Friedrich Hebbel: Theoretische Schriften

 

 

Friedrich Hebbel

Theoretische Schriften

 

 

 

Friedrich Hebbel: Theoretische Schriften

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Friedrich Hebbel (Gemälde von Karl Rahl, 1855)

 

ISBN 978-3-8430-8750-6

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9923-3 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9924-0 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Mein Wort über das Drama!

Erstdruck: Hamburg (Hoffmann und Campe) 1843.

Über den Stil des Dramas

Erstdruck in: Jahrbuch für dramatische Kunst und Literatur, hg. v. Heinrich Theodor Rötscher, Berlin u. Frankfurt/M. 1848.

Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zueinander

Erstdruck in: Jahrbuch für dramatische Kunst und Literatur, hg. v. Heinrich Theodor Rötscher, Berlin u. Frankfurt/M. 1848.

Das Komma im Frack

Erstdruck in: Stimmen der Zeit. Monatsschrift für Politik und Literatur, 1858 (anonym).

Das deutsche Theater

Erstdruck in: Stimmen der Zeit. Monatsschrift für Politik und Literatur, 1859 (anonym).

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Friedrich Hebbel: Werke. Herausgegeben von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Band 1–5, München: Hanser, 1963.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Mein Wort über das Drama!

Eine Erwiderung an Professor Heiberg in Kopenhagen

Ein Wort über das Drama!

(Morgenblatt 1843. Nr. 21 und 22)

 

Die Kunst hat es mit dem Leben, dem innern und äußern, zu tun, und man kann wohl sagen, daß sie beides zugleich darstellt, seine reinste Form und seinen höchsten Gehalt. Die Hauptgattungen der Kunst und ihre Gesetze ergeben sich unmittelbar aus der Verschiedenheit der Elemente, die sie im jedesmaligen Fall aus dem Leben herausnimmt und verarbeitet. Das Leben erscheint aber in zwiefacher Gestalt, als Sein und als Werden, und die Kunst löst ihre Aufgabe am vollkommensten, wenn sie sich zwischen beiden gemessen in der Schwebe erhält. Nur so versichert sie sich der Gegenwart, wie der Zukunft, die ihr gleich wichtig sein müssen, nur so wird sie, was sie werden soll, Leben im Leben; denn das Zuständlich-Geschlossene erstickt den schöpferischen Hauch, ohne den sie wirkungslos bliebe, und das Embryonisch-Aufzuckende schließt die Form aus.

Das Drama stellt den Lebensprozeß an sich dar. Und zwar nicht bloß in dem Sinne, daß es uns das Leben in seiner ganzen Breite vorführt, was die epische Dichtung sich ja wohl auch zu tun erlaubt, sondern in dem Sinne, daß es uns das bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht. Das Drama ist demnach, wie es sich für die höchste Kunstform schicken will, auf gleiche Weise ans Seiende, wie ans Werdende verwiesen: ans Seiende, indem es nicht müde werden darf, die ewige Wahrheit zu wiederholen, daß das Leben als Vereinzelung, die nicht Maß zu halten weiß, die Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwendig und wesentlich mit einschließt und bedingt; ans Werdende, indem es an immer neuen Stoffen, wie die wandelnde Zeit und ihr Niederschlag, die[545] Geschichte, sie ihm entgegenbringt, darzutun hat, daß der Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe bleibt. Hiebei ist nicht zu übersehen, daß die dramatische Schuld nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens entspringt, sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs, hervorgeht, und daß es daher dramatisch völlig gleichgültig ist, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert.

