Hermann Bahr: O Mensch! Österreichischer Roman
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Francisco Goya, Portrait eines Künstlers, um 1790
ISBN 978-3-8430-8827-5
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8619-9271-4 (Broschiert)
ISBN 978-3-8619-9272-1 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Berlin, S. Fischer, 1910
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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»O Mensch!« sagte Fräulein Annalis, dem Diener zur Antwort. Aber dann besann sie sich auf die Vorschrift des Magiers, trat ans Fenster, kehrte sich der Sonne zu, gab sich ihr mit offenen Armen völlig hin, und als sie ganz eingesonnt war, wiederholte sie, mit einem scheinheilig feierlichen Gesicht, langsam: »O Mensch!« Der Diener stand unbeweglich an der Tür, bis sie ihm sagte: »Also dann gehns hinauf und richtens dem Herrn Kammersänger aus, daß ich schon wieder ›o Mensch‹ hab sagen müssen, und wenn er jetzt nicht gleich kommt, fang ich allein zu essen an, es ist dreiviertel zwei!«
Sie sah dem Diener nach und mußte lachen. Vor fünf Jahren war der noch Brauknecht in Henndorf. Das verstand ihr Bruder wirklich, Menschen herzurichten! Nur sich selber nicht. Er hätte so gern dem König Eduard ähnlich gesehen. Es gelang ihm aber nur bei den Dienern.
Sie sah durchs Zimmer, ordnete die Körbe mit den Blumen und trat an den gedeckten Tisch. Wenn der Herr Kammersänger Ignaz Fiechl von den Ferien kam, war er noch strenger. Er zog mit der Ledernen seinen ganzen Übermut aus und mit den weißen Handschuhen alle seine Launen wieder an.
Dann aber setzte sie sich, wie plötzlich von aller Kraft verlassen, in den schweren weiten Stuhl, die Hände hingen über die Lehnen, und ihre großen grauen Augen waren fort, irgendwo draußen in der ruhig reifenden, heimlich herbstelnden Landschaft, die vor dem großen Fenster über Gärten und Wiesen, waldig umschlossen, mit hellen kleinen Häusern allmählich in den Dunst der Stadt sank. Wenn sie so saß, nach raschem Handeln oder auch mitten im Gespräch zuweilen plötzlich gleichsam entfernt und als wäre sie von ihrem Leib erlöst, sagte der Maler Höfelind immer, sie sei eine merkwürdige Kreuzung von Defregger und Feuerbach; das kommt davon, wenn eine Römerin in Henndorf geboren wird. Dies verdroß stets den Kammersänger sehr, der auf reine deutsche Rasse hielt, Römlinge verachtete, seine Schwester nicht verdächtigen ließ und in ihr ein wahres Urbild der Thusnelda fand, worauf der Maler immer vor Zorn einen noch röteren Kopf bekam und stampfend fortlief, in einem Atem Luther und Bismarck und Richard Wagner verfluchend. Am nächsten Tag versöhnten sich dann die beiden Nachbarn wieder, und am nächsten Abend entzweiten sie sich wieder. Der Kammersänger fand, daß den Deutschen einst der Erdkreis untertan sein wird, der Maler fand, daß der Künstler überhaupt keiner Nation angehört, und dem Fräulein Annalis war es nicht leicht, ihnen darzutun, daß dies alles für den Hausgebrauch ganz gleichgültig sei.
Sie schrak auf, als der Diener wiederkam, um zu melden: »Der Herr Kammersänger läßt dem gnädigen Fräulein sagen, es dauert nur noch eine Minute und, und –« Er zögerte. Fräulein Annalis fragte: »Und?« Ohne das Gesicht zu verziehen, schloß der Diener seine Meldung ab: »Und das gnädige Fräulein soll den Herrn Kammersänger mit ihren blöden Faxen auslassen, weil der magische Rußmensch doch ein Esel ist.«
Fräulein Annalis sah den Diener aus ihren großen grauen Augen an, aber in seiner glatten Maske regte sich nichts. Dann sagte sie: »Es ist gut.« Der Diener ging. Sie war wieder in dem großen Zimmer allein. Die Sonne sprang durchs weite Fenster auf den weißen Tisch, in die Teller und Gläser, über die Rosen in den Körben und den dunklen Lorbeer der rot und golden bebänderten Kränze, an die hell in Zirbel getäfelte Wand. Da schüttelte Fräulein Annalis ihre schweren Schultern und warf die Gedanken ab. Wie sie jetzt zur kleinen Türe schritt, um dort das Fenster nach der Küche aufzuschieben und anrichten zu lassen, war sie wieder die handfeste, noch halb bäurische, derb auftretende Frau, die morgens mit dem Korb am Arm einkaufen ging, von allen Handwerkern als gute Rechnerin gefürchtet war und die Mägde den ganzen Tag in Atem hielt.
Sie blieb am Fenster zur Küche, bis sie des Kammersängers feierlichen Schritt auf der Stiege knarren hörte. Dann trug sie die Suppe mit den dampfenden Tiroler Knödeln auf. Der Kammersänger trat ein, frisch rasiert, die Busennadel mit dem Namenszug des Prinzen Adolar in der kunstvoll geknüpften Krawatte, mit der schönsten seiner berühmten farbigen Westen über dem vordringenden Bauch, und sagte, sich die Nägel putzend, gekränkt und überlegen: »Du bringst ja die Suppe grad erst! Wozu hast du mich dann so gehetzt? So seids ihr Weiber!
Er sah auf den Lorbeer und die Rosen, verzog seinen breiten Mund und sagte verächtlich: »Gott, das Grünzeug! Und so fangt halt alles das jetzt wieder an! Die Zeit is schnell vergangen. Man hat doch eigentlich immer genau das Gefühl wie als Bub, wenns wieder in die Schul gehn hieß. Aber der Haupttreffer ist wieder falsch gezogen worden, also da hilft schon nichts. In Gottes Namen!« Er band sich die Serviette um den Hals, obwohl Fräulein Annalis immer behauptete, der König von England tue dies nicht. Nach den Knödeln wurde er milder und sagte, in den Garten zeigend, der zum Fenster herein seine roten und gelben Rosen hielt: »Es is ja hier auch ganz schön. Wenigstens solange man das Narrenhaus nicht sieht. Das verschandelt die ganze Gegend. Daß es dagegen kein Gesetz gibt! Aber wo man's nicht braucht, da gibt's überall Gesetze. Wir leben schon in einem ganz verkehrten Staat.«
»So schau halt nicht hin«, sagte Fräulein Annalis.
