ANITA BLAKE
Nacht der Schatten
Aus dem amerikanischen Englisch
von Angela Koonen
beHEARTBEAT
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2001 by Laurell K. Hamilton
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Narcissus in Chains«
»Narcissus in Chains« ist im Deutschen in zwei Teilen erschienen:
Band 1: Jägerin des Zwielichts
Band 2: Nacht der Schatten
Originalverlag: The Berkley Publishing Group, a division of Penguin Putnam Inc., New York
Published by Arrangement with Laurell K. Hamilton
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2011/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Nacht der Schatten«
Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG unter Verwendung von Motiven von © iStock/ BojanMirkovic; iStock/ AleksandarNakic
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0248-5
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Das Lupanar war eine große Lichtung von hundert mal hundertfünfzig Metern. Sie lag in einer Senke, was man zunächst gar nicht bemerkte, erst recht nicht bei Nacht. Aber ich wusste, dass sich ringsum steile, bewaldete Hügel erstreckten. Es hatte mehr als einen Besuch gebraucht, bis ich das herausgefunden hatte.
Jetzt konnte man nur bis zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung sehen. Dort steckten zu beiden Seiten des Thrones mannshohe Fackeln im Boden. Der Thron war aus einem Felsblock gehauen und an den Armlehnen von den Berührungen zahlloser Ulfrics blank gerieben. Wahrscheinlich waren die Sitzfläche und Rückenlehne genauso glatt, doch die waren mit einem Wust violetter Seide bedeckt. Sehr königlich. Beides zusammen im flackernden Licht der Fackeln hatte etwas Primitives. Es sah aus wie der Thron eines antiken Barbarenkönigs, der Felle und eine Krone aus Eisen trägt.
Ringsherum standen und hockten die Werwölfe, die meisten in menschlicher Gestalt. Sie hatten in dem Kreis eine Lücke gelassen, durch die wir jetzt gingen und die sich hinter uns schloss wie eine Tür aus lebendigem Fleisch. Die Werratten fächerten sofort hinter mir aus, doch es war klar, dass wir, wenn es zum Kampf käme, einer Übermacht gegenüberstünden, die uns schon jetzt umzingelt hatte.
Rafael und zwei sehr große Werratten standen an meiner rechten, Donovan Reece, der Schwanenkönig, an meiner linken Seite. Rafael war so freundlich gewesen, ihm vier Leibwächter zu geben. Micah hielt sich hinter mir, zusammen mit meinen neu erworbenen Leibwächtern. Dann folgten die Leoparden in einer etwas unordentlichen Verteidigungslinie noch vor dem Pulk der Werratten.
An einer Seite des Thrones hing ein Tuch zwischen zwei Bäumen; ein schwarzes Tuch, das als Vorhang fungierte und erst durch einen Windstoß meine Aufmerksamkeit erregte. Es wurde beiseitegezogen, und dahinter trat Sylvie hervor, gefolgt von einem großen Mann, den ich nicht kannte. Sylvies Gesicht wirkte nicht so fein, nicht so weich wie sonst; sie war ungeschminkt. Und ihre kurzen Locken waren hübsch, aber unfrisiert. Sie trug Jeans, was ich zum ersten Mal bei ihr sah, und dazu ein hellblaues Trägerhemd und weiße Joggingschuhe.
Ihr Begleiter hatte die Figur eines Basketball-Spielers, lange Arme und Beine und schlanke Muskeln. Von den Muskeln war allerhand zu sehen, denn er hatte nichts weiter an als eine abgeschnittene Jeans. Wie Richard brauchte er keinen äußeren Schnickschnack, um Aufmerksamkeit zu erregen. Er bewegte sich mit Anmut und Kraft wie ein Tiger. Nur dass die Gitterstäbe fehlten. Und meine Pistole lag zu Hause.
Er hatte kurze, dunkle Haare mit dichten, kleinen Locken und ein Gesicht, bei dem man sich nicht entscheiden kann, ob man es attraktiv oder reizlos finden soll. Kräftiger Knochenbau, lange Linien, breiter Mund mit schmalen Lippen. Ich hatte mich gerade für reizlos entschieden, als er mich anblickte, und im selben Moment merkte ich, dass ich falschlag. In seinen dunklen Augen funkelte Intelligenz und etwas Finsteres. Er zeigte mir seinen Ärger. Es war die schiere Kraft seiner Persönlichkeit, die ihn bemerkenswert machte und über sein gutes Aussehen entschied. Auf einem Foto käme das nicht zur Geltung, dazu musste man ihn leibhaftig vor sich sehen.
Mir brauchte keiner zu sagen, dass das Jacob war, das war sofort klar. Und ich wusste noch etwas anderes: Die Lage war ernst.
Dann kam Richard. Auch er strahlte eine bebende Kraft aus, und er bewegte sich genauso anmutig, genauso zornig wie Jacob, doch ihm fehlte etwas, das der andere hatte, vielleicht eine gewisse Härte, das Finstere. Eines war jedenfalls klar: Jacob war rücksichtslos. Das konnte ich beinahe riechen. Und rücksichtslos war Richard nicht, ob das nun gut war oder schlecht.
Ich seufzte. Ich hatte immer geglaubt, alles würde gut werden, wenn er sein Tier erst einmal akzeptiert hatte. Er setzte sich auf den Thron. Der Feuerschein spielte auf seinen welligen Haaren und verwandelte sie in Kupferfäden. Die Schatten spielten auf seinen Brust- und Armmuskeln. Er sah wirklich aus wie ein Barbarenkönig, und trotzdem hatte er etwas … etwas Weiches an sich. Und wenn ich das spürte, dann Jacob ebenso.
Ich hatte einen dieser Momente von Klarheit, die es manchmal gibt. Richard konnte gar nicht wirklich rücksichtslos werden, egal wie wir uns ihm gegenüber verhielten. Er handelte manchmal im Zorn wie bei seiner Entführung Gregorys, aber ganz gleich, was die Welt ihm antäte, in ihm würde immer etwas bleiben, was ihn zurückschrecken ließe. Seine einzige Hoffnung zu überleben war, sich mit loyalen Leuten zu umgeben, die nicht zurückschreckten.
Jamil und Shang-Da standen zusammen an einer Seite des Throns, nicht zu dicht und nicht zu weit weg. Shang-Da trug wieder sein monochromes schwarzes Business-Outfit mit den blank polierten Schuhen. Er sah immer sehr nach GQ aus, sogar im Wald.
Jamil hatte auch ein Faible für schicke Klamotten, versuchte aber, sich immer situationsgemäß zu kleiden. Er trug eine Jeans, die vermutlich frisch gebügelt war, und ein rotes Trägerhemd, das auf seiner dunklen Haut fantastisch aussah. Er hatte die Perlen in seinen taillenlangen Cornrows in rote und schwarze getauscht. Im Fackelschein schimmerten sie wie Halbedelsteine.
Jamil fing meinen Blick auf. Er nickte mir nicht zu, grüßte mich aber mit den Augen. Shang-Da wich meinem Blick aus und schaute zu uns herüber, ohne mich anzusehen. Wenn Richard es ihnen erlaubt hätte, hätten die beiden bestimmt das Nötige getan, um ihm den Thron zu sichern. Doch ihnen waren die Hände gebunden, und so konnten sie nur innerhalb der von ihm gesetzten Grenzen agieren.
