50 qm großes, Zweizimmerapartment mit direktem Blick auf den Markt zurück zuziehen.
Er liebte fertige Pizza, Bier aus der Flasche und ein gutes Fußballspiel im Fernseher.
Es war Anfang Mai, die Tage wurden langsam wieder länger und das Wetter etwas wärmer. Die Stimmung in der kleinen Redaktion des Wochenblatts war heute besonders gut. Es war Freitag, das Wochenende stand vor der Tür und Mark hatte nur noch das Redaktionsschluss-Meeting vor sich. Er schielte zur großen Uhr über der Eingangstüre.
Viertel vor vier. Das Meeting war auf vier Uhr angesetzt. Eigentlich noch Zeit genug, um eine Zigarette zu rauchen, entschied er und nahm sich seine Jacke, um vor die Tür zu gehen. Das Rauchen war schon seit Längerem in dem Gebäude untersagt.
„Bin gerade noch eine rauchen!“, rief Mark in den Raum zu niemand Bestimmtem und schlurfte zur Tür.
„Ich komme mit“, schloss sich Edgar, der einzige Noch-Raucher der Redaktion, an und schob seinen
massigen Körper hinter Mark durch die Tür in das Treppenhaus.
Edgar Maus war trotz seines zarten Namens ein stattlicher Mann von 1,85m und guten 100 kg Lebendgewicht. Er war 45 Jahre alt, geschieden und seit gut 20 Jahren beim Wochenblatt beschäftigt. In den ersten Monaten, in denen Mark für das Blatt tätig gewesen war, hatte Edgar als sein Mentor und Lehrer fungiert und sie verstanden sich nach wie vor gut.
Da sie beide viel Zeit miteinander verbrachten, was zum einen mit dem Rauchen und zum anderen mit einem ähnlichen Betätigungsfeld (Edgar arbeitete im Bereich Sport und Gesellschaft) zusammenhing, hatten die Kollegen der Redaktion ihnen den Spitznamen „Katz und Maus“ angehängt. Doch das störte die beiden herzlich wenig. Wobei Edgar mehr in Richtung Mark als sein „Kätzchen“ spöttelte, da dieser nur 1,70m Körpergröße maß und 58 kg Fliegengewicht hatte.
Schweigend stiegen sie die Treppen vom 1. Stock hinunter und gingen hinaus auf die gepflasterte Einfahrt, auf der immer eine große Anzahl an Fahrrädern im Weg stand.
Im 3. Stock des Gebäudes befand sich ein Fitnessstudio und die vielen Teenager, die sich dort tummelten, kamen zuhauf mit dem Fahrrad daher.
Sie suchten sich einen Platz in der Sonne und ließen sich die wärmenden Strahlen in das Gesicht scheinen. Genüsslich inhalierte Mark das Nikotin seiner Marlboro und dachte an das bevorstehende freie Wochenende. Edgar stand schweigend neben ihm, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Seine Gedanken schienen sich nicht um ganz so angenehme Dinge wie das Wochenende zu drehen, aber er sagte dazu nichts. Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen, sondern eher einer von den „Mann und sein Lagerfeuer“ Vertretern. Mark störte das nicht im Geringsten, für ihn gab es nichts Schlimmeres, als wenn ihm jemand eine Frikadelle ans Ohr quatschte.
Wieder zurück zum Wochenende- zwei komplett freie Tage zu seiner uneingeschränkten Verfügung!
Was man da alles machen konnte! Im Berufsleben als Journalist war es gang und gäbe, auch am Wochenende zu arbeiten und die freien Tage mal eben so zwischendurch abzureißen. Deswegen freute sich Mark auch wie ein Schneekönig über das ungewohnte Freihaben an den Ausgeh- und Partytagen.
Er könnte sich seinen Kumpel Benno unter den Arm klemmen und den neuen Laden im Siegburger Stadt-Zentrum am Bahnhof ausprobieren.