»Es nutzt mir aber nix, wenn ich nicht hinschau. Ich weiß es doch. Ich weiß, dort drüben ist das verrückte Haus. Ich brauch gar nicht hinzuschaun, ich weiß es, und das genügt, mir den ganzen Vormittag zu verderben.«
»Nachmittag ist das Haus ja auch nicht anders«, sagte die Schwester.
»Das Haus nicht, sagte der Kammersänger gereizt, aber ich. Ich bin nachmittags anders. Das kannst du nicht verstehen, es ist das Los aller künstlerischen Naturen, daß sie selbst von ihrer nächsten Umgebung unverstanden bleiben. Ich habe mich damit längst abgefunden. Aber wenn ich einmal den Haupttreffer mache, wird das erste sein, daß ich dem Höfelind sein Haus abkaufe. Dann wird es einfach eingerissen oder angezündet, bis kein Stein davon mehr auf dem andern ist. Ich hasse dieses Haus!« Wenn der Kammersänger Ignaz Fiechl sich ärgerte, ging sein braunes, offenes, kindliches Gesicht ganz auseinander und schien sich in einen einzigen ungeheueren Mund zu verwandeln, die kurze Nase verschwand, die flinken kleinen Augen sanken ein, der ganze Kopf war nur noch ein weites schnappendes Maul.
»Auf einmal wieder! sagte Fräulein Annalis, ruhig essend. »Du hast dich schon ganz beruhigt gehabt.«
»Ich?« fragte der Kammersänger, im höchsten Erstaunen.
»Du!« sagte Fräulein Annalis, gelassen.
»So?« fragte der Bruder.
»Ja«, sagte die Schwester.
»Nie!« sagte der Kammersänger.
»Du weißt es halt nicht mehr«, sagte Fräulein Annalis.
»Ich weiß«, sagte der Kammersänger, »daß ich mich zuweilen mit einer übermenschlichen Anstrengung beherrsche, um es dich nicht merken zu lassen, aus Rücksicht für dich also. Aber darauf achtet eine Frau ja nie, ich verlang's ja auch gar nicht. Wenn du aber deshalb nun so tust, als ob es mir ein Vergnügen wär, täglich in der Früh ein solches Schandmal einer durchaus ungermanischen Kunstrichtung zu sehen, so muß ich schon sagen, ich hätt mir einen besseren Dank von dir verdient. Denn wenn ich still bin und lieber nichts mehr davon sage, so geschieht das nur aus Rücksicht auf dich!«
»Ja du bringst immer Opfer«, sagte Fräulein Annalis.
»Es liegt in der Natur jedes wahrhaften Deutschen, Opfer zu bringen«, erklärte der Kammersänger. »Das hängt mit dem Tiefsten der arischen Weltanschauung zusammen. Aber dafür könnt ich dann wohl auch verlangen, daß man mich wenigstens nicht noch reizt, zum mindesten nicht, wenn ich am Abend zuvor nach zwei Monaten zum ersten Mal wieder eine so schwere und stimmlich wie seelisch anstrengende Partie gesungen hab, wie der Hans Sachs ist, nämlich mein Hans Sachs. Wenn der Herr Kollege den Hans Sachs singt, der kann am andern Tag ruhig Häuser von Olbrich vertragen, aber es is auch danach. Ich nicht, ich kann's nicht, nach meiner Leistung kann man's nicht. Und daß das nicht einmal die eigene Schwester weiß, is traurig. Ein klein wenig könntest du schon auf mich Rücksicht nehmen und dich daran erinnern, daß ich nach solchen psychischen Erschütterungen Ruh brauch und verlangen darf, mit neuen Aufregungen verschont zu bleiben. Glaubst du nicht, mein liebes Kind?«
»Ich glaube schon, mein lieber Naz! sagte Fräulein Annalis. Besonders wenn du wie heut erst um fünf in der Früh nach Haus gekommen bist.«
»Hast du mich denn gehört?« fragte der Kammersänger, kleinlaut.
»Ein Toter hätt dich hören müssen«, sagte sie.
»Wir sind halt gestern etwas vergnügt gewesen, sagte er. Aber schließlich will der Mensch auch leben.«
Sie sah auf und sah ihn an. Wie jetzt ihr ernster Blick auf dem Bruder lag, der nichts merkte, hatte sie wieder jene seltsame Ruhe. Sie schien größer als sie war, und glich irgendeiner Urfrau, wie eingehüllt in Ewigkeit. Dann lachte Fräulein Annalis still und sagte vergnügt: »Darum kriegst du ja auch heut einen Nierenbraten mit Gurkensalat.«
»Bravo«, sagte der Kammersänger. »Du bist ja halt doch mein Annalisl! Wenn nur aber Gott dem Weibe nicht eine so geschwätzige Natur gegeben hätt! Laßt's mich doch nach meinem Hans Sachs ruhig essen und trinken! Das is so das einzige, was der Mensch hat.«
Und sie widmeten sich dem Essen. Der Diener glitt durchs Zimmer, mit weißen Handschuhen servierend. Durchs Fenster floß das Licht über den Tisch und ein Hauch der verblühenden Rosen.
Nach dem Essen trank der Kammersänger sein Glas aus, sah auf die alte Bauernuhr im Winkel und sprach: »Jetzt ist es gleich drei Uhr und du hast mir noch über den gestrigen Hans Sachs kein einziges Wort gesagt. Zweihundert Studenten haben mich am Türl erwartet. Die eigene Schwester aber findet es nicht der Mühe wert, mir auch nur wenigstens die Hand zu drücken.«
»Du hast mir ja verboten bei Tisch zu reden«, sagte sie.
