Louise von François: Der Katzenjunker. Erzählung
Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Louise von François (Fotografie von Karl Festge in Erfurt, um 1881)
ISBN 978-3-8430-9349-1
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-9513-6 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-9514-3 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
In: Deutsche Rundschau, herausgegeben von Julius Rodenberg, Berlin (Deutsche Rundschau), 1879; erste Buchausgabe: Berlin (Gebrüder Paetel) 1879.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Leipzig: Insel-Verlag, 1918.
Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Unser Herzogsschloß auf der Höhe war länger als ein Menschenalter hindurch ein leerstehendes Gehäus über einer Gruft. Auf dem Vorwerk, das ihm als Wirtschaftshof gedient hatte und das einen Büchsenschuß entfernt am Flußrande lag, waltete dagegen währenddessen ein stillfrohes Leben: der alte Talhof hieß dazumal Klösterleys Gut und heißt heute noch so, wiewohl die Bewohner einen anderen Namen tragen.
Der Herzog, mit welchem die Linie erlosch, hatte auf diesem Vorwerke eine Mustermeierei in holländischem Stil errichtet. Die Leute nannten sie ihres guten Johann Puppe. Hatte er doch so gern etliche Sommerwochen in dem Hause gewohnt, das, gleichfalls neu erbaut, ländlichen Ansehens, aber massiv und geräumig war. Hinter demselben zog sich der Hof bis zum Fuß des bewaldeten Schloßberges; auf der Hochfläche breiteten sich die dem Gute eigenen Äcker, während dessen Hauptbetrieb auf dem üppigen Wiesenwuchs zu beiden Seiten des Gehöftes beruhte.
Die gegenwärtigen Besitzer hatten die Wirtschaft verpachtet; ihr außerhäusliches Bereich beschränkte sich auf ein Gartenstück, in welches der umfängliche Vorhof umgewandelt worden war. Die Landstraße führte an ihm vorüber, jenseits derselben fiel das Ufer steil ab zum raschbewegten Flusse.
Der Ausblick auf seine Windungen inmitten des frischgrünen Auenbettes gewährt heute ein erquickendes Landschaftsbild; dazumal sperrte es nach drei Seiten – wie nach der vierten das Haus – eine mannshohe Umfassungsmauer,[3] mit Spalierobst und Beersträuchen bezogen, und über der Mauer ein noch höheres dichtes Drahtgeflecht, das in scharfe Spitzen auslief. Eine Schutzwehr gegen geschmeidige Tückebolde, welche von den Häusern der Vorstadt her in dem Revier ihr Wesen treiben konnten; da solches Treiben in Gartenanlagen aber gemeinhin nicht für ein Unwesen gehalten wird, das Merkzeichen von etwas Absonderlichem innerhalb des Geheges. Man sah dieses in einen Käfig verwandelt, wennschon in einen blühenden und in einen klangerfüllten Käfig. Denn die kleinen Waldsänger hatten die sichere Herberge weislich ausgespürt; fanden sie außer ein paar uralten Linden auch nur Fruchtbäume in ihr, so heimsten und musizierten sie doch in den Zweigen wie nirgend sonst in der Gegend, vom zirpenden Zaunkönig an bis zur Altmeisterin Nachtigall.
