Ida Boy-Ed: Germaine von Staël

 

 

Ida Boy-Ed

Germaine von Staël

»Ein Buch anläßlich ihrer«

 

 

 

Ida Boy-Ed: Germaine von Staël. »Ein Buch anläßlich ihrer«

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Elisabeth Vigée-Lebrun, Madame de Staël im Jahr 1808

 

ISBN 978-3-8430-8838-1

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9296-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9297-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Stuttgart und Berlin, 1922.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Man muß etwas aus diesem traurigen Leben machen, wo man immer die Vorstellung von einem Glück hat, das vor uns flieht wie die Wolken: es ist wahr, diese Wolken sind wie die Ahnung eines anderen Lebens.

 

Germaine von Staël an die

Herzogin Luise von Weimar

Juli 1814

 

 

 

Vornotiz

In meiner Darstellung folgte ich, die knappen Tatsachen selbst anlangend, vielfach den Angaben der Lady Blennerhasset. Wo ich die Aussagen zeitgenössischer deutscher und ausländischer Schriftsteller über Erlebnisse und Wesen der Frau von Staël aufrief, ist aus dem Vortrage stets erkennbar. Die Äußerungen und von mir übersetzten Briefstellen Karl Augusts, der Herzoginnen Anna Amalie und Luise sind dem Buche Großherzogin Luise- von E. von Bojanowski entnommen. In der Hauptsache habe ich mich an die Werke der Germaine von Staël selbst gehalten und an die biographischen Aufzeichnungen der Madame Necker-Saussure, sowie an die Ergänzungen, die Sohn und Schwiegersohn, Baron August von Staël-Holstein und der Herzog von Broglie, gegeben haben.

Dieses Buch entstand in meinem Kopfe – ich weiß nicht mehr wann.

Niedergeschrieben wurde es im Winter 1920 bis 1921.

Vollendet einige Tage vor meinem 69. Geburtstage.

 

Einleitung

Und hat man gleich fünfzig Bücher von und über einen Menschen gelesen – man weiß doch garnichts von ihm, wenn die Intuition nicht aus dem Untergrund des eigenen Wesens das Bild des Darzustellenden heraufruft und es mit unbezweifelbarer Liniensicherheit auf ein bisher unbeschriebenes Blatt hinzuwerfen vermag. (Sollten wir Intuition nicht besser mit Erschauung übersetzen – drückt nicht Erschauung deutlicher als Anschauung das Offenbarende und oft Jähe dieses geistigen Erlebnisses aus?) Immer steht bei dieser Art Bildnerei im Hintergrunde Carlyle mit der Frage auf den Lippen: »Sind nicht alle diese bloß fingierte Biographien?« Denn er weiß wohl, daß ein Zwangsverhältnis zwischen dem Dargestellten und dem Darsteller besteht. Der letztere handelt in der Notwendigkeit, am Verwandten oder auch am Gegensätzlichen herumzutasten, um dabei und dadurch die Überraschungen und Gewißheiten eigenen Wesens deutlicher verstehen zu lernen. Zuweilen ist das Verhältnis auch so, daß Resignation über verstümmelte oder unvollendet gebliebene eigene Möglichkeiten dem zur Höhe aller Art von Entfaltung Gelangten verständnisvoll nachblickt.

Aber auch jede Dichtung ist biographisch durchsetzt, weil ein Schöpferischer nur die Probleme lebendig zu behandeln vermag, die ihn irgendwann einmal in innerste Bewegung brachten. Über die Beziehungen zwischen Erlebnis und Dichtung hat ja Wilhelm Dilthey das Feinste und Aufschlußgebendste, auch Unterscheidendste gesagt. Ob man also die Fußtapfen eines schon längst Dahingegangenen auszuspüren versucht, um dem Hall seiner Schritte nachzulauschen, oder ob man Fäden vom Webstuhl der Phantasie zusammenflicht, um in sie hinein erfundene Menschen zu setzen: man spricht immer sein Ich aus.

Es war dieses ganz einfache und von jeglicher Literaturforschung unzählige Male festgestellte Wissen, das mich gezwungen hat, unter den schimmernden Namen, der dies Buch benennt, die vorsichtige Einschränkung zu setzen:

 
»Ein Buch anläßlich ihrer.«

Menschen ohne Geheimnisse in ihrem Wesen sind für den Psychologen ohne Reiz. Und es könnte scheinen, daß die vollkommene Durchsichtigkeit von Germaine von Staël sie der Anziehungskraft beraube. Allein die geradezu ungeheure Energie des Lebenswillens in ihr, ihre Unbefangenheit, die ihrem Dasein einen einzigartigen Charakter gibt, erhöhen sie zu einer beispielhaften Erscheinung, zu einem Gradmesser von Möglichkeiten im Weiblichen. Das M. und das W. in ihr (um die Weiningersche Formel für Mann und Weib einmal wieder anzuwenden) hielten sich vollkommen die Wage. Und dieser geistig-seelische Hermaphroditismus, der auch in ihrem Verhältnis zu ihrem Vater, wie in dem zu Napoleon bestimmend sich zeigt, macht dennoch aus ihr einen Menschen von geradezu elementarer Ganzheit. In großartiger Unbekümmertheit folgte sie immer nur dem Wegweiser, den ihre Intelligenz und ihr Temperament ihr aufstellten und der sie Pfade wies, die mittenhinein in die leidenschaftliche Zeit führten, die um sie rauschte. Die Tatsache, daß diese ihre Zeit einige Jahre lang viele Ähnlichkeiten der Oberfläche mit der unserigen hatte – denn Revolutionen sind zwangsläufig an gewisse Erscheinungszustände geknüpft, wie ein vom Sturm aufgewühltes Meer immer mit schäumendem Branden gegen das Ufer sich bäumt, ganz gleichwie des Meeres Grund und des Ufers Charakter geologisch bestimmbar sind – diese Tatsache also äußerlicher Ähnlichkeiten in den Bedingtheiten vieles Zuständlichen brachte mir die Staël noch näher, als sie mir schon viele Jahre lang war in immer wiederholten Studien über sie und ihre Zeit, Jahre, in denen mich stets der Wunsch beunruhigte, mich hineinzuversetzen in den Mittelpunkt ihrer weiten Persönlichkeit. Aber ein Zweifel ist da, ein zögerndes Besinnen: Pazifisten und Internationalisten, denen ich mich abgewendet fühle, ließen uns so oft das Wort vom Europäertum hören. Da will in mir die Frage laut werden, ob denn nicht Frau von Staël die erste Europäerin im modernsten Sinne war und ob ich nicht Untreue gegen mich selbst zeige, wenn ich mich ihr widme. Es könnte doch scheinen, als ob eine Beschäftigung mit ihr ein Zwang aus einem Unterbewußtsein heraus wäre, das früher die Zukunftsgestaltungen erfaßt als der Verstand. Denn ist nicht vielleicht alles, was wir jetzt erleben, der Umweg nach Europa? In welchem Falle freilich die Pflicht nur noch heiliger erschiene, die Eigenschaften der Nationalität streng zu sichten und ihre Werte weiter auszubilden. In einer zukünftigen Amalgamation das edelste Metall zu sein, müßte immer der wachsame Wille einer auf ihre Eigenart stolzen Nation sein. Im Sinne solcher Zukunftsmöglichkeiten, von denen man nicht einmal vermuten kann, ob sie öde Nivellierung oder eine unerhörte Kulturgipfelung bedeuten könnten, war aber Frau von Staël garnicht Europäerin. Sie sagt im Gegenteil in ihrer Vorrede zu ihrem Buch über Deutschland:

