Die Herausgeberin
Prof. Dr. Etta Wilken ist Sonderschullehrerin und Diplom-Sprachtherapeutin. Sie war bis zu ihrer Pensionierung an der Leibniz-Universität Hannover tätig im Lehrgebiet Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik.
Etta Wilken hat bereits 1973 erstmalig zur Sprachförderung von Kindern mit Down-Syndrom publiziert. Sie besitzt langjährige Erfahrungen in der Ausbildung von Sonderpädagogen und Diplompädagogen sowie in der Elternarbeit und in der Therapie von Kindern mit Down-Syndrom. Die Gebärden-unterstütze Kommunikation (GuK) wurde von ihr entwickelt. Weitere Forschungsgebiete sind Unterstützte Kommunikation und Frühförderung.
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6. Auflage 2021
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-040390-1
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In den verschiedenen vorschulischen und schulischen Einrichtungen für behinderte Kinder nehmen schwerere Formen von Beeinträchtigungen zu. Die Ursachen für diese Veränderung sind vielfältig. So gibt es mehr Kinder, die gravierende pränatale Schädigungen, schwere Unfälle bzw. Krankheiten oder extreme Frühgeburt mit erheblichen Beeinträchtigungen überleben, und zunehmend werden auch seltene Syndrome diagnostiziert, die zu umfangreichen Behinderungen führen und zum Teil einen progressiven Verlauf haben. Viele dieser schweren Schädigungen ermöglichten früher nicht, dass betroffene Kinder überlebten und im Kindergarten oder in der Schule gefördert werden konnten.
Die Zunahme der schwer und mehrfach beeinträchtigten Kindern in allen speziellen Behinderungsgruppen hat auch dazu geführt, dass der Anteil der Kinder deutlich gestiegen ist, die sich nicht oder nur sehr eingegrenzt verständlich machen können.
Bei Kindern und Erwachsenen mit geistiger Behinderung betrifft dieses Problem heute oftmals schon 20–40%. Auch bei Schülern mit Körperbehinderung und mit Autismus ist die Gruppe der nicht bzw. kaum sprechenden Kinder sehr hoch. Obwohl dieses Problem bisher überwiegend für den Sonderschulbereich erfasst wurde (vgl. Adam 1996, Fröhlich/Kölsch 1998, Theunissen/Ziemen 2000, Wilken 2000, Boenisch 2009), ist davon auszugehen, dass besonders im Vorschulschalter aufgrund der oftmals gravierenden Entwicklungsverzögerungen umfassende Beeinträchtigungen der Kommunikation noch erheblich häufiger vorkommen.
Auch bei Erwachsenen in Heimen und Werkstätten ist das Problem fehlender oder eingeschränkter Verständigungsfähigkeit aufgrund von nicht erworbenen kommunikativen Kompetenzen oder altersbedingtem Verlust eine Herausforderung, die nach angemessenen Lösungen verlangt.
Kommunikation ist ein menschliches Grundbedürfnis und subjektiv für Lebensqualität von entscheidender Bedeutung. Sie ist eine wesentliche Bedingung für soziale Partizipation und Selbstbestimmung und zudem eine wichtige Grundlage jeder Entwicklung. Es besteht deshalb die Notwendigkeit, beeinträchtigten Kindern sowohl frühe entwicklungsbegleitende Hilfen zum Verstehen und zum Verständigen anzubieten als auch Jugendlichen und Erwachsenen, die sich nicht hinreichend lautsprachlich verständigen können, Möglichkeiten ergänzender und ersetzender Kommunikationsformen zu vermitteln.
Darum ist es notwendig, dass in der Sonderpädagogik das Problembewusstsein für die sich ergebenden speziellen Erfordernisse der Kommunikationsunterstützung wächst, damit Kindern und Erwachsenen mit eingeschränkter Verständigungsfähigkeit entsprechende Hilfen rechtzeitig angeboten werden (vgl. Wetzel, 2000, Boenisch 2009). Auch in der pädagogischen und therapeutischen Ausbildung müssen entsprechende Kenntnisse vermittelt werden, damit in familiären und weiteren sozialen Alltagsbeziehungen, in vorschulischen und schulischen Einrichtungen, im Freizeit-, Berufs- und Wohnbereich angemessene Hilfen für diesen Personenkreis selbstverständlich werden.
Die vorliegenden Beiträge haben deshalb das Ziel, verschiedene Aspekte der unterstützten Kommunikation bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen darzustellen unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen und speziellen Bedürfnisse. Dabei ist auch auf behinderungsspezifische und altersabhängige Bedingungen sowie familiäre und institutionelle Kontextfaktoren differenziert einzugehen.
Eine wichtige Grundlage der Förderung ist eine entwicklungsbezogene Diagnose, die von den Kompetenzen ausgeht (siehe Kane; Müller, Wolf & Aktas).
In der Frühförderung hat unterstützte Kommunikation das Ziel, für Kinder mit besonderen Beeinträchtigungen im Spracherwerb angemessenen Hilfen zu gestalten, ohne dadurch natürliche Interaktionsformen zu gefährden – selbst wenn spezielle Angebote erfolgen (siehe Wilken). Die behinderungsspezifischen Besonderheiten der Sprachentwicklung und des Grammatikerwerbs sind dabei angemessen zu berücksichtigen (siehe Konrad). Gerade die ständig wachsende Zahl der verschiedensten Hilfsmittel zur Kommunikationsförderung verlangt eine differenzierte Auseinandersetzung mit den veränderten Bedingungen des Spracherwerbs bei nicht sprechenden Kindern und eine entsprechend kriteriengeleitete Auswahl und Beratung.
Personen, die aufgrund von Körperbehinderung, geistiger Behinderung oder multiplen Beeinträchtigungen nicht oder nicht hinreichende lautsprachliche Fähigkeiten entwickeln bzw. erlernen können, benötigen unterschiedliche Angebote, die sowohl die individuellen Bedürfnisse und Kompetenzen berücksichtigen als auch die behinderungsspezifischen Erfordernisse (siehe Baunach/Braun und Kristen). Die Möglichkeiten der Förderung von Menschen mit Autismus und die verschiedenen Angebote zur gestützten und unterstützten Kommunikation (siehe Nußbeck, Nagy, Häußler) werden zwar durchaus abweichend beurteilt, verlangen deshalb aber, kritisch zu reflektieren, welche Förderung und Begleitung für ein individuelles Kind sinnvoll sein kann.