Er wurde wieder zornig. »Über Sachen, die mich ärgern! Aber zwischen dem verrückten aus deines Herrn Höfelind und meinem Hans Sachs wird hoffentlich vielleicht doch noch ein Unterschied sein. Meinst du nicht?«
»Was soll ich dir denn über deinen Hans Sachs noch sagen, du dummer Naz?«, fragte sie lächelnd. »Darauf kommt's doch wirklich nicht an. Oder glaubst?«
Er hörte den zärtlichen Klang in ihrer tiefen Summe nicht und sagte: »Und du warst doch drin!«
Froh sagte sie: »Ich war drin.«
Er nickte. »Du warst drin! Hast aber natürlich auch nichts bemerkt. Sonst könntest du nicht sagen: mein Hans Sachs! No ja!« Er ging von ihr weg, durchs Zimmer hin. Und höflich belehrte er sie dann: »Nein, mein liebes Kind! Das war gestern nicht mein Hans Sachs, das ist ein Irrtum. Alle Achtung vor meinem Hans Sachs, der kann sich ja wirklich hören und sehen lassen, ich weiß schon. Aber das gestern, mein gutes Annalisl, das war doch wohl noch etwas mehr. Da ist es in mir aufgebrochen wie noch nie, mit einer unheimlichen Macht, und ein ganzer Mensch ist dagestanden, mir war selbst fast bang vor mir. Ein ganzer deutscher Mensch und in ihm das ganze deutsche Volk, mit allem was es nur vermag. So war's! Alle Achtung vor meinem Hans Sachs, aber der gestern, das war mehr. Von dem wissen nur drei Wesen: der liebe Gott, als er den wirklichen Hans Sachs erschuf, und Richard Wagner, als er seinen fand, und jetzt ich, seit gestern. Schade, daß es niemand von euch bemerkt hat! Aber von einer aus Kelten, Welschen, Juden und Tschechen vermischten Stadt kann man das ja wirklich nicht verlangen.« Dann rief er den Diener: »Hies! Wir nehmen im Salon den Kaffee.«
Er war gleich versöhnt, als er in den Salon trat. Die Dämmerung in diesem altdeutschen Zimmer mit den schweren alten Vorhängen und den kleinen bunten Scheiben, die großen Formen der reich geschnitzten Kasten und Stühle, der Glanz der Zinnkrüge auf den Borden über dem Kameeltaschensofa, die Stille der dicken Teppiche, die lange Reihe von alten Kränzen an der weißen Wand über den braunen Borden und alle die Truhen, Rüstungen, Waffen, Spindeln, Trinkhörner, Geweihe, Jagdtaschen und Handtuchweibchen um den alten grünen Kachelofen herum, gar aber der eingebaute Erker mit den zwei hohen alten Chorstühlen und den verschossenen Meßgewändern auf dem Klavier, den grünen Scheiben und der roten Ampel, dies nahm ihm immer gleich jede schlechte Laune wieder weg. Von allen guten Geistern des deutschen Volkes schien er sich hier umgeben und fühlte sich, wie er es auszudrücken pflegte, im sicheren Port. Hier hingen alle Bismarcks, die er sich nur verschaffen konnte, Wagner im samtenen Flaus, mitten unter seinen Gestalten, und endlich der Herr Kammersänger Ignaz Fiechl selbst, vielfach: als Student, zwischen zwei Schlägern, in Couleur, schwarz-rot-goldene Bänder und Bierzipfel rings, als Korporal mit den roten Aufschlägen der Rainer, als Bergsteiger in der Ledernen mit nackten Knien, als Wotan, König Heinrich, Marke, Hans Sachs und Landgraf, als Ritter vom Koburgischen Falken, das breite gelbe Band um den Hals, und immer wieder als Weltmann, das dicke Gesicht sehr ernst gefaltet, im hohen breitgeschweiften Zylinder, die weiße Nelke im Knopfloch, mit allen erdenklichen Westen. Und wenn er recht vergnügt war, ließ er alle Vorhänge schließen und das Licht in der Ampel anstecken. Ein sanfter roter Schein, von den grünen Scheiben gedämpft, floß dann über das dunkle Holz des großen deutschen Zimmers, und er saß im Lutherstuhl, trank noch eins und nannte das seine Gralsstimmung. Als aber Höfelind, der zynische Maler, einmal sagte, er trinke lieber Wein ohne Staub, hatten sie sich so gezankt, daß sie drei Wochen entzweit geblieben waren. Seitdem ließ er ihn nur noch in die Bauernstube, des Grals hielt er ihn nicht mehr für würdig.
»So fangt halt das jetzt alles wieder an!«, sagte der Kammersänger beim Kaffee, sich im Lutherstuhle dehnend. Es war ihm aber nun offenbar gar nicht mehr unangenehm, daß es wieder anfing.
Dann blieb es in dem deutschen Zimmer lange still, bis auf einmal der Annalis liebe Stimme aus dem Dunkel kam. »Schau, sagte sie leise, wenn ich dir nur sagen könnt, was ich dir alles hab sagen wollen, als ich gestern in der Nacht herausfuhr. Bei Tag kommt's einem dann aber so dumm vor, und man schämt sich. Doch darfst du deswegen nicht gleich so von mir denken, weil ich dir nichts gesagt hab! Du kennst mich noch immer nicht. Und gar wenn man mit mir brummt, ist es ganz aus, da bleibt mir alles im Hals stecken. Ich geb ja zu, daß ich heut ein bißl verwurschtelt bin. Mir geht halt allerhand durch den Kopf.«
Er verstand nicht, daß sie gefragt sein wollte. Er nickte nur und sagte mahnend: »Mein liebes Kind, du hast mir aber auch über meinen neuen Anzug noch nichts gesagt!«
Sie sah ihn an und sagte mit hellem Erstaunen: »Ja! Es is wahr! Laß dich anschaun!«
Er nickte wieder. »Ja, das bemerkst du gar nicht. Und davon hab ich ja wirklich nichts, wenn du mir in der Nacht schöne Sachen sagen willst, während ich nicht da bin, sondern im Wirtshaus, was mir wahrhaftig kein Vergnügen macht, aber leider zur künstlerischen Anregung nun einmal unerläßlich ist.« Er stand auf und stellte sich hin, wie für den Photographen, indem er, sein gutmütiges Gesicht runzelnd, fragte: »Also wie gefällt er dir?« Er ging ein paar Schritte, drehte sich langsam um, ging wieder, blieb stehen, schloß den langen schwarzen Rock und ließ sich noch einmal ansehen.
»Wunderschön«, sagte sie.
Er antwortete gekränkt: »Du hast eben einmal keinen Sinn für Eleganz.«
»Aber wunderschön, wiederholte sie. Was willst denn noch?«
Der Kammersänger schüttelte den Kopf. »Wenn eine Frau sagt: wunderschön, das heißt, es interessiert sie gar nicht. Euch muß man kennen.«
Sie sagte lachend: »Mir bist halt in der Ledernen lieber. Ich bleib schon eine vom Land. Das wird sich nicht mehr ändern lassen, in meinen Jahren, ich glaub nicht.«
Sie trat in den Erker, ans Fenster, um über die lange weiße Mauer des Gartens nach dem Weinberg zu sehen.
