Franziska Gräfin zu Reventlow: Essays

 

 

Franziska Gräfin zu Reventlow

Essays

Das Männerphantom der Frau

Viragines oder Hetären

Erinnerungen an Theodor Storm

 

 

 

Franziska Gräfin zu Reventlow: Essays. Das Männerphantom der Frau / Viragines oder Hetären / Erinnerungen an Theodor Storm

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Franziska Gräfin zu Reventlow (Fotografie, um 1910)

 

ISBN 978-3-8430-6851-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9736-9 (Broschiert)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Das Männerphantom der Frau

Erstdruck in: Zürcher Diskußionen, herausgegeben von Oskar Panizza, 1. Jg., Nr. 6, 1898.

Viragines oder Hetären

Erstdruck in: Zürcher Diskußionen, herausgegeben von Oskar Panizza, 2. Jg., Nr. 22, 1899.

Erinnerungen an Theodor Storm

Erstdruck in: Frankfurter Zeitung, Abendblatt, Frankfurt am Main, Nr. 71, 12. März 1897.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Franziska Gräfin zu Reventlow: Autobiographisches. Ellen Olestjerne. Novellen, Schriften, Selbstzeugnisse. Herausgegeben von Else Reventlow. Mit einem Nachwort von Wolfdietrich Rasch, München: Langen Müller, 1980.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Das Männerphantom der Frau

Der Mann! – Einmal muß der Moment ja doch schließlich kommen – trotz der strengsten Mutter und der wachsamsten Tante – der Moment, wo »der Mann« nicht mehr hinwegzuleugnen ist und wo das junge Mädchen anfängt, etwas zu fühlen und zu begreifen, etwas – ja, wie soll man es definieren, dieses geheimnisvolle Etwas, die Vorempfindung des andern Geschlechts im eignen Blute?

Daß er, »der Mann«, existiert, hat man ja auch schon vorher gewußt, aber wie er existiert, wie er beschaffen ist, auf welchen Bedingungen sein Dasein sich aufbaut, weshalb, wozu und inwiefern er eben »der Mann« ist, das wird bekanntlich dem heranwachsenden Weibe so lange wie möglich verborgen gehalten.

Bis die Stunde der großen Offenbarung kommt, früher oder später. Und die Offenbarung wird jedem in anderer Form und Gestalt, je nachdem wie er – oder sagen wir in diesem Falle lieber: sie – und ihr inneres und äußeres Leben sich gestaltet. Es läßt sich das weder generalisieren noch spezialisieren, das eine wäre zu oberflächlich und das andere zu schwierig oder richtiger gesagt, einfach unmöglich. Es ist eben ein individuelles Erlebnis, das nur in seinen Folgen und Wirkungen an die Oberfläche tritt und auch da wieder in unterschiedlicher Form.

Im allgemeinen hat die Frau von heutzutage es aufgegeben, »Gretchen« zu mimen. Es liegt ihr nicht mehr und man verlangt auch nicht mehr danach. Damit soll jedoch[451] nicht bestritten werden, daß noch hier und da, wenigstens bei uns im lieben Deutschland, ein wirkliches unverfälschtes, fast möchte ich sagen, chronisches Gretchen vorkommt, das stille deutsche Mädchen, das in Gedanken, Worten und Werken stets auf dem vorgeschriebenen Wege bleibt, mit Scheuklappen vor den Augen und einem unerschöpflichen Vorrat von himmelblau und rosa gestreiften Illusionen durch die Welt geht, die böse Welt, die ihm selbst beim besten Willen nicht den Schmelz von den Flügeln zu streifen vermag.

Für diese verkörperte Jungfräulichkeit sind die Männer entweder Halbgötter oder Schurken. Das heißt, sie kennt und sieht nur die Halbgötter, aber sie weiß, daß es auch Schurken gibt, sie weiß es als historische Tatsache, die ihre Gefühlssphäre nicht weiter berührt. »Der Mann«, an den sie denkt, mit dem ihre Gedanken sich beschäftigen, von dem sie träumt, ist der Inbegriff alles »Großen und Edlen« – Er, der Herrlichste von Allen.

Es ist daher ein furchtbarer Moment, wenn sie schließlich doch einmal erfährt, daß alle Männer »so« sind. Das Mädchen mag vor solcher Erkenntnis behütet bleiben, einmal durch sein eignes Wesen und dann durch die tausend und abertausend Schranken, die Brauch und Sitte um sie her aufrichten, sie mag älter und selbst alt werden, ohne ihre Illusionen einzubüßen. Wird sie aber Braut und Frau, so ist es unvermeidlich, daß ihre Ideale Schiffbruch leiden. – Die Braut sucht in das Innenleben des Geliebten einzudringen, sich ein Bild davon zu machen, ihn ganz zu verstehen, und da stößt sie auf manchen Punkt, der dunkle Ahnungen in ihr erweckt, er möchte Gebiete durchwandert haben, deren Pfade nicht immer mit weißem Sand bestreut waren. Sie wehrt sich dagegen, sie will nicht daran glauben und hofft immer noch, daß doch vielleicht dieser eine, von ihr Auserwählte, anders ist wie[452] die andern. Sie möchte wenigstens für sich noch einen Altar retten, an dem sie beten und das Weihopfer ihres Lebens vertrauensvoll niederlegen kann. Aber selbst, wenn sie diesen schönen Wahn noch mit in die Ehe hinüberrettet, als Frau erfährt sie doch früher oder später einmal etwas von der unvermeidlichen »Vergangenheit« des Gatten. Der Altar des unbekannten Gottes stürzt zusammen und an die Stelle des Idols tritt das Bild eines verzerrten Scheusals und das ist der Mann, ihr Mann – jeder Mann ohne Ausnahme.

Irgendwie muß der Schlag überwunden werden. Die einfachste Lösung aus diesem Konflikt, den wohl jede Frau, die ahnungslos in die Ehe tritt, durchzumachen hat, ist die praktische christliche. Mütter, Tanten und Pastoren sind jederzeit damit bei der Hand, wenn sie etwas von dem Sturm erfahren, der die Seele des armen Gretchens aufgewühlt hat: Man muß sich eben damit abfinden, es ist nun einmal der Gang der Welt. Das Weib soll und muß vergeben, immer wieder vergeben und mit seinem Überfluß von Reinheit die Mängel des andern ausgleichen.

Die einen ergeben sich in ihr Schicksal, als stille Frau an der Seite des Sünders auszuharren, und versuchen in tausendfacher Entsagung das zertrümmerte Götterbild wieder zusammenzuflicken, und wenn sie Mutter werden, in ihren Kindern die vernichteten Ideale wieder aufzubauen. Die andern wenden sich und werden »moderne Frauen«. Jede, auch die hypermodernste, hat wenigstens in frühester Jugend einmal ein ähnliches Gretchenstadium durchgemacht. Aber wer nicht zum chronischen Gretchen veranlagt ist, und das sind nicht viele, ist damit fertig, ehe die Heirat in Frage kommt. Das moderne junge Mädchen ist fast durch die Bank demi-vierge, wenn es die Schule verläßt. Es ist auch kaum anders möglich bei der starken[453][454]