Ein wichtiger ergänzender Gesichtspunkt bezieht sich auf den geeigneten Lernort und die notwendigen Rahmenbedingungen. Aufgezeigt wird deshalb, welche Möglichkeiten der kommunikativen Förderung im gemeinsamen Unterricht gestaltet werden können (siehe Hömberg). Gerade für die Weiterentwicklung der inklusiven Beschulung ist es wichtig, die dafür erforderlichen personellen und sächlichen Ressourcen kriteriengeleitet und den individuellen Bedürfnissen entsprechend zu gewährleisten.
Unterstützte Kommunikation ist auch Erwachsenen noch anzubieten, denen bisher kein Zugang zu angemessenen alternativen oder ergänzenden Kommunikationsformen ermöglicht wurde (siehe Bober). Zunehmend wichtig ist zudem, die Bedürfnisse von Personen zu berücksichtigen, die aufgrund krankheitsspezifischer oder allgemeiner altersbedingter Abbauprozesse immer weniger in der Lage sind, sich verbal zu verständigen. Dabei sind sowohl das Lebensalter als auch die individuellen Lebensbedingungen – ob zu Hause, in eigener Wohnung oder im Wohnheim – und die sich daraus ergebenden speziellen Bedürfnisse der Erwachsenen differenziert zu reflektieren.
Die Zunahme von Kindern und Erwachsenen, die alternative oder ergänzende Kommunikationshilfen benötigen und das anwachsende Bedürfnis nach Beratung und Information auch der Bezugspersonen in der Familie und in den verschiedenen Institutionen machen dringend erforderlich, nicht nur entsprechende regionale Angebote an Beratungsstellen aufzubauen (siehe Karus), sondern auch Fortbildung und Forschung weiter zu entwickeln.
Das vorliegende Buch will nicht nur Informationen über die verschiedenen Verfahren vermitteln und die aktuelle Diskussion der Ansätze darstellen, sondern auch dazu beitragen, dass eine Kooperation von Betroffenen, ihren Angehörigen und Professionellen zunehmend besser gelingt.
Alle Autoren fühlen sich einem Menschenbild verpflichtet, dass den grundsätzlichen Anspruch auf Selbstbestimmung und Autonomie betont und darum auch in Therapie und Förderung die Bedeutung von Eigenaktivität gegenüber normorientierten, direktiven Verfahren vertritt. In allen Beiträgen geht es deshalb um die günstige Gestaltung förderlicher Bedingungen, die das einzelne Kind bzw. den Erwachsenen unterstützen, seine Kompetenzen unter den gegebenen behinderungsspezifischen Beeinträchtigungen und den kontextbezogenen Aktivitäts- und Partizipationsmöglichkeiten zu entwickeln.
Mit Unterstützter Kommunikation werden alle pädagogischen und therapeutischen Hilfen bezeichnet, die Personen ohne oder mit erheblich eingeschränkter Lautsprache zur Verständigung angeboten werden.
Die im internationalen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung ergänzende und alternative Kommunikation ist zwar eindeutiger (AAC = Augmentative and Alternative Communication), aber im deutschsprachigen Bereich hat sich der Terminus Unterstützte Kommunikation (U.K.) überwiegend durchgesetzt (vgl. Braun, 1994).
Alternative Kommunikationsformen werden Menschen mit Behinderungen angeboten, die aufgrund fehlender oder erheblich eingeschränkter Sprechfähigkeit statt der gesprochenen Sprache ein anderes Kommunikationssystem benötigen. Dabei handelt es sich überwiegend um Gebärden, graphische Symbole oder Schrift sowie um sehr unterschiedliche technische Hilfen mit und ohne Sprachausgabe.
Unter ergänzender Kommunikation versteht man dagegen Verfahren, die unterstützend bzw. begleitend zur Lautsprache eingesetzt werden. Sie sollen einerseits bei Kindern mit erheblich verzögerter Sprachentwicklung die lange Zeit fehlende lautsprachlicher Verständigung überbrücken und den Spracherwerb fördern und andererseits bei Personen mit schwer verständlicher Sprache das Verstehen erleichtern sowie ergänzend zu nicht normsprachlichen Lauten (z. B. ai oder e-e für nein und mm für ja) eine effektivere Kommunikation ermöglichen.
Es gibt sehr viele und unterschiedliche Ursachen, die zu vorübergehenden, lang anhaltenden oder dauerhaften Beeinträchtigungen der Sprechfähigkeit führen oder auch zum Abbau verbaler Fähigkeiten oder deren Verlust. Deshalb weist die Personengruppe, der Unterstützte Kommunikation angeboten wird, eine große Heterogenität auf, und es ist wichtig, sowohl altersbedingte Faktoren zu berücksichtigen als auch schädigungsspezifische Aspekte, soziale Bedingungen und subjektive Bedürfnisse. Eine zunehmende Bedeutung hat auch im Kontext von Unterstützter Kommunikation die Berücksichtigung der besonderen Bedingungen bei Zwei- oder Mehrsprachigkeit und der Lebenswelt bezogenen Relevanz der jeweiligen Sprache.
Von besonderer Bedeutung ist der Zeitpunkt, wann die sprachbeeinträchtigende Schädigung erfolgte. So ist es ein Unterschied, ob die Behinderung von Geburt an oder doch in sehr jungen Jahren und damit vor oder im Erwerb der Lautsprache sich auswirkte oder erst erfolgte, nachdem Sprechen und andere Sprachkompetenzen bereits erworben und gefestigt wurden – einschließlich schriftsprachlicher Fähigkeiten.
Die Ausführungen in diesem Buch beziehen sich auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die aufgrund früh erfolgter Schädigungen eine erhebliche Behinderung erlitten haben, die sich als motorische, kognitive oder emotionale Beeinträchtigung in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen auswirkte und bei denen dadurch sehr unterschiedlich ausgeprägte Einschränkungen im Erwerb kommunikativer und sprachlicher Kompetenzen verursacht wurden und bei denen insbesondere das Sprechen deshalb oft nicht oder nur erheblich eingeschränkt möglich ist oder sich erheblich verzögert entwickelt.
