KLAUS FARIN geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin-Neukölln. Nach Tätigkeiten als Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist ist er nun freier Autor und Lektor und daneben pausenlos auf Vortragsreisen unterwegs. Er gründete das Archiv der Jugendkulturen, dessen Leiter er von 1998 bis 2011 war, und ist heute Vorsitzender der Stiftung Respekt!.
Der zusammen mit Eberhard Seidel verfasste Band Krieg in den Städten wurde zu einem „modernen Klassiker“ (Ralph Giordano) der Jugendsozialforschung.
EBERHARD SEIDEL geboren 1955 in Sommerhausen/Franken, lebt seit 1977 in Berlin. Er hat das Standardwerk zur Geschichte des Döner Kebaps in Deutschland verfasst und war in seinem Leben auch schon Experte für Rechtsextremismus, Islamismus und jugendliche Subkulturen. Heute ist er Geschäftsführer von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage.
Wendejugend (Einleitung)
In der Nazi-Zentrale
„Wenn ich schon so ‘n Araber sehe, igitt.“
„Wenn ich verreise und plötzlich Deutsche sehe, dann sagt mir sofort etwas im Hinterkopf: Pass auf!“
„In unserem Alter hat man keine Zeit für Liebe.“
„Nur die Gruppe zählt.“
„Die Kids von Connewitz“
„Am Anfang ging es nur darum, im Weg zu stehen.“
„Dann geh ich runter und suche einen, der mich provoziert.“
António ist tot
Freundschaft im Asylheim
„Ich wollte nie ‘ne Barbiepuppe werden.“
„Ende der 80er Jahre gab es in Magdeburg bereits 28 Breakdance-Crews.“
„Im Sozialismus hast du Sicherheit und Geborgenheit gehabt, in der Schule, überall.“
„Kreuzberg ist ein Ghetto.“
„Für das viele Geld könnte man auch Kindergärten bauen.“
Quellenverzeichnis
10. November 1989, Grenzübergang Bornholmer Brücke. Hunderte von Westberliner*innen empfangen begeistert ihre Verwandten, Bekannten und Nachbar*innen von der anderen Seite der Mauer. Mit ungläubigen und strahlenden Gesichtern passieren jene die Grenze. Sektflaschen werden entkorkt, Schnapsflaschen kreisen, wildfremde Menschen fallen sich jubelnd um den Hals. Über Nacht hat sich das bedrückende Sujet der Grenzanlage in einen anarchischen, feucht-fröhlichen Rummelplatz verwandelt.
Inmitten der Trabi-Karawane kommt ein Westberliner türkischer Herkunft mit seinem VW-Bus aus dem Ostteil der Stadt. Sein Auftauchen stört die euphorische Menge, die jeden Wartburg und Trabant mit rhythmischem Klatschen begrüßt. Einige Gesichter verfinstern sich, der Gesang bricht ab, das Klatschen verstummt. Als Antwort auf den frostigen Empfang ruft er der Menge ein „Willkommen Arbeitslosigkeit“ zu. Die Stimmung schlägt um. Die ersten aus dem angetrunkenen Empfangskomitee treten gegen den VW-Bus. „Was will denn der hier?“, ist noch eine der zitierfähigen Reaktionen. Nach diesem kleinen Grenzzwischenfall interessierte uns während des deutsch-deutschen Einigungsprozesses vor allem dies: Wie reagieren Jugendliche in Ostdeutschland und in Berlin auf die Öffnung der Grenze, auf das Verschwinden der DDR und das Entstehen des neuen Deutschlands? Wie auf Entsolidarisierung und auf rechtliche und soziale Ungleichheit? Was bedeutet für sie Deutsch-Sein? Und gelingt es den deutsch-homogenen Jugendlichen des Ostens, mit den heterogenen Jugendlichen des Westens klarzukommen? Und schließlich: Wie reagieren die Deutschen in Ost und West auf die Migrationsbewegungen infolge des Verschwindens des Eisernen Vorhangs? Die westdeutschen Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft, also die Generation Golf aus den Mittelschichten, haben wir damals nur am Rande beachtet, denn in ihrem Leben waren die Wendejahre weit weniger einschneidend als bei den Ostdeutschen und den Migrantenjugendlichen. Bei ihnen änderte sich im Alltag zunächst recht wenig.
Um Antworten auf unsere Fragen zu finden, reisten wir über Jahre kreuz und quer durch die Republik. Wir suchten die Jugendlichen des Ostens und Berlins an ihren Treffpunkten auf – an Bahnhöfen, in Jugendzentren, besetzten Häusern, in Parks und in Klubs, an Straßenecken, in Musikkellern, Diskotheken und Fußballstadien. Wir sprachen mit ihnen, aber vor allem hörten wir zu, was sie zu erzählen hatten.