»Deutschland kann seiner geographischen Lage nach für das Herz Europas gelten, und der große Bund des Kontinents allein durch dieses Landes Unabhängigkeit die eigene wiedererlangen. [Zur Zeit der napoleonischen Herrschaft geschrieben.] Verschiedenheit der Sprache, natürliche Grenzen, gemeinschaftliche Erinnerungen aus der Geschichte der Vorzeit, alles dies trägt dazu bei, um unter den Menschen die großen Individuen zu bilden, die man Nationen nennt: gewisse Verhältnisse sind nötig zu ihrer Existenz, gewisse Eigenschaften, sie zu unterscheiden.«

Sie ist durchaus der Ansicht, daß bei einem Ineinanderaufgehen stufenweise eine Umbildung aller erfolge, bei der am Ende alle gleich verlieren.

Das Europäertum der Frau von Staël bestand aus den Notwendigkeiten der Blutsgebundenheit, der Tradition, der Umwelt, kurz: nach biologischen Gesetzen, nicht in Gefolgschaft von Theorien. Einer bestimmten Nation läßt sie sich nicht unbedingt einfügen, trotzdem die Franzosen sie, aber erst nach ihrem Tode, für sich beanspruchten. Sie war in Paris geboren, jedoch als Kind von Eltern, die aus Genf stammend zwar französisch sprachen, aber ihre Abstammung und Staatsangehörigkeit von und zum schweizerischen Freistaat Genf nie verleugnet oder aufgegeben haben. Wie denn auch Necker, sobald seine französische Amtstätigkeit ihre erste Zäsur erreichte, sich auf heimischem Gebiet ankaufte, und dies Gebiet war eben der Freistaat Genf. Auch Brandes stellt fest, daß sich in Paris Frau von Staël als Schweizerin, in Coppet als Pariserin fühlte. Ganz spät noch, als sie schon durch eine historisch gewordene, unendlich vielfältige Verknüpfung mit der französischen vor und nachrevolutionären Gesellschaft unlösbar verbunden schien, gab die Tatsache, daß sie eine »Fremde« sei und als solche der Polizeiaufsicht unterstehe, Napoleon den Vorwand, sie des Landes zu verweisen. Sie mußte also in verschiedenen Zuständen ihres unruhvollen Lebens das Gefühl gehabt haben, eigentlich nirgendwo innerlichst wie gesetzlich beheimatet zu sein, und sie litt auch gelegentlich in der Tat unter diesem Bewußtsein der Ungebundenheit. Unabhängige suchen und preisen solche Ungebundenheit, um sie doch fröstelnd zu empfinden, wenn sich das jedem Menschen tiefeingeborene Bedürfnis nach gelegentlicher Selbstaufgabe, in der Form suchender Sehnsucht, ankündigt. Sich an die Heimat, an die angestammten Eigenheiten der eigenen Nation gelegentlich zu verlieren, verantwortungsloser sich zu dünken, ist eine Art Rast für den Kämpfenden. Der Standpunkt auf der Grenze zwischen Nationen und Rassen kann dem Blick Freiheit und Weite geben. Gewachsen sind der Einsamkeit solcher Basis aber nur höchste Intelligenzen und große reinliche Charaktere.

Es fehlt nicht an Werken über die Staël: namhafte Franzosen haben mit ihren Federn geistreiche Linien um ihre Gestalt gezogen, die von jedem Standpunkt aus eine höchst ragende Erscheinung war. Die erste, sie und den Hintergrund der revolutionären Zeit und ihren riesengroßen, fast unübersehbaren Freundeskreis zusammenfassende Biographie hat Lady Blennerhasset, geborene Gräfin Leyden, eine Deutsch-Engländerin, geschrieben.

Mein Vorhaben ist: das eine und andere Blatt aus dem Leben der Frau von Staël aufzuschlagen, jedes für sich abzuschließen (wobei einige Wiederholungen im bloß Datierten sich nicht werden vermeiden lassen), nach eigener Wahl da verweilend, wo ich mich am Zwingendsten gefesselt fühle. Und dennoch aus diesen losen Blättern ihre ganze Gestalt erstehen zu lassen. Die gigantische politische Wandeldekoration, vor der ihre Persönlichkeit steht, wird dabei von selbst sichtbar werden. Dies Verfahren ähnelt vielleicht ein wenig dem der Zeichner, die Linien aussparen, nur die wichtigsten hinsetzen und doch den Beschauer zwingen, mit dem Auge der Phantasie die volle Kontur zu sehen.

Wenn man einer Gestalt nachgeht, die sich inmitten eines ungeheuren Gedränges vorwärts bewegt, ist es natürlich viel schwerer, sie in ihren Umrissen von allen Nebenerscheinungen abgesondert festzuhalten, als wenn man einem einsam Schreitenden folgt.