Sylvie und ich sahen uns ein paar Herzschläge lang in die Augen. Ich hatte ihre Knochensammlung mal gesehen, es waren Knochen ihrer Feinde. Sie holte sie immer wieder mal hervor und beschäftigte sich damit. Sie sagte, es sei tröstlich für sie, sie anzufassen. Ich persönlich hielt mich lieber an ein Stofftier und richtig guten Kaffee. Aber Hauptsache, es ging ihr besser. Auch sie würde das Nötige tun, wenn Richard sie nur ließe.
Und wäre ich noch die Lupa, tja, dann wären wir schon genug rücksichtslose Leute, um das Problem zu beseitigen. Richard müsste nur mal kurz beiseitetreten. Wir waren so nah dran und doch nicht mal im selben Stadion. Das war mehr als frustrierend. Es war, als sähen wir einen Zug auf Richard zurasen, brüllten: Runter von den Gleisen!, und er hörte nicht auf uns. Mann, wir versuchten ihn sogar runterzuzerren, und er wehrte sich.
Wenn der Zug Jacob wäre, könnte ich ihn töten und Richard wäre in Sicherheit. Aber Rafael hatte recht: Jacob war nicht der Zug, der Richard vernichten wollte. Das war Richard selbst.
Seine Stimme schallte über die Lichtung. »Wir haben uns heute Nacht hier versammelt, um uns von unserer Lupa zu verabschieden und eine andere zu wählen.«
Vom halben Rudel kam Geheul und Applaus. Einige Dutzend Werwölfe blieben stumm und beobachteten. Das hieß nicht, dass sie auf meiner Seite standen. Vielleicht waren sie neutral, und ich fand es interessant, zu sehen, wer nicht gleich begeistert dabei war, mich mit einem Tritt aus dem Rudel auszuschließen.
»Wir sind auch hier, um ein Urteil über einen zu fällen, der dem Rudel geschadet hat, indem er uns die Lupa wegnahm.«
Darauf gab es weniger Applaus, weniger Geheul. Es sah ganz danach aus, als wäre die Abstimmung über Gregorys Verdammung knapp ausgefallen. Das stimmte mich ein bisschen optimistischer, nicht viel, aber ein bisschen. Ob knapp oder nicht, wäre allerdings ziemlich egal, wenn Gregory am Ende sterben müsste.
»Dabei wollen wir auch den Leoparden der Nimir-Ra eine letzte Chance geben, ihre Katze zurückzugewinnen.«
Applaus und Geheul blieben bei fünfzig Prozent, aber die Atmosphäre hatte sich spürbar abgekühlt. Das Rudel war noch nicht verloren, und es war ganz sicher nicht rückhaltlos auf Jacobs Seite. Ich betete um Orientierungshilfe, denn das hier war ein politisches Problem, und darin war ich nicht besonders gut.
»Das ist eine Angelegenheit zwischen den Wölfen und den Leoparden. Warum sind die Ratten hier, Rafael?«, fragte Richard. Er redete sehr offiziell, sehr distanziert, als würde er uns nicht kennen.
»Die Nimir-Ra hat mir einmal das Leben gerettet. Die Ratten stehen tief in ihrer Schuld.«
»Heißt das, euer Abkommen mit uns ist null und nichtig?«
»Ich habe ein Abkommen mit dir, Richard, und das werde ich einhalten, weil ich weiß, dass du ein Mann bist, der seine Verpflichtungen ernst nimmt, auch die gegenüber seinen Verbündeten. Doch mit Anita verbindet mich eine persönliche Schuld, und ich bin bei meiner Ehre verpflichtet, sie zu begleichen.«
»Auf wessen Seite werdet ihr kämpfen, wenn es zum Kampf kommt, auf unserer oder der der Leoparden?«
»Ich hoffe ernsthaft, dass es nicht so weit kommt, doch wir sind mit den Leoparden hergekommen, und wir werden mit ihnen weggehen, unter welchen Umständen auch immer.«
»Damit hast du deine Leute schon vernichtet«, schaltete sich Jacob ein.
Richard drehte sich zu ihm hin. »Ich bin Ulfric, nicht du, Jacob. Ich bestimme, wer vernichtet wird und wer nicht.«
»War nicht so gemeint, Ulfric«, erwiderte Jacob, doch sein Ton machte daraus eine Lüge. »Ich wollte nur sagen, dass die Ratten uns nicht besiegen können, wenn es zum Kampf kommt. Vielleicht möchte ihr König sich noch mal überlegen, ob er ihr etwas schuldet.«
»Eine Ehrenschuld besteht, ob man das möchte oder nicht«, erklärte Rafael. »Richard weiß genau, was eine Ehrenschuld ist. Und darum weiß ich, dass er unser Abkommen achten wird. Bei anderen Mitgliedern dieses Rudels habe ich diese Gewissheit nicht.«
Da, er hatte es ausgesprochen. Das hieß so viel wie: Ich traue dir nicht, Jacob. Auf der Lichtung breitete sich Stille aus; das Reiben der Stoffe, die Bewegungen pelziger Körper kamen einem plötzlich laut vor.
Richards Hände schlossen sich um die Armlehnen des Throns. Ich beobachtete ihn, denn er schirmte sich so stark gegen mich ab, dass ich ihn nicht spürte, aber ich konnte ihn sehen, konnte ihn denken sehen. »Heißt das, das Abkommen gilt nur, solange ich Ulfric bin?«
»Genau das heißt es.«
Richard und Rafael blickten sich lange an, dann spielte ein Lächeln auf Richards Lippen. »Ich habe nicht vor, als Ulfric zurückzutreten, also dürfte das Abkommen noch eine Weile gelten. Es sei denn, Jacob hat andere Pläne.«
Dieser Satz sandte eine Welle des Unbehagens durch die abwartenden Werwölfe. Man spürte sie, sah, wie sie sich ausbreitete, als witterte das Rudel eine Falle.
Jacob wirkte überrascht, sogar bestürzt. Er war mir vollkommen fremd, doch ich konnte ihm seine Ratlosigkeit ansehen, während er überlegte, was er sagen sollte. Wenn er jetzt erwiderte, er habe keine Absichten auf den Thron, dann käme das einem Meineid gleich, und Gestaltwandler waren in solchen Dingen ziemlich empfindlich.
Jacob würde also entweder lügen oder seine Absichten offenlegen müssen, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er zu Letzterem noch nicht bereit.
Von der rechten Seite meldete sich eine Frau mit klarer, volltönender Stimme; sie klang, als hätte sie Bühnenerfahrung. »Lenken wir nicht gerade vom Wesentlichen ab? Ich für mein Teil bin sehr an der Wahl der neuen Lupa interessiert.«
Die Frau war groß und bestand nur aus Kurven. Sie war üppig wie die Filmstars der fünfziger Jahre. Sie wirkte weich und feminin, stolzierte aber mit aggressivem Hüftschwung, halb Sex zum Mitnehmen, halb Raubtier, als wollte sie die Männer anlocken, indem sie das willige Opfer spielte, und dann ficken, bis sie um Gnade winselten, um ihnen anschließend das Gesicht wegzufressen.