Wie aber bezeugten erst Grund und Boden einen schonenden Sinn und eine pflegende Hand! In weitem Umkreis fand man kein gedeihlicheres Fleckchen Erde als Klösterleys Gartenstück. Goldgelbe Kieswege teilten es linealgerecht in vier gleich große Beete, deren Mittelraum schachbrettartig, je eines um das andere, würzige Erdbeeren und den zartesten Spargel trug. Auf dem Rabatteneinfaß aber blühten hinter einem Saum von Lavendel und Federnelken, zwischen Stämmchen von auserlesenem Franzobst in bunter Reihe Blumen, die alle gar sinnige deutsche Namen trugen, wie man sie heute jedoch fast nur noch in unseren Bauerngärten findet: Brennende Liebe und Braut in Haaren, Kaiserkronen, steifwürdiger Hahnenkamm, Studentenblumen und rötlicher Türkenbund, Rittersporn, wohlriechendes Mutterkraut, Jehovablümchen, Tausendschön, Vergißmeinnicht, und wie viele andere, die[4] ich seitdem nicht wieder blühen sah. Die Lauben in den vier Ecken beschattete lenz- oder herbstblühendes Jelängerjelieber, bunte Wicken wanden sich duftmischend um die Rosenstöcke. Denn die Rose war freilich Gartenkönigin damals so gut, wie sie es heute ist, nur daß sie heute vornehmeren Rassen aus der Fremde entstammt und die stolzeste jener Zeit, die Zentifolie, unseren Anlagen so selten eine Zierde geblieben ist, wie die schlanke, weiße Lilie, deren keusche Schöne sich nicht zu Abarten umbilden läßt. Ich kann mir nicht helfen: der Flor der Alten heimelte mich traulicher an, als alle Pracht der Verbenen, Gloxinien, Fuchsien, Phlox, Amaryllis, und wie sie sonst noch heißen, die Fremdlinge, welche heute in Klösterleys Garten, gleich hundert ähnlichen, sich gruppenweis vom glattgeschorenen Rasenteppich abheben. Freilich war ich jung, als ich jenen Flor blühen sah, und alles Heimatsgefühl stammt aus der Jugend.
Die weitläufige Schilderung dieser Gartenanlage hat schon erraten lassen, daß der Titelheld meiner Geschichte wieder einmal dem Raritätenschatze meiner Großmutter entnommen ist, aus welchem ich schon mehr als ein verblaßtes Bildnis aufzufrischen mich unterfing. Dankbarer allerdings würde es sein, Originale der Gegenwart zu porträtieren, und kein Zweifel, daß es in ihr interessantere Personen und packendere Zustände zu schildern gibt. Wessen Auge nur scharf genug wäre, in dem weitgespannten Horizont ein Einzelndasein zu unterscheiden; wessen Ohr nur fein genug, in dem lauten Getriebe einen Naturlaut zu erhorchen! Wer in der allgemeinen Hast nur Muße fände, einen Herzensgrund aufzuschüren! Mit der Flucht des Sturmwindes sausen die Erscheinungen vorüber,[5] der elektrische Funken trägt in Blitzesschnelle jede Neuigkeit von Pol zu Pol; die sinnigsten Offenbarungen, Liebesschwüre selbst, für deren Flüstern einstmals keine Laube heimlich genug war, erschallen aus verlöteten Kästen tausend Meilen weit über Land und Meer. Die Menschen stehen in Gruppen wie die Blumen der Gärten, sogar nach dem Farbenspiel gesondert: Parteien hier, Bataillone dort; auch unser altes, stilles Schloß ist Kaserne geworden. Wo ein Führer den Haufen um Haupteslänge überragt, muß er, nach optischen wie diplomatischen Gesetzen, dem Perspektiv eines Geschichts- oder Geschichtenerzählers der Zukunft überlassen bleiben. Aus verworrener Überfülle wendet der leere Blick sich rückwärts in blaue Fernen.
Die Zeit, in welcher die gelbe Kutsche noch sechs Stunden an der Meile fuhr, wo ein aus- oder einsteigender Passagier ein Stadtereignis bildete, die Zeit, in welcher der Enkel noch Muße und Laune hatte, die Erlebnisse seiner Altvorderen, soweit irgend die Tradition reichte, nachzuleben wie ein persönliches Geschick, wo die Weltkunde im Zentrum der Heimat begann und häufig genug in deren Peripherie auch endete; die Zeit, aus welcher meine Großmutter mich mit Problemen gleich dem des Katzenjunkers unterhielt: ich will diese Zeit beileibe nicht schlechthin die gute nennen, die gute nicht einmal für einen Erzähler; aber für einen Erzähler von meinem bescheidenen Kaliber ist sie die beste.
