Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Einleitung
  8. Geburt
  9. Vom Traum zum Albtraum
  10. Überlebensstrategien
  11. Ungewollte Lektionen
  12. Heimkehr
  13. »Geld her!«
  14. Atme einfach
  15. Die nächste Biegung in der Straße
  16. Neue Normalität
  17. Willkommen in Holland
  18. Abwärtsspirale
  19. Lies in den Sternen
  20. Das K-Wort
  21. Champions
  22. Balanceakt
  23. Vom Damals zum Heute
  24. Dank

Über dieses Buch

Elizabeth Barker wohnt in Philadelphia und ist Vizepräsidentin des Unternehmens, bei dem sie derzeit beschäftigt ist. Elizabeth hat all dies erreicht, obwohl sie auch noch Mutter eines behinderten Kindes war und einen jahrelangen Kampf gegen den Brustkrebs führen musste. Ihre außergewöhnlichen Schicksalsbegegnungen inspirierten sie, ihre dramatische Lebensgeschichte in ihrem ersten Memoir niederzuschreiben.

Über die Autorin

Elizabeth Barker ist eine erfolgreiche Frau mit dem Traumjob und dem Traummann, der nur eines im Leben noch fehlt: die perfekte Mutter eines perfekten Kindes zu werden. Als ihre Tochter jedoch mit Down-Syndrom und einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit auf die Welt kommt, wird ihr Traum zum Albtraum. Und das ist erst der Anfang …

Mein Löwenherz für dich ist ein inspirierendes und überwältigend ehrliches Memoir über den Kampf einer Mutter für das Leben ihrer Tochter, für Respekt und Hilfe, für angemessene Pflege und den Zusammenhalt ihrer Familie.

Elizabeth Barker

Mein Löwenherz
für dich

Eine Mutter kämpft für ihr
schwerkrankes Kind

Aus dem Englischen von
Heinz Tophinke

BASTEI ENTERTAINMENT

Ich widme dieses Buch in Liebe

Lauren Elizabeth Barker
»Der Kleine Kobold«
16.4.1986–29.4.1989

Deine Zeit bei uns war kurz, doch dein Andenken und deine Liebe bleiben für immer bei uns.

Du hast uns Lebenslektionen erteilt und uns unvergessliche, bittersüße Erinnerungen geschenkt. Dein Mut und dein Lächeln sind uns tagtäglich Inspiration.

Du warst meine Eingebung für die unglaubliche Reise zu meinem Buch.

»Der Tod hinterlässt einen Schmerz, der nicht heilbar ist;
die Liebe eine Erinnerung, in der du ewig bist.«

Einleitung

Dieses Buch zu schreiben, hat mich zwanzig Jahre gekostet.

Nicht wörtlich gesprochen, natürlich. Als ich endlich mit dem Schreiben anfing, dauerte es nur ein paar Monate, die ganze Geschichte zu Papier zu bringen. Schließlich hat sich das, was geschehen ist, für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Aber ich habe mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, um voll und ganz zu verstehen, weshalb ich es aufschreiben musste.

Alles begann mit der Geburt meines ersten Kindes, unserer Tochter Lauren. Was ein freudiges Ereignis hätte sein sollen, wurde uns rasch durch die schockierende Nachricht vergällt, dass unser wunderbares Baby mit dem Downsyndrom und einem schweren Herzfehler auf die Welt gekommen war. Nun bin ich natürlich nicht die einzige Mutter, die diesen Kummer zu ertragen hat – doch das war erst der Anfang. Vom Tag von Laurens Geburt an gerieten unsere sorgfältig geplanten Träume und unsere ganze Existenz aus den Fugen. Damals wurde mein Leben zu einer fünf Jahre währenden Achterbahnfahrt voller Höhen und Tiefen und gefährlicher Umwege.