Sie trug sogar ein Kleid, eins mit sehr tiefem Ausschnitt, das an ihren Kurven klebte. Man wusste gleich, sie musste einen BH tragen. Brüste dieser Größe können ohne Hilfsmittel nicht keck abstehen. Sie lief barfuß. Ihre dunkelroten Haare waren perfekt gestylt und fielen wie ein glänzender Wasserfall bis knapp über die Schultern.
»Dazu werden wir noch kommen«, sagte Richard.
Sie sank vor dem Thron auf die Knie, strich sehr damenhaft den Rock unter den Schenkeln glatt und beugte sich dabei weit vor, damit Richard ihr direkt in den Ausschnitt gucken konnte. Ich konnte sie nicht leiden.
»Du kannst uns nicht vorwerfen, dass wir gespannt sind, Ulfric. Eine von uns«, sie legte eine Pause ein, damit klar war, dass sie den Plural nur aus Höflichkeit nahm, »wird zur Lupa gewählt und deine Gefährtin werden, beides in derselben wunderbaren Nacht.« Ihre Stimme wurde zu einem schwül-erotischen Raunen, das zwar leise, aber gut zu verstehen war.
Nein, ich konnte sie wirklich nicht leiden. Es stand mir nicht zu, mich aufzuregen; mit Micah, der direkt neben mir stand. Aber das spielte auch keine Rolle. Mit Logik hatte das gar nichts zu tun. Ich wollte mir eine Hand voll dieser gefärbten roten Haare krallen und ihr wehtun. Erst als Micah mich am Arm berührte, merkte ich, dass ich schon länger den Messergriff in meiner Unterarmscheide streichelte. Manchmal verrät mein Körper, was in mir vorgeht. Ich zwang mich, die Hände stillzuhalten, aber ruhig war ich deswegen nicht.
»Geh wieder zu den anderen Kandidatinnen, Paris«, sagte Richard. Er vermied es sorgfältig, sie anzusehen, als hätte er Angst. Das machte es nicht besser, sondern schlimmer.
Sie lehnte sich nach vorn und legte eine Hand auf sein Knie. Er zuckte zusammen. »Du kannst es uns nicht übel nehmen, dass wir darauf drängen, Ulfric. Wir alle wollen dich schon so lange.«
Richards Gesicht wurde schmal vor Ärger. »Sylvie«, sagte er.
Sylvie lächelte, und es war ein Lächeln reinster Bosheit. Sie packte Paris nicht allzu sanft am Handgelenk und zog sie auf die Füße. Paris war fünf Zentimeter größer als Sylvie, aber Sylvie wirkte durch ihre Dominanz wie eine Drei-Meter-Frau.
»Der Ulfric hat dir befohlen, auf deinen Platz bei den anderen Kandidatinnen zurückzugehen.« Sie gab Paris einen kleinen Schubs. Die Frau taumelte, fing sich aber und zog sich das enge Kleid über den Oberschenkeln glatt.
Sylvie hatte sich schon umgedreht, um an Richards Seite zurückzukehren, als Paris sagte: »Wie ich höre, magst du es hart.«
Sylvie erstarrte, und ich brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um die Wut zu spüren, die sie augenblicklich verströmte. Noch ehe sie sich umdrehte, langsam und mit angespannten Muskeln, wusste ich, dass sie Wolfsaugen bekommen hatte. »Was hast du gesagt?«
»Sylvie«, mahnte Richard leise. Kein Befehl, sondern eine Bitte. Ich glaube, wenn er es ihr befohlen hätte, hätte sie sich dagegen gewehrt und eine Wiedergutmachung verlangt. Doch er äußerte eine Bitte … Sie drehte sich wieder zu ihm hin.
»Ja, Ulfric.«
»Nimm deinen Platz wieder ein, bitte.«
Sie ging zum Platz des Freki an seiner Rechten. Doch ihre Wut flimmerte wie Hitze auf sommerlichem Asphalt.
»Ich bitte den Schwanenkönig um Verzeihung, dass ich ihn nicht längst erkannt habe, aber wir sind uns erst einmal begegnet.«
»Ja«, sagte Donovan Reece, »ich erinnere mich.«
»Willkommen zu unserem Lupanar. Ich würde dir gern einen sicheren Aufenthalt gewähren, muss aber zuerst fragen, warum du hier bist.«
»Ich bin hier, weil die Nimir-Ra meine Schwanenmädchen vor Leuten gerettet hat, die sie beinahe umgebracht hätten. Sie hat dafür ihr Leben riskiert. Ich bin heute als ihr Verbündeter hier.«
»Dann kann ich dir keinen sicheren Aufenthalt versprechen, Donovan, denn wenn die Sache schlecht läuft, kommt es zum Kampf. Als Anitas Verbündeter wirst du darin verwickelt werden.«
»Sie hat ihr Leben für meine Leute aufs Spiel gesetzt, ich kann nicht weniger für sie tun.«
Richard nickte, und ich sah eine wortlose Verständigung zwischen ihnen ablaufen. Da hatten sich zwei gefunden, könnte man sagen.
»Rettet sie eigentlich jeden Gestaltwandler aus der Klemme, dem sie über den Weg läuft?«, fragte Jacob abfällig.
Richard wollte darauf antworten, aber Sylvie trat vor und berührte ihn am Arm. Er nickte kaum merklich und ließ sie sprechen. »Wie viele von uns hat Anita aus der Folter oder vor dem Tod gerettet?« Sie hob die Hand.
Jamil kam hinter dem Thron hervor und hob die Hand. Alle meine Leoparden hoben die Hand, ein kleiner Wald der Dankbarkeit. Rafael hob die Hand. Dann sah ich Louie, seinen Stellvertreter und Ronnies Freund. Er nickte mir knapp zu und hob die Hand.
Richard stand auf und hob die Hand. Auch an anderen Stellen wurden Hände gereckt. Dann trat Irving Griswold, ein freundlicher Journalist - und Werwolf - aus der Menge hervor. Seine Brille spiegelte den Fackelschein. Er sah aus wie ein halb kahler Cherub mit Flammenaugen.
»Was wäre passiert, wenn Anita Sylvie nicht aus der Folter des Vampirrates befreit hätte? Sylvie ist zwar stark, aber wenn sie ihren Widerstand doch gebrochen hätten, was dann? Sie ist dominant genug, um uns alle zu sich zu rufen; dann wäre das Rudel dem Rat ausgeliefert gewesen.« Irving hob die Hand. »Anita hat uns alle gerettet.«
Unter den Werwölfen gingen die Hände hoch, fast bei der Hälfte des Rudels. Ich bekam einen Kloß im Hals und feuchte Augen. Auf keinen Fall wollte ich jetzt heulen, aber wenn mich einer umarmte, wäre es mit der Beherrschung vorbei.
Louie trat vor, klein, dunkelhaarig und gut aussehend, mit ordentlich kurz geschnittenen Haaren. »Rafael ist ein starker König, so stark, dass sich keiner von uns seinem Ruf hätte widersetzen können, wenn er unter der Folter nachgegeben hätte. Unser Rudel wäre in die Hände des Vampirrates gefallen. Ihr habt alle gesehen, was sie ihm angetan haben und wie lange seine Heilung gedauert hat. Anita hat die Werratten der Stadt gerettet.«
Die Ratten hoben die Hand - alle.