Die Großmutter und ihr Schwiegervater, dessen vereinsamtem Hause sie als Witwe des einzigen Sohnes vorstand, nannten sich mit dem Junker und seiner Mutter – das waren eben die Besitzer von Klösterleys Gut – Herr[6] Vetter und Frau Muhme, die beiden jüngeren sogar vertraulich Vetterchen und Mühmchen, wiewohl ich einer Verwandtschaft der beiden Familien, es sei denn von Adam her, nicht habe auf die Spur kommen können. Denkbar wäre eine solche indessen; denn die Haller wie die Klösterley waren Stadtkinder, und der letzteren Junkertum stammte keineswegs aus Ritterzeiten; hätten im Gegenteil die einen sich über die andern erheben wollen, so würden, bis auf die jüngste Generation, die erbangesessenen Haller die dazu Berechtigten gewesen sein. Des Junkers Vater und mein Urgroßvater, wenngleich Zeitgenossen und erste Schulgenossen, scheinen indessen von einem Blutszusammenhang so wenig wie ich etwas gewußt, oder Lust, ihn aufzusuchen, gespürt zu haben; sie waren eben auseinander, richtiger gesagt, gar nicht aneinander gekommen.
Das Verhältnis datierte erst aus des Junkers Zeit. Sie nannten es Freundschaft, die ja im Volksmunde heute noch soviel wie Verwandtschaft bedeutet. Bei den beiden Quasivettern bedeutete sie, modern ausgedrückt, Sympathie, und zwar Sympathie zunächst nicht einmal für einander, sondern für einen Dritten, Längstverblichenen: die gemeinsame Verehrung des bereits erwähnten letzten Herzogs, unseres guten Johann. Der Junker, wiewohl er ihn nicht mehr persönlich gekannt, hatte zu solcher nachträglichen Verehrung allerdings einen starken besonderen Grund. Seine Familie schuldete dem Hochseligen Großes: eine kaum dagewesene Erhebung, das Adelsdiplom, schließlich das Erbe des reichen Talgutes.
Es soll bei dieser Gelegenheit von vornherein erwähnt werden, daß jenerzeit über diese absonderlichen Gunstbezeugungen in Hofkreisen, und selbst in bürgerlichen, gar[7] Ärgerliches gemunkelt worden ist. Der Ehrenmann Haller jedoch war weder ein Horcher noch ein Schwätzer, sein Schwiegertöchterchen aber, die beides ein wenig war, hatte dazumal die Kinderschuhe noch nicht ausgetreten und nur läuten, nicht zusammenschlagen gehört; bald darauf aber hatte die Bekanntschaft mit den Benefiziaten, ja, ihr bloßer Anblick, die Lästerzungen und selbst die Neidhammel zum Schweigen gebracht.
Bei meinem Urgroßvater, der den Hochseligen noch gekannt, war dahingegen die Verehrung, ohne jegliche Beimischung von Dankbarkeit für persönliche Wohltat, ein reines Liebesopfer; und zwar nicht, wenigstens nicht zunächst, weil der Verehrte in der Tat ein so tapferer und gütiger Herr wie selten einer, sondern weil er sein Herr, sein besonderer Herr gewesen war. Der neue kurfürstliche Landesvater hat schwerlich einen loyaleren Untertanen gehabt als den alten Haller; hätte dieser das stramme preußische Regiment noch erlebt, er würde sich auch ihm ohne Murren unterworfen haben. Alle Obrigkeit ist ja von Gott. Sein ganzes Herz aber hing bis zum Tode an dem Herrn, dem er in seiner Jugend gehuldigt hatte. Wohl stand über demselben dazumal noch Kaiser und Reich; allein das Hemd dünkte dem braven Bürger näher als der ziemlich schlotternde Rock. Wie gleichzeitig die Preußen ihren Alten Fritz, wie späterhin die Franzosen ihren Kleinen Korporal, so feierte er in dem guten Johann seinen eigenen Helden.
