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Frank Schäfer

Notes on a Dirty Old Man

Charles Bukowski von A bis Z

Zweitausendeins

Deutsche Erstausgabe.
1. Auflage 2020.
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 2020 by Frank Schäfer.
Die Titelfotografie stammt von Michael Montfort.
Copyright © Michael Montfort.
Alle Rechte für die deutsche Ausgabe
Copyright © Zweitausendeins GmbH & Co. KG,
Karl-Tauchnitz-Str. 6, 04107 Leipzig.
ISBN 978-3-96318-082-8

Inhaltsverzeichnis

Der Lackmustest oder Fast ein Vorwort

Ablehnungsbescheid

Achtes Stockwerk

Apostrophes

Beat Generation

Briefe

Chemie

Déformation professionnelle

Dichterlesungen

Einfachheit

Erektionen

Faktotum

Fauser

Geklapper

Gesicht

Gott

Homos

Hyäne

Integrität

Interview

Jugend

Klassikersarg

Ledertasche

Liebe

Literaturkritik

Markthalle

Maro

Mutter

Nazi

Nichtficker

Notes of a Dirty Old Man

Open City

Poetik

Politik

Pulp

Quertreiber

Rassismus

Rolling Stones

Spätwerk

Stipendien

Tagebuch

Tod

Trivialautor

Underground

Vater

Verschlimmbesserungen

Watts Riots

Weissner

XYZ

Literaturverzeichnis

Der Lackmustest oder Fast ein Vorwort

Ich war mit einer Fünf in Englisch in die achte Klasse versetzt worden, später belegte ich einen Leistungskurs in diesem Fach. Menschen verändern sich, und in den Jahren zwischen vierzehn und achtzehn vermutlich jeden Monat zweimal. Das neue Schuljahr begann, August 1981, und am schwarzen Brett hing neben dem Zettel mit den Ausfällen eine Aufforderung an alle interessierten Schüler, sich nach der sechsten Stunde im Raum soundso zur ersten Redaktionssitzung der Schülerzeitung zu treffen. Dieses gerade erst gegründete, dem humanistischen Geist verpflichtete Humboldt-Gymnasium wollte vielleicht etwas für seine Außenwirkung tun, oder auch nur den Korpsgeist stärken, die Schülerschaft an die Einrichtung binden. Irgendetwas ist es ja immer. Der Raum war zur Hälfte mit Oberstuflern gefüllt, achtzehn-, neunzehn-, zwanzigjährigen Männern und vor allem Frauen, die mich allein durch ihre geballte Präsenz daran erinnerten, dass ich noch ein Kind war. Es war peinlich. Ich drehte sofort wieder um und tat so, als hätte ich mich in der Tür geirrt. Eine blondgelockte, geschminkte Schönheit mit großen Augen und gelbem Marco-Polo-Shirt stand vor dem Raum und empfing den Lehrer, der das Blatt in die Gänge bringen sollte, natürlich ohne Einfluss zu nehmen auf den Inhalt.

»Herr Dr. Müller«, flötete sie erfreut, »Sie wollen uns also ein wenig unter ihre Fittiche nehmen?«

»Na ja, ich werde es jedenfalls versuchen.« Der kleine Mann im Anzug lächelte. Auch er hatte Angst vor diesen jungen Frauen, das sah ich.

Ein paar Wochen später hingen Plakate in der Pausenhalle, die in großen Lettern die erste Nummer ankündigten. Ich war – trotz allem – neugierig, allein es kam nie zur Veröffentlichung. Der Rektor hatte sich ein Vorabexemplar ausbedungen und die ganze Auflage kurzerhand einstampfen lassen. So ein Schmutz werde an seiner Schule nicht verkauft. Auf eine Diskussion ließ er sich gar nicht erst ein. Das jedenfalls verbreiteten die empörten Redaktionsmitglieder. Das Verbot stiftete eine stärkere Solidarisierung der Schülerschaft, als es das Erscheinen des zusammengeschnippelten, -geklebten und dann in einer Hunderterauflage hektographierten Little Mags je hätte erreichen können.

Wir löcherten unseren Klassenlehrer, einen jungen, halbwegs coolen Alternativen mit Schimanski-Jacke und langem Zottelhaar. »Weil noch ein kleines Kästchen frei gewesen ist, haben die da ein Gedicht von Bukowski eingerückt«, wusste er. Ich meine mich zu erinnern, dass er seinen Vornamen nicht nennen musste, Bukowski war längst eingeführt, eine Marke. Ich kannte damals mindestens Faktotum, Pittsburgh, Phil & Co. und Der Mann mit der Ledertasche, aber seine Lyrik noch nicht.