Sylvie sagte: »Seht euch um. Wollt ihr sie wirklich als eure Lupa verlieren? Die meisten von euch wissen noch gut, wie es mit Raina war. Wollt ihr wieder dahin zurück?«
»Sie gehört nicht zu unserem Volk«, wandte Jacob ein.
Ein paar andere bekräftigten das, aber nicht viele. »Wenn ihr nichts weiter vorzubringen habt, als dass sie kein Werwolf ist«, sagte Sylvie, »dann ist das eine armselige Begründung, um sie zu verlieren.«
»Ich sehe sie jedenfalls zum ersten Mal«, sagte Jacob. »Ich bin schon fünf Monate beim Rudel und kriege eure kostbare Lupa heute das erste Mal zu Gesicht. Ich sehe da keinen Verlust.«
Dafür bekam er eine Menge Beifall, Gejaule und Ja-Rufe. In dem Punkt musste ich ihm recht geben. Ich trat nach vorn, wo ich allein zwischen meinen Verbündeten und dem Thron stand. Es wurde so still, dass man die Fackeln knistern hörte.
Richard sah zu mir herab. Mittlerweile konnte ich ihm in die Augen blicken. Ich sagte laut und deutlich: »Jacob hat recht.«
Sylvie guckte erschrocken. Desgleichen Jacob. Und meine Leute auch, wie ich aus der Unruhe hinter mir schloss. »Ich bin dem Thronos Rokke Klan keine besonders gute Lupa gewesen, aber ich wusste auch nicht, dass das von mir erwartet wurde. Ich war bloß die Freundin des Ulfrics. Ich hatte mit den Werleoparden alle Hände voll zu tun und verließ mich darauf, dass Richard sich allein um die Wölfe kümmert. Die Leoparden hatten niemanden außer mir.« Ich drehte mich zu den Versammelten um. »Ich war menschlich, also als Lupa oder Nimir-Ra nicht geeignet.« In der Menge ging ein lautes Gemurmel los.
»Ich weiß nicht, ob ihr alle davon gehört habt, aber bei dem Kampf um die Schwanenmädchen kam es zu einem Unfall. Kann sein, dass ich in ein paar Wochen eine echte Nimir-Ra bin. Wir wissen es noch nicht sicher, aber es ist wahrscheinlich.«
Jetzt waren sie still und musterten mich, Menschenaugen, Wolfsaugen, Ratten und Leoparden, aber in jedem Gesicht sah ich Intelligenz und höchste Aufmerksamkeit. »Ich kann nichts mehr dagegen tun. Wir müssen abwarten. Aber mein Leopard hat mich nicht mit Absicht verletzt. Darauf gebe ich mein Ehrenwort. Mir wurde gesagt, dass Gregory angeklagt wird, weil er eure Lupa getötet haben soll.« Ich hob beide Arme. »Hier stehe ich lebendig und gesund. Wenn ihr mich als Lupa verliert, dann nicht weil Gregory mich euch weggenommen hat, sondern weil ihr euch dafür entscheidet. Wenn ihr das wollt, soll es mir recht sein. Ich mache euch daraus keinen Vorwurf. Bis heute Nacht, bis vor wenigen Minuten habe ich mir nicht eingebildet, eine besonders gute Nimir-Ra abzugeben, und habe auch gar nicht erst versucht, eine menschliche Lupa zu sein. Jetzt denke ich, dass ich vielleicht falsch lag. Wenn ich mehr bei euch gewesen wäre, könnten die Dinge jetzt besser stehen. Ich habe getan, was ich für richtig hielt. Wenn ihr mich als Lupa nicht wollt, ist das euer gutes Recht, aber bestraft nicht einen Gestaltwandler für ein Versehen, das ihm während eines Kampfes unterlaufen ist, denn bei diesem Kampf hat er verhindert, dass mir das Herz aus der Brust gerissen wurde.«
»Eine hübsche Rede«, sagte Jacob, »doch wir haben bereits abgestimmt, und dein Leopard wird bestraft, außer du bist Gestaltwandler genug, um ihn zurückzugewinnen.«
Ich drehte mich zum Thron um. »Richard, bitte.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann die Abstimmung nicht ungültig machen, Anita. Wenn ich es könnte, würde ich es tun.« Er klang müde.
Ich seufzte. »Na schön. Wie kann ich Gregory zurückgewinnen?«
»Sie muss erst einmal aufhören Lupa zu sein, bevor sie als Nimir-Ra auftreten kann.« Das kam von Paris, die, obwohl mitten in der Zuhörerschaft, über die ganze Lichtung zu hören war.
»Ich dachte, ihr hättet mich bereits abgewählt«, sagte ich.
»Das haben sie«, sagte Richard. »Nach unserem Gesetz muss es aber noch offiziell werden, und zwar durch eine Zeremonie, die deine Bindung an uns kappt.«
»Dauert das lange?«, fragte ich.
»Schon möglich.«
»Dann lass mich zuerst Gregory befreien. Hinterher werde ich jede Zeremonie der Lukoi mitmachen.«
»Du hast das Recht, den Rücktritt zu verweigern«, warf Sylvie ein.
Ich sah Richard an.
»Dieses Recht hast du.« Ob er darüber froh oder verstimmt war, konnte ich nicht heraushören. Seine Miene und sein Ton waren neutral.
»Und was wäre dann?«
»Du müsstest dein Recht, Lupa zu sein, verteidigen, entweder im Zweikampf gegen eine dominante Bewerberin …« Sein Satz verebbte.
Sylvie blickte ihn an, doch es war Jacob, der ihn zu Ende brachte. »Oder du erweist dich als würdige Lupa, indem du den Thron salbst.«
Ich sah ihn achselzuckend an. »Den Thron salben - was heißt das?«
»Du fickst den Ulfric auf dem Thron in unserem Beisein.«
Ich schüttelte sofort den Kopf. »Weder Richard noch ich stehen auf Sex in der Öffentlichkeit.«
»Die Sache ist ein bisschen komplizierter«, sagte Richard. Er sah mich an, und da lag so viel in seinen Augen, so viel Wut und Schmerz, dass es mir wehtat.
»Sex allein reicht nicht. Nötig wäre eine mystische Vereinigung unserer Tiere.« Er wurde still, und ich dachte schon, er würde nichts mehr sagen. Doch dann fügte er hinzu: »Wie du sie mit deinem Nimir-Raj vollzogen hast.«
Wir starrten uns an. Mir fiel nichts Gutes ein, was ich darauf sagen könnte, aber sagen musste ich etwas. »Es tut mir leid.« Es kam leise und beinahe traurig.
»Entschuldige dich nicht«, sagte er.
»Warum nicht?«
»Es ist nicht deine Schuld, sondern meine.«
Das erstaunte mich. »Wieso?«
»Ich hätte wissen müssen, dass du diese Art Bindung mit deinem Gefährten eingehst. Du bist als Menschenfrau schon machtvoller als die meisten echten Lupas.«
Ich sah ihn an. »Warum sagst du das, Richard? Weil du wünschst, du hättest mich zu euresgleichen gemacht, solange du noch die Gelegenheit hattest?«
Er senkte den Blick, als könnte er es nicht länger ertragen, dass ich seine Gefühle sah. Ich trat näher heran, so nah, dass ich ihn hätte berühren können, so nah, dass seine pulsierende Energie auf meine Haut überfloss. Ich schauderte. Doch ich fühlte noch etwas anderes, etwas, das ich noch nie gespürt hatte, nicht bei Richard.