„Poseidon“ hieß das Ding, soweit er sich erinnerte. Der Laden war mehr was für die ältere Generation und spielte hauptsächlich Hardrock und Punk Musik, das war genau das Richtige für die zwei Freunde. Außerdem lief man nicht Gefahr, dass sich dort rudelweise Teenager aufhielten.
Mark zog sein Handy aus der Tasche und tippte eine entsprechende SMS in die Tasten. Seine Zigarette war mittlerweile bis zum Filter abgebrannt und Edgar schaute schon ungeduldig in seine Richtung. Er drückte auf Senden, warf seine Kippe in den Ascher neben der Eingangstür und folgte Edgar zurück in die Redaktion.
Auf in die letzte Runde.
Edgar und Mark huschten als Letzte in den kleinen Konferenzraum, in dem nur ein großer, runder Tisch und rundherum neun wacklige Stühle ihren Platz gefunden hatten.
An einer Seite stand noch ein bis zur Decke reichendes Regal, das zum Bersten gefüllt war mit Archivmaterial. Doch konnte man kaum frei darauf zugreifen, ohne über die Stühle klettern zu müssen.
Sie fanden keinen Sitzplatz mehr und quetschten sich direkt am Eingang an die Wand, umgeben von den restlichen Kollegen.
Das Wochenblatt umfasste insgesamt 25 freie und fest angestellte Mitarbeiter. Edgar und Mark gehörten zu dem glücklichen Drittel mit einer Festanstellung.
„Da die letzten zwei nun auch endlich eingetrudelt sind, können wir ja anfangen“, schnarrte die heisere Stimme der Chefredakteurin Annette Pieper unfreundlich zu ihnen herüber. Dabei trommelte sie mit ihren langen, künstlichen Nägeln ungeduldig auf der Tischplatte, um ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen.
Annette Pieper war eine kleine, drahtige Blondine in den Fünfzigern, die sich durch Disziplin, Ehrgeiz und Souveränität einen guten Namen in der Medienwelt erarbeitet hatte. Das Wochenblatt hatte sie, nach dem Tod ihres Vaters, bereits mit dreißig Jahren von diesem übernommen und herrschte seitdem mit eisernem Regiment über ihr Personal.
„Gut, was haben wir, was ist dringend, was gibt es Neues, wo müssen wir vor Ort sein? Ich möchte Vorschläge hören. Ich hoffe, Sie hatten in der letzten Woche Augen und Ohren offen.“
Auffordernd blickte sie in die Runde und tippte mit ihrem blauen Kugelschreiber kleine Punkte auf ein weißes Blatt Papier.
Das Brainstorming dauerte eine gute Stunde und war wie immer verbunden mit lauten Diskussionen und Streitereien.
Besonders die freien Redakteure wollten sich unbedingt in ihrem besten Licht präsentieren und buhlten um die Gunst ihrer Chefin. Ein allwöchentlich sehr ermüdender, da nervenaufreibender Prozess. Die Luft in dem kleinen Raum wurde von Minute zu Minute schlechter und die Stimmung gereizter. Der Konferenzraum glich einem Hexenkessel, der stark an die Frankfurter Börse erinnerte. Doch wie jede Woche schaffte es Annette Pieper irgendwie, die Stimmung gekonnt zu kontrollieren und jeden Redakteur halbwegs zufriedenzustellen. Sie liebte ihre Arbeit und war schon zu lange dabei, als dass ihr die Situation entgleiten könnte.
Nach anderthalb Stunden wurde das Meeting als beendet erklärt und Mark flüchtete dankbar aus dem stickigen, kleinen Raum. Er schlenderte zu seinem Schreibtisch, der am anderen Ende der Redaktion direkt am Fenster stand. Es war ein harter Kampf gewesen, diesen Platz zu bekommen, und er hatte eine ordentliche Portion Glück gehabt. Nur noch schnell ein paar Notizen machen und dann ab durch die Tür, dachte er bei sich.
Er setzte sich auf seinen quietschenden Drehstuhl und griff nach seinem Kuli, als er den kleinen, blaufarbenen Zettel bemerkte, der auf seiner Computertastatur lag.
