Einleitung: Respekt und Bildung
Gewalt ist ein Grundproblem moderner Gesellschaften. Als der Dalai Lama bei einem Besuch in Straßburg im September 2016 von Jugendlichen danach gefragt wurde, was aus seiner Sicht Gewalt verhindern helfe und zum friedlichen Miteinander der Menschen beitragen könnte, antwortete der Friedensnobelpreisträger ebenso spontan wie lapidar: Respekt und Bildung.
Nun müssten wir zunächst klären, was unter Respekt verstanden wird. Zunächst fällt – für unseren Zusammenhang auf, dass Respekt etwas ist, was zu den Normen des Sozialverhaltens in allen muslimischen Gesellschaften gehört. Das gilt natürlich nicht nur für Muslime, sondern für viele traditionelle, auch christlichen Gesellschaften des Nahen Ostens. Allgemein und öffentlich erkennbar drückt sich in diesen Gesellschaften Respekt etwa gegenüber Eltern, Älteren überhaupt, Geistlichen, Lehrern oder sozial Höhergestellten schon in der Gestik und in der Körperhaltung, aber auch in entsprechenden verbalen Äußerungen aus. Diese Respektsbezeugungen sind vielfältig. Kinder, auch die im Erwachsenenalter, küssen traditionell ihren Eltern die Hand, wenn sie sie ihnen morgens begegnen oder sich einige Zeit nicht gesehen haben, und führen manchmal auch die Hand von Mutter oder Vater an ihre Stirn. Diese Respektsbezeugungen leiten sich aus den Geboten des Korans her. Da heißt es, besonders deutlich in Sure 17, 23f: »Und dein Herr hat bestimmt, dass ihr nur ihm dienen sollt und dass man die Eltern gut behandeln soll. Wenn eins von ihnen oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sag nicht zu ihnen: ›Pfui!‹, und fahr sie nicht an und sprich zu ihnen ehrerbietige Worte./ Und senke für sie aus Barmherzigkeit den Flügel der Untergebenheit und sag: ›Mein Herr, erbarme dich ihrer, wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein war.‹« Hier folgt das Gebot der Verehrung der Eltern unmittelbar auf das Gebot der Gottesverehrung. So verdeutlicht sich der besondere Rang dieser Respektsbezeugung.
In traditionellen Familien küssen Frauen auch die Hand ihres Ehemannes. Die gleiche Form der Ehrerbietung können auch ältere Frauen oder Männer erfahren, die über eine wie auch immer geartete Autorität verfügen. Das gilt auch für jüngere Personen höherer sozialer Stellung, die zum ersten Mal einem einfachen Mitarbeiter begegnen. Respektvoll verhalten sich auch Antrag- oder Bittsteller in traditionellen islamischen Gesellschaften, wenn sie mit Vertretern der Staatsmacht konfrontiert sind. Diese Verhaltensweisen und Gesten dienen also der Bestätigung sozialer Strukturen. Sie finden auf allen sozialen Ebenen islamischer Gesellschaften statt.
Nun ist Respekt in unserem Verständnis nicht nur ein normiertes Sozialverhalten gegenüber Höherrangigen in homogenen Gesellschaften. Der Friedensnobelpreisträger verbindet in dem angesprochenen Statement für die modernen Gesellschaften die Forderung nach Respekt zu Recht mit der Forderung nach Bildung: Diese beiden Haltungen stellen gerade in ihrer Verbundenheit das Herz jeden Dialogs und die Voraussetzung jedes gelingenden Miteinanders dar: Es braucht Information, Wissen und Kenntnis über den anderen, wenn man ihm angemessen begegnen will. Wenn man jemand nicht kennt, ist die Gefahr von Vorurteilen oder von verzerrter Wahrnehmung groß. Wissen übereinander ist wichtig, aber auch eine schätzenden Werthaltung dem anderen gegenüber, Offenheit in der Wahrnehmung des Gegenüber und auch die Bereitschaft zu menschlicher Begegnung auf Augenhöhe. Das ist die ursprüngliche Bedeutung von Respekt.
Respekt als Haltung in modernen, pluralistischen Gesellschaften ist etwas anderes als Toleranz. Toleranz kommt von »tolerare«, d.h. ertragen, dulden. Es bedeutet noch nicht Anerkennung des anderen. Eine Kultur des Zusammenlebens ist auch nicht auf dem Boden einer abstrakten Toleranz möglich. Hinzukommen muss das Wissen vom anderen, die Information über Hintergründe der Wertvorstellungen, aus denen er lebt – dies auch im Sinne aktiven Verstehenwollens des Fremden und Unterschiedlichen.