An wehmütigen Erinnerungstagen, oder etwa heimgekehrt vom Grabgeleit eines werten Mitbürgers, saßen die beiden Vettern regelmäßig noch ein Stündchen in der Hallerschen Ladenstube beieinander. Wie selbstverständlich[8] holte der Ältere dann aus dem hochbeinigen Pult ein Foliowerk, in schwarzen Samt gebunden und mit silbernen Krampen geschlossen, dem die alte Familienbibel als Postament diente; der Jüngere aber trug darauf mit bewegter Stimme einen Abschnitt vor aus dem »Hochverdienten Ehren- und Liebesdenkmahl des weyland durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn« und so weiter. Sei es nun die Lob- und Trauerrede, welche bei den hochfürstlichen Exequien in der Schloßkapelle von dem herzoglichen Geheimderat und Oberhofmeister gehalten worden war und in welcher er die hohe leidtragende Versammlung – mein Urgroßvater, als Bürgerlicher, hatte leider nicht zu ihr gehört – in Staunen versetzte durch die früher niemals an ihm wahrgenommene klassische Gelehrsamkeit, mit welcher er dartat, »daß alles auf Erden vergänglich sei, daß der größte Monarch sterben müsse wie der gemeine Mann, daß ein tugendhafter Vespasianus, welchen man das Vergnügen des menschlichen Geschlechts nennete, in die Verwesung übergegangen sei gleich dem lasterhaften Heliogabalus«, und derlei Exempel mehr, viele Seiten lang. Oder sei es auch nur die städtische Trauerkantate, oder eines der Carmina und Epicedia, in welchen die unterschiedlichen allerhöchsten Familienglieder, sowie geistlichen und weltlichen Landesbehörden ihren unvergänglichen Schmerzgefühlen Luft machten.
An die weihevollste Lebensstunde, an das höchste außerhäusliche Lebensereignis wurde der alte Haller aber allemal gemahnt, wenn die Reihe der Vorlesung an die Gedächtnispredigt kam, welche der weiland Herr Superintendent und Beichtvater der hochseligen Durchlaucht – wie er auch der des noch lebenden allergetreuesten von Dero Untertanen gewesen – in der städtischen Pfarrkirche gehalten[9] hatte. Ein Meisterstück der Beredsamkeit, in drei fremde Sprachen übersetzt! Mein Urgroßvater hatte es mit angehört und seitdem so oft wieder gelesen, daß er es vom ersten bis zum letzten Worte auswendig wußte; bei jedem freundvetterlichen Vortrage aber leuchteten seine Augen voll Begeisterung, als ob er eine große Neuigkeit oder eine ewige Wahrheit vernähme; er wiegte oder neigte sein schönes, weißes Haupt, und die Lippen murmelten die bedeutungsvollsten Stellen nach. So zum Beispiel:
»Dem Demetrio von Athen wurden dreihundertsechzig Ehrensäulen aufgerichtet. Glauben Sie aber, hochverehrte Anwesende, daß diese Anzahl hinreichend sein würde, wenn wir eine jegliche Heldentat unseres teuersten Herzogs mit einer Ehrensäule verewigen wollten? Ich meine nicht.«
Der alte Haller schüttelte und flüsterte: Nein!
»Das Königreich Ungarn, Polen, Italien, die Niederlande, der größte Teil Deutschlands hat Seiner Heldentaten so viele aufzuweisen, daß es unmöglich wäre, dieselben nur nachzuzählen. Genung, daß ich den allgemeinen Beifall selber der Feinde vor mich habe, wenn ich behaupte: unser teuerer Herzog ist einer der größten Soldaten und Generale der Welt gewesen.«
Der alte Haller nickte und rief mit Begeisterung: Ja, ja!
Im weiteren Vortrag hieß es:
»Die größte Kunst aber, an welcher die unüberwindlichsten Kriegsleute bis an ihr Ende zu lernen haben, ist die Überwindung unserer selbst. Unser Herr hat sie als ein Held und Meister geübt.«
Auch des Junkers Stimme senkte und sein Blick hob sich nach der Höhe, wo der verklärte Held und Überwinder in der Gruft seiner Väter ruhte, wenn er an diese Stelle gelangte.[10] Und doch ahnte er wahrscheinlich nicht, was der Beichtiger vielleicht gewußt, welche Bedeutung sie für ihn im besonderen hatte. Er empfand nur die Freude – und es gibt ja wenig reinere –, einen edlen Menschen als Wohltäter zu verehren.