Auf das kräftigste stellte sich heraus, daß es eine höchst zeitgemäße Aufgabe ist, wieder einmal, in möglichst zusammengefaßter Form von der Staël, ihrem Werk und dessen Wichtigkeit auch für Deutschland zu sprechen. Es zeigte sich in und nach dem Kriege, daß die Franzosen immer noch nicht viel weiter in ihrer Kenntnis unserer vorgeschritten sind, als sie es vor mehr als hundert Jahren waren, wo Frau von Staël als erste bewundernd und begeistert zu ihnen von uns zu sprechen wagte: zu den Franzosen, die damals noch die naive Frage tun konnten, ob denn die Deutschen überhaupt eine eigene Sprache besäßen!

Die gehässigen Worte Nietzsches, der von Madame Roland, Frau von Staël und George Sand sagt (Jenseits): »Unter Männern sind die Genannten die drei komischen Weiber an sich«, brauchen uns nicht aufzuhalten. Auf Germaine von Staël wuchtete die zähe und scharf wachsame Feindschaft eines Ungeheuren, eines Jahrtausendmenschen – die Napoleons! Das hämmert ihres Bildes große Züge in das Relief der Geschichte ein. Und mit schönem Schmuck legt sich um eben dies Bild die treue, bewundernde Freundschaft eines Fürstenpaares, vor dessen Namen sich unsere Geschichte dankbar verneigt: Karl August und Luise von Weimar. Was kann vollkommener Zeugnis ablegen für eine Persönlichkeit als großer Haß und edle Neigung! Gewaltsame Zurechtknetungen brauche ich nicht an Germaine von Staël vorzunehmen. Sie bedarf keiner »Rettung«. Sie machte niemals Hehl aus sich und hat das, was als Irrtümer eingeschätzt werden könnte, als Notwendigkeiten gelebt. Und ich meine, über jeder biographischen Arbeit, setze sie sich nun den rein historischen Ablauf der Daten oder die Darlegung des psychologisch Erklärbaren zum Ziel, sollte immer der Vierzeiler aus dem Ruba 'ijat des Omar Chajjam als Mahnung stehen:

 

Einst sah ich, wie mit grimmigem Behagen

Der Töpfer seinen feuchten Lehm tat schlagen –

Da stöhnte es aus der gestampften Masse,

Und »sachte, Bruder, sachte« hört' ich's klagen.

 

Und demnach noch einmal: zwischen dem Former und seinem Material besteht eben eine geheimnisvolle Zusammengehörigkeit.

Also »sachte, Bruder, sachte«.

 

Die ersten Blätter: Vater und Tochter

Leidenschaftliche Naturen kündigen sich, ehe ihnen in der Welt Gelegenheit zum Entflammen gegeben werden kann, durch eine ungewöhnlich gesteigerte Temperatur in der Kindes- und Geschwisterliebe an. Kleinere Kinder sind ohnehin in den weitaus meisten Fällen in einer glücklichen Überschätzung des Ansehens, des Vermögens, der Bedeutung ihrer Eltern und ihres Elternhauses befangen. Das Autoritative, das die Person ihres Vaters über sie hinstrahlt, hat er, ihrer naiven Annahme nach, für alle übrigen Menschen auch. Diese rührende Erhöhung auf ihm nicht zukömmliches Piedestal macht für einen subalternen Geist unbewußt das eigentliche Glück der Vaterschaft aus, das ihm endet, sobald sein Kind seine richtige Stufe zu erkennen beginnt. Zwischen Eltern und Kindern hängen durchsonnte Nebelschleier, die der Klarheit des Blickes schaden, aber alle Konturen schön umgolden. Ein Mensch kann an sich ganz etwas anderes sein als das, was sein Kind in ihm sieht. Familienliebe ist nie objektiv und in Fällen, wo starkempfindende Naturen einander gegenüberstehen, zwischen Unter- und Überschätzung seltsam hin und her gerissen. Das Persönlichkeitsgefühl der Kinder, in jenen Untergründen, wo Eitelkeit und Ehrbegierde sich mit dem Bewunderungsbedürfnis mischen, ist sehr leicht gereizt durch Schwächen der Eltern, die sie bei anderen Menschen nachsichtig belächeln. Es verbirgt sich auch in dieser Tatsache das Verhältnis des Geschaffenen zum Schöpfer, mit allen Ansprüchen und aller Sehnsucht. Und daß die Seele der Gläubigen Gott den Vaternamen schenkte, offenbart das Bedürfnis zur Demut und nach einem Verantwortlichen über sich. In jeden Gott ist mehr oder weniger Vatertum hineingeheimnist, selbst in die vom Intellekt geschaffenen Gebrauchsgötter der Antike. Und in jedem Vater ist ein wenig Gott. – Wenn der suchende Blick rückwärts gewendet weite Zeitspannen überfliegt, trifft er kaum auf ein ähnliches Verhältnis, wie das zwischen Frau von Staël und ihrem Vater eines war. Vollkommene Verbundenheit von Liebe, Intelligenz und Interessen ließen auch nicht die unmerklichste Fuge gelockert, und nirgends fanden Gärungsbazillen eine Möglichkeit, hineinzuschlüpfen und still arbeitend irgend welche Explosionen vorzubereiten. Diese fast fanatische Einhelligkeit ist um so überraschender, als gerade in der Atmosphäre beständiger geistiger Evolutionen Temperamente im Anreiz leben, sich gegeneinander zu entladen, und als von allen Konstellationen. in denen Mensch zu Mensch stehen kann, die von bedeutenden Eltern zu ungewöhnlichen Kindern die schwierigste ist. Für diese Tochter war dieser Vater immer eine vergötterte Persönlichkeit, und er, der weniger akzentreiche, erwiderte ihre Liebe mit nicht minderer Wärme. Er gehörte ihr. Ihrer Empfindung nach so ganz, daß sie kaum ihrer Mutter, seiner ihn bis zur Überspanntheit liebenden Gattin, das erste Anrecht an ihn gönnte. Zwischen ihr und der Mutter gärte latente Eifersucht: so fordernd, ihm die nächste zu sein, war Germaine an den Vater geschlossen.