Bildung und Respekt gehören also zusammen. »Dulden heißt beleidigen«, bemerkte schon Goethe. Und er fügte hinzu: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zur Anerkennung führen.« Respekt ist informierte Wertschätzung, die auch dem anderen Wahrheit zutraut.
Wer heute Respekt fordert, muss freilich wissen: Respekt ist für uns ein fragiles Wort. Man muss den Kern seiner Bedeutung erst wieder freilegen. Denn spätestens seit der Studentenrevolte von 1968 ist Respekt zu einem Unwort geworden. Respekt als Haltung wurde ähnlich wie Disziplin oder Ordnung für eine Sekundärtugend gehalten oder als Anzeichen für autoritären Charakter gesehen. Wer Respekt einforderte, der stand im Verdacht der Manipulation und der Machtdurchsetzung.
Heute können wir in unserer Gesellschaft beides feststellen: Verlust an Respekt – in den Medien, auch im Internet, in der Öffentlichkeit, im Umgang von Menschen untereinander, insbesondere mit Fremden, aber auch mit Politikern etc. Aber festzustellen ist auch die wachsende Einsicht, dass Respekt zu einer humanen Gesellschaft gehört, dass es so etwas wie ein Passwort für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Frieden darstellt.
Respekt als Haltung setzt Wertschätzung voraus. Umfragen zeigen nun aber: 60 Prozent der Deutschen bezeichnen den Islam als schlechte Religion. Man kann etwas aber nicht respektieren, was man nicht für gut hält. Wie kann es zu einer solchen Einschätzung kommen? Und welche Bedeutung hat Kritik?
Die eklatant kritische Einschätzung des Islam hat sicher verschiedene Ursachen. Eine davon ist aber auch mangelnde Kenntnis, fehlende Bildung. Einen Beitrag, das zu beheben, will dieses Buch leisten. Auch Kritikfähigkeit verschafft man sich nur durch Bildung. Wer gebildet ist, weiß auch, dass alle Probleme komplizierter sind als sie scheinen. Auch wenn ich selber etwas unterschiedlich beurteile, kann ich wissen, dass ein anderer Dinge auch anders sehen kann. Das ermöglicht, bei aller Kritik, die Verbindung von Respekt und Toleranz.
Natürlich ist Respekt auch gegenseitig. Auch Muslime müssen ertragen lernen und respektieren – also akzeptieren –, dass es in unserer Kultur die Freiheit gibt, nichts zu glauben oder die Religion zu wechseln oder zu akzeptieren, dass auch die eigenen Kinder Nein sagen zum überkommenen Glauben. Die goldene Regel, dass meine Freiheit immer auch die Freiheit des anderen ist, gilt auch für das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller und religiöser Prägung.
Dass es für viele Muslime, die erst seit kurzer Zeit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft leben, nicht einfach ist, herauszufinden, ob und wie gegenüber Herkunftsdeutschen Formen von Respekt ausgedrückt werden, liegt auf der Hand. Natürlich stellen sie fest, dass ritualisierte Respektsbezeugungen, wie sie sie aus ihrer Heimat kennen, nicht erwartet, ja sogar als unangebracht empfunden werden. Und massive Respektlosigkeit lässt sich vor allem bei allein reisenden jungen Männern aus dem muslimischen Kulturkreis beobachten, die den korrigierenden Einfluss ihrer Familien seit längerer Zeit verloren haben. Dieser Typus von jungen Männern ist auch als Teil islamischer Gesellschaften bekannt. Schon die mittelalterlichen muslimischen Historiker sprechen von »aubâsh« (Pöbel). Und es sind vor allem die bindungs- und perspektivlosen Männer unter den Zuwanderern, die durch Respektlosigkeit, ja Unverschämtheit, nicht zuletzt gegenüber jungen Frauen negativ in Erscheinung treten. Das aber ist kein Phänomen, das ausschließlich in islamischen Gesellschaften bekannt ist.