Es begann eine Zeit, die von medizinischen Unfällen und Pannen, lebensverändernden Begegnungen und unglaublichem Elend geprägt war. Mein Mann und ich mussten uns in jenen Jahren voll grausamer Überraschungen, qualvoller Veränderungen und permanentem Stress immer neuen Herausforderungen stellen – gleichgültigen oder inkompetenten Medizinern, geldgierigen, skrupellosen Versicherungsunternehmen, finanziellen Schwierigkeiten, schweren gesundheitlichen Problemen meinerseits aufgrund von Stress rund um die Uhr und nicht enden wollenden Ängsten und Beklemmungen. Eine Katastrophe führte unausweichlich zur nächsten, bis ich mir Fragen stellte, die nicht zu beantworten waren:

Wie und wann wird das alles enden?

Werden wir überleben; haben wir überhaupt noch eine Zukunft?

Und vor allem: WARUM geschieht uns das alles? Was in aller Welt habe ich getan, um so viel Schmerz und Leid über meine Familie zu bringen?

Dies ist nicht der Ort, um auf Details einzugehen – dramatische Begegnungen, medizinische Beschwerden, Vorfälle, Diagnosen und so weiter. Dazu komme ich später. Letztlich zählt nur, dass ich überlebte und mir doch noch Erfolg beschieden war. Im Verlauf dieses Prozesses wurde ich ein anderer Mensch. Vor Laurens Geburt war ich eine ernste junge Frau mit einem eher naiven, vertrauensvollen Blick auf die Welt. Ich verließ mich auf den Rat von Autoritäten und Experten und ging davon aus, dass mein Leben genau den Kurs nehmen würde, den ich sorgfältig geplant hatte. Das tun wir ja vermutlich alle. Doch als sich die Missgeschicke in meiner Familie immer mehr häuften, wurde ich von einer Spirale von Niederlagen nach unten gezogen, und ich sah mich mit beängstigenden Situationen konfrontiert, in denen es um Leben oder Tod ging. Ich erkannte, dass ich mich ändern musste, wenn ich überleben wollte. Und das tat ich dann auch.

Mit der Zeit lernte ich, meinen Instinkten und meiner guten Intuition zu vertrauen. Ich entdeckte eine innere Stärke, von der ich nichts geahnt hatte. Ich stellte fest, dass ich gegen Mediziner, gedankenloses Pflegepersonal, bürokratische Versicherungen und Krankheiten ankämpfen musste und das auch mit Erfolg konnte. Die alte Liz hätten fünf Jahre solcher Herausforderungen mürbe gemacht; die neue wurde zu einer friedlichen Kämpferin. Als Laurens und meine eigenen Beschwerden uns erneut der Willkür und Einschüchterung des Gesundheitswesens auslieferten, weigerte ich mich, nett zu bleiben. Ich stellte bohrende Fragen. Ich fand mich nicht mit mangelhafter Pflege ab. Ich holte mir Rat bei Anwälten und Rechtsbeiständen. Ich kämpfte. Und diese Widerstandsfähigkeit ließ mich auch dann weitermachen, wenn sich eine andere Seite von mir verkriechen, heulen und vor Verzweiflung aufschreien wollte.

Kurz gesagt, ich wurde zu einem Champion. Das war nicht meine Absicht gewesen. Niemand will aufgrund irgendwelcher Umstände unzerstörbar werden. Doch ich entschied mich dafür, mich darauf einzulassen, und das hat mein Leben verändert. Ich erkannte jede Herausforderung, nahm sie an, wägte meine Möglichkeiten ab und reagierte entsprechend. Das Überleben des Stärkeren wurde zu meiner neuen Devise. Und das ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe – um meine Lektionen mit Ihnen zu teilen.

Wie alle Geschichten ist natürlich auch meine nicht nur von Düsternis und Schmerz geprägt. Sie hat auch viele schöne und glückliche Seiten. Dieses Buch ist voll von Anekdoten über Familie, Freundschaften, alte wie neue, tief gehende Beziehungen und widersprüchlichen Ansichten. Obwohl ich vieles durchstehen musste – die Grausamkeit einer Krankenschwester, die Fahrlässigkeit eines Arztes, die Härte eines geldgierigen Kassensystems, die mir das Herz brach –, hatte ich doch das Glück, auf meinem Weg auch unglaubliche Freundlichkeit und großes Mitgefühl anzutreffen. Vor allem Laurens Geburt führte mich in eine Welt, die ich nie zuvor gesehen hatte – eine Welt, in der ich einige der warmherzigsten und hingebungsvollsten Menschen traf, die ich je kennenlernen durfte. Mit vielen von ihnen bin ich noch heute freundschaftlich verbunden, und sie geben mir weiterhin Kraft und Hoffnung.