Wer war nun Necker? Natürlich ein Erbe seiner Vorfahren, fast eine Gipfelung seiner sich mit ihm abschließenden Linie. Nur: fast. Denn seine Tochter strahlte noch über ihn hinaus. Ganz besonders aber: er war ein Deutscher.

Sogar einer, der alle Merkmale einer bestimmten Kulturgruppe innerhalb deutscher Art niemals ganz von sich abzustreifen vermochte. Seine Familiengeschichte wird erst deutlich verfolgbar, so wie sie in märkische Kirchenbücher ihre Daten einzeichnen kann. Der Ursprung der Neckers weist nach Irland, und Frau von Staël mag ein paar Tropfen Keltenblut in ihren Adern gewähnt haben. Pastoren und Pädagogen aber waren die wichtigsten Erscheinungen unter den Vorfahren Neckers. Wir finden einen Pfarrer in einem Kirchspiel bei Pyritz, dessen Sohn war Advokat in Küstrin. Dann tritt im Rahmen der Ahnentafel ein Reiseerzieher und Begleiter des Grafen Bernstorff auf, zu dem dieser Necker nach London kam. Andreas Gottlieb Bernstorff war damals Minister König Georgs I. Dieser regte an, daß Necker in Genf ein Erziehungsinstitut für junge Engländer gründen solle. (Die Verbindung der Familien Bernstorff und Necker blieb eine wichtige: der später so bekannt gewordene dänische Minister Andreas Peter Bernstorff wurde in seiner Jugend nach Genf gesandt, und wohl hauptsächlich der Neckers wegen, deren zwei an der Universität als Professoren wirkten.) Diese erste Verknüpfung englischer Interessen mit dem Namen Necker ist nicht nebensächlich: englisches Leben, englische Anschauungen durchwirkten so, gleich einem starken Luftstrom, die Atmosphäre der Neckerschen Familie und gehörten mit zur geistigen Erbschaft der Frau von Staël.

Der Anregung eines Königs zu folgen, empfahl sich. Der Gedanke war gesund und der Zeit vorauseilend gewesen, seine Ausführung erwarb dem Karl Friedrich Necker große, auch finanzielle Vorteile. Sein Vermögen wurde noch erweitert durch eine Heirat: die Frau brachte französisches Hugenottenblut in die Familie, und vielleicht war sie es, die ihrem Sohne Jacques die Begabung zum Geldmann großen Stiles von ihrem Ahn Jacques Coeur, einer französischen Finanzgröße des 15. Jahrhunderts, übermittelt hat. Necker der Institutsvorsteher konnte sich bald einen Landsitz kaufen und nannte ihn »Germaine«. Sein älterer Sohn Ludwig nahm diese Bezeichnung in seinem Namen auf, einem französischen Gebrauch folgend, der versteckte Adelsanmaßung ist, und schrieb sich Necker de Germaine. Sein jüngerer Sohn taufte gar sein einziges Kind nach dem Lande seiner Herkunft. So stark war in den Neckers das Gefühl für ihre deutsche Abstammung. Daß er Anne Luise Germaine zur Namensträgerin seiner Anhänglichkeit an Deutschland machte, ist kein Zufall, sondern gehört zu jenen seltsamen Handlungen, die unter einem unbewußten Zwang vollzogen werden und einem verborgenen Gesetz gehorchen. Sein eigenes Leben verknüpfte sich später keineswegs mit dem Herkunftslands seines Geschlechtes. Aber seiner Persönlichkeit hafteten immer die besondern Eigentümlichkeiten des deutschen Gelehrtentums an, vor allem des pädagogisch gerichteten. Und so hoch geschwungen die aufsteigende Linie seiner Laufbahn sich darstellt, sein Wesen zeigte fast immer eine gewisse Dämpfung, und ein wahres Bleigewicht von sorgsamsten Bedenklichkeiten hing ihm an. Seine Stellung zum Gelde war – bei einem großen Finanzmann jener und vielleicht aller Zeiten besonders rühmenswert – von einer wunderbaren Sauberkeit. Er war eine von jenen Naturen, denen die stete Bewachung der eigenen Integrität zur Bindung wird. Das behing seine Potenzen vielfach mit Ketten. Mirabeau sagte einmal von ihm: er sei die Uhr, die immer nachgehe.

Dieser außerordentliche, maßvolle Mann verband sich mit einem sehr geistreichen, durch Schicksale schwer geprüften Mädchen. Susanne Curchod de la Nasse, einer welschen Schweizerin, die also dem Neckerschen Blut abermals eine Beimischung brachte, war ihre erste Jugend verdorben worden durch ihren Liebesroman mit Gibbon, dem nachmals zu ansehnlichem Namen gelangten englischen Historiker, der sie aber im eigentlichsten Sinne des Wortes sitzen ließ, weil sie Ausländerin, vielleicht auch weil sie arm war. (Welches Erlebnis ihrer Mutter, wie wir sehen werden, der Tochter später zur dichterischen Anregung gedieh.) Trotz der schwärmerischen Glut, deren Susanne fähig war, muß ihr Wesen doch jene herbe zurückweisende Färbung gehabt haben, die das puritanische Genf damals seiner Gesellschaft und vor allem seinen Frauen aufprägte. Necker warb um sie, als sie die Stellung einer Gesellschafterin bekleidete bei einer Madame de Vermenoux, offenbar unter Bedingungen, die man bei uns »au pair« nannte. Susanne erwies sich dann als die geeignete Gefährtin eines Mannes, der seine Stellung in der großen Welt betont und gefördert haben wollte, aber dabei nie die Geste des stolzen Patriziertums verleugnet zu sehen wünschte. Hier wäre die Gelegenheit, die psychologisch und gesellschaftlich sich auswirkenden Unterschiede zwischen Aristokratie und Patriziertum zu beleuchten und darzutun, wie bei ersterer die Tradition des Ererbten so oft zu allzu unbesorgtem Insich-beruhen führt und wie dem zweiten die Ehrfurcht vor dem Erworbenen und die immer wachsame Pflicht zum Erhalten die Linien bestimmt. Ein aristokratischer Name hat mehr Lebenskraft, er bleibt noch lange klangvoll, auch wenn eine oder die andere Generation mit seiner Würde und dem Familienbesitz nachlässig umgehen: der patrizische will immer von neuem blank poliert werden, damit er als im Zusammenhang mit stolzen Vorfahren erkennbar bleibe. Aber ich begnüge mich, zu bemerken, daß Herr und Frau Necker den Typ vornehmen Patriziertums darstellten, während ihre Tochter Anne Luise Germaine durchaus Aristokratin war: nicht nur durch ihr Herrengefühl, sondern vor allem, weil ihr von Geburt die vielzackige Krone des Genies gehörte. – Ein sehr nüchternes Wort benennt Verdienste der persönlichen Führung beider Neckers: das Wort »solide«. In der Umwelt, in der sie lebten, inmitten der auseinanderberstenden Welt der französischen Ludwige jedenfalls ein Wort hohen Lobes.