Angemessene Hilfen für Jugendliche und Erwachsene, bei denen zu einem späteren Zeitpunkt infolge von Krankheit (Schlaganfall, ALS) oder Unfall eine Einschränkung ihrer Verständigungsfähigkeit aufgetreten ist, müssen berücksichtigen, dass diese Personen aufgrund normaler Entwicklung und biographischer Erfahrung bereits entsprechende Kompetenzen erworben haben und deshalb oftmals auch andere Verfahren und Hilfsmittel benutzen können.
Obwohl im allgemeinen Sprachgebrauch die Begriffe Kommunikation, Sprache und Sprechen oft wenig differenziert werden, haben sie doch recht unterschiedliche Bedeutung und gerade für das Verständnis der vielfältigen Probleme, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit speziellen Beeinträchtigungen haben, ist eine Unterscheidung sehr wichtig.
Mit Kommunikation bezeichnen wir alle Verhaltensweisen und Ausdrucksformen mit denen wir mit anderen Menschen bewusst oder unbewusst in Beziehung treten1. Kommunikation umfasst deshalb viel mehr als nur die verbale Sprache.
So können Nähe und Distanz Vertrautheit oder Befremden ausdrücken; mit Berührung, Anfassen und Anblicken können Interessen deutlich werden. Kummer, Schmerz, Freude oder Wut zeigt sich mit entsprechender Mimik. Auch Körperhaltung, Erblassen und Erröten oder verweinte Augen können etwas über unser Befinden aussagen, erfordern aber eine kontextbezogene Interpretation. Zustimmendes oder ablehnendes Kopfnicken bzw. -schütteln oder Achselzucken ist situationsabhängig zu verstehen. Wie wir uns anziehen – ob festlich oder sportlich, Trauerkleidung, typische Trend- oder Peergruppenmode – drückt Vorhaben, eine bestimmte Stimmung oder auch Einstellung aus. Mit Gestik betonen wir unsere Ansichten, lenken das Interesse, zeigen Emotionen und verdeutlichen Gesagtes. Schon das kleine Kind zeigt – wenn auch ohne entsprechende Intention – mit seinem Verhalten seine Bedürfnisse, Vorlieben, Schmerz und Abneigung.
Alle diese Formen der Kommunikation sind vorwiegend nur situationsgebunden zu verstehen und bedürfen der besonderen Interpretation. Dabei werden innerhalb enger personaler Beziehungen, in einem Kulturbereich oder in der gleichen Peer-Gruppe diese verschiedenen Zeichen noch relativ gut verstanden, aber bei größerer Distanz, stärkeren Normabweichungen oder speziellen Beeinträchtigungen wird die erforderliche Interpretation oft erschwert und kann leicht misslingen. Deshalb können sich durch abweichende mimische, gestische und körpersprachliche Kommunikationsformen nicht nur in internationalen Beziehungen Störungen ergeben, sondern es gilt zu bedenken, dass auch Kinder mit migrationsbedingten anderen Erfahrungen verunsichert auf scheinbar allgemein verständliche »Kommunikationskulturen« reagieren können.
Zu den wichtigen individuellen Grundlagen der Kommunikation gehören – mit unterschiedlicher Relevanz – die sensorischen Fähigkeiten Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen, aber auch kinästhetische, propiozeptive und vestibuläre Wahrnehmung. Gelernt werden muss dabei die spezielle erfahrungsgebundene Bedeutungsgebung dieser über die Sinne aufgenommenen Eindrücke und ihre Koordinierung sowie »Sensorische Integration«.
Auch die mögliche Einflussnahme durch Blickkontakt, mimischer und gestischer Ausdruck, das abwechselnde Handeln in Interaktionen (turn-taking) sowie das Einhalten von alters- und kulturtypischem Kommunikationsabstand (Proxemik) zählen zu den basalen Kompetenzen, die in sozialen Beziehungen erworben werden.
Sprache ist ein speziesspezifisches Kommunikationssystem, das auf festgelegten Symbolen beruht. Gleich ob es sich dabei um Gebärden, Wörter oder optische Zeichen handelt, repräsentieren diese Symbole die Dinge, Handlungen, Abfolgen und Beziehungen. Sprache ist eine wesentliche Grundlage für das bedeutungsbezogene Verarbeiten von Wahrnehmungen, damit flüchtige Sinneseindrücke gespeichert werden können. Sie ist wichtig für das Vergleichen und Bewerten, für das Erinnern sowie die Bildung von Kategorien und sie ist eine wesentliche Voraussetzung für vielfältige kognitive Leistungen.
Allerdings sind diese Funktionen nicht gebunden an die Lautsprache, sondern an das Vorhandensein eines differenzierten Symbolsystems. Deshalb können Menschen ohne Lautsprache auch mit anderen Sprachsystemen wie Gebärden, Symbolsysteme oder Sprechausgabegeräte entsprechende kognitive Fähigkeiten entwickeln. Deshalb sind ein gutes Sprachverständnis und eine normale Sprachkompetenz – wie zahlreiche Beispiele belegen – keineswegs abhängig von der Sprechfähigkeit (vgl. Nolan 1989, Lemler 2013).
Als eine wesentliche Voraussetzung für das Erlernen von Sprache gilt die Bereitschaft zur sozialen Interaktion, die Entwicklung von Objektpermanenz und ein gewisses Symbolverständnis. Mit dem differenzierten Aufbau des Vokabulars (Lexik) ist auch die genaue Bedeutung zu erwerben (Semantik). Dabei unterstützt die Betonung (Prosodie) ganz wesentlich das Verstehen, wie das Gesagte gemeint ist (Lob, Tadel, Zweifel, Ironie). Auch die verschiedenen grammatischen Strukturen (Fragen, Passivsätze) müssen verstanden werden. Unabhängig vom Kontext ist zu lernen, sprachliche Mitteilungen zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren (Pragmatik).
Sprechen bezeichnet das Produzieren der hörbaren Sprache. Dazu ist erforderlich, dass die sprachtypischen Normlaute gebildet, zu Wörtern verbunden und bedeutungsbezogen benutzt werden. Sprechen ist ein besonders effektives und differenziertes Mittel der Kommunikation. Das Erlernen erfordert sowohl vielfältige basale Voraussetzungen als auch spezielle motorische und kognitive Fähigkeiten.