Den Stoff des Dramas bilden Fabel und Charaktere. Von jener wollen wir hier absehen, denn sie ist, wenigstens bei den Neueren, ein untergeordnetes Moment geworden, wie jeder, der etwa zweifelt, sich klar machen kann, wenn er ein Shakespearesches Stück zur Hand nimmt, und sich fragt, was wohl den Dichter entzündet hat, die Geschichte oder die Menschen, die er auftreten läßt. Von der allergrößten Wichtigkeit dagegen ist die Behandlung der Charaktere. Diese dürfen in keinem Fall als fertige erscheinen, die nur noch allerlei Verhältnisse durch- und abspielen, und wohl äußerlich an Glück oder Unglück, nicht aber innerlich an Kern und Wesenhaftigkeit gewinnen und verlieren können. Dies ist der Tod des Dramas, der Tod vor der Geburt. Nur dadurch, daß es uns veranschaulicht, wie das Individuum im Kampf zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen, der die Tat, den Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck der Notwendigkeit, modifiziert und umgestaltet, seine Form und seinen Schwerpunkt gewinnt, und daß es uns so die Natur alles menschlichen Handelns klar macht, das beständig, sowie es ein inneres Motiv zu manifestieren sucht, zugleich ein widerstrebendes, auf Herstellung des Gleichgewichts berechnetes äußeres entbindet – nur dadurch wird das Drama lebendig. Und obgleich die zugrunde gelegte Idee, von der die hier vorausgesetzte Würde des Dramas und sein Wert abhängt, den Ring abgibt, innerhalb dessen sich alles planetarisch regen und bewegen muß, so hat der Dichter doch im gehörigen Sinn, und unbeschadet der wahren Einheit, für Vervielfältigung der Interessen, oder richtiger, für Vergegenwärtigung der Totalität des Lebens und der Welt zu sorgen, und sich wohl zu hüten,[546] alle seine Charaktere, wie dies in den sogenannten lyrischen Stücken öfters geschieht, dem Zentrum gleich nah zu stellen. Das vollkommenste Lebensbild entsteht dann, wenn der Hauptcharakter das für die Neben- und Gegencharaktere wird, was das Geschick, mit dem er ringt, für ihn ist, und wenn sich auf solche Weise alles, bis zu den untersten Abstufungen herab, in-, durch- und miteinander entwickelt, bedingt und spiegelt.

Es fragt sich nun: in welchem Verhältnis steht das Drama zur Geschichte und inwiefern muß es historisch sein? Ich denke, so weit, als es dieses schon an und für sich ist, und als die Kunst für die höchste Geschichtschreibung gelten darf, indem sie die großartigsten und bedeutendsten Lebensprozesse gar nicht darstellen kann, ohne die entscheidenden historischen Krisen, welche sie hervorrufen und bedingen, die Auflockerung oder die allmählige Verdichtung der religiösen und politischen Formen der Welt, als der Hauptleiter und Träger aller Bildung, mit einem Wort: die Atmosphäre der Zeiten zugleich mit zur Anschauung zu bringen. Die materielle Geschichte, die schon Napoleon die Fabel der Übereinkunft nannte, dieser buntscheckige ungeheure Wust von zweifelhaften Tatsachen, und einseitig oder gar nicht umrissenen Charakterbildern, wird früher oder später das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, und das neuere Drama, besonders das Shakespearesche, und nicht bloß das vorzugsweise historisch genannte, sondern das ganze, könnte auf diesem Wege zur entfernteren Nachwelt ganz von selbst in dieselbe Stellung kommen, worin das antike zu uns steht. Dann, eher wohl nicht, wird man aufhören, mit beschränktem Sinn nach einer gemeinen Identität zwischen Kunst und Geschichte zu forschen und gegebene und verarbeitete Situationen und Charaktere ängstlich miteinander zu vergleichen, denn man hat einsehen gelernt, daß dabei ja doch nur die fast gleichgültige Übereinstimmung zwischen dem ersten und zweiten Porträt, nicht aber die zwischen Bild und Wahrheit überhaupt, herausgebracht werden kann, und man hat erkannt, daß das Drama nicht bloß in seiner Totalität, wo es sich von selbst versteht, sondern daß es schon in jedem seiner Elemente symbolisch ist und als symbolisch betrachtet werden muß, ebenso wie der Maler die Farben, durch die er seinen Figuren rote Wangen und blaue Augen gibt, nicht[547] aus wirklichem Menschenblut herausdestilliert, sondern sich ruhig und unangefochten des Zinnobers und des Indigos bedient.