Der Kammersänger sagte, wieder in seinem Lutherstuhl: »Um das handelt es sich nicht. Ich bleib auch einer vom Land. Es fällt mir nicht ein, ehrvergessen den Europäer zu machen, wie dein Herr Höfelind. Aber man muß den Leuten zeigen, daß man schon auch wer ist. Wenn sie sehen, daß ich mir einen ersten Schneider leisten kann, haben's noch einmal soviel Respekt.«
Vom Fenster her sagte sie: »No du leistest dir ja auch eine Gräfin.«
»Das gehört natürlich auch dazu, sagte er. Bist wieder einmal eifersüchtig?«
Da sie nicht antwortete und sich, still am Fenster, nicht regte, fragte er unmutig: »Was hast denn heut überhaupt? Gleich am ersten Tag! Du weißt, ich kann's nicht leiden, wenn eins so spissig ist.«
Nach einer Weile sagte sie: »Der Herbst kommt heuer bald. Dem Garten sieht man noch nix an. Aber in der Luft herbstelt's schon.« Sie hörte den Diener eintreten und fragte, sich umwendend: »Was ist?«
Der Diener antwortete: »Der Herr Radauner hat telephoniert, ob wir ihm nicht was zum Essen schicken könnten.«
»Aha! sagte der Kammersänger, vergnügt auflachend. Immer noch die alte Geschicht! Da strikt der Nußmensch wieder einmal.«
»Gleich«, sagte Fräulein Annalis und ging in die Küche.
Der Kammersänger zog sein lustiges Gesicht zusammen, warf die dicken Lippen auf, daß die beiden Furchen an der Nase sich noch vertieften, und sagte mit dem grimmigen Ernst, den er auf seinen Photographien hatte: »Wer ist für heut angemeldet?«
Der Hies antwortete: »Der Prinz Adolar kommt um fünf und gegen abend die Frau Gräfin.«
»Seine Kaiserliche Hoheit der Prinz Adolar heißt es«, verbesserte der Kammersänger.
»Seine Kaiserliche Hoheit der Prinz Adolar«, wiederholte der Hies.
»Du kannst dann der Frau Gräfin telephonieren, fuhr der Kammersänger fort, daß ich sie bitten laß, erst morgen gegen abend zu kommen. Sag, daß wir noch nicht ganz in Ordnung sind und meine Schwester noch auszupacken hat. Aber sehr höflich, Hies, verstanden?«
»Jawohl, Herr Kammersänger«, sagte der Hies, mit dem unverschämten diskreten Lächeln herrschaftlicher Lakaien.
Der Kammersänger gab ihm einen Tritt und sagte lachend: »Du machst dich, mein Hies! Du machst dich ganz gut heraus. Und du kriegst auch immer mehr schon das gewisse Watschengesicht, das dazu gehört! Bravo! Die Watschen wirst schon auch noch kriegen, da is mir nicht bang. So ein Kerl!« Und lachend stieß er noch einmal nach ihm, griff in die Tasche und warf ihm eine seiner Zigarren zu. »Hop! Aber aufpassen und mit Andacht! Es is eine von den ganz starken, die du so gern stiehlst!«
»Danke schön, Herr Kammersänger«, sagte der Hies, immer ganz herrschaftlich.
»Glaubst, ich weiß das nicht? Mein lieber Hies, ich weiß alles. Ich weiß, daß du meine Zigarren stiehlst, ich weiß, daß du dich in der Küch über mich lustig machst, und ich weiß, daß du mir, wenn dir morgen wer um einen Gulden mehr Lohn gibt, in derselben Stund noch aus dem Dienst gehst, und ich sitz dann da und kann mir wieder einen suchen. Denn du bist ein großes Luder, Hies! Ich aber auch, mein lieber Freund, und so passen wir ja ausgezeichnet zusammen, wir zwei verschlagenen Oberöstreicher wir! Du schaust auf dem Bock sehr gut aus, in der Frechheit nimmt's auch keiner mit dir auf, und ich hab meine Freud daran, wie du mir gelungen bist! Es is schon eine gesegnete Gegend, unser Landl!« Er lachte, sah den Hies an der Türe noch einmal von oben bis unten an und sagte dann, mit seiner kurzen fleischigen Hand winkend: »Ab, verehrter Herr, ab!«
Der Diener ging. Er wußte ganz genau, daß das alles nicht wahr war. Er hätte sich nie getraut, eine Zigarre seines Herrn zu nehmen. Er wußte, daß es ihm der Kammersänger nie verziehen hätte. Er war in der Stadt ganz unverdorben geblieben. Er wußte, daß der Kammersänger doch alles gleich bemerkt hätte. Er war dem Kammersänger hündisch treu. Er hätte sich für ihn erschlagen lassen. Er haßte die Stadt, wie sein Herr sie haßte. Aber er sah, daß sein Herr aushielt, um Geld zu machen, und so hielt er auch aus, um Geld zu machen; wenn sie einmal genug Geld haben werden, werden sie fortgehen, heim. Er sah, daß sein Herr vor den Leuten hier ganz anders tat. Also mußte man hier ganz anders tun. Er bemühte sich, es genau zu lernen; er machte alles nach. Bei sich aber blieb er immer gleich, hinter den Eisenstäben seines Oberösterreicher Mißtrauens. Sie waren die richtigen Oberösterreicher, er und sein Herr.
»Jawohl, Herr Kammersänger«, sagte der Diener und ging.
Ignaz Fiechl pfiff vor sich hin. Er hatte den Hies sehr gern. Das war einer, auf den man sich verlassen konnte. Der wär für ihn betteln und stehlen gegangen. Das gibt's doch heute nur noch zwischen der Salzach und der Enns. Was wußten denn die anderen noch von Treue? Denen zerfloß doch alles in diese wesenlose Humanität! Was geht mich die Menschheit an? Sich einen suchen, Herrn oder Freund, dem man die Treue hält! Und dann der ganzen Welt die Zähne gezeigt! Wie die damals, die dort die Donau hinab ins ungrische Land zogen, Hagen und Volker. Ihr Sinn ist bei uns aufgehoben. Die anderen sind längst alle verwelscht und verslawt. Nur wir bleiben noch treu.
Und dann fing der Herr Kammersänger Ignaz Fiechl wieder zu rechnen an, wie jeden Tag. In sieben Jahren ist seine Versicherung fällig. Das sind hundertfünfzigtausend Kronen. Auf der Bank hat er achtzigtausend. Zehntausend legt er jedes Jahr von der Gage weg, macht in diesen sieben Jahren siebzigtausend. Das waren also dann dreimalhunderttausend. Und in Gottes Namen noch zweimal Amerika, dann sind's viermalhunderttausend. Wenn er das Haus halbwegs geschickt verkauft, gibt's genug, um dafür einen stattlichen Hof in der Heimat einzutauschen. Sieben Jahre noch! Dann ist er gerade vierzig; im schönsten Alter. Sieben Jahre noch Kunstbetrieb und die Herren Journalisten anwedeln und sich von den Weibern beschmachten lassen, modisch aufgeputzt, einer von den Lieblingen der Stadt, die Faust im Sack geballt, noch die sieben Jahre! Dann aber heim, mit der Schwester und dem Hies, zum alten Vater, und die ganze Welt auslachen und ein Bauer sein. Seit er in die Stadt gekommen ist, vor fünfzehn Jahren, denkt er sich das jeden Tag und rechnet daran jeden Tag. Und jetzt sind's nur noch sieben Jahre bis dahin!