Mark sah sich in der Redaktion um, ob jemand in seiner Nähe stände der ihm etwas dazu hätte sagen können, doch die Hälfte seiner Kollegen war schon zur Türe raus oder stand diskutierend im Türrahmen des Konferenzraums.
Er griff nach dem Zettel und faltete ihn auseinander. Dort stand in einer sehr krakeliger Handschrift:
„Wenn Sie die Story Ihres Lebens haben wollen, dann kommen Sie zu den Lagerhallen im alten Industriegebiet am Stadtrand von ST.A. gegen Mitternacht.“
Das ist ja wohl ein schlechter Scherz, dachte er bei sich und zog die Stirn kraus. Er studierte den Zettel genauer, drehte und wendete ihn. Aber da stand nichts weiter. Nur dieser eine Satz in einer wirklich schlecht leserlichen Handschrift. Prüfend sah er sich die einzelnen Buchstaben an, aber sie kamen ihm nicht bekannt vor. Ob Edgar sich einen Streich mit ihm erlaubt hatte, um ihn herauszufordern? Aber warum sollte er? Das war so gar nicht seine Art. Im Geiste ging er die anderen Kollegen durch, aber niemand wollte ihm einfallen, zu dem so eine Aktion passen würde. Beim Wochenblatt war jeder ein Einzelkämpfer und man scherte sich nur um die eigenen Angelegenheiten und Vorteile. Mark spielte kurz mit dem Gedanken, den Zettel in der Ablage P (Umgangston für Papierkorb) zu entsorgen, entschied sich dann aber doch dagegen. Irgendetwas in ihm, sein Instinkt oder vielleicht auch nur die blanke Neugierde, hielt ihn davon ab. Er steckte den Zettel in die Hosentasche, packte seine Sachen und ging hinaus. Den anderen gegenüber verlor er kein Wort über das Schriftstück. Nicht einmal gegenüber Edgar, der sich in einer für seine Leibesfülle rekordverdächtigen Geschwindigkeit in Richtung Parkplatz auf den Weg machte, sagte er einen Ton.
Er wollte erstmal eine Weile darüber nachdenken, bevor er eine Entscheidung diesbezüglich traf. Mark schlenderte langsam die belebte Straße entlang.
Er hatte es nicht allzu weit bis nach Hause. Ungefähr eine Viertelstunde zu Fuß, wenn er quer durch den Stadtpark lief. Der Stadtpark grenzte unmittelbar an den Marktplatz, an dem er wohnte, und bescherte ihm eine herrlich grüne Aussicht von seinem Mini-Balkon aus. Bevor er zu Hause ankam, vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Es war Benno, der die Verabredung für den Abend per SMS bestätigte.
Benno und Mark kannten sich schon von Kindesbeinen an und waren gleich alt. Sie hatten sich auf dem Spielplatz immer gegen die anderen Kinder verbündet und ihre Eltern mit so manchem Schabernack in die Verzweiflung getrieben. Auch wenn sich beider Leben in verschiedene Richtungen entwickelte, hatten sie doch nie den Kontakt oder den Respekt voreinander verloren. Benno war in die klassische Bankerlehre gegangen und pflegte auch sonst einen recht konservativen Lebensstil mit Frau, Kind und Hund. Während Mark immer noch den Freigeist verkörperte und sich nicht so recht an Regeln binden lassen wollte. Deswegen war er auch nach wie vor Single und flirtete mit allen hübschen Frauen, die ihm über den Weg liefen. Nicht selten verirrten sich junge Damen für einen temporären Zeitraum in seine Wohnung, um dann nach kürzester Zeit festzustellen, dass sich dieser Mann nicht einfangen ließ und sie sich lieber umorientieren sollten.
Da am frühen Abend sowieso nichts los sein würde, schlug Benno als Treffpunkt den Blumenladen am Bahnhof vor. Am Abend gegen 22 Uhr würde es passen. Mark war das nur recht. So hatte er vorher noch ein wenig Zeit sich Gedanken um diesen geheimnisvollen Zettel zu machen und sich den Bauch vollzuschlagen.
