Ada Christen: Rahel

 

 

Ada Christen

Rahel

und andere Erzählungen

 

 

 

Ada Christen: Rahel und andere Erzählungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Rudolf Krziwanek, Fotografie von Ada Christen

 

ISBN 978-3-8430-8573-1

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9370-5 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9371-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Käthes Federhut

Erstdruck: In: Aus dem Leben, Leipzig (E. J. Günther Nachf.) 1876.

Rahel

Erstdruck: In: Aus dem Leben, Leipzig (E. J. Günther Nachf.) 1876.

Der einsame Spatz

Erstdruck: In: Unsere Nachbarn. Dresden (Heinrich Minden) 1884.

Nachbar Krippelmacher

Erstdruck: In: Unsere Nachbarn. Dresden (Heinrich Minden) 1884.

Als er heimkehrte

Erstdruck: In: Unsere Nachbarn. Dresden (Heinrich Minden) 1884.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Ada Christen: Das Haus zur Blauen Gans. Erzählungen und Gedichte. Herausgegeben von Hanna-Heide Kraze, Berlin: Union Verlag, 1964.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Käthes Federhut

Arme Leute kaufen ihr Brennholz von dem Zimmerplatze weg. Es wird nicht in Wagen vor das Tor gefahren, sondern die Kinder gehen mit alten Tüchern hin und lesen an Spänen zusammen, was sie nur tragen können, bezahlen dann ein paar Groschen dafür und schleppen ihr Bündel auf dem Rücken nach Hause.

So wird es den ganzen Tag auf großen Zimmerplätzen nicht leer von den Kindern der Armen, und es setzt oft Püffe dort ab. Die Gesellen, der Werkmeister, oft der Zimmermeister selbst, fahren gelegentlich mit der Hand darein; am meisten aber prügeln sich die Kinder untereinander. So war es, als ich noch selbst ein Kind war, und so wird es wohl noch heute sein.[7]

Bei Regen und Sonnenschein, vom ersten Frühlingstag bis es herbstlich zu frösteln begann, mußte ich hinaus auf den Platz und den Holzbedarf für den nächsten Tag heimtragen, ja sogar noch etwas darüber, denn ein Büschel Späne wurde immer an die Rückwand der stockfinstern Küche gelegt. Jeden Tag ein Büschel, das gab bis zum Herbst einen Vorrat, der bis an die Decke reichte und für manchen Wintertag vorhielt.

»Ist zu sonst nichts gut, das Ding, die Christel«, sagte der alte Herr Fuchs, in dessen schmaler Kammer meine Mutter, ich, meine Schwester Maria und mein kleiner Bruder wohnten.

»Ist zu sonst nichts gut, das Ding ... das Ding«, brummte der Herr Fuchs drei-, viermal, kaute ein abscheuliches Stück Tabak zusammen, wurde dunkelrot im Gesichte und rollte dabei auf einem großen glatten Tisch die frischgenähten Handschuhe mit einem runden Holz, bis sie so schmal und fein wurden, wie sie der französische Handschuhmacher, unser »Herr«, verkaufte. Meine Mutter und die Maria saßen bei dem Kammerfenster, die Käthe saß in der großen Stube, aber alle nähten vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, während ich unter dem breiten hohen Tisch hockte – dort war mein Spielplatz daheim –, vor mich hin duselte oder Knöpfe an die fertigen Handschuhe nähen mußte. Ab und zu kam der struppige weiße Kopf des alten Herrn Fuchs zu mir herabgefahren, schaute mich grimmig an und knurrte sein »Ist zu sonst nichts gut, das Ding!«.

Ich hatte damals das siebente Jahr erreicht, fing an, in die Höhe zu schießen, war mager, sonnverbrannt, hatte strohgelbe, steife Haare und war immer lustig und hungrig. Das größte Stück Brot, welches die Kinder auf den Zimmerplatz brachten, handelte ich für meinen größten Span ein, und ich hatte noch lange nicht genug bis zum Abendessen, das nebst dem Frühbrot unsere einzige Mahlzeit war.

Daß ich solch unternehmenden Tauschhandel trieb, wußte meine Mutter nicht, sie grämte sich schon genug ob der vielen blauen Flecken und Beulen, die ich heimbrachte, oder ob der Risse, welche mein Röckchen trug.

Meine Mutter war eine empfindsame Frau, die sich immer[8] etwas suchte, worüber sie weinen konnte. Jeden Tag jammerte und weinte sie über unser Elend und über alle Krankheits- und Todesfälle in der Nachbarschaft, und wenn zufällig nichts geschah, borgte sie sich eine Zeitung aus und weinte über alles das, was an Unglück drinnen stand, und ich, die sich um nichts kümmerte, als daß morgen wieder auf dem Zimmerplatz Sonnenschein und große Späne wären, ich sollte immer mit ihr weinen.