Wie er so saß, in seinem Lutherstuhl rauchend und rechnend, kam in sein großes, kindisch fragendes, weit offenes Gesicht mit den wachsamen kleinen Augen genau der Ausdruck unverzagter Güte, der an seinem Marke, seinem Sachs immer die Menschen so tief in der Seele traf.
Fräulein Annalis kam zurück. Der Kammersänger fragte lachend: »Ist der Nußmensch wieder einmal auf und davon?«
Achselzuckend ging sie wieder ans Fenster und sagte nur kurz: »Du weißt doch, wie er ist. Aber ich habe den armen Radauner schon nähren lassen.«
Der Kammersänger höhnte: »Das kommt davon, wenn man als Koch einen Chauffeur hat, der das aber eigentlich auch nicht ist, sondern mit Erlösungen hausieren geht, halb Kapuziner und halb Doktor Eisenbart, Kurpfuscher an Leib und Seele! Ich muß aber zugeben, daß das magische Hatscherl ja zu den Bildern des Herrn Höfelind und in das Haus des Herrn Olbrich völlig paßt. Wer diesen Stil aushält, von dem wundert's mich nicht, wenn er es auch verträgt, nackt im Gras zu liegen, nichts als Nüsse zu fressen und den Tod für überwunden zu halten; es ist nur konsequent!«
Er hörte sich gern reden. Er war es gewohnt, im Wirtshaus Studenten und Verehrern stundenlang seine Meinungen über Gott, die Menschheit und den Staat vorzutragen. Er glaubte sich eigentlich zum Redner geboren, nur rentiert sich das Singen halt besser. Sehr stolz war er auf sein reines Deutsch, ohne zu bemerken, daß es doch immer wieder in den schweren, dunklen, grollenden Klang der Oberösterreicher geriet. Die Bayreuther Art, sehr deutlich zu deklamieren und jeden Konsonanten für sich ausschwingen zu lassen, behielt er auch im Reden bei, so daß er schließlich bald an einen Landprediger, bald an einen akademischen Festredner erinnerte.
Da Fräulein Annalis ihn perorieren ließ, sagte er schließlich, um sie herauszufordern: »Ich würde meine Freunde wenigstens verteidigen! Oder solltest du von deinem Höfelind und deinem Nußmenschen auch schon wieder abgekommen sein? Zeit wär's!«
Fräulein Annalis antwortete nicht. Sie war auf einen Stuhl gestiegen, nahm die Humpen von den Borden und blies den Staub ab. Er fragte dann: »Hat denn übrigens der Radauner nichts gesagt, ob sie heut abend herüberkommen?«
»Nein«, sagte sie.
Er sagte ärgerlich: »Du hättest auch fragen können! Telephonier doch noch einmal! Es gehört sich. Wir haben gar keinen Grund, mit den Leuten unhöflich zu sein. Schließlich sind's unsere Nachbarn, und wenn die Manieren des Herrn Höfelind zuweilen manches wünschen lassen, so folgt daraus nicht, daß wir ihm das nachmachen müssen.« Und weinerlich fuhr er fort: »Und du weißt doch, daß ich das brauch, abends mit ein paar netten Menschen zusammen zu sein! Jetzt sind wir da zwei Monate unter den Bauern gesessen, es war ja ganz schön, aber mein liebes Kind, das genügt mir schließlich nicht, das kannst du nicht verlangen, schließlich bin ich ein Künstler, der ein gewisses Recht auf Anregung hat und sich auch wieder einmal aussprechen will! Wir könnten den Prinzen Adolar dabehalten, die Gräfin hab ich glücklich ausladen lassen, und wenn man die vier ein bißl durcheinander hetzt, kann's ganz lustig werden. Ein kaiserlicher Prinz, der durchaus den Tristan singen will, ein windischer Landstreicher, der den Magier und Welterlöser spielt, der so wie so komplett verrückte Höfelind und der alte Radauner, mit dem man nur über seinen Klee reden kann, ich denk, das wird genügen. Also vergiß nicht und telephonier dann das Narrenhaus noch an. Ja? Und laß das doch schon jetzt! Das ist auch so eine moderne Wahnidee, diese Todesangst vor jedem bißl Staub! Setz dich doch gemütlich zu mir! Was bist denn heut so zapplig?«
Hies brachte das Abendblatt. Der Kammersänger las das Repertoire. Er ballte die Zeitung zusammen und warf sie weg, knurrend: »Montag Cavalleria, Mittwoch Wiener Walzer, Donnerstag Traviata! Fünfundzwanzig Jahre nach Wagners Tod! Kunschtinstitut!«
Fräulein Annalis stieg vom Stuhl und ging in den Erker zurück ans Fenster. Dort sagte sie plötzlich: »Weißt, wer heute da war?«
»Wer?«
Sie kam aus dem Erker und trat an den Tisch. Langsam sagte sie: »Der Herr Hofrat Stelzer.«
Er fragte, nachsinnend: »Hofrat Stelzer?«
Sie sagte: »Ja, er is jetzt Hofrat. Weil er nicht mehr gewählt worden ist, haben's ihn zur Belohnung zum Hofrat beim Verwaltungsgerichtshof gemacht. Das hätten wir uns auch nicht gedacht, damals bei der Sedanfeier in Freilassing, wo du die siebzehn Knackwürste gegessen hast.«
»Der?«
Sie setzte sich zum Bruder und sagte still: »Ja. Er hat's halt immer verstanden. Er hat sich immer zur rechten Zeit umgedreht.«
Empört fragte der Kammersänger: »Was will denn der?«
»Uns wiedersehen, wahrscheinlich«, sagte Fräulein Annalis.
»Himmelherrgottsakra, der Hund!« Und der Kammersänger schlug mit seiner stumpfen fleischigen Hand auf den Tisch.
»Oder mich wiedersehen«, sagte sie lächelnd.
»Du hast ihn aber doch ordentlich hinausgelahnt?« Und der Kammersänger stieß mit dem Fuß aus.