Denn der knurrte mittlerweile schon hörbar wie eine Horde wilder Bären. Freudig erinnerte er sich an die Tiefkühlpizza, die ihn daheim in der Tiefkühltruhe erwarten würde. Wozu lange kochen, wenn es so etwas Leckeres wie Pizza schon fertig für den Ofen gab. Zum Neid all seiner Kolleginnen machte ihm das ständige Fast Food figurtechnisch überhaupt nichts aus. Er blieb weiterhin leicht untergewichtig, egal wie viele Kalorien er über den Tag verteilt zu sich nahm.
Zu Hause angekommen schob er sich sein Essen in den Ofen, nahm eine schnelle Dusche, öffnete sein erstes Wochenendbier und setzte sich auf das ausgesessene braune Sofa. Den Zettel legte er vor sich auf den Glastisch. Sein Ofen gab ein leises „Ping“ von sich, welches signalisierte, dass sein Essen fertig war.
Schnell holte er sich einen Teller und nahm auf dem Rückweg zum Wohnzimmer noch die Straßenkarte vom Ort mit, die im Flur auf der Kommode lag. Er benutzte gerne noch die gute alte Karte, um seine Umgebung zu erkunden. Ihm gefiel die nostalgische Erinnerung daran als es noch nicht so viel Technik gab, und er hatte einfach gerne Papier in den Händen. Auch beim Lesen eines Buches war ihm die greifbare Variante, in der man blättern konnte, lieber als ein E-Book.
Sorgfältig postierte er alles vor sich neben den Zettel auf dem Tisch und schlug, zwischen ein paar gierigen Bissen von seinem Essen die Karte auf.
Er fand das Industriegebiet fast auf Anhieb und studierte die Umgebung. Wenn er heute Abend noch dorthin wollte, würde er sich vom „Poseidon“ aus ein Taxi nehmen müssen.
Das Gelände war nicht gerade um die Ecke, mit einem Taxi würde er aber keine 10 Minuten brauchen.
Während er den letzten Bissen mit einem Schluck Bier hinunterspülte, sinnierte er über Frage, inwieweit er der Nachricht Glauben schenken sollte oder nicht. Schlussendlich entschied er sich für ein „Was soll‘s, warum nicht?“
Der Zeiger seines Chronografen zeigte auf 21:30 Uhr, als Mark sich auf den Weg zum Bahnhof in die Stadt machte. Er hatte bewusst auf seinen Wagen, einen alten, verrosteten VW-Käfer, verzichtet und den Bus genommen. Nicht dass er den Wagen hätte benutzen können, der war schon seit Jahren abgemeldet, aber es freute ihn der Gedanke, dass die Option bestand. Er war durchaus schon ein paar Mal in Notsituationen illegal damit gefahren. Bisher hatte er immer Glück gehabt und war nicht erwischt worden.
Es war der letzte Bus, der noch zu so später Stunde fuhr. In diesem Stadtteil wurden abends schon früh die Bordsteine hochgeklappt und man musste entweder eine Alternative finden wenn man den Bus verpasst hatte oder gut zu Fuß sein. Nach nur drei Haltestationen hatte er sein Ziel erreicht und stieg erleichtert aus dem muffig riechenden Gefährt in die kühle Nachtluft hinaus.
Benno wartete bereits ungeduldig am verabredeten Platz auf ihn. Seine große, kräftige Gestalt war kaum zu übersehen und die Glatze leuchtete im schwachen Licht der Straßenlaterne wie blank poliert. Er genoss es sichtlich, mal wieder mit seinem Kumpel loszuziehen und nicht über seine Verantwortung daheim nachzudenken.
Mark kannte das schon. Die erste Stunde gab Benno Vollgas und feierte als ob es kein Morgen gäbe, aber keine halbe Stunde später hatte er dann die Schnauze voll und würde nach Hause wollen. Heute kam ihm dieses Muster sehr gelegen. Wenn Benno dann, voll wie eine Haubitze, nach Hause abzog, würde er sich ein Taxi nehmen und, der Spur des Zettel weiter folgend, in das Industriegebiet fahren.