Wie warm flossen nun aber die Tränen beider, des Vorlesers wie des Hörers, bei der Schilderung der letzten Lebensstunden des geliebten Herrn. Ein kurzes Krankenlager, ein freudig bewußtes Sterben im Glauben an eine selige Ewigkeit: »Ich bin schon bei Gott – bei Gott – bei Gott!« waren seine letzten Worte gewesen. Und nach diesen Worten wurde, wennschon die Predigt längst noch nicht zu Ende war, der Folioband leise geschlossen, die beiden Freunde drückten sich schweigend die Hand, und der Junker kehrte heim, das Bild eines hohen Menschen vor der Seele. Der alte Haller aber saß noch eine lange Weile mit gefalteten Händen und murmelte aus dem Trauersang seines großen Namensvetters die Strophe:
»Vollkommenster, den ich auf Erden so viel und nicht genung geliebt,
Wie liebenswürdig mußt du werden, wenn dich ein himmlisch Licht umgibt« usw.
Ich bin überzeugt: in seiner letzten Stunde hat der Schluß dieser Strophe, wenn auch den Lippen jeder Ton entschwunden war, seine Seele freudig gestimmt.
Junker Lorenz war in noch unbewußtem kindlichem Alter, als vaterlose Waise, mit seiner Mutter nach dem ererbten Gute übersiedelt. Der Vater hatte auf einem auswärtigen Posten Jahr und Tag nach dem Tode seines fürstlichen Gönners durch einen Sturz mit dem Pferde ein jähes Ende gefunden. Er soll von Natur ein in sich gekehrter[11] Mann gewesen und je mehr und mehr geworden sein. Einen »Kalmäuser« nannte ihn meine Großmutter, die ihn nur von Angesicht und Hörensagen gekannt; aber auch die, welche ihm näher gestanden hatten, nannten ihn ebenso; der Name war landläufig für ihn geworden, wobei man denn freilich nichts weniger als an einen Betbruder und neumodischen Pietisten, oder gar an einen katholischen Mönch der strengsten Regel, einen Heiligen vom Berge dachte, sondern einfach an einen kopfhängerischen Grübelfang, einen Sonderling und gallsüchtigen Melancholikus. Heute würden wir ihn vielleicht einen Pessimisten nennen. Denn Arten wie Unarten sterben ja nicht aus, und auch der Mißmut ändert nur den Namen je nach den Objekten des Zeitwandels, die ihn reizen. Im übrigen rühmte man Herrn von Klösterley als exemplarisch in seinem Amt und als einen Tugendspiegel.
Ein korrekter Kalmäuser, war er bis über das Schwabenalter hinaus Junggesell geblieben und groß daher das Verwundern seiner Landsleute bei der Kunde, daß er nach seiner Versetzung in einen anderen Bezirk sich endlich dennoch auf seine Mannespflicht besonnen und ein Weib genommen habe. Näheres ließ sich auf zwölf Meilen Entfernung nicht ermitteln. Er selbst kam nicht wieder in unsere Stadt, und seine Gattin erst als Witwe.
Wie viel größer als bei der Post von der späten Hochzeit und dem frühen Ende des einstigen Mitbürgers war nun aber das allgemeine Staunen beim Bekanntwerden der neuen Mitbürgerin. Das sollte eine Ehefrau gewesen sein, eine Witfrau sein und Mutter? Das war ja nur ein halbwüchsiges Mädchen, nicht viel mehr als ein Kind! Wie die ältere Schwester ihres Söhnchens sah sie aus, und je[12] mehr das Söhnchen zum Sohn heranwuchs, wie seine Zwillingsschwester, so frohäugig, zierlich und rosigen Angesichts. Man hatte zu Herzogs Zeiten bei Hofe wohl Schönere gesehen, aber in Stadt und Pflege keinen Augentrost ihresgleichen. Leider sah man sie nur selten, denn umgänglicher Natur schien sie so wenig wie ihr seliger Eheliebster, der Kalmäuser. Sie floh die Menschen zwar nicht, wie er es getan, aber sie suchte solche auch nicht, wennschon es ihr an standesgemäßem Verkehr und sogar an Freiern unter den jungen Edelleuten des Landes nicht gefehlt haben würde. Sie hatte genug an ihrem Sohn; welcher Stiefvater würde für seine Schwachheit Schonung gehabt haben wie sie? Obgleich eine Hochwohlgeborene, hielt sie sich, nach bürgerlicher Witfrauen Art und Pflicht, still hinter dem hohen Drahtgeflecht ihres Gutes, und nur in einem einzigen, freilich selbst zu Herzogs Zeiten unerlebten Treiben wich sie von dem guten alten Herkommen ab: die kindliche Dame war eine Amazone! Schon als Junker Lorenz noch ihr Söhnchen hieß, trabte sie an seiner Seite auf einem flinken, englischen Pferdchen stundenlang in das Weite; niemals jedoch, wie später ihr Sohn es liebte, unter Allerwelts Augen innerhalb der Mauern der Stadt, sondern seitab ihres Gutes in Aue und Forst, wo nur selten ein Ackerwirt oder Jäger ihr begegnete; wem es aber auch geschah, hoch oder gering, ob sie zu Roß war oder bescheiden zu Fuß, dem lächelte sie freundlich zu, dem Geringsten am freundlichsten.