Mein Tier drängte nach außen und schlug spielerisch mit der Tatze nach Richards überströmender Macht. Unsere Auren schlugen Funken, und ich sah das Spiel der Farben: als würden Feuerstein und Stahl in einem Farbfilm aufeinanderschlagen.
Richard schnappte nach Luft und riss die Augen auf. »Hast du das mit Absicht gemacht?« Er klang heiser, wie stranguliert.
Ich schüttelte bloß den Kopf. Sprechen ging wahrscheinlich nicht. Die Funken waren verloschen, aber ich hatte das Gefühl, an einer Mauer zu lehnen, die jede Berührung verhinderte, an einer Mauer aus seiner und meiner Macht. Ich fand die Stimme wieder, konnte aber nur flüstern. »Was war das?«
»Die Vereinigung der Zeichen vermutlich«, sagte er fast genauso leise.
Ich hätte zu gern durch die Machtaura gegriffen und ihn berührt, um zu sehen, ob die Tiere sich genauso miteinander wälzen würden wie bei Micah und mir. Klar war der Wunsch albern, schließlich war er ein Wolf und ich augenscheinlich ein Leopard, unsere Tiere würden voneinander gar keine Notiz nehmen. Doch ich liebte Richard schon so lange, wir waren durch Jean-Claudes Zeichen miteinander verbunden, und ich trug ein Stück seines Tieres in mir. Ich wollte es unbedingt wissen. Ich wollte wissen, ob ich mit ihm hätte haben können, was ich mit Micah hatte.
Ich schob die Hand durch die Machtaura, und es war wie ein Griff in die Steckdose. Die Energie knisterte schmerzhaft auf meiner Haut. Ich streckte die Hand nach seiner Schulter aus, einer schön neutralen Stelle. Im selben Moment rollte er sich über die Armlehne und stand plötzlich neben dem Thron. Er hatte sich so schnell bewegt, dass ich mit den Augen nicht hatte folgen können. Ich hatte nur den Anfang und das Ergebnis der Bewegung gesehen, das Übrige - war mir beim Blinzeln entgangen.
»Nein, Anita, nein«, sagte er. »Wenn wir uns nie wieder anfassen dürfen, will ich dein Tier nicht spüren. Wir sind vielleicht nicht das gleiche Tier, doch es wäre mehr, als wir je zwischen uns gehabt haben. Ich könnte es nicht ertragen.«
Ich ließ den Arm sinken und trat ein Stück zurück, damit er sich setzen konnte. Ich entschuldigte mich nicht wieder, obwohl es mich danach drängte. Ich wollte um uns beide weinen oder laut schreien. Ich weiß, das Universum hat Sinn für Ironie, und manchmal wird einem gezeigt, wie sadistisch Ironie sein kann.
Ich würde seine tierische Hälfte nun doch noch akzeptieren müssen, weil ich auch eine bekam. Damit könnte ich endlich seine perfekte Geliebte werden, und genau jetzt durften wir einander nicht mehr berühren.
Richard saß wieder auf seinem Thron, und ich stand so weit von ihm weg, dass er sich sicher fühlen konnte. Rafael, Micah und Reece waren zu mir getreten; ich hatte einen Halbkreis von Königen im Rücken. Das hätte mir ein Gefühl von Sicherheit geben müssen. Tat es aber nicht. Ich war müde, so furchtbar müde und tieftraurig. Obwohl Micah hinter mir stand, konnte ich nicht aufhören, Richard anzusehen und mich zu fragen: Was wäre, wenn? Ja, ich weiß, ich hätte ihm nie gestattet, mich absichtlich zum Werwolf zu machen, aber tief in mir meldete sich eine kleine Stimme. Ich befahl ihr, den Mund zu halten, und kam auf das Wesentliche zurück.
»Ich will Gregory unverletzt zurückhaben. Wie kann ich das im Rahmen eurer Gesetze erreichen?«
»Jacob.« Richard klang so müde, wie ich mich fühlte.
Jacob trat vor, sichtlich zufrieden mit sich. »Dein Leopard befindet sich auf unserem Land, und wir haben nichts getan, um seine Witterung zu verwischen. Wenn du ihn aufspürst, darfst du ihn mitnehmen.«
Ich zog die Brauen hoch. »Ich soll eine Fährte aufnehmen wie ein Hund?«
»Wenn du ein echter Gestaltwandler bist, kannst du das«, sagte Jacob.
»Das ist keine faire Prüfung«, sagte Rafael. »Sie hat nicht mal ihre erste Verwandlung hinter sich. Die meisten sekundären Fähigkeiten entwickeln sich erst danach.«
»Sie muss ihn nicht durch Wittern finden«, sagte Richard, »aber durch etwas, das nur Gestaltwandler können. Was nur ein Gestaltwandler mit der Macht einer Nimir-Ra oder einer Lupa kann.« Dabei blickte er mich an, und ich sah, dass er mir etwas zu sagen versuchte.
»Das hört sich auch nicht sehr fair an«, schaltete sich Micah ein.
Richard sah mich weiter an und drängte mich stumm, zu begreifen. Ich fragte mich, warum er nicht einfach die Schilde senkte und mich sehen ließ, was er dachte.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Kein Werwolf oder Werleopard und keine Werratte, niemand darf dir helfen, ihn zu finden. Wenn jemand eingreift, ist die Prüfung ungültig, und Gregory stirbt.«
»Auch wenn das Eingreifen metaphysisch ist?«, fragte ich.
Richard nickte. »Auch dann.«
Ich sah ihn an, forschte in seinem Gesicht und runzelte die Stirn. Schließlich schüttelte ich den Kopf. Ich hatte in einer Vision gesehen, wo Gregory lag, wie seine Umgebung aussah. Letztlich bot das aber keinen Anhaltspunkt. Eigentlich hätte ich nur jemanden zu fragen brauchen, wo es ein Loch mit lauter Knochen gab. Doch das durfte ich nicht tun. Dann hatte ich eine Idee.
»Darf ich meine eigenen metaphysischen Fähigkeiten zu Hilfe nehmen?«
Richard nickte.
Ich sah Jacob an, weil Einwände vermutlich nur von ihm kämen. »Ich glaube nicht, dass dir deine Nekromantie helfen wird, ihn zu finden.«
Im Grunde doch. Wenn die Knochen, auf denen Gregory lag, die größte Begräbnisstelle der Umgebung darstellten, dann sollte ich imstande sein, sie aufzuspüren. Andernfalls würde ich die ganze Nacht über nach verscharrten Tieren oder alten Indianergräbern suchen. Ich kannte eine schnellere Methode, vielleicht keine bessere, aber eine schnellere.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und ließ die Hände auf den Knien ruhen.
»Was tust du da?«, fragte Jacob.
»Ich rufe die Munin«, sagte ich.
Er lachte laut und gellend. »Oh, das wird spannend.«
Ich schloss die Augen und öffnete mich den Toten. Marianne und ihre Freundinnen verglichen das mit dem Öffnen einer Tür, doch es gehört so sehr zu mir, dass ich es mehr wie das Öffnen einer Faust empfinde. Für mich ist es ebenso selbstverständlich und natürlich, wie über den Tisch zu greifen und mir den Salzstreuer zu nehmen. Das klingt vielleicht sehr profan für etwas so Mystisches, aber das Mystische gehört zum alltäglichen Leben. Es ist immer da. Wir ignorieren es lediglich.