»Was denn für ein Gedicht?«, fragten wir. Er wusste es nicht, aber die Redaktion verteilte unter der Hand bereits Kopien der Gedichte, die einer schrieb, bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang.

Die alten Filme

… waren die besten. Die von der Fremdenlegion,
wo sich jeder ne Fickliese hielt, und die Araber kamen
angeritten auf ihren weißen Paradehengsten, und der
Sergeant hielt das Fort, indem er die Toten wieder
an die Schießscharten stellte bis Verstärkung kam.
Und die von den Jungs, die in ihren Doppeldeckern rumflogen,
die reinsten Drahtverhaue, und irgendwo gabs immer eine
platinblonde Schönheit, die ein Symbol für
ALLES zu sein schien. Vielleicht liegt es daran, daß ich
damals noch ein Kind war; oder es ist eben einfach nicht mehr
das gleiche: all die trickreichen Einstellungen, die
ängstlichen Patrioten, die zickigen Luftschutzwarte, ein
Fick für ne Packung Zigaretten, und selbst der Feind
schien mitzuspielen. Oder der, wo sie in einem Granat-
trichter diese japanische Krankenschwester fanden,
die einen Splitter in der Brust hatte und eine Dosis
Sulfonamid wollte, und einer von den Jungs sagte, »Hey, was
meint ihr – ob wir die noch ficken können, bevor sie uns
abkratzt?«

Das Gedicht ist nicht nur anspielungsreich – wer hat alle Filme erkannt, die Bukowski hier berührt? Ich nicht! –, sondern auch interpretationsbedürftig. Ist das Ende wirklich so eindimensional sexistisch? Und wenn ja, könnte man es dann nicht auch als eine Art Selbstentlarvung lesen: Der alte Mann schüttelt den Kopf über den jungen?

Oder würdigt die barbarische Pointe, wenn man sich eine solche Dialogzeile in einem Film aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren überhaupt vorstellen kann, nicht vielleicht sogar die Wahrhaftigkeit des frühen Antikriegsfilms, der den Krieg eben nicht verklärt, sondern so realistisch inhuman darstellt, wie er nun mal ist?

Die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten sprechen für das literarische Potenzial des Gedichts, spielten jedoch für das Verbot des kleinen Schülerblatts keine Rolle. Es ging allein um den verbalen Dreifachfick. Der Schulleiter des noch jungen humanistischen Gymnasiums wollte nicht als williger Helfer des Sittenverfalls in Verruf geraten und zog deshalb die Notbremse.

Bei der nächsten Gelegenheit zeigten wir unserem Klassenlehrer die Kopie des Gedichts und fragten, ob das nicht doch mehr sei als Schmutz. Nämlich Literatur.

»Natürlich«, sagte er achselzuckend. Gegen das Verbot wollte er dennoch nichts unternehmen, nicht einmal zu einer Bewertung dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit ließ er sich verleiten. Immerhin, wir hatten etwas gelernt und merkten es uns gut. Bukowski war der Lackmustest, der die wahre Gesinnung zum Vorschein brachte, der den autoritären Biedermann verriet.

A

Ablehnungsbescheid

Anfang der Vierzigerjahre treibt sich Bukowski eine Weile in Miami herum und arbeitet als Packer in einem Damenbekleidungsgeschäft. Er sehnt sich nach einer Freundin, ist aber immer noch zu schüchtern, eine Frau auch nur anzusprechen. Um seinen Frust zu kompensieren, säuft er, was reingeht, und tippt Storys, die voll sind von edlen Prostituierten, Kotzereien am Morgen danach und Selbstmordelogen. Er schickt sie an den »Atlantic Monthly«, weil er nicht weiß, wohin sonst. Er kennt sich nicht aus im Literaturbetrieb. Wie jeder junge Autor ohne einen einflussreichen Verwandten oder Mentor sammelt er Ablehnungen. Aber Bukowski ist hartnäckig, er probiert es weiter. Irgendwann gerät er an Whit Burnett und sein Literaturmagazin »Story«. Burnett hat William Saroyan entdeckt, heißt es, dessen Erzählung »The Daring Young Man on the Flying Trapeze« Bukowski beeindruckt. Burnett winkt ebenfalls ab, erkennt aber etwas in diesem jungen, wilden, ordentlich Dreck aufwühlenden Autor. »Whit Burnett war alles andere als ein Ignorant«, schreibt Bukowski sehr viel später. »Nachdem er meine Stories gelesen hatte, schickte er häufig eine eigenhändig getippte Notiz: Diese hier hätten wir fast genommen. Schicken Sie bitte mehr… Jede getippte Ablehnung war wie ein kleines Wunder für mich. Ich denke, ich habe nur wegen dieser getippten Ablehnungen weitergeschrieben.«