Necker hatte sich während des Siebenjährigen Krieges Vermögen erworben: es war nach den damaligen Maßstäben sehr groß. Seine rege Teilnahme an der inner- und außerpolitischen Entwicklung seiner Vaterstadt Genf führte zu seiner Ernennung als ihr Geschäftsträger in Paris.

Er lehnte, schon damals der Mann der Sache und nicht der Mann der Nutznießung, jede Gage ab. Paris und die große Arena der Politik und Weltwirtschaft (soweit man damals von einer solchen sprechen konnte) tat sich ihm auf. Und die Annahme dieses im Grunde unbedeutenden Amtes ward für ihn und für seine Tochter (die also in dem exterritorialen Wohnsitz des Genfer Geschäftsträgers am 22. April 1766 geboren wurde) von bestimmender Wichtigkeit. Es gibt Schritte, die man niemals zurücktun kann. Es gibt Verführungen, denen zu unterliegen mehr moralischen Mut erfordert als ihnen zu widerstehen. Aus dem engen Dunstkreis der bigott angehauchten Geistigkeit Genfs kam man in die von vulkanischem Staub durchzitterte Lust von Paris. Sie atmete sich wie Fieber, sie war überfüllt von den Bakterien der Intrige, des Lasters, der Verschwendung. des Aufruhrs. Aber Necker. die Lage Frankreichs erkennend, die für Europa und die Kultur bedrohend war, glaubte sich zum Missionar der Rettung bestimmt, wenn nicht später gar zum Retter selbst. Er hatte deshalb den Mut, Lasten auf sich zu nehmen.

Die Mutter war voller Gewissensschwere darauf bedacht, sich und ihr Kind vor den Gefahren von Paris zu schützen. Und während sie mit viel Klugheit ihren Salon für die wichtigsten Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens der Hauptstadt anziehend zu machen verstand, suchte sie zugleich ihre Schweizer Freunde brieflich zu beruhigen und war voll Eifer, ihnen zu schreiben, daß sie dieselbe bleibe, die sie immer gewesen. Ihr Kind lag ihr vor allem als ungewöhnliches Erziehungsobjekt am Herzen, und sie trachtete Germaine nach einem methodischen Ausbildungsplan zu gestalten, wobei sie die schwerfällige Hand der gänzlich Humorlosen zeigte. Auch gehörte Frau Necker zu der für ihre Nächsten äußerst schwierigen Spielart der überschwenglichen Schwärmer im Gefühl und der spießbürgerlichen Pedanten im Ethischen. Aber in diese strenge Zügelung griff das Schicksal ein: die Gesundheit Germaines kündigte Schwankungen an, und die Ärzte forderten mehr Freiheit für sie. Von da an fiel der Mutter nur noch die Rolle der halb abgesetzten Gouvernante zu. Und Germaine schwang sich jubelnd, wie ein losgeketteter Falke, in die neue Lage empor und an die Seite ihres Vaters. Und da blieb ihr Platz, solange er lebte. Sie sah schon früh, mit jener erstaunlichen Beobachtungsschärfe und Lust ausgestattet, die ein Teil ungewöhnlicher Intelligenzen ist, den Erfolgen und Kämpfen ihres Vaters zu. Gewiß vor Ungeduld brennend, sein Adjutant sein zu dürfen. Von dem Augenblicke an, wo ihre Füße das Parkett des Salons betraten und ihr Alter gestattete, daß man sie den Erwachsenen zuzähle, konnte sie sich ihren politischen Anlagen und Begierden hingeben.

Sie sah ihren Vater durch die wechselvollste Laufbahn gerissen, die wohl je einem Politiker beschieden war, durch ein wahrhaft dramatisches Auf und Ab in Erfolgen und Versagungen. Und zu allerletzt sah sie auch die Stille, die sich um den Namen eines legt, der schließlich enttäuscht hat. Ludwig XVI. ernannte ihn zum Generaldirektor der Finanzen: das Staatsschiff, als dieser unglückliche König es als Kapitän besteigen mußte, hatte schon zermorschte Balken und ein verquollenes Steuerruder, und er besaß weder die Anlagen noch die Kenntnisse, die zum Navigieren gehören. Man hatte Ludwig Neckers Schrift über die Hilfsquellen der französischen Staatseinnahmen in die Hand gegeben. So wurde Necker dem Königspaar plötzlich eine Hoffnung – obschon Marie-Antoinette weder für ihn noch für seine Tochter je warme Sympathie fühlte. Zunächst konnte er schwelgen in wirtschaftlichen Siegen: er stellte den Staatskredit her, brachte eine Anleihe für den nordamerikanischen Krieg zustande, schränkte die Ausgaben ein und war in der Lage, Frankreich darzulegen, daß die Einnahmen einen Überschuß über die Ausgaben ergäben. Er war der Retter. Das Volk umjubelte ihn: diese glückseligen Zurufe müssen für die überschwengliche Tochterliebe eine wahre Sinfonie des Ruhmes und der Ehre gewesen sein. Aus den Beobachtungen dieser Epoche der Tätigkeit ihres Vaters mag sie das später von ihr gesprochene Wort geschöpft haben: »Avec du génie ou n'aurait jamais besoin d'immoralité, et sans génie il ne faut pas acceptor les places difficiles.« Das klingt sehr schön: mit Genie hat man keine Unmoral nötig, und ohne Genie muß man keine schwierigen Plätze einnehmen. Die nächste Zeit schon erwies, daß auch ein Genie – wenn die starke Verstandesbegabung Neckers denn mit diesem zu hohen Titel geehrt werden darf, den die Tochter ihm aber unbedingt zuerkannte – in unreinlichen Läuften der innerpolitischen Zustände doch der vielseitig zugeschliffenen und mehr zweckvollen als grade immer reinlichen Mittel bedarf, um sich zu behaupten. Germaine erlebte die unsägliche Bitterkeit, daß der König ihrem Vater jäh die Entlassung gab, in der Schwäche des Monarchen, der sein Dankgefühl nicht gegen den Ansturm von Intrigen zu behaupten vermochte. Der hohe Adel arbeitete gegen Necker, und als er, der Protestant, seinen ihm zukömmlichen Platz im Staatsrat verlangte, der bisher nur Katholiken umschlossen hatte, war diese Epoche zu Ende. Das Murren des Volkes, ja sein Jammer konnte dem Gemüt des durch Undank Beleidigten Tröstung bedeuten.