Der alte Haller als anerkanntester Kaufherr der Stadt hatte von vornherein Gelegenheit gehabt, der unerfahrenen jungen Witwe bei der Anlage ihres Vermögens einen Dienst zu erweisen, und blieb auch fernerhin ihr wie ihres[13] Sohnes geschäftlicher Heber und Leger. Auf diese Gefälligkeit gründete sich die Bekanntschaft, welche im Verlauf zur Vetternschaft erwachsen sollte. Das Hallersche Haus betrat die Dame nur bei besonderen Gelegenheiten; traf sie jedoch am dritten Ort mit dem alten Herrn oder seiner Schwiegertochter zusammen, so drückte sie ihnen dankbar, als eine Verpflichtete, die Hand, erfreute sie auch häufig durch einen Blumenstrauß oder einen Korb köstlichen Obstes aus ihrem Garten. Dabei blieb es, auch als ihr Lorenz zum Junker herangereift war; ein so zweiseliges Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war nimmer erlebt worden; wie Brautleute, so zart gingen sie miteinander um; wie Eheleute, so innig schienen sie durch einander und nur durch einander beglückt.
Und so bis in der Mutter Matronenalter hinein. Die Jahre glitten fast spurlos über die kindlichen Züge; färbten die goldenen Löckchen sich allmählich auch silbern, die Rosenblüte der Wangen dauerte, wie in der Jugend, das holdselige Wesen hörte nicht auf, den Augen und den Herzen wohlzutun. Man öffnete die Fenster und trat unter die Türen, wenn die Dame Sonntags früh, anfänglich ihr Söhnchen an der Hand, später ihren Sohn am Arm, durch die lange Vorstadt nach dem Gotteshause ging; beide gefällig in helle Farben gekleidet; der Junker auch nach der Mode mit Haarbeutel und goldbordiertem Dreispitz, in gesticktem Seidenhabit, Eskarpins, weißseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen; die Dame dagegen nicht in der steifen, bauschigen Tracht der Zeit und ohne Puder in den Locken.
Sie schritten dann niemals auf dem schmalen, sonnabendlich rein gefegten Bürgersteige, sondern in der Mitte[14] der Straße, so hoch Schnee oder Morast sich auf derselben gehäuft haben mochten. Und man wußte ja auch recht gut, aus welchem Grunde das geschah, nach welchen Tückebolden die holde Frau zwischen freundlichem Blicken und Nicken mit ängstlicher Scheu umherschaute. Man kannte ja die Schwachheit, welche sie zu schonen hatte; und da war wohl keiner, der ihre Mutterpflicht nicht zu erleichtern und jegliches Fährnis aus dem Wege zu räumen gesucht hätte. »Husch, husch!« ging es von Haus zu Haus, sooft man Dame Klösterley und ihren Junker von weitem kommen sah.