Die Munin sind die Geister der Toten, die sich im kollektiven Gedächtnis einer Gemeinschaft befinden. Wer imstande ist, mit ihnen zu sprechen, kann sie beschwören. Das ist eine seltene Fähigkeit. Meines Wissens hat sie in Richards Rudel keiner. Aber ich habe sie. Die Munin sind nur eine andere Erscheinungsform der Toten, und mit Toten kann ich umgehen.
In Tennessee bei Marianne waren die Munin von Vernes Rudel auf meinen Ruf schnell und eifrig gekommen - echten Geistern sehr ähnlich -, hatten mich umringt und waren begierig gewesen, mit mir zu sprechen. Ich hatte geübt, bis ich gezielt Einzelne beschwören und mit ihnen kommunizieren konnte. Die Geisterbeschwörer taten nichts anderes, wenn sie als Medium fungierten, und Marianne schlug vor, ich sollte es mal mit gewöhnlichen Geistern probieren, wenn ich wollte. Ich wollte nicht. Ich stellte meinen Körper nicht gern anderen Wesenheiten als Gefäß zur Verfügung, nein danke. Das machte mir Angst.
Ich wartete auf den Andrang der Munin, auf das Gefühl, dass sie sich um mich ausfächerten wie ein geisterhaftes Kartenblatt, aus dem ich eine wählen könnte. Nichts passierte. Die Munin kamen nicht. Jedenfalls nicht alle zusammen. Nur eine kam, denn die kam immer, wenn ich rief, und manchmal auch, wenn ich nicht rief.
Raina war der einzige Munin aus Richards Rudel, der mich immer begleitete. Sogar in Tennessee, wo ich von den Munin eines anderen Klans umgeben war. Marianne sagte, zwischen Raina und mir bestünde ein ätherisches Band, wusste aber nicht so richtig, warum. Ich hatte schon jahrhundertealte Munin rufen können, und Raina, die noch gar nicht lange tot war, kam widerstandslos. Aber Marcus, der vorige Ulfric, wich mir aus. Ich hatte geglaubt, mit meiner neu erlangten Beherrschung könne ich ihn herbeirufen, doch nicht nur er kam nicht, es kam überhaupt niemand. Auf der Lichtung waren keine Geister. Das sollte eigentlich nicht sein. Dies war der Ort, wo das Rudel seine Toten fraß, wo jeder Angehörige das Fleisch verzehrte, um die Erinnerungen, den Mut, die Verfehlungen des Verstorbenen zu übernehmen. Man durfte sich gegen das Fressen entscheiden, aber das kam einer Exkommunikation gleich. Raina war ein schlechter Charakter gewesen, und ich fragte mich manchmal, was einer tun musste, um von den Lukoi ausgeschlossen zu werden. Raina war so schlecht gewesen, dass ich sie hätte gehen lassen, andererseits war sie auch sehr mächtig. Vielleicht war sie deshalb noch da.
Das mag sich jetzt anhören, als wäre sie gewöhnlich fern wie die Geister von Vernes Rudel, aber das war sie nicht. Sie steckte in mir. Sie strömte eher aus meinem Körper hervor als von irgendwoher in ihn hinein. Marianne konnte sich das nach wie vor nicht erklären. Manches muss man eben hinnehmen und damit umgehen, denn alles andere wäre, als wollte man mit dem Kopf durch die Wand, und bekanntlich ist es nicht die Wand, die bricht.
Raina füllte mich aus wie die Hand einen Handschuh. Ich habe lange daran gearbeitet, sie in Schach halten zu können. Wir hatten quasi ein Abkommen erreicht. Ich benutzte ihre Erinnerungen und Kräfte und ließ sie dafür etwas Spaß haben. Das Problem war, dass sie im Leben eine sadistische Nymphomanin gewesen war und ihr Tod daran nicht viel geändert hatte.
Ich machte die Augen auf und merkte, wie ihr Lächeln meine Mundwinkel hochzog, mein Gesicht ihre Mimik bekam. Ich stand anmutig auf, und sogar mein Gang war anders als sonst. Früher war mir das zuwider gewesen; inzwischen nahm ich es achselzuckend hin als notwendigen Bestandteil des Geschäfts.
Sie lachte entspannt; es war ein Lachen, das die Männer in einer Bar veranlasst, sich umzudrehen. Es klang tiefer als meins, war das Lachen einer Altstimme und geübten Verführerin.
Richard wurde blass und griff krampfhaft um die Armlehnen seines Throns. »Anita?«, fragte er.
»Noch zwei Mal darfst du raten, mein Honigwolf.«
Bei dem Kosenamen zuckte er zusammen. In Wolfsgestalt hat er eine rötlich braune Farbe wie roter Honig, wobei mir dieser Vergleich noch nie gekommen war. Sah Raina ähnlich, an etwas Dickflüssiges, Klebriges zu denken, wenn sie einen Mann sah.
Ihre Worte kamen aus meinem Mund. »Sei nicht so zickig, nachdem du mich um Hilfe gebeten hast.«
Ich nickte, und es war meine Stimme, die auf Richards Stirnrunzeln zur Erklärung ansetzte. »Ich habe gerade etwas Unschönes über sie gedacht.«
Jacob kam auf mich zu und blieb stehen, als ich ihn mit Rainas Gesichtsausdruck ansah. »Du kannst die Munin nicht gerufen haben. Du bist keine von uns.«
Seltsam, aber mir war nicht eingefallen, dass ich als Leopard unfähig sein müsste, die Munin der Wölfe zu rufen. Das mochte erklären, warum außer Raina keiner gekommen war. »Eben meintest du noch, dass mir meine Nekromantie nicht helfen werde, Jacob. Entscheide dich mal: Entweder bin ich nicht genug Lupa, um die Munin zu rufen, oder nicht genug Nekromant, um mir selbst zu helfen.«
Wir - Raina und ich - stolzierten auf den großen halb nackten Mann zu. Raina gefiel er. Raina gefielen die meisten Männer. Besonders die, mit denen sie noch keinen Sex gehabt hatte, und innerhalb des Rudels war die Liste kurz. Aber Jacob und zwanzig andere waren neu. Sie blickte über die Versammelten und ging die neuen Gesichter durch. Bei Paris blieb sie kurz hängen; sie mochte sie auch nicht. Wenn man zu viele Alphazicken im Rudel hat, fangen sie an, sich zu bekriegen.
Ich spürte etwas bei Raina, was mir an ihr völlig neu war: Vorsicht. Es gefiel ihr nicht, wie viele Neue Richard in der kurzen Zeit aufgenommen hatte. Das machte ihr Sorgen. Mir wurde zum ersten Mal klar, dass Marcus sie nicht nur aus Liebe als Lupa ertragen hatte. Sie war mächtig, aber nicht nur. Auf ihre eigene verkorkste Art hing sie an dem Rudel, und in einer Sache waren wir uns vollkommen einig: Richard war achtlos damit umgegangen. Doch wir meinten beide, das wieder hinkriegen zu können. Fast beängstigend, wie weit die böse Hexe des Westens und ich übereinstimmten. Entweder war ich inzwischen verdorben, oder Raina war nicht so verdorben gewesen, wie ich immer geglaubt hatte. Ich konnte mich nicht entscheiden, welcher Gedanke mich mehr beunruhigte.