Wenn sie so recht trostlos auf meinen zerrissenen Rock niederschluchzte und mich dabei immer wieder frug: »Wie hast du nur das angestellt?!«, konnte ich ihr nie auseinandersetzen, daß die Buben ihr Brot für meinen Span nicht immer ganz gutwillig herausgaben und daß es alsdann zu ganz sonderbaren Zweikämpfen kam, die um so erbitterter waren, weil sie lautlos und möglichst unbemerkt ausgefochten wurden. Am Boden hinkriechend während des Sammelns der Späne – unter irgendeinem Pfosten, an dem der Geselle über uns weiterzimmerte –, faßten wir uns an den Köpfen, kniffen uns in die Beine, pufften, wohin wir eben trafen, und suchten von unseren Kleiderresten irgendeinen Lappen als Siegeszeichen zu erhaschen.

Manchmal rollten wir in diesen kriegerischen Zerstreuungen zu weit in die Nähe der Zimmerleute, da gab es dann einen flüchtigen Fußtritt, und wir wurden samt und sonders von dem Platze gejagt. Wie vor dem verlorenen Paradies standen wir dann an der Einzäunung des freiliegenden viereckigen Zimmerplatzes, schauten durch die Gitter und baten kläglich um Einlaß. Aber es half dann nichts mehr.

Was uns daheim erwartete, wußten wir, das kam noch immer früh genug, darum trieben wir uns auf den Feldern herum und zauderten, bis unsere gewöhnliche Heimkehrstunde schlug. Je später es wurde, desto wehmütiger war unsere Stimmung; je näher wir unseren Wohnstätten kamen, desto milder und nachsichtiger wurden wir gegeneinander – die, welche sich am ärgsten gerauft hatten, gingen rührend versöhnlich Hand in Hand –, und wenn wir an den Haustoren flüsternd Abschied nahmen, zeigten nur noch die flatternden Risse unserer Kleider[9] , daß wir tagsüber verschiedene Meinungen in unserer Weise zu einigen suchten.

Ich schob mich an solchen bündellosen Abenden immer langsam durch das Haustor, pochte kaum vernehmlich an die Küchentüre und hatte es gewonnen, wenn mir die Käthe öffnete.

Die Käthe war vor Jahren auch auf dem Zimmerplatze gewesen, die wußte, wie es dort zuging.

»Käthe, ich hab heut nichts«, raunte ich ihr schon zwischen der Türe zu.

»Sei nur still, deine Mutter ist in der Kammer«, erwiderte sie leise.

Ich huschte seelenvergnügt durch die Küche in die Stube.

»Na du! Bist schon da? Schaust wieder sauber aus, du!« polterte[10] der alte Herr Fuchs, an dem ich vorbei mußte, wenn ich in unsere Kammer wollte; war ich erst drinnen, so frug meine Mutter nicht mehr viel, und ich machte mir mit meinem schläferigen Brüderchen zu schaffen.

Aber manchmal, wenn sie mir selbst öffnete und mich ohne Späne vor der Türe stehen sah!

Sie war reicher Leute Kind und erst nach meines Vaters Tod so arm geworden, und da sie deshalb in ihrer Kindheit nie auf einen Zimmerplatz gehen mußte, konnte ich sie auch nie über die Geschäftsgewohnheiten der Gesellen ganz aufklären ... Aus ihren Püffen machte ich mir nicht viel, denn sie hatte eine kleine, schwache Hand, aber sie weinte und klagte ohne Ende, daß wir alle den nächsten Winter elendiglich erfrieren würden; und sie sagte das so hoffnungslos und überzeugend, daß ich sie in meiner Todesangst händeringend frug, wann eigentlich der schreckliche Winter beginne ... An solchen aufgeregten Abenden glaubte ich es auch, wenn der alte Herr Fuchs die Türe aufstieß und in unsere Kammer hineinschrie: »Von allen nichtsnutzigen Kindern, die auf der Welt dem lieben Herrgott seine Zeit abstehlen, ist das Ding doch das allernichtsnutzigste!« Dann schob er den Tabak im Munde hin und her, zog heftig an seinen nachlässigen Hosenträgern und warf, während er mir noch mit der Faust drohte, die Türe wieder zu.

Ich kroch dann mit einem unaussprechlichen Abscheu vor meiner eigenen Nichtsnutzigkeit und mit einem dünnen Stück Butterbrot – das mir meine Mutter immer in einer nachträglich-zärtlichen Anwandlung gab – zu meinem Bruder auf den Strohsack und schlief meist recht bald ein.