Nach dem Gottesdienste nahm regelmäßig das Paar den Heimweg in weitem Bogen bergan und wieder bergab, an dem verödeten Herzogsschlosse vorüber. Mit gefalteten Händen weilte es ein Vaterunser lang vor der Kapellentür, hinter welcher der Wohltäter der Familie bei seinen Vätern ruhte. An seinem Geburts- und Sterbetage ließen sie sich auch die Kapelle öffnen, stiegen in die Gruft hinab und legten auf seinen Sarg einen Kranz, den sie aus den schönsten Blumen ihres Gartens gewunden hatten. Die Mutter weinte dann still vor sich hin, sah ernst und blaß aus, wie sonst nie. Sie sprach selten von dem seligen Herrn; aber sie hatte ihn ja noch gekannt, und der Sohn begriff, daß die dankbare Liebe zu einem Segenspender von einem, der mit ihm gelebt hat, doch noch weit tiefer und wärmer als von einem Nachgeborenen empfunden wird. Der Sohn ehrte ihre stillen Tränen, ohne ihrem besonderen Ursprung nachzuforschen, er wußte ja wohl auch, daß sie noch einem anderen Heimgegangenen galten, den er selbst nicht gekannt.
Schweigend gingen sie darauf über den einsamen Schloßberg[15] nach Hause; hatten sie aber endlich ihren Garten erreicht, da wehte frischer Lebensodem, da zauberte des Sohnes verdoppelte Zärtlichkeit die Blüte der Freude auf die Wangen der Witwe zurück. Sie hatte ja noch ihn und alles in ihm! Und er fühlte sich ja so reich durch ihre Liebe, war so gut und frohgemut, daß es auf der weiten, schönen Gotteswelt keinen glücklicheren Menschen als ihren Lorenz gegeben haben würde, wenn – ja wenn nicht seine Schwachheit gewesen wäre.
Ach, diese Schwachheit! Wer hätte sie denn nicht ausgespürt, trotz seiner zurückgezogenen Lebensweise? Und das war ja eben das Elend, daß alle Welt sie ausgespürt, daß er darob zum Kinderspott geworden! Als Geheimnis hätte das Kreuz sich allenfalls tragen lassen, wie so viele Menschen das ihre im verborgenen tragen. Die Leute hätten ja aber wahrlich Schwachköpfe sein müssen, wenn sie nicht klärlich eingesehen hätten, weshalb der Junker hinter einem Drahtgeflechte wie ein Vogel im Käfig aufgezogen worden war? weshalb kleine Spielkameraden ihn wohl besuchten, niemals hinwiederum er jedoch einen von ihnen? Der hochselige Herzog hatte treffliche Schulen und sogar ein Gymnasium in unserer Stadt errichtet, der kleine Lorenz aber war in keiner derselben, sondern von einem gelehrten Informator im Hause unterrichtet worden; die Mutter hatte ihn auch späterhin nicht, seinem Stande gemäß, in das kurfürstliche Pagen- oder Kadettenkorps einreihen lassen; da er jedoch brannte, Jugendblut und Mut zu dokumentieren wider Türken, Franzosen oder Preußen, trat er als Junker in ein Regiment. Türken, Franzosen und sogar der Preuße verhielten sich aber leider zu jener Zeit ruhig wie die Lämmer, und nach dem ersten[16] großen Friedenslager forderte und erhielt der Junker seinen Abschied. Er zog nunmehr auf die Universität, bald aber kehrte er wieder zurück; er ging auf Reisen, kaum aber fort, war er wieder heim, um hinter seinem umgitterten Blumengarten der Junker von Klösterley zu werden – und weiter nichts; das Musterbild eines Sohnes, ein guter, braver, aber – einsamer Mann, er, der so gern unter Menschen weilte, der die Menschen so lieb hatte, mit voller Hand in das Leben hätte greifen mögen und sich danach sehnte, die Welt in Nähe und Ferne anzuschauen.
Alles das weshalb?