Für die normale Realisierung von Sprechen sind viele verschiedene Aspekte wichtig. So müssen die einzelnen Laute korrekt gebildet werden (Artikulation), bei der Wortfolge und Satzstruktur sind Regeln zu beachten (Syntax) und mit den geäußerten Wörtern werden Absichten verbunden (Pragmatik). Auch die Sprechfüssigkeit (Stottern, Poltern), die Lautstärke, Betonung (Prosodie) und Resonanz (Näseln) sind wichtig für eine ungestörte Kommunikation.
Ein besonderer Aspekt bezieht sich auf Regeln der Konversation. So ist zu beachten, wie und wann Nachfragen gestellt werden können und wann ein Sprecher unterbrochen werden darf, wie ein Gespräch begonnen, ein Thema bestimmt oder gewechselt werden kann. Missverständnisse müssen korrigiert und unterschiedliche Annahmen geklärt werden können. Die (Vor)Kenntnisse des Gesprächspartners bei einem Thema sind zu berücksichtigen. Auch gilt es angemessene Höflichkeitsformen zu beachten – das bezieht sich auch auf situationsgerechte Wortwahl und das Verwenden von typischen Peer-Gruppenausdrücken.
Bedeutung hat auch das Verhältnis von Gesprächsthema und aktueller Tätigkeit. Während beim kleinen Kind gemeinsame Gespräche überwiegend kontext- und handlungsgebunden sind, indem wir verbalisieren, wohin das Kind blickt oder womit es sich gerade beschäftigt oder indem wir eigene Tätigkeiten kommentieren, löst sich mit zunehmendem Alter des Kindes das Gespräch von der aktuellen Handlung und von der Situation (so kann beim gemeinsamen Kochen über einen Film gesprochen werden oder beim Essen über Erlebnisse in der Schule).
Behinderungen können bereits zu Veränderungen der basalen Grundlagen von Kommunikation und Sprache führen. Sie können die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen, die Motivation und das Bedürfnis, sich mitzuteilen, oder sie beziehen sich nur auf den motorischen Bereich. Manchmal sind allerdings alle verschiedenen Aspekte betroffen.
Deshalb ist es notwendig, die individuellen Voraussetzungen und Möglichkeiten zu erfassen und die Bedürfnisse und Interessen des Kindes und seiner Bezugspersonen zu erkennen, um geeignete Hilfen anzubieten. Dabei ist wichtig, eine zu enge Zielsetzung bezüglich der verbalen Sprache zugunsten einer möglichst effektiven Kommunikationsfähigkeit zu überwinden.
Die Kompetenzen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen der Lautsprache weisen eine große Streubreite auf, von eingeschränkter kontextgebundener präintentionaler Kommunikationsfähigkeit bis zu völlig normalem Sprachverständnis. Für alle Kinder gilt jedoch, dass die allgemeinen Fähigkeiten meistens deutlich weiter entwickelt sind als das Sprachverhalten vermuten lässt. Deshalb kommt es häufig zu einer erhebliche Unterbewertung der kognitiven Fähigkeiten, und nicht nur Erwartungen und Ansprüche der Bezugspersonen werden reduziert, sondern diese Fehleinschätzung und die dadurch bedingte Unterforderung kann auch die Motivation und Mitteilungsbereitschaft des behinderten Kindes einschränken.
Der Spracherwerb bei Kindern mit gravierenden Behinderungen der motorischen und/oder der geistigen Entwicklung ist fast immer mehr oder minder stark verzögert. Dadurch erfolgt jedoch nicht nur eine langsamere Entwicklung, sondern durch die dissoziierte Ausprägung von Fähigkeiten aufgrund von schädigungsbedingten und ätiologiespezifischen Veränderungen kann auch die normale wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Entwicklungsbereiche behindert bzw. nicht in gleicher Weise aktiviert werden. Zusätzlich zu diesen unmittelbaren Beeinträchtigungen haben viele behinderte Kinder auch Störungen des Sehens und Hörens sowie Wahrnehmungsschwächen in visuellen, auditiven, taktilen und kinästhetischen Bereichen, die eine bedeutungsbezogene Verarbeitung von Informationen erschweren und Erfahrung und Lernen in spezifischer Weise verändern können und dadurch zu erheblichen Auswirkungen auf den Spracherwerb führen.
Diese verschiedenen möglichen Störungen der unmittelbaren oder sekundären Grundlagen der sprachlichen Entwicklung bei Menschen mit Behinderungen können differenziert werden nach sensorischen, motorischen, emotionalen und kognitiven Voraussetzungen.
Sensorische Behinderungen wirken sich in sehr spezieller Weise auf den Spracherwerb aus. Es ist verständlich, dass vor allem Beeinträchtigungen des Hörens zu besonderen Schwierigkeiten führen beim Verstehen und Sprechen lernen. Aber auch Beeinträchtigungen des Sehens bewirken spezielle Probleme. So ist Blickkontakt, soziales Lächeln und deklaratives Zeigen kaum möglich, das Erkennen von Mundbewegungen der Bezugspersonen als Anregung für eigene Lautproduktion ist eingeschränkt und es ist für das Kind schwerer, über referentiellen Blickkontakt Beziehungen herzustellen sowie Bezeichnungen den Dingen bzw. Handlungen zuzuordnen. Unsichere kinästhetische Wahrnehmungen im Mundbereich erschweren dem Kind oftmals das Erkennen des Zusammenhangs von Zungenbewegungen und eigener Lautproduktion als Voraussetzung, um ihm vorgesprochene Laute nachahmen zu können.
Motorische und funktionelle Beeinträchtigungen von Zunge und Lippen, von Kopf- und Körperkontrolle, Veränderungen des Gaumens, der Kiefer und Zähne zeigen sich oft schon bei den Primärfunktionen der Sprechorgane, d. h. beim Saugen, Schlucken, Kauen und Trinken und wirken sich zumeist erheblich auf das Sprechen aus (vgl. Wilken 1974, 55; Wilken 2014). Auch die Atmung kann Probleme aufweisen mit manchmal gravierenden Problemen der Koordination beim Essen und Trinken.
Aufgrund solcher sensorischen und motorisch-funktionellen Beeinträchtigungen der grundlegenden Fähigkeiten kann das Sprechenlernen erheblich erschwert bis hin zu nicht möglich sein. Die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung sind jedoch individuell und behinderungsspezifisch sehr verschieden.