Von Familienmitgliedern und Freunden bis hin zu einem verständnisvollen Arzt, der es mir möglich machte, meinen jüngeren Sohn zu gebären, überwog das Gute doch immer wieder die schlechten Dinge. Mein Glas als halb voll und nicht als halb leer zu sehen, erhielt mich geistig gesund und ließ mich ebenso weitermachen wie einige »Engelmomente«, die mein Leben berührten – Momente, in denen aus dem Nichts jemand auftauchte und mich rettete. Einer dieser »Engel« ließ seine Beziehungen spielen, als alle meine eigenen Anstrengungen gescheitert waren; ein anderer drängte mich dazu, eine Untersuchung durchführen zu lassen, die mir das Leben rettete. Ich lernte, diese kleinen Wunder, diese Engelmomente, wahrzunehmen, als würde Gott oder das Universum oder das Leben mir zuflüstern: »Ich weiß, das ist schrecklich, aber ich habe dich nicht vergessen, und du wirst das überstehen.«

Dennoch – ohne mein Interesse an spirituellen und intuitiven Dingen hätten all die Bedrängnisse, Qualen und Engelinterventionen mich nicht dazu bewegen können, ein Buch zu schreiben. Denn um ein Werk wie dieses zu verfassen, bedarf es einer Bestimmung. Und diese Bestimmung fand ich, als ich in meiner allerschlimmsten Zeit einen Mystiker/Astrologen kennenlernte und zum Freund gewann. Über die Jahre erklärte mir dieser Mann, ein bekannter Heiler und Wahrsager, bei meinen jährlichen Besuchen, dass es für alles Leiden in meiner Vergangenheit einen Grund gab. Er sagte, ich sei dazu bestimmt, eine Rednerin und Schriftstellerin zu werden, um Menschen zu helfen, Tragödien zu überwinden und ihren inneren Champion zu finden.

Diese Prophezeiung erstaunte mich, denn als solch einen Menschen hatte ich mich nie gesehen. Doch mit den Jahren dachte ich mehr und mehr über seine Voraussagen nach und begann zu verstehen, dass dies mein Schicksal war. So wie das Schicksal meine Vergangenheit verändert und mir Not und Elend aufgebürdet hatte, würde es mich auch in meine Zukunft führen. Und ich würde seinen Herausforderungen erneut begegnen müssen.

Und dann geschah vor zwei Jahren ein weiteres Wunder. Ich hatte eine Erleuchtung. Zu diesem Aha-Moment kam es, nachdem ich Lauren zu Ehren ein Event zur Unterstützung von behinderten Kindern veranstaltet hatte. Der durchschlagende Erfolg, der mir dabei zuteil wurde, ließ mich nicht nur meine Mission im Leben erkennen, sondern auch, dass die Mentoren und Engel, die in den Jahren davor in mein Leben getreten waren, mir auf diesem neuen Weg helfen würden. Dass sie mich leiten würden, um den Sinn und die Lektionen dieser schrecklichen Jahre zu verstehen und dieses Wissen dann einzusetzen, um anderen zu helfen. So gesehen ist dieses Buch die Erfüllung einer Prophezeiung und eines Traums.

Es geht in diesem Buch auch um Kraft und Überleben und die Bedeutung der Verbindung von Geist, Körper und Seele – darum, diese Dinge in Einklang zu halten. Meine Trauer über Laurens Krankheiten machte mich selbst krank. Einige dieser Erkrankungen hatten medizinische Kunstfehler als Ursache; andere sahen zunächst so aus, als hätte ich wieder einmal schlecht gewürfelt. Aber ich habe erkannt, dass der ungeheure Stress, dem ich in diesen Jahren ausgesetzt war, sowohl meine Seele als auch mein Immunsystem schädigte und mich für eine tödliche Krankheit anfällig machte.