Natürlich fand sie, wir sollten Richard davon überzeugen, uns zu erlauben, ein paar ausgewählte Leute umzubringen. Und ich hoffte natürlich, dass sich eine etwas vernünftigere Lösung finden ließe. Raina hielt mich für dumm, und ich war mir nicht sicher, ob ich ihr nicht zustimmte. Es wurde immer beängstigender.
»Anita«, sagte Richard wieder und ein wenig zögerlich, als wüsste er nicht so genau, wen er vor sich hatte.
Ich drehte den Kopf und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Das war Rainas Geste, und ich sah, wie sie nicht nur Richard, sondern auch Sylvie und Jamil nervös machte. Nein, erschreckte.
Ich konnte ihre Angst riechen. Rainas Lachen perlte aus meinem Mund, weil ihr das gefiel. Mir nicht. Mir war nie wohl dabei, wenn meine Freunde vor mir Angst hatten. Meine Gegner, ja, aber nicht meine Freunde.
»Ich bin hier, Richard, ich bin hier.«
Er starrte mich an. »Beim letzten Mal, als du Raina gerufen hast und sie in dir war, warst du nicht mehr imstande, wie du selbst zu denken.«
»Ich habe dich nicht all die Monate links liegen lassen, nur weil es mir Angst gemacht hat, wie nah wir drei uns waren. Ich bin gegangen, um mit mir selber klarzukommen, und dabei habe ich auch gelernt, die Munin in Schach zu halten.«
»Mich in Schach halten? Du träumst wohl«, sagte Raina, aber nicht laut, sondern nur in meinem Kopf. Es hatte lange gedauert, bis ich begriff, dass nur manches laut aus mir herauskam. Das war verwirrend, aber man gewöhnte sich daran.
Ich sagte laut, was ich in meiner Vision gesehen hatte. »Ich habe Gregory in einem Loch liegen sehen, nackt, gefesselt, auf einer Schicht Knochen. Wo ist das?«
Raina zeigte mir Bilder. Es war ein Schnelldurchlauf, aber mit Emotionen, die mich mit voller Wucht trafen. Ich sah einen verschraubten Metalldeckel mit einer geringen Luftzufuhr, der auch ein bisschen Licht hereinließ, wenn die Sonne hoch genug stand. Es gab eine Strickleiter, die ins Dunkle hinabgelassen und wieder hochgezogen werden konnte. Ich war Raina und kniete auf der Schicht Knochen, neben meinem Knie lag ein Menschenschädel. Ich hatte eine Spritze und injizierte ihren Inhalt einem dunkelhaarigen Mann, der genauso gefesselt war, wie ich es bei Gregory gesehen hatte: mit den Handgelenken an den Fußknöcheln. Außerdem hatte er die Augen verbunden und einen Knebel im Mund. Als die Nadel eindrang, wimmerte er und fing an zu weinen. Die Injektion sollte seinen Gestaltwechsel verhindern.
Ich drehte ihn auf die Seite und sah, dass sich ein Knochensplitter in seine nackten Genitalien gebohrt hatte. Ich beugte mich dem Geruch von frischem Blut, lebendigem Fleisch entgegen und nahm auch den absolut berauschenden Geruch der Angst auf, den der Mann verströmte. Er war kein Mensch, sondern ein Werwolf. Ich stieg hektisch aus der Erinnerung auf, als Raina die Lippen über der blutenden Stelle schloss. Ich stieß das Bild von mir, roch aber noch immer die Angst und den drogengetränkten Schweiß auf seiner Haut und die Seife, mit der Raina ihn täglich wusch, bevor sie ihn missbrauchte. Ich wusste, dass sein Name Todd gewesen war, und er hatte für Geld mit einem Journalisten über die Lukoi gesprochen und ihm geholfen, bei Vollmond eine Deckung mit einer Kamera zu errichten. Vielleicht hatte Todd es verdient zu sterben, aber nicht so. Niemand verdiente es, so zu sterben.
Als ich zu mir kam, lag ich vor dem Thron. Meine Tränen trockneten bereits. Jamil und Shang-Da standen zwischen mir und meinen Verbündeten, die mir hatten helfen wollen. Claudia und Igor hatten sich vor ihnen aufgebaut, und Rafael hielt Micah am Arm fest und versuchte ihm auszureden, sich zu mir durchzukämpfen. Merle und Noah stellten sich zu Claudia und Igor. Das Ganze würde gleich mächtig schiefgehen.
Ich stützte mich auf die Arme, und das brachte alle zum Innehalten. »Alles in Ordnung, alles in Ordnung.« Das kam heiser, aber mit meiner eigenen Stimme.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir glaubten, aber die Anspannung legte sich sofort. Gut. Ich hatte schon genug zu bewältigen, auch ohne eine Massenschlägerei.
Ich blickte zu Richard hoch und empfand nichts als Wut. »Ist das die Art, wie ihr Gregory töten wollt? Indem ihr ihn in der Oubliette liegen lasst, bis er verfault?« Ich fragte das sehr sanft, denn wenn ich jetzt die Beherrschung verlor, war fraglich, ob ich mich in anderer Hinsicht noch würde zurückhalten können. Ich kannte Raina. Sie war nicht weg. Sie wollte vorher noch ihre »Belohnung«. Sie hatte ihre Hilfe gewährt. Ich wusste jetzt, wo Gregory war. Ich wusste sogar, wie ich hinkäme. Sie hatte sich ihre Belohnung verdient. Ich wagte es nicht, die Selbstkontrolle aufzugeben, solange sie wie ein Hai unter der Wasseroberfläche lauerte.
»Ich habe ihnen befohlen, Gregory an einen Platz zu schaffen, wo er von mir weit weg ist. Ich habe nicht befohlen, ihn in dieses Loch zu legen.«
Ganz langsam stand ich auf, hielt jede meiner Bewegungen im Zaum. Meine Muskeln waren steif vor Wut und dem Drang, ihn zu schlagen. »Aber du hast ihn dort gelassen. Wer ist reingeklettert und hat ihn gespritzt, damit er sich nicht verwandelt? Raina kann die Drecksarbeit nicht mehr für dich übernehmen. Wer ist es? Wer hat es gemacht?« Ich brüllte ihm die Frage ins Gesicht, und darauf hatte Raina nur gewartet. Sie ergriff von mir Besitz, und der letzte Rest Beherrschung, ging zum Teufel, weil ich Richard verletzen wollte. Es sollte ihm wehtun.
Ich schlug zu, mit der Faust, ging mit dem ganzen Körper mit und drehte zuletzt die Hand, legte die volle Wucht hinein. Ich tat, was man mir beim Kampfsport für den Ernstfall beigebracht hatte. Ich zielte nicht auf Richards Gesicht, sondern auf eine Stelle, die fünf Zentimeter dahinter lag; das war das richtige Ziel.