Die kognitiven und emotionalen Grundlagen der sprachlichen Entwicklung werden in den Interaktionen von Kind und Bezugspersonen erworben. In sozialer und gegenständlicher Kooperation kann das Kind Sinn und Ziel von Eigenaktivität erleben. Aufgrund von motorischen Behinderungen sind jedoch besonders kooperative Handlungen und die Erkenntnis, selber etwas bewirken zu können, erheblich beeinträchtigt und oft müssen die Bezugspersonen erst lernen, das behinderte Kind zu verstehen, damit es sich zunehmend verständigen kann (vgl. Wilken 1982, 7). Das wird von einer Mutter anschaulich geschildert: »Wir lernen, Lotta zu lesen. Ein steifer Rücken, angewinkelte Arme, feste Fäuste – sie hat Schmerzen. Ein starrer Blick, Arme, die sich heben – es kommt ein Anfall. Ich füttere sie auf meinem Schoß, ihr Rücken drückt gegen meinen linken Arm, sie kann den Löffel nicht sehen und öffnet doch den Mund, bevor er ihre Lippen erreicht. Auch sie liest mich, sie interpretiert meine Körperbewegungen, so wie ich ihre« (Roth 2017, 17).
Sensomotorische Erfahrungen sind eine wichtige Bedingung, Vorstellungen zu erwerben und Rituale zu verstehen. Die Entwicklung von Objektpermanenz und Symbolverständnis als kognitive Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von Sprache sind deshalb ganz wesentlich gebunden an eigene Handlungserfahrungen. Die ‹Erkenntnis des permanenten Objekts’ ermöglicht dem Kind, eine Geste oder ein Wort als Zeichen zu verstehen, das etwas Bestimmtes meint, und zu lernen, selbst Zeichen einzusetzen, um sich mitzuteilen. Dabei kommt insbesondere dem deklarativen Zeigen in der präverbalen Kommunikationsentwicklung eine wesentliche Bedeutung zu, weil das Kind unmittelbar erlebt, wie die Bezugsperson darauf eingeht und dass es dadurch etwas bewirken kann.
Motorische Behinderungen können somit über eingeschränkte Erfahrungsmöglichkeiten auch die kognitive und emotionale Entwicklung beeinträchtigen. Bei Menschen mit geistiger Behinderung und multiplen Beeinträchtigungen erfolgt nicht nur der Spracherwerb verzögert, sondern die Entwicklung der basalen Erkenntnisse ist bereits oft verlangsamt oder stagniert manchmal auf frühen Stufen. Bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen kann die Motivation zur Kommunikation verändert sein.
Die schädigungsspezifischen und sozialisationsabhängigen großen Unterschiede in der Entwicklung von Menschen mit Behinderungen bedingen, dass besonders im Bereich von Kommunikation, Sprache und Sprechen sehr verschiedene Kompetenzen erreicht werden können. Es ist deshalb erforderlich, die behinderungsspezifischen und individuell angemessenen Hilfen herauszufinden.
Die nachfolgende Tabelle zeigt, wie Verstehen und Mitteilen sich entwickeln. Dabei wird verdeutlicht, wie aufgrund von Behinderung spezielle Abweichungen entstehen können, die unterschiedliche Formen der Unterstützung notwendig machen.
Die einzelnen Aspekte von Verstehen und Mitteilen in der Tabelle sind nicht parallel zu lesen, da diese Entwicklung immer unterschiedlich verläuft. Zudem kann es aus sehr verschiedenen Gründen bei einigen Kindern zu einer erheblich dissoziierten Entwicklung der verschiedenen Kompetenzen kommen.
Entwicklung von
Durch Beobachtung in Alltagssituationen ist es oft möglich, auch ein nicht sprechendes Kind zu verstehen und sein Verhalten dann entsprechend zu beantworten. Aber für die Förderung ist wichtig, mit speziellen Verfahren zur Überprüfung der kommunikativen Kompetenzen differenziert zu ermitteln, was ein Kind wirklich verstehen kann und in welcher Weise es in der Lage ist, sich mitzuteilen und welche verschiedenen Verhaltensweisen es einsetzt, die wir lernen können, zu verstehen und kommunikativ zu interpretieren. So berichtet eine Mutter, dass sie das Verhalten ihrer Tochter interpretiert und entsprechend verbalisiert: »Wenn ich Lotta dusche und sie das Gesicht verzieht, schimpfe ich: ›Blöde Mama, ich wollte doch gar nicht duschen!‹ Ich lasse meine Stimme hell klingen, wenn ich für Lotta spreche … Wenn ich richtig liege mit meinem Dolmetschen, lächelt Lotta« (Roth 2017, 19).
Bei der Gestaltung der kommunikativen Förderung sind sowohl lebensweltorientierte als auch entwicklungs- und altersbezogene Bedürfnisse zu berücksichtigen. Zudem haben individuelle und soziale Fähigkeiten eine wesentliche Bedeutung und auch situationsabhängige und alltagsrelevante Aspekte sind zu beachten.
Das Ziel der verschiedenen Angebote der Unterstützten Kommunikation ist es, den Kindern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen von Sprache und Sprechen frühzeitig differenzierte Hilfen zur Verständigung zu vermitteln. Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht oder nicht hinreichend in der Lage sind, sich zu verständigen, gilt es, individuell geeignete Angebote zu machen, die Teilhabe und Mitbestimmung in ihrem Lebensalltag fördern. Unterstützte Kommunikation ermöglicht, die Bedürfnisse und Interessen der behinderten Personen zu erkennen, ihren Anspruch auf Selbstbestimmung und Würde zu berücksichtigen und damit Lebensqualität und wesentliche Voraussetzungen für Teilhabe und individuell wichtige Aspekte der Lebensgestaltung zu gewährleisten.