In diesem Band veröffentlichen wir Interviews mit Jugendlichen, die wir zwischen 1990 und 1994 geführt haben. Die Jugendlichen waren zum Zeitpunkt der Gespräche zwischen 15 und 24 Jahre alt und gehörten sehr unterschiedlichen Jugendszenen an – rechten, bunten, linken, multikulturellen und faschistischen. Die Interviews wurden von uns in einer historischen Phase geführt, als rassistische Morde in Deutschland alltäglich wurden, landesweit Flüchtlingswohnheime brannten. Und als Jugendliche mit Migrationshintergrund in Berlin und Westdeutschland um ihren Platz in der Stadt und im Land fürchten und kämpfen mussten. Die Gespräche dokumentieren das Ringen einer irritierten, verunsicherten und von der Politik und den Erwachsenen alleingelassenen Generation um eine Identität in diesem neuen Deutschland. Die Interviews zeigen Gemeinsamkeiten in den Weltbildern der Jugendlichen, zum Beispiel in ihrem Autoritarismus, Nationalismus, Sexismus und ihrer Homophobie, sie zeigen aber auch, wo die Lebenssituation der Alt- und der Neudeutschen sich aufgrund ihres unterschiedlichen Rechtsstatus gravierend unterscheiden.
Der Jugend der Wende kommt in Deutschland bis heute eine besondere Rolle zu. Sie ist von allen Altersgruppen diejenige, die die größte Entfernung zur pluralistischen Demokratie als Gesellschaftssystem hat. Diese Generation hat die Radikalität ihrer Jugendjahre mit ins Erwachsenenalter genommen. Aus ihr stammen die Wortführer von PEGIDA, die Mitglieder und das Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), und die Altersgruppe der heute 40- bis 55-jährigen Ostdeutschen hat bei der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019 am häufigsten die AfD gewählt. Und nicht wenige der migrantischen Jugendlichen von damals haben sich im Laufe der Jahre den Grauen Wölfen oder islamistischen Gruppen oder ultranationalistischen Gruppen mit Bezug zu Kroatien oder Serbien angeschlossen.
Wir haben uns in diesem Band dagegen entschieden, die Jugend der Wende in einem aufgearbeiteten Essay zu reflektieren, sondern lassen die Jugendlichen möglichst authentisch selbst zu Wort kommen. Interviews stellen – im Gegensatz zu Essays oder Reportagen – höhere Anforderungen an die Leser*innen. Sie müssen selbst erkennen, wo die Interviewpartner*innen Fragen ausweichen, sich in Widersprüche verwickeln, großspurig ihre Heldentaten übertreiben. Das ist mühevoller, führt selten zu eindeutigen Resultaten (Gott sei Dank), und ist – finden wir jedenfalls – spannender. Und – gerade auch aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit, die nicht von einem Autor entsprechend seinem Standpunkt geglättet wurde – erkenntnisreicher.
Jugendlichen eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Eigeninszenierung zu bieten, heißt natürlich nicht, ihnen eine Plattform zur ungebrochenen und unwidersprochenen Legitimation von Hassverbrechen zu geben. Ein Vorwurf, der regelmäßig erhoben wird, wenn rechte Jugendliche in der Darstellung nicht in ein politisches Interpretationskorsett gezwängt werden. Die größere Offenheit von Interviews zwingt all jene, die glauben Bescheid zu wissen, zum Überprüfen ihrer Bilder.
Wir denken: Im Zweifelsfall ist das Publikum immer noch selbst klug genug, authentische Darstellungen, beispielsweise von rassistischen Gewalttätern, zu interpretieren – ohne moralische Anmerkungen oder arrogante Sittenwächter, die, würden sie politisch denken, wissen müssten, dass Zensur immer eine Bankrotterklärung ist – für den Zensor. Wir teilen auch nicht die weit verbreitete Auffassung, die rechtsradikale und rassistische Ideenwelt sei so attraktiv, dass sie Menschen sogleich hoffnungslos infizieren würde, wenn sie damit in Berührung kommen. Wer sich so sehr vor einer offenen Konfrontation mit rechten Jugendlichen oder Ideologien fürchtet, hat längst den Glauben an die Kraft seiner eigenen Utopien und demokratischen Gegenentwürfe verloren.