Bevor Jamil und Shang-Da reagieren konnten, stand ich wieder in Abwehrstellung da. Aber sie bewegten sich auf mich zu und andere ebenfalls, wie ich spürte. Genau das, was nicht passieren sollte, und ich hatte es losgetreten. In meinem Kopf hörte ich Raina lachen; sie lachte uns alle aus.
Richard beugte sich über die Armlehne, die Haare hingen ihm ins Gesicht, als Sylvie mich packte. Ich wehrte mich nicht. Ihre Finger bohrten sich in meine Arme, und ich dachte: Morgen früh habe ich blaue Flecken. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wären die Blutergüsse bis dahin geheilt. Jacob beobachtete die Szene überrascht und zufrieden.
Ich warf einen Blick hinter mich. Die Leibwächter kämpften. Die Leoparden und Ratten fächerten aus, die Wölfe begannen sie einzukreisen. Gerade als ich den Mund aufmachte, um etwas zu schreien, donnerte Richards Stimme über die Lichtung.
»Es reicht!« Alle erstarrten und wandten ihm ihre bestürzten Gesichter zu. Mit blutbespritzter Brust stand er vor seinem Thron. Die eine Mundhälfte war roter Brei. So etwas hatte ich bisher noch nie geschafft.
Er spuckte Blut aus und sagte: »Mir ist nichts passiert. Einige von euch waren schon mal in der Oubliette. Ihr erinnert euch daran, wie es war, als Raina noch lebte. Könnt ihr es der Nimir-Ra übel nehmen, dass sie mich hasst, weil ihr Leopard da unten liegt?«
Die Anspannung legte sich spürbar, als die Wölfe sich zurückzogen. Jamil und Shang-Da brauchten erst einen Befehl von Richard, um Abstand zu nehmen, und sie und Claudia und Igor rempelten sich an wie Schläger, die noch nicht richtig geklärt haben, wer der Stärkere ist. Mir war bis dahin nicht aufgefallen, dass Claudia fünfzehn Zentimeter größer war als Jamil. Er musste zu ihr hochgucken, um ihr einen drohenden Blick zuzuwerfen.
Sylvie flüsterte an meinem Ohr: »Alles in Ordnung mit dir?«
Ich sah zu Richard. Er blutete noch. »Ja, ist mir nur echt peinlich.«
Sie ließ mich los, aber zögerlich, als könnte es vielleicht noch zu früh dazu sein. Sie blieb abwartend zwischen mir und Richard stehen, bis er sie von mir wegwinkte.
Dann stand er vor mir, und wir blickten uns an. Ihm tropfte das Blut von den Lippen. »Du hast einen ganz schönen Schlag drauf«, meinte er.
Ich nickte. »Was hätte er angerichtet, wenn du noch ein Mensch wärst?«
»Mir den Kiefer gebrochen, vielleicht sogar das Genick.«
»Das wollte ich nicht.«
»Dein Nimir-Raj wird dir beibringen müssen, deine Kraft zu dosieren. Du könntest eine Weile den Kampfsportunterricht sein lassen, bis du deinen Körper besser kennst.«
»Gute Idee.«
Er fasste sich an die Lippen und holte sich blutige Finger. Ich spürte den Drang, seine Hand zu nehmen und das Blut abzulecken. Ich wollte an ihm hochklettern, meinen Mund auf seinen drücken und ihn in mich aufsaugen. Das Bild war so lebhaft, dass ich die Augen schließen musste, damit ich ihn nicht mehr halb nackt und blutbesudelt vor mir stehen sah - als ob das an meiner Lust auf ihn was ändern würde. Tat es nicht. Ich roch seine Haut, seinen Körpergeruch und das frische Blut, das wie der Zuckerguss auf einem Kuchen war, den ich nicht essen durfte.
»Geh deinen Leoparden holen, Anita.«
Ich machte die Augen auf und sah ihn an. »Die Oubliette gehörte zu den Dingen, gegen die du unter Marcus gekämpft hast. Damals warst du der Meinung, dass sie unmenschlich ist. Ich verstehe nicht, wie du sie jetzt benutzen kannst.«
»Er lag schon fast einen Tag lang drin, ehe ich fragte, wohin sie ihn gebracht hatten. Das war mein Fehler.«
»Aber wessen Idee war es, ihn da reinzustecken?«, fragte ich.
Richard schaute zu Jacob. Das reichte mir als Antwort.
Ich ging zu dem großen Mann. »Du hast mich nicht angerufen, Jacob.«
»Du hast deinen Leoparden zurück. Also welche Rolle spielt das noch?«
»Wenn du je wieder einen meiner Leute anfasst, werde ich dich töten.«
»Du willst deine Kätzchen gegen unser Rudel antreten lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Jacob, das ist eine persönliche Sache zwischen mir und dir. Ich kenne die Regeln. Ich mache das zu einer persönlichen Herausforderung, und das heißt, dass dir keiner beistehen darf.«
»Dir auch nicht«, sagte er. Er guckte auf mich runter und wollte mich mit seiner Größe einschüchtern. Das klappte nicht. Ich war schon mein Leben lang klein. Ich blickte ihn gleichgültig an, bis sein höhnisches Grinsen schwächelte und er einen Schritt zurückwich, was ihn ziemlich ärgerte. Doch er machte ihn nicht rückgängig. In einem fairen Zweikampf könnte er Richard vielleicht besiegen, aber ein echter Ulfric wäre er nie.
Ich schloss wieder zu ihm auf und stand so nahe, dass jede gute Beleidigung zum Kontakt geführt hätte. »Du strahlst eine gewisse Schwäche aus, Jacob. Ich kann es riechen, und die anderen auch. Du kannst Richard herausfordern und vielleicht siegen, aber das Rudel wird dich nie als Ulfric akzeptieren. Dein Sieg würde es spalten. Das hieße Bürgerkrieg.«
In seinen Augen blitzte etwas auf.
»Das macht dir keine Angst. Es ist dir egal«, stellte ich fest.
Er trat noch einen Schritt zurück und wandte das Gesicht ab. »Du hast den Ulfric gehört. Geh deine Katze holen, bevor wir die Strategie wechseln.«
»Du kannst gar nichts wechseln, nicht mal mit einer Hundert-Watt-Birne und einem Team von Helfern.«
Er guckte mich stirnrunzelnd an. Mein Humor ist manchmal ein bisschen undurchsichtig oder vielleicht auch gar nicht komisch. Jacob jedenfalls fand es nicht lustig.
»Geh mit ihr, Sylvie. Sorg dafür, dass sie alles Nötige bekommt, um ihn rauszuholen und sicher zum Auto zu bringen«, sagte Richard.
»Willst du wirklich, dass ich gehe?«, fragte sie.
»Wir bleiben bei ihm«, sagte Jamil, und beide sahen unverhohlen zu Jacob. Sie trauten ihm nicht nur nicht, es war ihnen auch egal, wenn er das merkte. Wie hatte es so weit kommen können? Was war im Rudel vorgegangen, das mir noch keiner erzählt hatte? Den Gesichtern nach zu urteilen eine ganze Menge.
»Sie kann erst nach der Zeremonie nach Hause fahren, wenn ihre Bindung an das Rudel zertrennt wurde«, sagte Jacob.
»Sie fährt nach Hause, wenn ich es sage«, erwiderte Richard leise und hatte diesen tiefen Beiklang, den er immer bekam, bevor sich ein unmenschliches Knurren in seine Stimme schlich.