Schließlich bringt er eine Geschichte unter und kassiert dafür sagenhafte fünfundzwanzig Dollar. Damals sind die allerdings gut das Vierzehnfache wert. »Ein Ablehnungsbescheid und seine Folgen« (»Aftermath of a Lengthy Rejection Slip«) ist eine Bad-Luck-Story vom erfolglosen Schriftsteller Bukowski, den ein aufmunternder Absagebrief von Whit Burnett zum Träumen bringt. Es klingelt, der Erzähler wähnt den Herausgeber an der Tür. Welch Glanz in seiner Hütte! Er zeigt sich von seiner besten Seite, tischt Wein auf, sogar seine Freundin Millie bezirzt den wichtigen Mann, bis sich schließlich herausstellt, was man als Leser schon früh vermutet, dass es sich bei dem Besucher doch nur um einen Versicherungsvertreter handelt.

Der Story fehlt die Schärfe und raue Unbedingtheit seiner späteren Arbeiten, sie wirkt fast ein bisschen neckisch. Bukowski ist noch nicht warm. Dass Burnett ausgerechnet diesen kleinen Joke annimmt, liegt wohl daran, dass er selbst darin eine Rolle spielt – und dass er sich mit dem vorteilhaften Porträt seiner selbst durchaus anfreunden kann.

Bei Bukowski aber überwiegt der Stolz auf die erste richtige Publikation. Im Frühjahr 1944 zieht er nach New York, der Verlags- und Pressestadt, nimmt einen Job als Lagerarbeiter in Manhattan an, der Durchbruch scheint nur noch eine Frage der Zeit. In einem Kiosk in Greenwich Village kauft er die März/April-Ausgabe von »Story«, sieht seinen Namen auf dem Frontcover, blättert und ist tief enttäuscht. Burnett hat seine Geschichte nicht im Hauptteil platziert, sondern auf die »End Pages« verbannt, also dort, wo die Rezensionen und Lebensläufe stehen. Der junge Schriftsteller fühlt sich gedemütigt.

Ohnehin wird er nicht warm mit New York. Durchaus im Wortsinn – er friert in seinen Westcoast-Klamotten. Außerdem zockt ihn sein Vermieter ab, die Hochbahn führt an seinem Fenster vorbei und noch dazu die vielen Menschen. Die Enttäuschung verbindet sich mit einem Gefühl der Fremdheit, die sich zu einem echten Horror auswächst. »Ich hörte ein Rattern und Dröhnen«, wird er später in seinem Roman Faktotum schreiben. »Draußen, auf gleicher Höhe mit meinem Fenster, war eine Haltestelle der Hochbahn. Ein Zug hatte gerade gehalten. Ich sah in eine Reihe von New Yorker Gesichtern, die zu mir hereinstarrten. Der Zug stand noch eine Weile, dann fuhr er weiter. Es war wieder dunkel. Dann wurde es wieder hell im Zimmer. Wieder der Blick in diese Gesichter. Es war wie eine immer wiederkehrende Vision der Hölle. Jede neue Wagenladung Gesichter war häßlicher, wahnsinniger und grausiger als die vorherige… Es nahm kein Ende: Dunkelheit, dann Licht; Licht, dann Dunkelheit. Ich trank die Flasche leer, ging weg und holte mir noch eine. Ich kam zurück, zog mich aus und stieg wieder ins Bett. Wieder die Gesichter, die anrollten und verschwanden. Ich hatte das Gefühl, daß ich an Wahnvorstellungen litt: ich wurde heimgesucht von Teufelshorden, die nicht einmal der Teufel persönlich ertragen hätte.«

Bukowski dramatisiert wohl, gesichert ist aber, dass er bald wieder aus New York verschwindet. Er will sich lieber in einer ruhigen kleinen Stadt mit netten Menschen niederlassen und zieht nach Philadelphia, der City of Brotherly Love.