Sie erzählte, ruhig: »Ich war gar nicht zu Haus, ich war grad einkaufen. Er hat mir aber ein eigenhändiges Schreiben dagelassen. Er will wieder kommen und fragt, wann es mir paßt.«
»Da laß nur mich antworten, sagte der Kammersänger schadenfroh. Ich werd dem Herrn Hofrat das schon besorgen.«
»Nein, sagte sie. Ich hab' ihm schon geschrieben, daß er nur telephonieren soll. Ich erwart ihn dann zu jeder Stunde, die ihm recht ist.«
»Annalis!« sagte der Kammersänger, starr.
Sie saß aufrecht und sah ihn mit ihren großen grauen Augen an, gelassen fragend: »Was?«
»Annalisl?« Er dehnte das Wort und ließ die letzte Silbe durch das Zimmer schweben. Dann sprang er auf und packte sie. »Ja, Annalis, hast du vergessen –?« – »Nein«, sagte sie. Sie nahm seine Hand von ihrem Arm, stand auf und ging um den Tisch. »Es steht gar nicht dafür, daß du dich aufregst. Ich hab nichts vergessen. Sei ganz ruhig, ich weiß es noch genau, wenn's auch neunzehn Jahre her ist. Aber ich seh gar nicht ein, warum ich es einem Jugendfreund abschlagen soll, mich besuchen zu dürfen.«
»Schöner Jugendfreund! sagte der Kammersänger. Der Schuft hat dich elend verraten!«
»Ich bin dem Herrn Hofrat großen Dank schuldig, sagte Fräulein Annalis, lustig. Denn hätt er mich damals nicht sitzen lassen, so ging's mir heut gewiß nicht so gut, wie's mir jetzt geht. Ich denk mir wenigstens, daß es viel schöner ist, bei dir zu sein, als wenn er mich geheiratet hätt und ich jetzt seine Frau Hofrätin war. Glaubst nicht? Also dann schimpf aber nicht auf ihn, sondern sei froh! Hab ich nicht recht?«
Sie stand hinter dem Tisch und sah dem Kammersänger mit seinen kurzen dicken Beinen knieweit durch das Zimmer waten zu, bis es losging: »Weiberleut! Alle seid's gleich! Anspucken soll man euch! Ihr wollt's es ja nicht anders! Und wenn man euch dann nach zwanzig Jahren bloß den kleinen Finger zeigt, is alles vergessen und ihr zergeht's vor Rührung! Pfui Teufel!«
Sie setzte sich, nahm die Zeitung vom Boden und bog sie glatt, um zu lesen. »Wennst dann fertig bist und dich ausg'schimpft hast, laß mir's sagen.«
»Z'erst verspricht er dir das Blaue vom Himmel und verdreht dir den Kopf, dann wie sich's zeigt, daß der junge Herr ein reiches Mädl kriegen kann, ist die Trafikantin auf einmal zu schlecht für eine Advokatensfrau, dein Jammern und Flennen hat dir nix geholfen, der junge Herr kann seine Karriere nicht opfern! Natürlich! Handelskammersekretär, Gemeinderat, Landesausschuß, bis er richtig im Reichsrat sitzt und auf den Minister spitzt! No da muß aber doch ein Haar in der Suppen g'wesen sein! Und jetzt, wo er abgehaust hat, wo er siecht, daß nix mehr für ihn zu hol'n is, und wo die kleine Trafikantin die Schwester vom Kammersänger Fiechl is, a ja, da möcht er sich auf einmal erinnern, jetzt auf einmal, das schaut ihm gleich, und du hast ja offenbar die ganze Zeit bloß darauf gewartet, bis's ihm vielleicht doch wieder einmal gefällig sein wird! So muß man euch behandeln, ihr verdient's es nicht besser, so g'hört's euch! Ein Narr wär er g'wesen, wenn er dich damals g'nommen hätt! Wozu denn? Du hast ja geduldig gewartet, Jahr für Jahr! No und sixt, jetzt wirst belohnt! Jetzt is er ein alter Grasl, dem die Haar ausgehn, jetzt wird ihm bang, jetzt könnt er eine Pflegerin brauchen, auf die alten Tag! Und sixt, da denkt er jetzt an dich! Rührend, nöt? Und du gehst herum, als wenn's Christkindl vor der Tür wär!« Und er schrie: »Hör zu, wann dein Bruder dir was sagt! Das is wohl das wenigste, was ich verlangen kann!« Er stand vor ihr, sie saß unbeweglich, auf die Zeitung gebeugt. Er wurde zornig und riß ihr das Blatt weg. »Du wirst auch schon nicht mehr gescheit, Naz! sagte sie. Abends im Bett wirst dann jammern, um die Fortsetzung von dem Roman.« Und sie hob das Blatt auf und strich es sorgsam wieder glatt.
»Was er von dir will, will ich wissen!« brüllte der Kammersänger.
»Ich auch, sagte sie. Dazu muß ich aber doch mit ihm reden. Wann er kommt, wird er mir's sagen.«
»In mein Haus kommt er nicht, das garantier ich dir!«
Achselzuckend sagte sie: »Dann müßt ich halt zu ihm gehen. Wann dir das lieber ist!«
»Aber Himmelherrgottsakra, warum denn?« fragte der Kammersänger, wütend.
»Weil ich will, sagte Fräulein Annalis. Ich bin großjährig. Das könnt'st jetzt schon bemerkt haben.«
Der Kammersänger fing wieder durch das Zimmer zu waten an. Plötzlich sagte er, mehr weinerlich als zornig: »Das hat doch aber gar keinen Sinn!«
»Es muß nicht alles einen Sinn haben«, sagte sie.
Er schlug wieder seinen befehlenden Ton an. »Wo is der Brief von ihm?«
»Den Brief kannst haben, sagte sie. Er is in meinem Zimmer oben. Es steht aber nix drin, als daß er gestern in den Meistersingern war und dich gehört hat und den Wunsch hätt, uns nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen.«
»Der war gestern drin?« fragte der Kammersänger.
»Ja«, sagte sie.
»Schreibt er da was Näheres drüber?« fragte der Kammersänger.
»Er schreibt, sagte sie, daß er seit einem Jahr immer drin is, wenn du singst.«
»Warum haben sie ihn denn eigentlich nicht mehr gewählt?« fragte der Kammersänger.
»Er hat doch die großen Reden gegen das allgemeine Wahlrecht gehalten, sagte sie. Da hat er sich eben einmal geirrt. Der Wind is anders gegangen.«
»No jetzt mit dem allgemeinen Wahlrecht, sagte der Kammersänger, da laßt's mich aus! Die Proleten werden 's nicht besser machen.«
»Vielleicht wirst auch noch Hofrat.«
»Ich mein ja nur, sagte der Kammersänger, ein Mensch kann doch seine Meinung haben. Es ist immerhin schad, wenn so kenntnisreiche Männer wie der Stelzer aus der Öffentlichkeit verdrängt werden. Gegen dich hat er sich ja gewiß nicht gut benommen, das hat aber mit seiner politischen Bedeutung nichts zu tun, die man ihm jedenfalls nicht abstreiten kann.«
»Und ins Theater geht er auch, wenn du singst«, sagte Fräulein Annalis.