Mit diesem Interviewband wollen wir den Leser*innen nicht nur ein Kaleidoskop der Gedanken, Gefühle und Überzeugungen der Wende-Jugend zur Verfügung stellen. Wir möchten gleichzeitig auf einen bislang viel zu wenig beleuchteten Aspekt hinweisen. Wer den Erfolg des Rechtspopulismus unter den heute 40- bis 55-Jährigen verstehen will, der muss sich das gesellschaftliche Klima vergegenwärtigen, unter dem diese Generation in den Jahren 1989 bis 1994 ihre politische Sozialisation erfahren hat. Diese Generation hat die Erfahrung gemacht, dass sich mit Gewalt durchaus viel erreichen lässt, sich Gewalt aus ihrer Sicht lohnt. Aufgrund der Straßengewalt wurden in den frühen neunziger Jahren Geflüchtete aus Städten Ostdeutschlands evakuiert, und Tausende von Vertragsarbeitern aus Mosambik, Vietnam und Angola haben fluchtartig das Land verlassen. Und migrantische Jugendliche haben in den frühen neunziger Jahren, lange bevor die Mordserie des NSU bekannt wurde, bereits die Erfahrung gemacht, dass sie sich nicht unbedingt auf den Schutz des deutschen Staates verlassen können und sie diesen im Zweifelsfall selbst in die Hand nehmen müssen. Bis heute machen viele Migrant*innen aus Berlin und Westdeutschland aufgrund des Alltagsrassismus keinen Urlaub im Osten.
Weder in der DDR noch in der Bundesrepublik gibt es Anfang der neunziger Jahre einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über den aufblühenden Nationalismus und Rassismus und das Versagen der Polizeikräfte. Stattdessen berufen sich die rassistischen Schläger und Mörder bei ihren Taten auf ein völkisches Selbstverständnis der Deutschen, das von der überwältigenden Mehrheit der Ost- und Westdeutschen geteilt wird. Diese verleugnen, dass zur republikanischen Familie des Westens, in die der Osten nun einheiratet, längst nicht mehr nur Hans und Helga, sondern auch Ayşe und Ahmet gehören. Migrantische Interessenvertretungen fordern 1990, dass auch sie Teil des Volkes sind und die Multikulturalität Deutschlands mit in die Staatsverträge zur deutsch-deutschen Vereinigung aufgenommen wird. Das Anliegen ist berechtigt, denn 1990 beträgt die ausländische Wohnbevölkerung in Westdeutschland 5,6 Millionen Menschen. Bei den meisten handelt es sich um Arbeitsmigrant*innen, die zwischen 1955 und 1973 eingewandert sind, und deren Kinder. Doch der Wunsch der Eingewanderten verhallt ungehört.
Stattdessen setzt die Politik ganz andere Zeichen. Die CDU und CSU, Teile der SPD um Oskar Lafontaine und Teile der Medien inszenieren in den Jahren 1990 bis 1993 mit rassistischen Stereotypen garnierte Kampagnen gegen Asylsuchende und „kriminelle Ausländer“, die Geflüchtete und Migrant*innen unter Generalverdacht stellen. Und am 1. Januar 1991 tritt ein „Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts“ in Kraft. Menschen ohne deutschen Pass, was damals fast ausnahmslos alle Migrant*innen betrifft, werden mit Hilfe von Rechtsverordnungen als potenzielle Störenfriede und innenpolitisches Risiko behandelt. Meldebehörden, Staatsangehörigkeitsbehörden, Sozial- und Jugendämter, Justiz-, Polizei- und Ordnungsbehörden, Arbeitsämter, Finanzämter und Hauptzollämter sowie Gewerbeämter sind von nun an aufgefordert, „den Ausländerbehörden ohne Ersuchen personenbezogener Daten von Ausländern, Amtshandlungen und sonstigen Maßnahmen gegenüber Ausländern mitzuteilen“. Jugendämter werden angewiesen, Ausländerbehörden Angaben über das zu erwartende soziale Verhalten ausländischer Jugendlicher zu liefern.
Diese Diskurse und diskriminierenden Gesetze sind mitverantwortlich für die Explosion rechtsextremer Gewalt in den Jahren 1990 bis 1992. Sie befördern Ideologien der Ungleichwertigkeit, die davon ausgehen, dass Autochthonen gegenüber den Allochthonen Sonderrechte und Privilegien zustehen. Sie tragen mit zum Verlust der humanen Orientierung in der Jugend der Wende bei, die sich durch diese Diskurse zur Aktion ermuntert fühlt – sozusagen als verlängerter Arm des Gesetzes und der Elterngeneration: „Die reden, wir handeln.“
Kaum jemand erinnert sich heute noch an den Studenten Mahmud Azhar, der in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1990 an den Folgen eines Überfalls starb. Als Azhar am Abend des 7. Januar 1990 das Institut für Biochemie an der TU Berlin verlässt, um nach Hause zu gehen, wird er von einem angetrunkenen DDR-Bürger mit Parolen wie „Deutschland den Deutschen“ beschimpft. Azhar flüchtet in das Uni-Gebäude zurück. Der Deutsche verfolgt ihn und schlägt sein Opfer mit einem Feuerlöscher nieder. Nach acht Wochen auf der Intensivstation stirbt Mahmud Azhar. Er wird der erste Name auf einer langen Liste der Todesopfer rechter Gewalt sein, die die Antonio-Amadeu-Stiftung auf Basis journalistischer Recherchen des Berliner Tagesspiegel und der Frankfurter Rundschau seit Jahren veröffentlicht und die 2018 195 Namen enthält.