Dort wandert er direkt ins Gefängnis. Das FBI wirft ihm vor, er wolle sich vor der Einziehung zum Militär drücken. Bukowski kann das aufklären und kehrt erst mal für eine Weile nach L.A. zurück. Er zieht ins Elternhaus, um sich im Jahr darauf schon wieder nach Philadelphia davon zu machen. 1947 sind seine Jahre on the road vorbei und er lässt sich endgültig in Los Angeles nieder.

Die Publikation in Burnetts »Story«-Magazin wird Bukowski später in keinem Lebenslauf unerwähnt lassen und stets als frühen Coup verkaufen. Aber damals fühlt es sich für ihn wie eine Niederlage an. Auf jeden Fall raubt sie ihm jegliche Illusionen. Er hört nicht auf zu schreiben, er publiziert die eine oder andere Geschichte, und auch schon Gedichte, in kleineren Magazinen wie »Quixote«, »Portfolio«, »Matrix«, »Write« und später in »Harlequin«, der Zeitschrift seiner ersten Frau Barbara Frye, aber seine Schreibwut brennt für ein gutes Jahrzehnt auf kleinerer Flamme. Die Welt der Literatur hat nicht auf ihn gewartet. Um einen Profischreiber aus ihm zu machen, braucht es Geduld, das weiß er nun.

Ende der Fünfzigerjahre allerdings kehrt seine manische Energie zurück. Er pumpt Gedichte raus, als ginge es um sein Leben, und vermutlich geht es tatsächlich darum. Sein Schreiben besitzt auf einmal eine Erfahrungssättigung und existentielle Grundierung, die ohne die Jahre auf der Straße und in den Bars nicht zu haben gewesen wären. Und das wird sofort bemerkt. Bukowski bekommt sein Zeug jetzt problemlos in kleinen Magazinen unter, unter anderem in »Nomad«, »Coastlines«, »Quicksilver«, »Epos«, »Gallows«, »The Galley Sail Review« oder »The Outsider«. E. V. Griffith, der Herausgeber der Zeitschrift »Hearse«, druckt Lyrikflugblätter von ihm und 1960 endlich auch die erste eigene Publikation, Flower, Fist and Bestial Wail.

Es ist eine schwere Geburt für eine bloß vierzehnseitige Broschüre, die Bukowski auch noch mit einem Druckkostenzuschuss unterstützen muss, damit sie endlich erscheinen kann. Am Ende droht er Griffith sogar, der Literaturwelt »diesen notorischen und unmöglichen Chapbook-Alptraum in voller Länge« zu schildern. »Ich will nicht, daß schlampige, amateurhafte Verlegertätigkeit und eine absolut kaltschnäuzige Unfähigkeit unbeanstandet bleiben.« Aber nur eine Woche später ist der Ärger verflogen. »Heute morgen bin ich mit der Benachrichtigung, die gestern in meinem Briefkasten lag, zum Postamt gefahren«, schreibt er Griffith am 14. Oktober 1960, »und – juhuu! – da war es: Ein Stapel ›Hearse‹-Chapbooks von einem gewissen Charles Bukowski. Ich habe das Paket gleich draußen auf der Straße aufgemacht, und in den Strahlen der Sonne – da, wer sagt’s denn: ›Flower, Fist and Bestial Wail‹. Nie wurde ein Baby unter größeren Schmerzen geboren, aber der tüchtige Doktor Griffith hat es durchgebracht – ein bildschönes Baby! Der erste Gedichtband eines Mannes von 40, der spät damit angefangen hat.«

Jetzt geht es erst richtig los.

Achtes Stockwerk

Bukowskis Gedichte seien »etwas anderes als das, was man sich im Allgemeinen so darunter vorstellt«, konstatiert Carl Weissner im Vorwort zu Gedichte, die einer schrieb, bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang. »Was er schreibt, ist eine Autobiographie in Fortsetzungen, in täglichen Raten – Stories eines Mannes, der weiß, daß er auf der Kippe steht; jeder Satz kann sein letzter sein, aber der Ton bleibt cool, gelassen, konzentriert; beinahe ereignislose Stories, die mancher für nicht berichtenswert halten würde; entnervende Stories, die mancher andere lieber verdrängen würde (was offenbar allzu vielen auch gelingt): alltägliche Stories vom Leben in einer Stadt, die er einmal ›die größte bewohnte Ruinenlandschaft der Welt‹ genannt hat.«