Adam, H. (1996): Mit Gebärden und Bildsymbolen kommunizieren. Würzburg
Braun, U. (1994): Unterstützte Kommunikation. Düsseldorf
Boenisch, J. (2009): Kinder ohne Lautsprache. Grundlagen, Entwicklungen und Forschungsergebnisse zur Unterstützten Kommunikation. Karlsruhe
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Nolan, Ch. (1989): Unter dem Auge der Uhr. Köln
Theunissen, G./Ziemen, K. (2000): Unterstützte Kommunikation – (k)ein Thema für den Unterricht mit geistig behinderten Schülern? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 51, 361–367
Roth, S. (2017): Eine Welt voller Gründe, glücklich zu sein. In: ZEIT Magazin vom 22.6., 15–23
Wetzel, J. (2000): Erfassung der Kommunikationsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern einer Heim-Sonderschule für Geistigbehinderte. In: ISAAC (Hrsg.): Unterstützte Kommunikation mit nichtsprechenden Menschen. Karlsruhe
Wilken, E. (2014): Sprachförderung bei Kindern mit Down-Syndrom. Stuttgart
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Wilken, E. (1974): Das Fingeralphabet als Kommunikationshilfe bei einem zerebralparetischen und gehörlosen Jungen. In: Heese, G./Reinartz, A. (Hrsg.): Aktuelle Beiträge zur Körperbehindertenpädagogik. Berlin
1 Eine Überdehnung des Begriffes auf alle Formen von Aktivität ist jedoch problematisch. Kommunikation ist eingebunden in wechselseitige personale Beziehungen – auch wenn noch keine Intentionalität vorliegt. Es ist deshalb fraglich, ob z. B. von pränataler Kommunikation gesprochen werden kann.
Kinder entwickeln ihre Verständigungsfähigkeit im Kontakt mit ihren Bezugspersonen. Zwar spielt in der Sprachentwicklung die Veranlagung eines Kindes eine sehr wichtige Rolle, doch hat auch die Umwelt großen Einfluss (Chapman 2000). Die affektive Beziehung zum Kind, die Häufigkeit, mit der mit ihm gesprochen wird, die Abstimmung des Gesagten mit dem Aufmerksamkeitsfocus des Kindes und das Eingehen auf seine Äußerungen sind einige wichtige Faktoren. Und bei einer Diagnose sollte stets auch betrachtet werden, welche Anregungen und Lernmöglichkeiten ein Kind in seinem natürlichen Umfeld vorfindet. Bei dieser Arbeit aber steht das Kind selbst im Mittelpunkt, dieser Ansatz betrachtet seine Verständigungsmöglichkeiten vor dem Beginn der Sprache.
Die Entwicklung der Verständigungsfähigkeit hängt mit einer Vielzahl von anderen Fähigkeiten zusammen, die die meisten Kinder im Laufe der ersten beiden Lebensjahre erwerben (Kane 1992). An dieser Stelle sollen zwei Bereiche genauer betrachtet werden, die eng mit der Verständigungsfähigkeit zusammenhängen, Kommunikation und Kognition. Im Bereich der Kommunikation lernt ein Kind, dass es Wünsche und Interessen mitteilen kann, seine Mitteilungen verstanden und beantwortet werden, und dass es diese Mitteilungen durch Übernahme in seiner Kultur üblicher Formen effektiver gestalten kann. Im Bereich der Kognition erwirbt das Kind z. B. die Grundlage für den Umgang mit Symbolen, für die Nachahmung spezifischer Mitteilungsformen durch Gesten oder Worte und für die Verwendung von Kommunikation als Mittel zum Erreichen von Zielen. Man geht heute davon aus, dass die Entwicklung in den beiden Bereichen eng zusammenhängt und sich gegenseitig beeinflusst. Deshalb sollte eine Diagnose der Verständigungsfähigkeit bei nicht sprechenden Kindern stets beide Bereiche erfassen.
Schon lange vor dem Beginn des eigentlichen Sprechens kommunizieren Kinder mit vielfältigen Mitteln. Vom ersten Lebenstag an »verstehen« Eltern ihre Kinder anhand ihrer Reaktionen auf ihre Befindlichkeit und auf Umwelteinflüsse. Eltern erkennen, wann Kinder hungrig oder müde sind und welche Formen der Ansprache sie mögen, lange bevor das Kind selbst um seine Bedürfnisse weiß. Typischerweise wird der Beginn der Verständigung im ersten Schrei eines Kindes gesehen, wie es Buchtitel wie »Vom ersten Schrei zum ersten Wort« (Kluge 1997; Papousek 1998) deutlich machen. Doch schon in den ersten Lebenstagen teilt sich ein Kind nicht nur stimmlich mit, sondern auch durch Körpersignale, wie Anspannung und Entspannung, Ruhe oder Unruhe, Hin- oder Wegschauen, und Eltern verstehen diese Signale. Die Entwicklung der Verständigung findet entsprechend nicht nur im Bereich der Laute statt, sondern ganz wesentlich auch im Bereich von Blick und Gestik, und es gibt eine Reihenfolge, in der Kinder kommunikative Fähigkeiten erlernen.
Kane (1992) beschreibt den Entwicklungsweg von den frühen Anzeichen für Befindlichkeit zur gezielten Kommunikation von Wünschen oder Interessen mit Worten oder Gebärden. Diesen Entwicklungsweg gehen auch Kinder mit erschwerter Entwicklung der Verständigungsfähigkeit, und das Erkennen des gegenwärtigen Entwicklungstandes und Niveaus hilft abzuklären, wo auf diesem Weg das Kind im Moment steht. Hieraus lässt sich z. B. erkennen, wo eine Kommunikationsförderung ansetzen könnte, bzw. ob ein Kind im Bereich der Kommunikation die Voraussetzungen für eine gezielte Sprach- bzw. Gebärdenförderung beherrscht. Denn es ist davon auszugehen, dass ein bestimmtes Kommunikationsniveau Voraussetzung für eine Verständigung mit sprachlichen oder nichtsprachlichen Symbolen ist. Die Diagnostik der Verständigungsfähigkeit ist möglich über eine gezielte Verhaltensbeobachtung. Hierzu wurde von Rotter, Kane und Gallé (1992) ein Beobachtungsverfahren entwickelt, das im Folgenden kurz beschrieben werden soll.
Ziel der Beobachtungen ist die Beschreibung des Verhaltens in kommunikativen Situationen. Hierzu werden Situationen vorgegeben, die das Kind zu kommunikativen Reaktionen anregen sollen. Reaktionen auf die kommunikationsauslösenden Situationen können Stufen der Kommunikationsentwicklung zugeordnet werden, um so den Entwicklungsstand eines Kindes zu beschreiben. Dabei geht es vor allem um die Beschreibung seines »typischen« Kommunikationsverhaltens, weniger um nur vereinzelt gezeigte »maximale« Leistungen.