So handelt dieses Buch auch von meinem wiedererwachten Verständnis dafür, dass es bei echter Gesundheit darum geht, Geist, Körper und Seele als eine Einheit zu begreifen – darum, die eigenen natürlichen Heilkräfte anzuerkennen. Und es geht um die Rolle von Willen und Hartnäckigkeit, wenn man sich nicht unterkriegen lassen will. Derselbe Mystiker, der prophezeite, dass ich eine Fürsprecherin und Kämpferin sein würde, sagte auch etwas über meine Gesundheit voraus. Heute wünschte ich, ich hätte seine Worte beherzigt. Aber das tat ich damals nicht. Ich musste auf die harte Tour lernen, dass wir keine Maschinen sind. Wir sind spirituelle Wesen, die eine physische Existenz erleben. Und nur wenn wir unser wahres Wesen anerkennen, werden wir zu wahrer Heilung fähig.

Tragödien und Krankheiten wollten mir nicht nur meine Familie und meinen Beruf rauben, sondern auch meine Gesundheit und mein Leben. Doch ich kämpfte dagegen an und siegte. Ich bin der lebende Beweis dafür, dass keine Schlacht hoffnungslos ist.

Manchmal, wenn ich diese schweren Erinnerungen wieder wachrufe, ist es, als wäre alles erst gestern geschehen. Doch in Wirklichkeit waren es zwei Jahrzehnte. Jetzt ist das Leben gut, ziemlich friedlich, und das schon seit Langem. Tatsächlich durchleben wir eine derart harmonische Periode, dass es sich ein wenig anfühlt, als würde das Universum einen Ausgleich herstellen. Ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich nehme es an. Ich bin wieder gesund. Meine Karriere ist wieder auf dem richtigen Weg. Ich führe eine wunderbare Ehe, und meine beiden Söhne – auch der, von dem die Ärzte sagten, ich hätte ihn aufgrund meiner Erkrankung nie austragen sollen – sind erfolgreiche erwachsene Männer.

Nun, da das Leben in guten Bahnen verläuft und dieses Buch erscheint, fühlt sich der traurige Teil dieser Geschichte manchmal an, als hätte er sich vor einer Million Jahren ereignet. Wie dem auch sei –, ich werde nichts von all dem vergessen, was ich aus meiner Erfahrung der Tragödie und des Triumphs gelernt habe – vor allem nicht, dass ich wie ein Champion gekämpft habe, auch wenn ich noch so brutal umgeworfen und unser Leben noch so sehr bedroht wurde. Ich habe den Mut aufgebracht, wieder und wieder zu kämpfen. Und obwohl ich oft verängstigt, zornig und frustriert war, lief ich nicht davon und gab nicht auf. Ich gewann. Ich fand eine Kämpferin in mir, von der ich nichts wusste, bis ich auf die Probe gestellt wurde.

Jedes Buch bedarf einer Mission, und meine ist es, meine schwer gewonnenen Lebenslektionen zu teilen. Ich möchte den Menschen Hoffnung anbieten, die sich mit scheinbar unüberwindlichen Widrigkeiten konfrontiert sehen. Wenn Sie sich in einer solchen Lage befinden, dann sage ich Ihnen: Sie schaffen es. Auch Sie haben einen Champion in sich, wie wir alle. Sie können sich den Herausforderungen, die Ihnen begegnen, stellen – und wenn Sie sich anderen Menschen öffnen, werden sie Ihnen von den unwahrscheinlichsten Orten zu Hilfe kommen. Das Wichtigste ist, zu erkennen, dass hinter allem ein Plan, ein Schicksal steht. Das ist vielleicht nicht der Weg, den Sie für sich vorgesehen hatten, doch das liegt nicht in Ihrer Macht. Eines meiner Lieblingszitate lautet: »Das Leben besteht zu zehn Prozent aus dem, was wir daraus machen, und zu neunzig Prozent aus dem, wie wir es annehmen.« Ich glaubte nicht, dass ich ein Champion sein könnte, aber ich habe mich dazu entwickelt. Und das können Sie auch.