Das trifft auf die Gedichte zu, die Bukowski in der Folge schreiben wird, sicher noch mehr, als auf diese erste deutsche Sammlung. Denn die enthält keineswegs nur Stenogramme des zermürbenden Alltags eines vom urbanen Leben überforderten L.A.-Plebejers, sondern mindestens genauso viele Texte, die sich wie eingedampfte Szenen aus Pulp-Heften und B-Movies lesen, aus Krimis, Pornos, Gefängnis-, Kriegs- und Endzeitfilmen – und nicht zuletzt aus Polizeiberichten in der »L.A. Times«. Wie in allen späteren Gedichtsammlungen stellt Weissner hier aus mehreren Originalveröffentlichungen eine Auswahl zusammen – aus dem titelgebenden Heft Poems Written before Jumping Out of an 8 Story Window (1968) und zwei Büchern bei der Black Sparrow Press, At Terror Street and Agony Way (1968) und The Days Run Away Like Wild Horses over the Hills (1969). Weissners Kompilation ist folglich eine Art kursorischer Überblick über Bukowskis erste Schaffensphase als Lyriker, in der er noch in viel stärkerem Maße seine Fantasie spielen lässt und dann auch sprachlich viel mehr Aufwand betreiben muss, um seine Imagination zu beglaubigen. Obwohl Weissner hier schon eine Auswahl getroffen hat, die das von ihm profilierte Image des »Dirty Old Man« aus Los Angeles untermauern soll, geht Bukowski in vielen dieser Gedichte noch deutlich expressiver zur Sache. Die unterkühlte Lakonie, die mit seinen Alltagsbeobachtungen gut harmoniert, ist hier zwar schon da, wird jedoch immer wieder konterkariert von surrealen Bildern, von morbiden Fieberträumen und Alptraumszenarien. »Der Leichenwagen kommt durchs Zimmer/mit den Geköpften, den Verschollenen, den wahnsinnig/gewordenen Lebenden./Die Schmeißfliegen sind klebrige Klumpen,/kriegen die Flügel nicht mehr/hoch«, heißt es im letzten Gedicht »Finish«, einem apokalyptischen Wimmelbild in Umbruchprosa. »Ich sehe einen Jungen auf seinem/Fahrrad,/die Speichen knicken/die Räder werden zu Schlangen/und lösen sich auf./Die Zeitung ist heiß wie eine/Herdplatte./Männer morden einander in den Straßen/ohne recht zu wissen warum.«

So richtig suggestiv ist das nicht, und auch nicht ganz metaphernsicher. Man merkt außerdem auf ungute Weise die Prätention. So auch im »Gedicht für die Zukunft«: »Ich werde eine tote Frau im Bett haben, eine absolut/tote Frau, ich werde ihr um 7 Drinks voraus sein, mein/Schlips wird am Boden liegen, eine Kuckucksuhr wird/an der Wand hängen, und ich werde ihr in die Augen sehen,/Augen wie alte verschimmelte Pfirsichkerne, während sich/die Finger meines Mörders um meine verlogene Kehle schließen.//Ich werde aus Zeitungspapier einen roten Fisch falten, einen/Plan für einen Raubüberfall, Fingerabdrücke auf einem/Gewehrkolben, und sie/wird sagen, Oh ich schwärme einfach für Vivaldi!//Ich werde zuhören wie ihr wächsernes Turbinenherz pumpt,/und wie sie sich den Speichel von den Lippen leckt.«

Er will hier eben nicht bloß Klartext reden, wie er in seinen Briefen an Weissner stets behauptet, sondern Literatur machen. Solche phantasmagorischen Nebelbänke muss Bukowski erst mal durchschreiten. Vielleicht vertraut er anfangs seinem Gespür für die kleinen Sensationen noch nicht so recht, vielleicht ist er sich einfach auch nicht sicher, ob er mit schmuddeligen Profanitäten allein durchkommt. Aber schließlich ist es genau das, was seine Leser von ihm wollen. Erst als er sich darauf konzentriert, das zu beschreiben, was er erlebt und gesehen hat, und zwar in einer angemessen entschlackten, rhetorisch unpreziösen Gebrauchsprosa, die sich an die gesprochene Sprache anlehnt, erst dann findet Bukowski ganz zu sich selbst.