Weiter ging sein Plan noch nicht. Wenn er erst mal dort war, könnte er immer noch entscheiden, was zu tun sei.
Er begrüßte seinen Kumpel kurz per Handschlag.
Benno musterte Mark eingehend von oben bis unten und runzelte die Stirn. Mark sah ihn fragend an.
„Ist irgendetwas?“
„Meinst du, die lassen dich so dort hinein? Du hättest dir wenigstens ein paar vernünftige Schuhe anziehen können“, Benno blickte naserümpfend auf die schwarzen Chucks seines Kumpels nieder.
„Es ist nicht jeder bei einer Bank beschäftigt und kann sich so teuren Fummel leisten, wie Du ihn trägst“, konterte Mark und grinste frech.
„Äh, geht der Scheiß schon wieder los“, verdrehte Benno die Augen, „komm, lass uns gehen.“
„Du fängst ja immer damit an“, stichelte Mark im Gehen weiter, „ich würde nie über deine Kleidung nörgeln.“
„Weil es daran nichts zu nörgeln gibt“, Benno zupfte einen imaginären Flusen von seiner maßgeschneiderten, schwarzen Anzughose. „Ich hoffe der Türsteher hat heute einen guten Tag, aber wie ich dich kenne, hast du eh wieder Glück und es ist überhaupt keiner da oder so ähnlich.“
In friedlicher, schweigender Eintracht gingen sie weiter in Richtung Eingangstür. Diese Art von Sticheleien gehörte zu ihrer Freundschaft dazu und keiner nahm das ernsthaft böse. Jeder akzeptierte den anderen mit seiner Andersartigkeit.
Wie Benno erwartet hatte, stand kein Türbewacher am Eingang und sie konnten ungehindert eintreten.
Das Lokal war noch recht leer um diese Uhrzeit, nur ein paar einzelne Tische waren besetzt und ein paar einsame Gestalten saßen am Tresen. Sie setzten sich in die hinterste Ecke an einen Tisch für zwei Personen und bestellten für den Anfang jeweils ein Weizen.
Mark hatte beschlossen, sich gegen seine sonstige Gewohnheit, heute mal zurückzuhalten, damit er später einen klaren Kopf hatte. Wer weiß, was nachher noch auf ihn zukommen mochte.
Benno hatte wie erwartet sein Glas schon nach 10 Minuten geleert und bestellte Nachschub. Die Zeit verlief schleppend und irgendwie wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Die Besucheranzahl stieg nur langsam und die Gesprächsthemen nahmen merklich ab.
Pünktlich gegen halb zwölf räumte Benno ein, dass er nun genug hätte und sich so langsam auf den Heimweg machen würde. Anders als sonst hinderte Mark ihn nicht daran, sondern winkte sogar noch der unterforderten Kellnerin, um die Rechnung zu verlangen. Bedingt durch seinen Alkoholpegel fiel Benno dies ungewöhnliche Verhalten seines Freundes jedoch nicht auf. Anstatt sich über dessen schnelle Kapitulation zu wundern, war er schon auf dem Weg nach draußen. Mark war sehr erleichtert, dass er sich so einfach hatte aus der Affäre ziehen können und keine nervigen Fragen beantworten musste. Benno diskutierte ganz gerne unter Alkoholeinfluss.
Nachdem dieser mit dem ersten Taxi, das am Taxistand am Bahnhof gewartet hatte, außer Sichtweite war, stieg Mark in das zweite Taxi ein und nannte dem Fahrer sein Ziel.
Dieser war ziemlich erstaunt, dass ein Fahrgast um diese Uhrzeit an so ein ungewöhnliches Ziel wollte, stellte aber keine Fragen, sondern schaltete wortlos den Taxameter ein.
Kurz vor den ersten Fabrikhallen ließ Mark den Taxifahrer anhalten, bezahlte und stieg aus. Er würde den Rest des Weges zu Fuß weitergehen.