Doch nach all den vielen Worten ist es nun an der Zeit, dass Sie die ganze Geschichte erfahren. Folgen Sie mir also nach Philadelphia, Pennsylvania, ins Jahr 1986 und lernen Sie ein süßes, wundervolles kleines Mädchen namens Lauren kennen, das meine Welt für immer veränderte.

Geburt

»Was war das?«

Habe ich mir diesen kurzen, heftigen Schmerz im Unterleib eingebildet? Oder mich im Schlaf irgendwie ungewollt verdreht? Ich schaue auf die Uhr: vier in der Frühe. Vielleicht ist das der Beginn meiner lange erwarteten Wehen. Oder wieder nur ein lästiger Muskelkrampf. Vielleicht sollte ich einfach versuchen, noch ein bisschen zu schlafen. Denn wenn es wirklich so weit ist, dann habe ich in den kommenden Stunden ja wahrscheinlich Einiges vor mir.

Ich habe wiederholt gehört, dass die Wehen bei der ersten Geburt lange dauern und sehr anstrengend sind. Mein Mann Jim und ich rechnen mit nicht weniger als acht bis zehn Stunden; mein ausgezeichneter Gesundheitszustand und meine bislang perfekt verlaufene Schwangerschaft zählen dabei offenbar nicht viel. Alle Erstgebärenden in unserem Geburtsvorbereitungskurs hatten langwierige Wehen, die medikamentöse Schmerzbehandlung notwendig machten. Nicht eben eine erquickliche Aussicht. Andererseits freue ich mich darauf, einen Teil der gut zwanzig Kilo loszuwerden, die ich inzwischen mit mir herumtrage.

Wir waren acht Paare in unserer Geburtsvorbereitungsgruppe. Ruth und ich sind die »Nachzügler«, die noch nie entbunden haben. Ihr Termin ist der letzte, und ich bin schon eine Woche überfällig. Aber das war zu erwarten. Ich selbst kam schon eine Woche zu spät auf die Welt, zum Entsetzen meiner Eltern. Das war vor allem deshalb ungünstig, weil mein Dad, ein Berufssoldat, sich extra eine ganze Woche frei genommen hatte und dann noch vor meiner Geburt wieder zum Dienst zurückmusste. Aber ich bin Perfektionistin; ich nehme mir häufig mehr Zeit, um etwas zu erreichen – anscheinend auch bei meiner Schwangerschaft.

In Gedanken an das vergangene Jahr schlafe ich wieder ein. Jim und ich finden es aufregend, endlich eine Familie zu werden. Wir waren schon in der Highschool und im College ein Paar und haben jung geheiratet (ich war erst einundzwanzig), aber wir beschlossen, nicht sofort Kinder zu bekommen. Wir wuchsen beide in stabilen Mittelschicht-Verhältnissen auf; unsere Eltern legten Wert auf ein gutes Zuhause und eine solide Ausbildung, und wir wollten uns erst finanzielle Sicherheit erarbeiten, bevor wir Kinder in die Welt setzten. Wir wollten nicht kämpfen müssen wie die Generation unserer Eltern, wo man erwartet hatte, dass einen Monat nach dem Ja-Wort die Schwangerschaft begann – mit dem Ergebnis, dass nur ein Einkommen zur Verfügung stand und gespart werden musste.

Das war vor acht Jahren, und die Zeit ist wie im Flug vergangen. Wir waren mit unserer Arbeit beschäftigt, dem schönen Haus, das wir kauften, unseren Familien und Freunden, und wir reisten viel. Mit unseren insgesamt sieben Geschwistern, zahllosen Cousins und Cousinen und vielen Freunden war das Leben eine Abfolge von Hochzeiten, Brautpartys, Taufen und Geburtstagsfeiern. Aber vor einem knappen Jahr, mit neunundzwanzig, klingelte bei mir dann die biologische Uhr und sagte »Vergiss mich nicht«. Vielleicht war es so etwas wie Mutterinstinkt – jedenfalls wusste ich, dass es an der Zeit war, schwanger zu werden. Wir waren endlich in der finanziellen Lage, eine Familie zu gründen.