Es sind diese schlichten, prosaischen, dabei ungemein eingängigen Bruchstücke aus seiner US-Wirklichkeit, die ihm von nun an ein großes Publikum sichern, zum Beispiel das wunderbare Gedicht »Ein Genie«: »Heute hab ich im Zug einen/genialen Jungen/kennengelernt./Er war ungefähr 6 Jahre alt,/saß direkt neben mir,/und als der Zug an der Küste/entlangfuhr/sah man das Meer/und wir schauten beide aus dem/Fenster/und sahen das Meer an/und dann drehte er sich/zu mir um/und sagte,/›Das is nich schön.‹//Da ging mir das zum/ersten Mal/auf.«

Mit der Qualität der Gedichte allein lässt sich der gewaltige Verkaufserfolg dieses Bandes wohl kaum erklären. Das rezeptionsleitende, die »Dirty Old Man«-Figur einprägsam und plastisch zeichnende Vorwort von Carl Weissner und nicht zuletzt die Fotos, Briefe und Zeichnungen im Anhang, die Weissners Porträt beglaubigen, haben maßgeblichen Anteil. Die Gedichte sind das eine, die Faszination für den Dichter selbst das andere. Und dass dieser Rebell, der auf alle Autoritäten und bürgerlichen Normen zu scheißen scheint, dass dieser auf eine höchst attraktive Weise kaputte Typ auch noch deutsche Wurzeln hat, lädt vielleicht zusätzlich zur Identifikation ein.

So ist es denn auch Helmut Salzingers Lobeshymne in der »Sounds« (9/1974), die auf eine vermeintlich deutsche Tradition der Gedichte hinweist und den Bukowski-Hype hierzulande erst richtig in Gang bringt. »Bukowskis einzige Beziehung zu Deutschland besteht darin, dass er 1920 in Andernach am Rhein geboren wurde, aber das Sprechen lernte er dann schon in Amerika, und Deutsch versteht er nicht. Ich bin sicher, dass er von deutschen Barockdichtern nicht mal die Namen kennt. Dennoch finde ich in diesen Gedichten eine merkwürdige barocke Stimmung dem Leben gegenüber, die sich aus den tausend Bildern des Verfalls nährt, von denen wir umgeben sind. Ungefähr so: der Mensch kein Tier, ein Madensack und Jauchebeutel.« Hier klingt schon zaghaft und mit vielen Einschränkungen an, was die Boulevardpresse in den Siebzigern mit Volldampf versuchen wird: Bukowski als deutschen Dichter zu vereinnahmen.

Apostrophes

Bukowski ist zwar in seiner Sturm-und-Drang-Periode in den 1940er Jahren ziemlich herumgekommen, aber eben nur in den USA. Miami, San Francisco, New Orleans, New York und Philadelphia heißen seine Stationen, das Ausland jedoch verunsichert ihn. Und so bleiben seine beiden Promotrips nach Deutschland und Frankreich 1978 die einzigen Reisen, in denen er die USA verlässt. In seinem Reisebericht Die Ochsentour erzählt er selbstironisch und hübsch süffisant von seiner Hilflosigkeit. Bei den ersten Verständigungsproblemen will er gleich aufgeben, sich am liebsten irgendwo hinlegen und volllaufen lassen, aber schließlich sitzen er und seine Freundin Linda Lee Beighle dann doch immer im richtigen Zug. Ein bisschen ist das auch Theater, aber es zeigt, wie fremd er sich in Europa fühlt, obwohl die Menschen an seiner Seite meistens gut auf ihn aufpassen.

Nach dem Besuch in Deutschland mit der triumphalen Lesung in der Hamburger Markthalle hat er eigentlich genug von der Alten Welt, aber seine französischen Verleger Rodin und Jardin bitten ihn, im Oktober nach Paris zu kommen, um in der quotenträchtigen, von dem bekannten Kritiker Bernard Pivot moderierten Literatursendung »Apostrophes« aufzutreten. Da der Sender die Kosten übernimmt und Linda Lees Mutter zufällig gerade in Nizza weilt – eine gute Gelegenheit, um noch ein paar Tage am Meer dranzuhängen –, nimmt Bukowski das Angebot an.

Seine Verleger haben ihm vor dem Auftritt im Fernsehen ein straffes Interviewpensum auferlegt, das er nur trinkend durchsteht. Ein Journalist im Punk-Outfit fragt ihn nach Heroin, Bukowski muss ihn enttäuschen. Stattdessen trinken sie Bier mit Eiswürfeln und der Punk preist die Segnungen der Umweltverschmutzung. Bukowski amüsiert sich fabelhaft.