Necker kehrte in die Schweiz zurück und kaufte sich die Herrschaft Coppet am Genfer See. – Und auch die zweite Hälfte des oben zitierten Ausspruchs war nur schön lautender Wortklang. Einen schwierigen Platz einzunehmen hat sich selten ein Staatsmann geweigert, denn in gewissen Regionen der Wirkungsmöglichkeiten fliegt dem, der berufen wird, unwillkürlich der Glaube an, daß er auch der Berufene sei. Nichts entwickelt sich rascher als der Glaube an das eigene Genie. Necker zögerte nicht, trotz der erlittenen Erfahrung, 1788 dem erneuten Ruf des Königs zu folgen, und ließ sich als Staatsminister wieder an die Spitze der Finanzen stellen, noch einmal vom hoffenden Volk als Messias gegrüßt. Seine erste Entlassung war vielleicht das entscheidende Unglück für Frankreich, seine Wiederkehr ein Unglück für ihn selbst und keine Rettung mehr für Frankreich. Der Zerfall war zu weit vorgeschritten. Neckers Wille, dem dritten Stand breiteren Raum zu geben, brachte ihn in Gegensatz zur Hofpartei: nach einem Jahr verabschiedete der König ihn abermals. Ein sonderbares Schauspiel, dies zur Türe hinaus und herein. Denn als sich am 12. Juli die Kunde von seiner Entlassung verbreitete, wurde das Volk von Wut gepackt. Der schon glühende Zunder brannte nun in rasender Schnelle an das Pulverfaß heran. Am 14. Juli wurde die Bastille gestürmt, und diese Tat schrie es laut aus: die Revolution ist da! Der geängstete König rief Necker zurück. Und der selbstgläubige Mann kam wirklich zum dritten Mal. Wie hätte er denn nicht an sich glauben sollen! Seine Frau betete ihn an und stellte ihn über alle Männer der Gegenwart: seine Tochter glühte vor Begeisterung für ihn und hatte gar keine Kritik. Denn der leise Ansatz zu einem wirklich abwägenden Urteil in ihrem nachgelassenen Werk »Considérations sur la révolution française«, das sie im vierten Kapitel des ersten Teiles versucht, kann nur als entschuldigende Erklärung gelten, und ward so viele Jahre nach den Ereignissen abgegeben. Dort sagt sie: »Die Form seines Geistes und seiner Einbildungskraft gab ihm manchmal das Übel der Unsicherheit: er war ganz seltsam empfänglich für Reue und klagte sich selbst oft mit ungerechter Leichtigkeit an. Diese beiden edlen Nachteile in seiner Natur hatten seine Unterordnung unter das Moralische noch fester in ihm wurzeln lassen: nur in ihm fand er die Entscheidung für den gegenwärtigen Augenblick und Beruhigung über das Vergangene.« (Wer denkt hier nicht an den deutschen Staatsmann, der uns vom Beginn des Krieges an zum Unheil wurde, weil auch in ihm das Moralische die staatsmännische Weisheit überwog.)

Auf das deutlichste hat im Falle Necker die blinde Liebe der Frau, noch mehr die der Tochter die Wichtigkeit eines politischen Umstandes gehabt. Sie allein hätten ihn zu verhindern vermocht, die Geschicke des unglücklichen Landes wieder und wieder in seine Hand zu nehmen. In dieser Epoche brauchte Frankreich keinen Moralisten mehr, sondern einen unbedenklichen Mann von Eisen. Necker selbst hatte wohl einige warnende Vorgefühle. Aber weder in sich noch in seiner bestimmenden Umgebung hatte er die Erkenntnisse, die zur Selbstkritik führen. Im Gegenteil, die Umgebung steigerte ihn, und er selbst glaubte nur allzu gern, der Einzige zu sein! Carlyle spricht es in seiner ironisierenden Art aus: »Wie Malebranche alles in Gott sah. sah Necker alles in sich.« Die Erfolge seiner ersten Ministerschaft, die in seinem Gedächtnis leuchteten, nahmen ihm den klaren Blick. Der Jubel des Volkes war ihm Gottes Stimme. Schwerfälligen Autoritäten geht Auge und Ohr ab für die Schwankungen in der Stimmung gegen sie. Er spürte nicht, daß die auf ihn gerichtet gewesenen Hoffnungen jäh zerflattert waren.