Je stürmischer der Prozess der Vereinigung Anfang der 1990er Jahre verlief, desto zahlreicher wurden Übergriffe mit nationalistischem, rechtsextremistischem und rassistischem Hintergrund. Bekannt wurde nur die Spitze eines bedrohlichen Eisbergs, denn die Öffentlichkeit nahm in den ersten Jahren der Wende nur von den spektakulärsten Übergriffen Notiz. Zu sehr waren die beiden Teile Deutschlands mit sich selbst beschäftigt. Aber die „Einzelfälle“ häuften sich, wie zum Beispiel bei einer Lesung internationaler Autoren im Haus der Kulturen der Welt im Juli 1990 deutlich wurde. Vier Autoren aus Chile, Argentinien, Syrien und Indien waren eingeladen, um über ihre Fremdheitserfahrung und ihr Leben in Deutschland zu berichten. Der syrische Schriftsteller Adel Karasholi, seit 1961 in der DDR im Exil, bemühte sich auf dem Podium sichtbar um Fassung. Am Vorabend der Lesung wurde sein Sohn in Leipzig von Nazi-Skinheads krankenhausreif geschlagen. Karasholis indischem Kollegen Rajvinder Singh erging es ähnlich. Innerhalb weniger Tage wurde er in der U-Bahn zweimal das Opfer rechtsradikaler Jugendlicher.
Mit der Wende wächst die Verunsicherung unter den Migrant*innen in Westdeutschland und Westberlin. Auch unter denen mit scheinbar sicherem aufenthaltsrechtlichen Status. Die Angst, dass das Beispiel des „Rückkehrprogramms“ der im März 1990 gewählten DDR-Regierung Schule machen könnte, geht um. Dieses Programm regelt mit einer Abfindung die vorzeitige Heimkehr der Vertragsarbeiter nach Mosambik, Angola, Vietnam und Kuba. Die ausländischen Arbeiter sollen während einer dreimonatigen Kündigungsfrist 70 Prozent ihres letzten Gehalts und einmalig 3.000 DM Eingliederungsgeld bekommen sowie die Tickets für den Rückflug. Wie viele der Vertragsarbeiter überhaupt noch in den Genuss dieser Offerte kommen, weiß 1990 niemand so recht. Schätzungen im Hause der Ostberliner Ausländerbeauftragten, Anetta Kahane, gehen im Oktober 1990 davon aus, dass bereits die Hälfte des betreffenden Personenkreises „freiwillig“ und ohne Abfindung in die Heimat zurückkehrte. Sie fürchteten offenbar Übergriffe auf ihre Wohnheime, Beschimpfung und Diskriminierung. Die Angst ist berechtigt.
Die Jahre 1990 bis 1992 gehören mit zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Terrorismus der Roten Armee Fraktion, dem zwischen 1971 und 1993 insgesamt 33 Menschen zum Opfer fielen, hat die Gesellschaft über viele Jahre in einen emotionalen und sicherheitspolitischen Ausnahmezustand versetzt. Den nun eskalierenden Rechtsterrorismus und die völkische Straßengewalt dagegen nimmt die Mehrheit der Deutschen recht teilnahmslos hin, obgleich dieser alle seit 1949 bekannten Dimensionen terroristischer Gewalt sprengt. Allein zwischen 1990 und 1992 sterben 43 Menschen infolge rechtsextremer Gewalt. Hinzu kommen Hunderte von Sprengstoff- und Brandanschlägen auf Wohnungen, Wohnheime und unzählige Menschenjagden in den Dörfern und Städten des Landes mit Tausenden von Verletzten.