Schnell ist es Freitag, die Show naht. Am frühen Abend fahren Rodin, Beighle und Bukowski ins Fernsehstudio von France 2. Er hat sich zwei Flaschen Weißwein ausbedungen für die Sendung. Die erste leert er, als der Maskenbildner vergeblich versucht, sein Gesicht halbwegs für die Sendung herzurichten, die andere vor laufender Kamera. Schon zu Beginn der Talkshow merkt man ihm an, wie schwer er geladen hat. Neben Pivot sitzen vier weitere französische Dichter und Denker in der Runde, darunter Jacques Latrémolière, der »Psycho, der Artaud seine Schockbehandlung verpasst hatte«, wie Bukowski in Die Ochsentour schreibt, sowie die Schriftsteller Marcel Mermoz und Catherine Paysan. Aber Bukowski ist der Star, und so richtet der Moderator die ersten Fragen an ihn.

Man tauscht sich aus über sein Werk, sein Verhältnis zu Henry Miller, über Sexismus, Frauenfeindschaft und Dekadenz, zumal in den USA. Die Diskussion wirkt von Anfang an bemüht. Der Alte kommt mit der Simultanübersetzung nicht klar, ständig nestelt er am Regler seines Kopfhörers herum, er findet keine komfortable Einstellung. Und auch der Dolmetscher, der seine Wortbeiträge über die Studiolautsprecher ins Studio posaunt, irritiert ihn augenscheinlich. Bukowski spricht abgehackt, intonationslos, lethargisch. Die zweite Flasche nimmt ihn merklich mit.

Hinzu kommt eine süffisante, einigermaßen versnobte Gesprächsführung des Moderators, dem sich einige der Diskutanten nur zu gern anschließen. Pivot liest zwei, drei pikante Stellen und dann wird ein bisschen von oben herab und leicht spitzfingerig diskutiert, so als sei das Gelesene für diese Schwerstintellektuellen nicht ganz satisfaktionsfähig. Hier steht eben auch die Grande Nation im kulturellen Wettstreit mit Amerika, den sie natürlich haushoch gewinnen muss…

Bukowski ist viel zu besoffen, um es wirklich zu bringen oder auch nur der Unterhaltung folgen zu können. Er faselt ein bisschen dazwischen, grinst sich eins, stört die anderen und wird von Pivot mehrmals mit Zischlauten ermahnt, einmal gar mit einem energischen »Shut up«. Bukowski scheint zwischendurch an Madame Paysans Rock zu nesteln, ihn ein wenig hochschieben zu wollen. Sie steht demonstrativ auf – »Das geht jetzt aber zu weit!« – und bedeckt züchtig ihre Knie. Angeblich will er sie aufgefordert haben, schreibt er später in Die Ochsentour, »mehr von ihren Beinen zu zeigen«, um sagen zu können, »ob sie eine gute Schriftstellerin sei oder nicht«.

Dennoch ist die Stimmung im Studio gut. Bukowski scheint nicht genervt, eher amüsiert von diesen merkwürdigen »French Frogs«. Aber selbst in seinem Zustand merkt er schließlich, dass die Diskussion an ihm vorbeigeht, vielleicht ist es auch eine Art Selbstschutz – irgendwann nimmt er sich lächelnd den Knopf aus dem Ohr, steht auf und meint, er müsse jetzt gehen. Er springt nicht auf im Zorn, wie es Howard Sounes in Locked in the Arms of a Crazy Life insinuiert, sondern verabschiedet sich wie jemand, der seine Pflicht getan, seinen Besuch abgestattet, aber schließlich auch noch etwas anderes zu tun hat. Pivot reagiert überrascht, aber vermutlich auch erleichtert, dass der unberechenbare Suffkopf ihn nicht weiter behelligt. Er sagt »Ciao« und »Au revoir« und gibt Bukowski mit kaum verhohlener Herablassung die Hand. »Orro! Orro!«, antwortet Bukowski, weil er nicht weiß, wie die französische Abschiedsfloskel geht, oder weil er sich seine Artikulationsfähigkeit weggetrunken hat. Das Studiopublikum rumort, der Stuhlkreis amüsiert sich weidlich, sogar die Dolmetscher können nicht mehr an sich halten, als Bukowski seinem greisen Sitznachbarn – »Don’t worry!« – durch den Weißschopf fährt und nun, sekundiert von Beighle, Rodin und wer sonst noch da ist, reichlich benommen aus dem Studio wankt.