Etwas anderes ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Religion der Muslime bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft pauschal diffamiert wird. Das empfinden Muslime als Form von mangelndem Respekt gegenüber ihren höchsten Gütern. Dass bestimmte Erscheinungen im aktuellen Islam kritisiert werden müssen, wissen die Muslime selbst gut genug. Sie sind aber vielfach der Meinung, dass es die Muslime sein müssen, die diese Kritik äußern, weil sie sehr viel besser als die Kritiker die problematischen Aspekte ihrer Religion kennen als die vielen Autoren und Meinungsmacher, die diese Religion kaum in ihrer Gänze kennen.
Respekt ist in jeder Hinsicht eine Frage der Gegenseitigkeit. Wenn Muslime Respekt für ihre Religion und Kultur einfordern, erhalten sie oft zur Antwort, dass sie sich diesen Respekt erst verdienen müssen. Stellungnahmen der religiösen Autoritäten des Islams gegen alle Formen des radikalen Islams werden allerdings in der westlichen Welt kaum zur Kenntnis genommen. Ähnlich verhält es sich auch mit den Debatten um Burka oder Niqâb. Da äußern sich westliche Politiker, deren Fächer Wirtschaft oder Finanzen sind. Sie verstehen so viel von der Thematik, dass sie noch nicht einmal die korrekte Aussprache dieser Kleidungsstücke kennen. Die Diskussionen, die von muslimischen Feministinnen in den wenigen Ländern, in denen diese Kleidung verbreiteter ist, geführt werden, werden ignoriert. Dabei kann man, wenn man will, diese Debatten durchaus in den sozialen Medien verfolgen. Solche Ignoranz wird von vielen Muslimen genau zur registriert. Sie stellen auch fest, dass nach dem Attentat von Nizza am 14. Juli 2016 sich Tausende von Muslimen in den verschiedenen elektronischen Medien mit den Opfern solidarisiert und ihr Mitgefühl ausgedrückt haben. Auf das Attentat vom 3. 7. 2016 in dem Stadtviertel Karada der irakischen Hauptstadt mit über 200 Toten kam keine vergleichbare westliche Reaktion. Die Meldungen verschwanden innerhalb von Tagen aus den deutschen Medien. Auf ein Wort der Anteilnahme wenigstens von europäischen Politikern warten die Bewohner von Karada noch immer.
Seit einem halben Jahrhundert leben in Deutschland Muslime in beträchtlicher Zahl. Sie haben durch ihre Arbeit zum wirtschaftlichen Erfolg und zur kulturellen Vielfalt des Landes beigetragen. Sie haben ihre Kinder erzogen und den Bevölkerungsrückgang Deutschlands verlangsamt. Sie haben ihre Steuern entrichtet und in die Sozialkassen eingezahlt. Man findet unter der Gruppe der muslimischen Gastarbeiter und ihrer Kinder beeindruckende Erfolgsgeschichten. Da sind Ärztinnen und Ärzte, Anwältinnen und Anwälte, erfolgreiche Unternehmer und Mitarbeiterinnen von Banken und Politikerinnen und Politiker, deren Eltern mit rudimentären Schreib- und Lesefähigkeiten einst nach Deutschland gekommen waren. Und das alles ohne staatliche Integrationshilfen. Diese Eltern und ihre Kinder verdienen Respekt.
Sie dürfen aber Respekt auch in dem umfassenderen Sinn erwarten. Nur wenn wir beachten – und achten – was ihnen wichtig ist und aus welchen positiven Quellen sie leben, werden wir ihnen im Umgang gerecht werden. Deswegen werden wir im Folgenden auch immer wieder ein wenig weiter ausholen, um diese Zusammenhänge verstehbar zu machen.
Respekt meint also nicht blinde und kritiklose Anerkennung des anderen und ist auch nichts Einseitiges. Gegenüber dem Islam wird meist Religionskritik gefordert. Aber das sollte nicht ausschließen, dass man das Gute einer Religion wahrnimmt, offen ist für das ethisch Bedeutsame in dieser Tradition, für ihre besondere Form und Ausprägung der Menschlichkeit, für die besondere Qualität des Religiösen in der Beziehung von Mensch und Gott. Bildung ermöglicht solche Offenheit. Es geht im Folgenden also nicht nur um Höflichkeitsformen im Sinne eines simplen »Verhaltensknigge«, sondern immer wieder auch um religiöse und kulturelle Hintergründe. Diese zu kennen ist dem Umgang mit Menschen förderlich, die vom Islam geprägt sind.