Als Kommunikationsanlass werden relativ lebensnahe Situationen vorgegeben, die bei den meisten Kindern eine Reaktion mit Kommunikationscharakter hervorrufen. Dabei hängt die Art einer Mitteilung wesentlich mit dem Ziel zusammen, das erreicht werden soll, also mit ihrer Funktion. Allerdings ist die Funktion nicht immer eindeutig erkennbar, deshalb wird bei diesen Beobachtungen die Funktion über die auslösende Situation und nicht über ein spezifisches Verhalten definiert. In der frühen Kommunikation stehen vor allem drei Funktionen im Vordergrund:
• das Fordern von Gegenständen oder Handlungen
• das Kommentieren von Ereignissen
• Protest.
Fordern wird wahrscheinlich, wenn beim Kind ein Wunsch geweckt wird, den es sich nicht allein erfüllen kann. Liegt ein interessanter Gegenstand außer Reichweite, so liegt nahe, dass das Kind mit seinem Verhalten seinen Wunsch im Sinne eines »Gib ihn mir« signalisiert. Ein interessantes Spielzeug oder eine Flasche mit dem Lieblingsgetränk sind gut geeignet, diesen Wunsch auszulösen
Lässt sich der Gegenstand nur mit einer Handlung nutzen, die das Kind nicht alleine ausführen kann, so kann sein Verhalten diese Handlung vom Erwachsenen einfordern. Ein Luftballon muss aufgeblasen werden, Seifenblasen sollen fliegen oder die Flasche mit dem Lieblingsgetränk ist so fest verschlossen, dass nur die Erwachsene sie öffnen kann. Allerdings setzt das Fordern einer Handlung voraus, dass das Kind weiß, dass die entsprechende Handlung, z. B. Flasche öffnen, Mittel ist zum Zweck, den Saft aus der Flasche zu bekommen.
Kommentieren ist am ehesten zu beobachten, wenn ein Kind etwas Interessantes sieht oder hört und diese Erfahrung mit einer Erwachsenen teilen möchte. Erklingt plötzlich ein Glockenspiel, fällt ein Aufziehmotorrad vom Tisch oder leuchten bunte Lichter auf, so kann dies ein Kind dazu anregen, die Erwachsene auf diese Ereignisse hinzuweisen (z. B. durch Zeigen oder durch »oh«), oder sein Interesse durch das Pendeln des Blicks zwischen Ereignis und Erwachsener mitzuteilen.
Protest kann man auslösen, indem man einem Kind unbeliebte Aktivitäten oder Gegenstände anbietet, oder ihm etwas fortnimmt, an dem es Interesse zeigt. Vielleicht verwundert es, dass bei dieser Diagnostik Protest gezielt provoziert werden soll, da ja gerade in der Arbeit mit behinderten Kindern oft der Wunsch nach Kooperation im Vordergrund steht. Doch für ein selbstbestimmtes Leben ist das »Nein-Sagen« ebenso wichtig wie das Fordern oder die Äußerung von Zustimmung. Außerdem haben manchmal »störende« Verhaltensweisen wie Schreien, Aggressionen und auch Selbstverletzung die Funktion von Protest. Gerade deshalb ist es wichtig abzuklären, welche Verhaltensweisen ein Kind in Protest anregenden Situationen zeigt.
Allgemeine Regeln für die Diagnostik durch Verhaltensbeobachtung: Für die Durchführung der Beobachtungen der Kommunikation gibt es einige Grundregeln, die hier zunächst dargestellt werden sollen. Da die meisten Regeln auch für die Beobachtung des kognitiven Verhaltens gelten, werden sie an dieser Stelle für beide Bereiche gemeinsam dargestellt. Wird die Untersuchung von einer dem Kind fremden Person durchgeführt, so sollte eine Bezugsperson anwesend sein. Dies gibt dem Kind wichtigen emotionalen Rückhalt und ermöglicht es darüber hinaus, das kindliche Verhalten während der Untersuchung mit seinem Alltagsverhalten zu vergleichen. Optimal ist, wenn die Untersuchung auf Video aufgezeichnet werden kann, da es während der Durchführung schwierig ist, subtile Verhaltensweisen eines Kindes zu erkennen. Dies gilt vor allem für die frühen Entwicklungsphasen.
Es hat sich bewährt, die Beobachtungen am Tisch sitzend durchzuführen, wobei nur die für die jeweilige Situation benötigten Gegenstände auf dem Tisch sein sollten. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind die Vorgabe beachtet und seine Verhaltensweisen tatsächlich Reaktionen auf die vorgegebene Situation sind. Dadurch wird wahrscheinlicher, dass sie im Bereich der Kommunikation die erwartete Funktion haben, selbst wenn die Funktion nicht eindeutig am Verhalten zu erkennen ist. Dies ist besonders wichtig bei Kindern auf relativ niedrigem Entwicklungsstand und bei Kindern mit wenig ausgeprägten Reaktionen. Die Dauer der Beobachtung sollte auf die Ausdauer des Kindes abgestimmt werden. Bei schlechter Motivation, Ermüdung oder Irritation sollte man abbrechen. Erfahrungsgemäß können viele Kinder etwa 15 bis 20 Minuten mitarbeiten, wenn die Untersuchung locker und abwechslungsreich gestaltet wird.
Die Vorgabe der Situationen ist nicht standardisiert. Ziel ist es, möglichst vielfältige Reaktionen auszulösen. Für jede Situation muss die Motivation des Kindes geweckt werden. Dies geschieht zum einen durch intensiven positiven Kontakt zum Kind, durch Beachtung seiner Aufmerksamkeit und Ermüdung und durch Abstimmung der verwendeten Gegenstände auf die Interessen des Kindes, wobei (als Ausnahme) auch Leckereien angeboten werden können.