Im Eingangsbereich, so berichtet es später Beighle, trifft er auf Sicherheitspersonal oder sogar Polizisten, fühlt sich von ihnen bedroht und zieht deshalb ein kleines Jagdmesser, das er immer bei sich trägt. Es kommt zu einem kleinen Handgemenge, aber Linda Lee behält die Nerven und kann ihm die Waffe entwinden. Danach verlassen sie eilig, so schnell es in diesem Zustand eben geht, den Sender. Bei Bukowski ist nichts davon hängengeblieben: »Die Lichter wurden heller, ein ziemlich bösartiges Gelb. Mir wurde es unter den Lampen heiß. Das nächste, an das ich mich erinnere, war, daß ich in den Straßen von Paris war mit ihrem überraschenden, gleichmäßigen Rauschen und ihrem Licht überall von den zehntausend Motorradfahrern. Ich wollte noch einige Cancan-Tänzerinnen sehen, aber man brachte mich ins Hotel zurück, nachdem man mir mehr Wein versprochen hatte.«

Der Auftritt sei »punkmäßig« gewesen, meint Sounes, »zu einer Zeit, als Punkmusik und die dazugehörige Attitüde in Europa Mode war«. Punk ist vielleicht etwas anderes, aber immerhin, Bukowskis Performance schlägt Wellen. Als Skandal und Beschmutzung einer Fernsehinstitution bewerten sie die einen, als erwünschte Abwechslung in der alltäglichen Talkshow-Ödnis die anderen. Ein Kritiker von »Le Monde« soll ihn am nächsten Tag beglückwünscht haben. »Es war an der Zeit, daß man mal was Ehrliches im französischen Fernsehen sehen konnte.«

Auch wenn es gewiss schon würdigere Vorstellungen gegeben hat, auch von Bukowski, die Verkaufszahlen seiner Bücher steigen jetzt merklich und auf der anschließenden Reise nach Nizza wird er in den Straßencafés von den Kellnern erkannt und mit einer gewissen Ehrerbietung gegrüßt. Das ist wahre Prominenz.

B

Beat Generation

Die Beats gehen Bukowski schwer auf den Sack. Die Predigten, die vielen Oooommms, er steht nicht mal auf Jazz. Bei denen schleicht sich der hohe Ton durch die Hintertür ein. Ach, du heilige Scheiße.

Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen…

Außer Burroughs. Ein Spinner und Junkie, aber gut.

Trotzdem tritt Bukowski hin und wieder auf mit ihnen. Er ist alt und braucht das Geld.

Und dann kommt diese beschissene Lesung mit Norse, Burroughs und den anderen. Alles freundliche Kerle, außer Burroughs. Der alte Drecksack zeigt ihm die kalte Schulter, schnaubt verächtlich, als Bukowski seinen Kram liest.

»Ich gehe gleich raus mit ihm«, murmelt der. »Den haue ich mit einem Schlag aus den Puschen.«

»Ja«, sagt Norse, »aber dann bist du Tod. Der knallt dich ab.«

Bukowski geht früher.

Seine Tochter sieht auf einmal aus wie Katherine Hepburn.

Briefe

Wer Bukowskis Briefe zum ersten Mal liest, ist erstaunt über ihre Homogenität. Sie unterscheiden sich höchstens in der Länge und sind allesamt durchweht von diesem typischen, scheinbar illiteraten, stinkenden, aber auch warmen, leicht hechelnden Buk-Atem. Und man wundert sich, wie sehr sie den fiktionalen Texten gleichen, wenn er ins Erzählen kommt. Das haben die vielen Herausgeber der Underground-Magazine durchaus ebenso gesehen und einfach die Episteln weggedruckt, wenn Bukowski mal nichts in der Schublade hatte.

Mit der Lektüre der Briefe erst offenbart sich seine ganz unverwechselbare, unverrückbare und – wenn man es moralisch formulieren wollte, was er selbst vehement abgelehnt hätte – durch und durch lautere Stilphysiognomie. Bukowski ist immer er selbst, und es ist ihm egal, in welchem Genre er sich bewegt. »Ich weiß nicht, ob wir mehr Briefe geschrieben haben, mehr Gedichte oder mehr Kritiken (besser gesagt: wütende Tiraden)«, erinnert er sich viel später einmal gegenüber dem Kollegen Mike Golden. »Manchmal war der Übergang von Brief zu Gedicht fließend. Das machte nichts, wir schlenkerten es aus dem Handgelenk, und es war eine aufregende Zeit – Fabrikarbeiter und Taugenichtse, die mit dem Wort spielten.«