Die Einführung des Zweikammersystems machte ihn geradezu unpopulär. Den Plan, eine Anleihe aufzunehmen, konnte er nicht mehr durchsetzen. Gegenspieler war dabei Mirabeau: dieser und andere Volksführer suchten in der Schaffung von Assignaten die finanzielle Rettung. Und da ging Necker wieder, diesmal für immer. Und er ging nicht wenig zerfetzt. Denn die zwei Millionen, die er in großartiger Hilfsbereitschaft der Regierung vorgestreckt hatte, behielt der Konvent zurück, ebenso seine Liegenschaften in Paris. Aber was waren diese Verluste gegen die ungeheure Erfahrung, daß Volksgunst sich jäh in Verfolgungsorgien wandeln kann! Unsere jüngste Zeit hat uns ähnliche erschütternde Schauspiele gegeben. Unsere Nervenzittern noch davon und machen uns fähig, ganz zu begreifen, was Necker, der wenige Monate zuvor noch Angebetete, jauchzend Gepriesene, bei dem höhnischen, gellenden Verleumder und Wutgeschrei empfinden mußte. Ein Robespierre streute die Verleumdung aus. Necker habe auf Mauleseln Gold aus dem Staatsschatz nach Genf führen lassen. Keine Unterstellung war zu niedrig, die man dem Selbstlosen nicht hingeschoben. Es kam dahin, daß Lafayette ihn benachrichtigen lassen mußte, sein Leben sei gefährdet. Und seine Rückkehr nach der Schweiz vollzog sich unter Gefahren und Hindernissen. Seine Frau war mit ihm. Er stand, in all seiner Gelassenheit, doch voll schmerzlichen Staunens vor diesem Phänomen. Er hätte, als sein erstes Ministerium so schroff abschloß, sich sagen können, daß Temperamente wie das seine nicht in wilden Zeiten auf Vorposten stehen sollten.

Wenn diese niedrigste aller Massensinnlosigkeiten: der Schlag nach dem Gott von gestern, schon jeden Denkenden erschauern läßt, was empfand erst die Tochter, die mit jedem Nerv ihres Wesens an dem Vater hing, mit seinem Erfolg schwellend die eigene Bedeutung, die Auswirkung eigener Intelligenz stärker zur Geltung bringen durfte. Die sich in ihm sonnte, ihm wiederum Bereicherung zubrachte durch eigenen Glanz. Denn in diesem gesellschaftlich hochgestuften Elternhaus, neben einem Vater, dessen Namen durch Europa hallte und dort festen klaren C-Dur-Klang hatte, entfaltete sich ihr junges Weibdasein strahlend und umhuldigt. Bewerber wie Pitt, den großen englischen Staatsmann, und einen Herzog von Mecklenburg auszuschlagen, war ihrem sicheren Selbstgefühl eine Leichtigkeit. Sie entschied sich in ihrem zwanzigsten Jahr für den schwedischen Gesandten, den Baron von Staël-Holstein. Natürlich war die Heirat seiner Tochter für Necker ein Haupterlebnis, in dessen Ablauf seine ganze etwas pedantische Umständlichkeit sich gar nicht gründlich genug betätigen konnte, so daß sogar Gustav III. über das Verlangen eines Taufscheines Staëls sich in spottenden Worten erging und den Umstand pries, daß es neuerdings in Schweden überhaupt Taufscheine gäbe, was mehrere Jahre zuvor noch nicht der Fall gewesen.

Necker und seiner Tochter sagte die Stellung eines Angehörigen der diplomatischen Welt besonders zu. Trotzdem wurden die Präliminarien der Ehe zögernd abgewickelt, und die Bedingungen, die man von Coppet aus stellte, machten aus der Verbindung geradezu einen politischen Handel. Gustav III. bemühte sich persönlich nach Paris, um der Unterzeichnung des Ehekontrakts beizuwohnen, der dann schließlich doch nicht zur verabredeten Zeit bereitlag. Necker wußte aber sehr genau, wer er war und wer seine geistvolle Tochter war, und daß er ihr eine Mitgift in die wunderbar schlanke Hand legen konnte, deren Ziffer Europa besprechen würde. In der Politik eine herrschende Rolle spielen, mit lenkender Hand in die Geschicke Frankreichs eingreifen, regieren, alle Intelligenzen und Begabungen, die man in dieser Hinsicht in sich latent fühlte, von stolzer Stellung aus wirken lassen können – das war die innerste Notwendigkeit sowohl bei dem langsamen, kühl temperierten Vater als auch bei der feurig durchpulsten Tochter, deren Nerven von Unruhe, Unternehmungslust und der Begier nach groß gearteter Bewegung beständig vibrierten.

Sie litten zusammen über seine Entlassung, seine Zurückgezogenheit in Coppet. Und obgleich Germaine dieses Schönheitsidyll am Genfer See wohl liebte, schlummerte ihr Naturgefühl zu jener Zeit noch unter der ständigen superlativischen Arbeit ihrer Verstandeskräfte, und ein betrachtendes Dasein in der erhabenen Landschaft war ihr eine unmögliche Vorstellung. Daß ihr Vater sein ganzes künftiges Leben in Coppet verbringen könne, ja müsse, war ihr ein Schreckensgedanke. Sie wußte ja. wie Geist und Neigung weiterarbeiten an dem Werk, das jäh hat verlassen werden müssen. Hierin berühren sich Staatsmänner mit Künstlern. Ihnen das Objekt ihres Schaffens entreißen, heißt sie verstümmeln. Und wie Amputierte die Nerven ihrer eigenen ihnen abgenommenen Glieder dennoch zucken fühlen, so bleibt ihr innerstes Wesen mit dem Werk verbunden, das nach ihrem festen Glauben sie allein hätten zur Vollendung führen können. Sie gleichen dem bekannten Invaliden, dem ein Wetterumschlag sich in Reißen in seinem Stelzfuß ankündigt. Germaine war es eine Qual, ihrem Vater als Verbanntem alle Macht entrissen zu sehen. Und ihr Glück einem Rausch nicht unähnlich, als das zweite Ministerium ihres Vaters begann.

Diesen Zeitraum kurz zu betrachten, empfiehlt sich, denn in ihm entfalteten sich alle Gaben der Tochter mit Treibhauswachstum. Das Herzudrängen von Eindrücken, Anregungen, Anforderungen, Abwechslungen, gesellschaftlichem Glanz und persönlichen Entwicklungen stellte solche Summe von Leben dar, daß nur ganz ungewöhnliche Temperamente oder eine fast erhabene Gelassenheit damit fertig werden konnten: die Tochter glühte in solchem Temperament, der Vater zeigte die klassisch anmutende Linie solcher Gelassenheit, und beide waren in Frankreich die Lieblinge der Stunde.