Die einzelnen Aufgaben können in beliebiger Reihenfolge gegeben werden, abgestimmt auf die Präferenzen des Kindes. Oft bieten sich inhaltlich sinnvolle Darbietungssequenzen an. Ein Beispiel aus dem Bereich der Kommunikation ist, dass man zunächst eine Seifenblasendose außer Reichweite stellt, nach einer Reaktion des Kindes ihm diese fest verschlossen gibt und abwartet, wie es fordert, dass die Erwachsene blasen soll. Wenn man dann geblasen hat, kann man beobachten, ob das Kind auf die fliegenden Blasen mit einem Kommentar reagiert. Jede der Situationen sollte mehrmals und mit unterschiedlichen Materialien gestaltet werden, damit man mehrere Verhaltensbeispiele erhält. Bei der Untersuchung der kognitiven Entwicklung ist es auch günstig, wenn man zwischen den Untertests wechselt, um durch neue Aufgabentypen das Interesse des Kindes wach zu halten. Löst ein Kind eine Aufgabe nicht, so ist es sinnvoll, diese nochmals zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Materialien anzubieten, um zu klären, ob eventuell fehlende Motivation oder Ermüdung die eigentliche Ursache hierfür sind.
Spezielle Regeln für die Kommunikationsbeobachtung: Grundsätzlich sollten stets die Erwartungen des Kindes erfüllt bzw. seine Botschaften erfolgreich sein, d. h. das, was es fordert, bekommt es auch, oder da, wo es protestiert, wird dies akzeptiert. Da die Untersucherin die Situationen vorgibt, kann sie meist auch bei unklaren Signalen angemessen reagieren. Allerdings fanden wir in einer Untersuchung (Hammer, Zürn, Kane 1998), dass Kinder oft zunächst als Reaktion auf die kommunikationsauslösenden Situationen sehr einfache Signale benutzen, um Interesse oder Wünsche mitzuteilen. Hier können gezielte »Missverständnisse« weitere Mitteilungen des Kindes anregen. Dabei reagiert die Untersucherin zunächst mit einem nicht der Mitteilung entsprechenden Verhalten (z. B. legt sie das Spielzeug, auf das das Kind blickt, an die andere Ecke des Tisches, statt es ihm zu geben), bleibt aber im Kontakt mit dem Kind und macht deutlich, dass sie an einer Auflösung des Missverständnisses interessiert ist. In unserer Untersuchung folgte fast immer auf eine falsche Reaktion der Erwachsenen eine erneute Botschaft. Mehr als die Hälfte dieser neuen Botschaften war auf einem höheren Niveau als die erste Mitteilung und äußerst selten auf niedrigerem. Missverständnisse schafften somit zusätzliche Gelegenheiten zur Kommunikation und forderten häufig eine Verdeutlichung der Äußerung heraus.
Allerdings zeigt eine Untersuchung von Wilcox und Webster (1980), dass Missverständnisse emotional belasten können. Sie fanden in der Interaktion von Eltern mit ihren nichtbehinderten Kindern im zweiten Lebensjahr häufig Missverständnisse und deutliche Hinweise auf Stresserleben, bis hin zu Kommunikationsabbrüchen. In der Untersuchung von Hammer et al. waren ebenfalls Frustrationssignale nach Missverständnissen zu beobachten; einige Kinder wandten sich nach Missverständnissen kurz ab, nestelten an ihrer Kleidung, lutschten am Daumen usw. Die Belastung blieb aber begrenzt und Kommunikationsabbruch wurde völlig vermieden, wenn die Untersucherin dem Kind signalisierte, dass sie sich um ein Verstehen bemühte und das Kind letztendlich die gewünschte Reaktion erfuhr.
Allgemeinverhalten bei der Beobachtung von Kognition und Kommunikation
1. Kontakt: Wie war der Kontakt zum Kind? Suchte es Blickkontakt? Mochte es Körperkontakt? Wirkte es zurückhaltend oder offen? War es eventuell durch Schüchternheit gehemmt?
2. Interesse und Motivation: Wie war die Mitarbeit des Kindes? Ermüdete es schnell? Interessierte es sich nur für wenige Dinge oder sprach es auf viele Situationen an? Galt sein Interesse eher Gegenständen, Ereignissen oder den Erwachsenen? Waren kommunikative Äußerungen auf die auslösenden Situationen beschränkt oder machte es auch spontane Mitteilungen, so als habe es ein großes Mitteilungsbedürfnis? Zeigte es Freude an gelungenen Problemlösungen und wiederholte es diese z. T. spontan?
3. Umgang mit Belastung: Zeigte es negative Emotionen, wenn Wünsche nicht sofort erfüllt wurden oder es eine Aufgabe nicht lösen konnte? Zeigte es Belastungssignale (z. B. Abwenden, Gähnen, Stereotypien, Schreien, Aggressionen) bei Missverständnissen oder bei Unter- oder Überforderung? Waren sie eher subtil, wie kurzes Abwenden, oder heftig, wie Schreien oder Versuche, aus der Situation zu kommen?
4. Generalisierbarkeit der Beobachtungen: Entsprach das Verhalten des Kindes nach Eindruck seiner Eltern oder Erzieher seinem Alltagsverhalten?
In unseren Untersuchungen fanden wir fünf Stufen der vorsprachlichen Entwicklung, die die meisten Kinder in gleicher Reihenfolge erlernen. Allerdings ist es nicht so, dass ein Kind kontinuierlich eine Stufe nach der anderen erklimmt und die niedrigeren Stufen jeweils hinter sich lässt. Die Verhaltensweisen einer neuen Stufe erweitern das verfügbare Kommunikationsrepertoire, sie ersetzen nicht die früheren (Kane 1994). Im Folgenden werden die fünf Stufen kurz beschrieben, für eine ausführliche Darstellung der Stufen mit Besonderheiten der Entwicklung bei Kindern mit Behinderungen wird auf Kane (1992) und Rotter, Kane, Gallé (1992) verwiesen. Zur Bestimmung der Stufe werden vor allem die Modalitäten Blickrichtung, Gesten und Laute verwendet. Die gerade für die Befindlichkeit des Kindes ebenfalls sehr informative Mimik wurde für die Bestimmung des Niveaus nicht berücksichtigt, da sie schon in den ersten Lebenswochen sehr differenziert und ausgeprägt ist und sich keine so deutliche Entwicklungslinie zeigt wie in den anderen Modalitäten. Aber sicherlich spielt in der Verständigung auch der gezeigte Affekt eines Kindes eine sehr große Rolle für die Interpretation seiner Äußerungen.
Ungezieltes Verhalten