Aber der Inhalt des Lebens ist unerschöpflich, und das Medium der Kunst ist begrenzt. Das Leben kennt keinen Abschluß, der Faden an dem es die Erscheinungen abspinnt, zieht sich ins Unendliche hin, die Kunst dagegen muß abschließen, sie muß den Faden, so gut es geht, zum Kreis zusammenknüpfen, und dies ist der Punkt, den Goethe allein im Augen haben konnte, als er aussprach, daß alle ihre Formen etwas Unwahres mit sich führten. Dies Unwahre läßt sich freilich schon im Leben selbst aufzeigen, denn auch dieses bietet keine einzige Form dar, worin alle seine Elemente gleichmäßig aufgehen; es kann den vollkommensten Mann z.B. nicht bilden, ohne ihm die Vorzüge vorzuenthalten, die das vollkommenste Weib ausmachen, und die beiden Eimer im Brunnen, wovon immer nur einer voll sein kann, sind das bezeichnendste Symbol aller Schöpfung. Viel schlimmer und bedenklicher jedoch, als im Leben, wo das Ganze stets für das Einzelne eintritt und entschädigt, stellt sich dieser Grundmangel in der Kunst heraus, und zwar deshalb, weil hier der Bruch auf der einen Seite durchaus durch einen Überschuß auf der andern gedeckt werden muß.

Ich will den Gedanken erläutern, indem ich die Anwendung aufs Drama mache. Die vorzüglichsten Dramen aller Literaturen zeigen uns, daß der Dichter den unsichtbaren Ring, innerhalb dessen das von ihm aufgestellte Lebensbild sich bewegt, oft nur dadurch zusammenfügen konnte, daß er einem oder einigen der Hauptcharaktere ein das Maß des Wirklichen bei weitem überschreitendes Welt- und Selbstbewußtsein verlieh. Ich will die Alten unangeführt lassen, denn ihre Behandlung der Charaktere war eine andere, ich will nur an Shakespeare, und mit Übergehung des vielleicht zu schlagenden Hamlet, an die Monologe im Macbeth und im Richard, sowie an den Bastard im König Johann, erinnern. Man hat, nebenbei sei es bemerkt, bei Shakespeare in diesem offenbaren Gebrechen zuweilen schon eine Tugend, einen besonderen Vorzug erblicken wollen (sogar Hegel in seiner Ästhetik), statt sich an dem Nachweis zu begnügen, daß dasselbe nicht im Dichter, sondern in der Kunst selbst seinen Grund habe. Was sich aber solchemnach bei den größten Dramatikern[548] als durchgehender Zug in ganzen Charakteren findet, das wird auch oft im Einzelnen, in den kulminierenden Momenten, angetroffen, indem das Wort neben der Tat einhergeht, oder ihr wohl gar voraneilt, und dies ist es, um ein höchst wichtiges Resultat zu ziehen, was die bewußte Darstellung in der Kunst von der unbewußten im Leben unterscheidet, daß jene, wenn sie ihre Wirkung nicht verfehlen will, scharfe und ganze Umrisse bringen muß, während diese, die ihre Beglaubigung nicht erst zu erringen braucht, und der es am Ende gleichgültig sein darf, ob und wie sie verstanden wird, sich an halben, am Ach und O, an einer Miene, einer Bewegung, genügen lassen mag. Goethes Ausspruch, der an das gefährlichste Geheimnis der Kunst zu ticken wagte, ist oft nachgesprochen, aber meistens nur auf das, was man äußerlich Form nennt, bezogen worden. Der Knabe sieht im tiefsinnigsten Bibelvers nur seine guten Bekannten, die vierundzwanzig Buchstaben, durch die er ausgedrückt ward.

Das deutsche Drama scheint einen neuen Aufflug zu nehmen. Welche Aufgabe hat es jetzt zu lösen? Die Frage könnte befremden, denn die zunächst liegende Antwort muß allerdings lauten: dieselbe, die das Drama zu allen Zeiten zu lösen hatte. Aber man kann weiter fragen: soll es in die Gegenwart hineingreifen? soll es sich nach der Vergangenheit zurückwenden? oder soll es sich um keine von beiden bekümmern, d.h. soll es sozial, historisch oder philosophisch sein? Respektable Talente haben diese drei verschiedenen Richtungen schon eingeschlagen. Das soziale[549]historischenphilosophische[550]