»Wieso? fragte der Bruder, argwöhnisch. Was hat das damit zu tun?«
»Ich meine nur, sagte die Schwester, unschuldig. Das spricht doch auch für ihn.«
»Gewiß!« sagte der Kammersänger, ohne zu wissen, weshalb er so gereizt war.
»Und ich denk mir, sagte Fräulein Annalis, sanft, das wird wohl auch der eigentliche Grund sein, weshalb er uns wiedersehen will: es gilt offenbar dem verehrten Meistersänger.«
Er sah die Schwester an, ihr Ton gefiel ihm nicht, aber in ihren stillen grauen Augen, die ruhig über ihn weg in den Erker blickten, war nichts zu bemerken. Er fragte: »Warum ist er denn dann nicht gleich zu mir gekommen statt erst zu dir?«
»Vielleicht hat er sich gedacht, daß es dir am Ende nicht recht wär.«
Nun erinnerte sich der Kammersänger erst wieder und fing wieder zu toben an. »Das auch noch! Ich soll vielleicht noch springen vor Vergnügen, wenn der Schuft –« Er brach plötzlich ab und erklärte ruhig belehrend: »Denn da gibt's nichts, mein Kind! Damals war er ein Schuft. Wie er sich damals gegen uns benommen hat, das war eine Schufterei. Oder gegen dich halt. Mir persönlich hat er ja nie was getan. Das hätt ich ihm auch nicht geraten. Immerhin aber –« Er ging zur Wand und schob den großen Bismarck zurecht, der schief hing. Dann kam er zurück und fuhr fort: »Immerhin kommt es aber, ja vor, daß ein Mensch sich ändert. Das muß man auch bedenken. Schließlich war er damals kaum sechs- oder siebenundzwanzig, und wer weiß, wie ihm die Pittnerischen eingeheizt haben, daß er das Mädl nimmt, schön war sie ja nie! Gott, der alte Pittner hat seine Händ damals überall gehabt, und das reizt halt so einen jungen Menschen, plötzlich den reichen Herrn zu spielen und jede Tür offen zu finden. Ohne Luderei is noch keiner hinaufkommen, das darf man ja wirklich nicht so genau nehmen! Wie der Mensch sich dann benimmt, wann er einmal oben is, darauf kommt's an, da zeigt es sich erst, hinauf muß man schließlich irgendwie, denn unten bleiben, davon hat man auch nix.«
»Du hätt'st mich an seiner Stelle sicher auch nicht genommen«, sagte Fräulein Annalis, in ihrem verschlossenen Ton.
»Von mir ist nicht die Rede«, sagte der Kammersänger, ärgerlich.
»Aber nehmen wir an, sagte sie. Nehmen wir an, du hättest dich als junger Mensch in eine kleine Trafikantin, in die Tochter von einem armen Tierarzt auf dem Land verliebt! Ich möcht wissen!«
»Ich hätt mich nicht verliebt!« sagte der Kammersänger, gereizt.
»Aber nehmen wir an!«
»Ich kann nicht so was Dummes annehmen, sagte der Kammersänger. Ich hätt mich nicht verliebt, das gibt's einfach nicht, ich kenn mich doch. Das war bei mir ausgeschlossen, daß ich mich unpraktisch verliebt hätt. Außerdem hab ich mich überhaupt nie verliebt, das weißt du doch, sondern die Weiber haben sich immer in mich verliebt, dafür kann ich nichts, ich hab mir noch bei einer jeden gewünscht, ich wär sie wieder los!«
»Du hast halt Glück!« sagte Fräulein Annalis »Glück, meine liebe Annalis, Glück hast du gehabt«, belehrte sie der Kammersänger. »Von ihm war's ja gemein, dich sitzen zu lassen, aber was wär denn aus euch geworden? Er nix, du nix, schließlich wär er heut ein kleiner Advokat in Tamsweg oder in Vöcklabruck und du säßest mit einem Schippel von Kindern da! Der Mensch darf sich nur nix vormachen, mein liebes Kind!« Würdevoll trug der Kammersänger seinen stattlichen Leib durch das Zimmer hin und her, die linke Hand auf dem Rücken, während er die Finger der rechten alles demonstrieren ließ.
»Das beste wär vielleicht«, sagte Fräulein Annalis, »du gingest zu ihm, du!«
»Wieso?« fragte der Kammersänger. »Wie komm denn ich dazu?«
»Ich mein nur«, sagte sie, »weil mir vorkommt, daß ihr euch ausgezeichnet verstehen werdt's! Während ich – no ja, Frauen sind darin viel schwerfälliger, ich kann mich da noch immer nicht so hineinfinden, ich bin sicher ungerecht gegen ihn. Also hätt'st keine Lust?«
Ihr verdächtiger Ton war ihm unbehaglich. »Man weiß ja bei dir nie, was dahinter steckt!«
»Ich weiß es schon«, sagte Fräulein Annalis.
Er wurde zornig. »Bitt dich, tu nur nicht so! Du hast es wirklich nicht nötig! Du willst ja jeden Moment was anders! Zuerst warst ganz Seligkeit und Griesschmarrn, da wärst am liebsten noch heut zu ihm hingerannt! Und jetzt auf einmal möchst mich spötteln, weil ich einem Menschen nicht, was vor zwanzig Jahren g'schehn is, durchs ganze Leben nachtragen werd! Wo bleibt da der Zusammenhang? Weiberleut, Weiberleut!«
Hies trat ein, meldend: »Seine Kaiserliche Hoheit der Prinz Adolar.«
Der Kammersänger schrie: »Er soll hinauf, ich komm dann gleich, er soll nur einstweilen allein ein bißl üben! Und tanz mir nicht immer ins Zimmer herein, wenn ich grad was Wichtiges besprechen muß! Könnt'st auch schon wissen, daß der Prinz immer grad dann kommt, wenn man ihn am wenigstens brauchen kann! Mein Gott, dem geht's mit allem so! Aber du bist ja ka Prinz!« Und er brüllte noch mehr: »Also marsch, endlich! Ich will jetzt Ruh haben!« Und er schlug hinter dem Diener die Tür zu.
»Du hast ihn ja für fünf bestellen lassen«, sagte die Schwester.