Das Volk und selbst der Adel priesen als eine Necker rühmende Tatsache die Reinlichkeit seines Charakters und Privatlebens. Eine seltsame Lobpreisung – so zutreffend sie auch war – in einer Umwelt, wo diese hohen Tugenden ganz wertlos geworden, und sicher die letzten Eigenschaften, einen Mann für den französischen Staat unentbehrlich zu machen. Indessen einstweilen erhob sich diese Umwelt an der schönen Phrase. Necker glaubte, daß man an ihn glaube. Und die Seelen von Vater und Tochter vermählten sich in der Freude, die sie einander schuldeten: ihre Liebe zueinander wuchs, wie Liebe es in dem Glück tut, stolz sein zu können. Denn das ist nun einmal das Erbteil aller Liebe, mit der Erhöhung ihres Objekts zuwachsen. Wo ihr Barmherzigkeit zugedacht wird und wo sie Tragkraft aufbringen muß, um Lasten mit abwärts zuschleppen, wird sie von Mitleid so durchsetzt, daß ein ganz neues, wahrscheinlich viel edleres Gefühl entsteht: der Rausch im Opfer! der aber im Entstehen wie im Vollbringen die Gefahren von Brüchigkeit in sich birgt.

Die Tochter, der noch im Ohr der Nachhall der Volksklagen bei ihres Vaters Entlassung lag, beschwingte sich an dem Wissen: man preise seine Wiederkehr wie eines Messias Ankunft. Er sah das Strahlen ihres Glückes in ihren Augen. Sie selbst befand sich als junge Gattin des schwedischen Gesandten in höchst einflußreicher und vielbeneideter Lage. Denn Schweden war durch die Vorliebe seines Monarchen für das bourbonische Herrscherhaus, die von französischer Kultur durchtränkte Stockholmer Gesellschaft, von den Tagen Richelieus her ein gerngesehenes, Frankreich politisch befreundetes Land. Alle äußeren Umstände zeigten sich wie von klügster Inszenierungskunst zurechtgestellt, für den Ehrgeiz und die politischen Neigungen der jungen Frau eine weite Bühne bildend, auf der sie höchst beweglich handeln konnte. –

Der politische Salon ist eine der wichtigsten Vorstufen der ganzen Frauenbewegung gewesen. Für die der Frau eingeborene Herrschsucht, für ihr Talent zur raschen Kombination, für ihr Vergnügen an allerhand kleinen Möglichkeiten persönlicher Rache, für ihren Genuß am Beschützen und Fördern gaben die Geschäfte der Politik ein weites, ja neben den Intrigen und Gefährlichkeiten der Liebeshändel das einzige Gebiet. Nationale oder gar volkswirtschaftliche Interessen kamen dabei noch nicht in Frage. Die Frau empfand gewiß patriotisch, aber sie fühlte sich nicht als Staatsbürgerin. Sie hatte nicht, wie die moderne Frau, das Vereinswesen und die politische Parteizugehörigkeit und neuerdings gar das Parlament als Rahmen für ihre Betätigung. Ja selbst in der Wohltätigkeit war das organisierte Wirken unbekannt, und z. B. in Deutschland, wo sich unmittelbar aus der Not der Franzosenzeit heraus Frauenvereine zu Zwecken sozialer Fürsorge bildeten, hatte eine Frau wie die Herzogin Luise von Weimar noch herbe Vorurteile gegen die öffentliche Gemeinsamkeit solchen sozialen Wirkens.

Aber in Frankreich begann sich doch gerade in den letzten Jahren vor offenem Ausbruch der Revolution die ungemeine Politisierung der Frau zu zeigen. Und aus dem Spiel schöner Hände und rachsüchtiger Herzen, aus dem Genuß an Zug und Gegenzug ward eine Beschäftigung mit Verfassungsfragen und sozialen Umwälzungen. Nur erst eine Gesprächsbeschäftigung. Ein geistiger Sport. Denn eine unruhige Bewegung ergriff alle, als prickelndes Vorgefühl von allerhand Kühnheiten; man hatte die leidenschaftliche Begierde, sich Ansichten zu bilden. Die Vorurteilslosigkeit im Moralischen, die von Rousseau gespeisten Meinungen, das Gefühl der Lebensenergie, die aus noch uneingestandener Ahnung möglicher Gefahr aufflammt, und der Wille zur Persönlichkeit hatten die französische Gesellschaft in ein seltsames Kreißen gebracht. Talleyrand faßte sein Urteil über diese Zeit in die Worte zusammen: »Qui n'a pas vécu avant 1789, ne connait pas la douceur de vivre.« Und jetzt war es die allerletzte Gipfelung und Zusammenfassung all dieser Süße des Daseins für die oberste Gesellschaftsschicht. Wie Germaine dies Jahr genossen hat, wird aus allen Studien über sie und aus ihren eigenen Äußerungen fühlbar, und es gehen von ihrer Persönlichkeit Lichtwellen von Glanz und Genuß an sich selbst aus. Sie war in dieser Zeit, so wie sie es immer gewesen und geblieben ist, blind für die Grenzen in der staatsmännischen Begabung ihres Vaters, und während sie in der Bewunderung seiner Lauterkeit und Besonnenheit schwelgte (Avec du génie on n'aurait jamais besoin d'immoralité!), entging es ihr, daß die Lage Frankreichs diese seine Tugenden zu negativen Werten herabdrückte, daß der gefaßte moralische Mut hier nicht ausreichte. Die Tatsache, daß ihr Vater der tragenden Kraft dieses seines so gefärbten Mutes gläubig vertraute, machte im Gegenteil aus ihm für sie eine Idealgestalt. – Leidenschaftliche lieben und hassen gewissermaßen per procura der von ihnen geliebten Menschen. Necker selbst war nicht reizbar genug in Temperamentsdingen und fühlte sich vielleicht auch auf zu weiser Höhe, um sich in dieser Hinsicht seelisch auszudehnen. Das tat seine Tochter, im eigenen Wesen stets verwundet oder erhoben, je nach der Tonart der Laute, die ihm aus der Umwelt entgegenschallten.

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