Ach! – um nur das Nächstliegende – so klein es proportionell erscheinen mag, in Betracht zu ziehen, – ach, welchem Jüngling, welchem Mann vergeht wohl nicht die Lust, in eine Frühstücksstube zu treten und unter munteren Gästen einen Schoppen zu leeren, einer Damenvisite und sogar eines freundschaftlichen Besuches gar nicht zu gedenken –, wenn ein Diener vorausschreitend erst erspähen muß, ob die Luft auch von Unholden rein, und wenn dann von lachenden Lippen ein »Husch, husch!« durch Flur und Zimmer schwirrt? Wem kann es Freude sein, bei einem Meßbesuch in Leipzig, bei einem Karnevalsbesuch in Dresden in keinen Laden, kein Gasthaus treten zu können, ohne daß das sorgliche Mütterchen zuvor Umschau, mit dem Kaufherrn, dem Wirt Rücksprache gehalten, dem Markthelfer, dem Kellner ein Douceur in die Hand gedrückt hat, um nur ja einem Schreck- und Ärgernis vorzubeugen. Und so allerorten, allerwege, auf Schritt und Tritt das unvermeidliche »Husch, husch!« Die Schwachheit, die unselige Schwachheit, an welcher Doktoren und[17] Philosophen zuschanden wurden, gegen welche weder Eisen noch Gold, in den Lebenssaft geführt, ihre alte Kraft bewährten, welcher kein Mondeszauber, kein heimlicher Spruch, noch Amulett, kein bannender Strich einer Totenhand, nichts, nichts am Himmel und auf Erden, nicht einmal Gewöhnung und vernünftiger Wille Einhalt taten.
Alle Welt weiß heutzutage, daß diese Schwachheit keine außerordentliche ist, ja, daß von allen sogenannten Idiosynkrasien keine häufiger gefunden und heftiger empfunden wird, als die unseres Junkers. Für dessen Mitbürger von dazumal aber war sie unerlebt und unerhört. Es gab Frauenzimmer, welche Frösche, Raupen und Maikäfer nicht sehen konnten; andere, welche laut aufkreischten, wenn ihnen eine Maus über die Füße lief. Nun ja, Frauenzimmer! Allein einen kerngesunden, instruierten, in allem übrigen Tun und Leiden als tapfer erprobten Mann sich einsperren, Reißaus nehmen zu sehen, nicht etwa vor einem scheußlichen Widerwart, sondern vor der zierlichsten aller vierbeinigen Kreaturen, dem gehätschelten Liebling Haus bei Haus, seine Manneswürde vor einem – Kätzchen verlieren zu sehen – –
Das Odium ist ausgesprochen, der Spottname erklärt: der Junker von Klösterley war ein Katzenfeind. Feind? Nein, Feind ist nicht das rechte Wort. Einen Feind haßt man: der Junker dachte nicht an Haß; er hätte die artigen Tierchen lieben mögen, insofern er sie nur nicht zu Gesicht bekam. Gegen einen Feind setzt man sich zur Wehr: der Junker brachte es gar nicht bis zur Wehr. Beim ersten Anblick tat er einen gellen Schrei, und dann verfiel er in Konvulsionen. Hände und Zähne krampften zusammen,[18] an seinem rechten Ohr entbrannte blutrot ein Mal, das zuvor nicht sichtbar gewesen war, die Lippen färbten sich blau, die gelben Löckchen, wenn sie nicht ganz fest im Haarbeutel zusammengebunden waren, sträubten sich in die Höh, eiskalter Schweiß tropfte von seiner Stirn, und schließlich stürzte er, wo er eben ging oder stand, ohnmächtig zu Boden.
Männiglich und insonderheit weibiglich hat man den Ursprung des unheimlichen Wesens in einem »Versehen« der Mutter gesucht, als sie das Kind unter ihrem Herzen trug. Da Frau von Klösterley jedoch ihrer Muhme Haller – und durch deren Mund der gesamten Bürgerinnenschaft – beteuerte, daß sie von kleinauf eine Katzenfreundin gewesen sei und niemals einen Schrecken durch ihre Lieblinge erfahren habe, mußte man sich wohl oder übel, wie bei manchem anderen absonderlichen Schicksale, mit Gottes unerforschlichem Ratschlusse zufrieden geben. Man, das heißt die fremde, fernstehende Welt; nicht so jedoch das befreundete Mühmchen, das zwar nicht minder gottesfürchtigen Sinnes, aber von wissenschaftlichem Eifer und der Mutter der Weisheit höchlichst ergeben war. Bis in ihr letztes Stündlein hat sie über dem unergründlichen Spuk gegrübelt und nach seiner natürlichen Lösung sich den Kopf zerbrochen.
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