Begleitet wird diese Gewaltwelle gegen Geflüchtete, Migrant*innen und Angehörige linker und bunter Jugendszenen von einer beispiellosen politischen und publizistischen Kampagne zur Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in seiner bisherigen Form. Sie wird von SPD- und CDU-Bürgermeistern losgetreten und steuert auf ihren Höhepunkt zu, nachdem der Generalsekretär der CDU Volker Rühe am 12. September 1991 in einem Brief alle CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden aufruft, die „Asylpolitik systematisch zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern“. In der Folge vollzieht sich ein gefährlicher Schulterschluss, der zeigt, wie dünn das demokratische Fundament dieser Republik Anfang der neunziger Jahre ist. Neonazistische Gewalttäter können sich in dem Glauben wiegen, bei ihren Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und Geflüchtete im Interesse der schweigenden Mehrheit zu handeln. Auch die Polizei lässt es an Entschiedenheit in der Strafverfolgung und -vereitelung fehlen. Für das zögerliche Verhalten der Polizei gegenüber der gewaltbereiten rechten Szene lassen sich ohne Frage auch strukturelle Defizite anführen – aber nicht nur.
Tatsächlich besinnen sich die Führungsebenen der Polizei in Bund und Ländern ihres demokratischen Auftrags erst dann wieder nachdrücklicher, als die SPD im August 1992 den Brandstiftern, Totschlägern und Menschenjägern in Rostock-Lichtenhagen nachgab und sich bereit erklärte, nun doch dem „Asylkompromiss“ zuzustimmen. Die Abschaffung des Asylrechts in seiner seit 1949 gültigen Form, ein Herzensanliegen der politischen Rechten, ist damit nach zehnjährigem Kampf endlich unter Dach und Fach. Offiziell vereinbaren CDU/CSU und SPD am 6. Dezember 1992 den sogenannten Asylkompromiss, der unter anderem das Prinzip der sicheren Drittstaaten, der sicheren Herkunftsstaaten und des Flughafenverfahrens einführt. Diesem Kompromiss gingen vom 22. bis 26. August 1992 das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und am 23. November 1992 der Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Wohnhäuser in Mölln voraus.
An der Trauerfeier für die Opfer von Mölln am 27. November 1992 in Hamburg nimmt Bundeskanzler Helmut Kohl nicht teil. Darauf angesprochen meint sein Sprecher, die Bundesregierung wolle nicht in einen „Beileidstourismus“ verfallen. Diese Gefühlskälte ist heute nur noch schwer vorstellbar.
Bei der Eskalation des rechten Terrors in Deutschland spielten die Medien, allen voran Springers BILD, eine unrühmliche, eine antreibende Rolle. Wir haben diese in einem Beitrag für das Fachmagazin Journalist bereits 1992 analysiert. Er kann als abschließender Beitrag nachgelesen werden.
Erst nachdem mit der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl eine zentrale Forderung der (extremen) Rechten erfüllt wurde, erhob sich die bis dahin schweigende Mehrheit gegen die völkische Straßengewalt und stellte mit Lichterketten klar, dass sie von nun an keine weiteren ethnischen Säuberungen mehr wünschte. Die erste Lichterkette fand am Tag des Asylkompromisses, am 6. Dezember 1992, mit 400.000 Personen in München statt. Weitere folgten dann im Winter 1992/1993 in anderen Städten.
Die bittere Erkenntnis der Jahre 1989 bis 1992 lautet: Es bedurfte erst drei Dutzend Morde und des terroristischen Attentats von Mölln, dass die bis dahin bedenklich schweigende Mehrheit von ihrer Polizei mehr Engagement bei der Verfolgung rechtsradikaler Gewalttäter einklagte. Polizei und Justiz verstanden diese Botschaft und legten eine etwas härtere Gangart ein. Endlich wurden Durchsuchungen in den Wohnungen seit Jahren bekannter Neonazis durchgeführt. Auch das Bundesinnenministerium wurde aktiv und verbot am 26. November medienwirksam, aber wenig effektiv eine Reihe von neonazistischen Organisationen, darunter die Nationalistische Front und die Deutsche Alternative. Beide Gruppen spielten bei der Vorbereitung und Orchestrierung von Angriffen auf die Unterkünfte von Geflüchteten in den neuen Ländern eine zentrale Rolle.
Schon bald konnten Polizei und das Bundesinnenministerium erste Erfolge vermelden: Nachdem der Rechtsextremismus 1992 mit 2.584 Gewalttaten seinen Nachkriegshöhepunkt erreicht hatte, sank die Zahl der Gewalttaten 1993 auf 1.814 und ging in den Jahren 1994 weiter auf 1.400 und 1997 auf 790 zurück. Besiegt war der Rechtsterrorismus damit noch lange nicht, sondern entwickelte sich mit der Gründung des Nationalistischen Untergrunds im Jahr 1998 unter veränderten Vorzeichen weiter.