»Und jetzt hab ich halt keine Lust, punktum!« sagte er, kurz. Plötzlich aber geriet er wieder in Wut, die sich immer mehr auf den unschuldigen Prinzen entlud. »Was glaubt denn der überhaupt? Ich pfeif darauf! Ein Künstler wie ich ist mehr als alle Prinzen miteinand, so weit sind wir doch heut schon, Gott sei Dank! Und wenn mir das vielleicht imponieren soll, weil er den Anarchisten macht – mein liebes Kind, wenn einer schon einmal ein Prinz is, is mir noch am liebsten, er is ein ordentlicher Prinz! Und nicht so einer, der mit den Juden schöntut! Da lach ich! Wenn die Prinzen jetzt den Tristan singen, wird nix übrigbleiben, als daß im nächsten Krieg ein Tenor kommandiert, in so einem Land leben wir! Ich kann dir nur sagen: ein Prinz, der mit Theaterleuten herumzieht, imponiert mir gar nicht! Gar nicht! Verächtlich ist mir das, wenn du's wissen willst! Einfach verächtlich! Er soll lieber schaun, daß unsere Kanonen in Ordnung sind! Wär g'scheiter, als daß er mir mit seiner Singerei die Ohren vollmacht!«
»Es hat dich ja niemand gezwungen, ihn anzunehmen«, sagte Fräulein Annalis. »Wenn er kein Talent hat, was plagst dich denn mit ihm? Schick ihn fort!«
»Er hat ja Talent« sagte der Kammersänger, plötzlich ganz ruhig.
»No also!« sagte sie.
»Er hat's doch aber gar nicht nötig!« sagte der Kammersänger, sich wieder erzürnend. Er hatte noch den Rest seiner ziellosen Wut abzuladen.
»Das geht dich ja nichts an«, sagte sie.
»Ich kann's aber nicht leiden, daß die Welt so schlecht eingeteilt ist!«
»Du kannst es aber nicht ändern.«
»Ich kann mich aber doch ärgern!« schrie der Kammersänger.
»Das kannst«, sagte Fräulein Annalis.
»Ich will mich aber nicht jeden Tag ärgern, schrie der Kammersänger. Dazu bin ich nicht da!«
»No so schick ihn weg!« wiederholte Fräulein Annalis.
Gelassen fragte der Kammersänger auf einmal: »Warum soll ich ihn denn wegschicken? Ich weiß gar nicht, was du immer gegen ihn hast. Er ist so ein netter Mensch!« – »Naz!« sagte Fräulein Annalis. »Ich hab eine himmlische Geduld!«
»Ja, jetzt möcht'st auskneifen«, sagte der Kammersänger. »Das ist echt weiblich! Ich will aber jetzt endlich einmal hören, was du eigentlich gegen ihn hast.«
»Aber um Gotteswillen!« sagte Fräulein Annalis. »Wenn du dich jedesmal ärgerst, so oft er kommt!«
»So laß mich doch mich ärgern!« sagte er, vergnügt. »Vielleicht ärger ich mich gern. Und dir schad'ts ja jedenfalls nix!« Und er sah sie verschmitzt aus seinen schlauen kleinen Bauernaugen an und lachte mit dem wulstigen breiten Mund.
»Nein, mir schad'ts ja nix«, wiederholte Fräulein Annalis.
»Ich möchte dich nur aufmerksam machen«, sagte der Kammersänger, sanft, »daß wir jetzt seit einer Stunde reden, und ich weiß noch immer nix. Ich weiß noch immer nicht, was du eigentlich von mir willst. Das ist charakteristisch für die Art, wie Frauen wichtige Dinge behandeln. Wenn ihr einmal wirklich das Wahlrecht kriegts, kann das schön werden.« Und sehr strenge fügte er hinzu: »Kind, ich kann den Prinzen wirklich nicht länger warten lassen. Es wäre nicht höflich. Also du mußt jetzt schon so gut sein und dich endlich entschließen. Ich würde dir raten, dem Hofrat einen artigen Brief zu schreiben, daß es dir sehr leid tut, seinen lieben Besuch verfehlt zu haben, und so weiter und so weiter, und daß wir uns sehr freuen werden, ihn recht bald bei uns zu sehen, an dem und dem Tag, und so weiter und so weiter. Das scheint mir das Gescheiteste zu sein. Nur sich nicht mit alten Feindschaften abschleppen, das hat gar keinen Sinn! Und du machst dich auch nur lächerlich, wenn du ihm zeigst, daß du das noch immer nicht verschmerzen kannst. Denn so würde das doch aussehen, wenn du jetzt Geschichten machst! Hab ich nicht recht?«
»Du hast bekanntlich immer recht«, sagte Fräulein Annalis.
»Wenn du's nur einsehen möchst!« sagte der Kammersänger.
»Ich werd mir Mühe geben«, sagte sie.
»Zeit wär's«, sagte er. Und väterlich fügte er noch hinzu: »Also vergiß nicht den Brief heute noch zu schreiben! Heute noch, das gehört sich.«
»Ich hab ihn schon geschrieben«, sagte sie.
»Also dann is ja alles gut, sagte der Kammersänger. Wozu haben wir uns dann erst gestritten? Aber Weiberleut tun's halt schon nicht anders.« Er sah sie vergnügt an, neugierig, ob sie sich wehren würde.
»Nein«, sagte sie, »Weiberleut tun's schon nicht anders.«
»Du, du!« sagte er, mit dem Finger drohend.
»Was denn?« fragte sie.
Er sagte, kampfbereit: »Tu mir jetzt nur nicht noch einmal aufmucken!«
»Was hab ich denn gesagt?« fragte sie.
»Aber gedacht hast dir was, sagte er. Euch muß man kennen!«
»Denken ist erlaubt«, sagte sie.
»Aber merken darf man's nicht lassen! Sonst is es ärger, als wenn man was sagt. Sagen kannst meinetwegen, was du willst. Aber wannst nix sagst, sondern nur so schaust, daß ich merk, du denkst dir was, du möchst was sagen und sagst es bloß nicht, weils dich nicht traust, da werd ich wild. Euch muß man kennen!«
»Du kennst uns halt«, sagte Fräulein Annalis.
»Leider«, sagte der Kammersänger. »Es is kein Vergnügen. Und jetzt wollen wir halt in Gottesnamen die Gesangshoheit angehen!« Er wendete sich seufzend zur Türe.
Sie sagte: »Sei nicht wieder gar so grob mit dem armen Kerl!«
»Das verstehst du nicht«, sagte der Bruder. »Das is ein Prinzip! So einem Prinzen muß man zeigen, was ein Kammersänger is, und er soll Respekt vor der Kunst kriegen.«