Aber mit einem Male hatte alle Not auf dem Zimmerplatze ein Ende, denn ich fand einen mächtigen Gönner dort. Den Engländer nannten die andern einen langen breitschultrigen Gesellen, der mit den Beinen weit auseinander daherging, einen Wald von Haaren in dem Gesichte trug und immer die größten Sparren zimmerte. Die anderen sagten, er sei früher immer auf einem Schiffe gewesen und in der ganzen Welt herumgesegelt, und jetzt wolle er einmal auf festem Land leben[11] und unsere Sprache lernen. Es mag wohl so gewesen sein, denn er sprach ein mühsames Deutsch und sang oft fremdartige Lieder, die aber so lustig klangen, daß alle lachten, besonders wenn er immer auf ein und demselben kleinen Fleck dabei tanzte und die Füße in die Luft warf. Lang war er, daß er mit seinem Kopfe über die Größten hinwegschaute, und auf seinen braunen Armen lagen daumendicke Muskeln, die ich damals für Stricke nahm.

Ich getraute mich anfangs nie recht in seine Nähe, bis einmal die Kinder sagten: »Siehst, der ist ein Ries!«

Nun schlich ich sachte hin und wollte den Riesen genau sehen, ich machte mir erst nur so unauffällig mit seinen Spänen zu tun, und als er mich nicht beachtete, schaute ich dabei an ihm hinan. Als ich so in der Sonne stand und hinaufzwinkerte, flog ihm eine Wespe gegen die Stirne, ich dachte nicht daran, wie klein ich und wie groß er sei, sondern fuhr nur erschreckt mit abwehrender Hand, so hoch ich konnte, in die Luft ... Er lachte hell auf, schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel, hockte sich, auf den Fersen wiegend, zu mir auf die Erde, schaute mir schnurgerade in die Augen und sagte: »Du Aff!« Dann lachten wir alle beide, ich weiß nicht warum.

Plötzlich kam aber die Wespe wieder angesaust und saß flugs auf seiner Nase ... Ohne mich zu besinnen, schlug ich tüchtig hin, und sie fiel tot nieder. Der Engländer schaute mich erst verdutzt an, fuhr sich selber nach der Nase, und dann hob er mich an den Falten meines Rockes auf, schleuderte mich ein wenig durch die Luft und setzte mich wieder neben seinen Pfosten auf den Boden.

Lachend raffte er mit dem Fuße Späne zusammen und deutete:

»Da nimm!«

Mittlerweile war es Mittagszeit geworden, und die Gesellen verließen alle den Platz, nur der Engländer setzte sich auf einen Holzklotz, nahm Brot und Fleisch aus seinem blauen Leinensack, hieß mich Wasser holen in dem Kruge, der neben ihm stand, und begann alsdann zu essen. Ich setzte mich still an seiner Seite nieder und schaute so wie er in die helle Luft. Große blauschimmernde Fliegen hingen reglos über uns und[12] schwankten nur, wenn ein flüchtiger Hauch sie anwehte ... Über den Feldern zitterte und glitzerte etwas Unfaßbares, Durchsichtiges, und weit oben kreisten Tauben, deren Flügel wie blankes Silber glänzten. Es war ganz ruhig ringsum, nur weit rückwärts hieben noch ein paar Gesellen darauflos; der taktmäßige Fall ihrer Beile war das einzige Geräusch; als aber ein dumpfer gleicher Schlag erscholl, hatten auch die ihre Beile einfallen lassen und gingen bald grüßend an uns vorbei, hinaus durch die Felder.

Der Sonnenschein lag heiß wie ein klargoldener Schleier über dem schattenlosen Platze, das frischbehauene Holz duftete scharf, und aus manchem abgeschälten Stamme quoll schweres reingelbes Harz her vor. Unter dem einzigen dichtbelaubten Baum, der da war, legte sich der Engländer nieder, streckte seine langen Beine aus und winkte mir.

»Wie heißt du?«

»Christel.«

»So ...«, gähnte er, legte die Arme unter den Kopf, schob seinen breiten Strohhut über das Gesicht und lag die Weile wieder so still, daß ich dachte, er sei eingeschlafen, und mich nicht zu regen wagte.

»Willst du ein Stück Fleisch, Christel?«

Nun zierte ich mich ein wenig, schlang die Hände unter meiner Schürze ineinander, zog eine Schulter nach der andern auf, schob abwechselnd die linke und die rechte Hüfte vor und schielte ununterbrochen nach dem Leinensack hinüber ... Ich weiß das alles sehr genau, denn es hat mich später viel Mühe gekostet, diese hübschen Bewegungen abzulegen, manche behaupten sogar, die mit den Schultern sei mir geblieben, besonders wenn ich mich vornehm geben wolle. Aber das Stück Fleisch bekam ich doch, trotz meines verwilderten Gebarens, und auch ein großes Stück Brot gab mir mein Gönner dazu.

»Für wen holst du die Späne?« frug er mit einem Male wieder hinter seinem Strohhut hervor.

[13]