Ich bin immer ein Erfolgsmensch gewesen, schon seit ich vierzehn war und begann, mir mit Babysitten ein Taschengeld zu verdienen. Im College hatte ich während des Sommers häufig zwei Jobs, um genügend Geld für meine Studiengebühren, Kleidung, mein Auto und so weiter zu verdienen. Als typischer Steinbock bin ich ein Arbeitstier. Heute arbeite ich als Finanzberaterin in einer Branche mit hohen Umsätzen und geringen Abzügen, in der Frauen eine »statistische Minderheit« darstellen. Doch ich habe mich auf der Erfolgsleiter hochgearbeitet, und dieses Jahr wurde mir der President’s Cabinet Award verliehen, die zweithöchste Verkaufsauszeichnung unseres Unternehmens. Ich kichere in mein Kissen hinein bei dem Gedanken daran, wie absurd ich vor eineinhalb Monaten bei der alljährlichen festlichen Preisverleihung mit Bankett in Atlantic City ausgesehen haben muss, als ich neben unseren Spitzenkräften im Smoking mit dickem Schwangerschaftsbauch auf der Bühne im Rampenlicht stand.

Niemand hat mich gefragt, ob ich nach der Geburt des Babys wieder arbeiten will. Ich vermute, sie denken alle »Wenigstens geht sie, nachdem sie so ziemlich alles erreicht hat«. Aber ich habe die feste Absicht, meine Karriere fortzusetzen, wenn auch künftig vielleicht etwas langsamer.

Die letzten neun Monate waren eine schöne Zeit für uns. Es begeistert mich, jetzt Mutter zu werden. Ich habe meine Schwangerschaft gesundheitlich hervorragend überstanden und mich wirklich nie in meinem Leben glücklicher gefühlt. Wir haben uns in den vergangenen Monaten mit viel Freude vorbereitet auf James Joseph Barker IV, falls es ein Junge wird, oder auf Lauren Barker im Falle eines Mädchens. Den Jungennamen wählten wir zu Ehren von James’ Familie, vor allem seines charismatischen Großvaters, der vor zwei Jahren verstarb. Den Namen Lauren wählte ich, weil er mir klanglich so gut gefällt und an Schönheit denken lässt. Auf einen zweiten Vornamen habe ich mich noch nicht festgelegt. Ich dachte an meinen eigenen Namen, Elizabeth; das klingt gut mit Lauren zusammen. Aber das werden wir entscheiden, wenn wir das Baby kennenlernen.

Ich statte gerne Räume aus und habe mit großer Freude ein Kinderzimmer in gelben und grünen Pastelltönen eingerichtet. Wir kauften ein hübsches Kinderbett, eine Kommode, einen Wickeltisch und einen Schaukelstuhl, alles aus Eiche, weil wir diese Sachen ja auch für unsere späteren Kinder brauchen werden. Anfangs wird unser Neugeborenes allerdings nicht im Kinderzimmer schlafen – wir wollen die altmodische Wiege neben unserem Bett aufstellen, die Jims Mutter für ihr erstes Enkelkind, meinen dreijährigen Neffen, gekauft hat. Unser Baby wird der zweite Besitzer dieser besonderen Wiege sein. All die köstlichen, winzigen Babykleidungsstücke, die wir erstanden, haben wir fein säuberlich in die Schubladen der Kommode gelegt, und der Wickeltisch steht bereit mit Windeln und allem, was dazugehört. Meine Krankenhaustasche ist gepackt und wartet auf ihren Einsatz. Das Haus ist sauber. Die Rechnungen sind bezahlt. Mit meiner Arbeit ist alles geregelt. Alles ist bereit und wartet darauf, dass Baby Barker geboren wird.

Wir haben keine Ahnung, welches Geschlecht unser Baby hat. Wir wünschen uns wie alle Eltern ein gesundes Kind und lassen es damit gut sein.

Bei unserer letzten Geburtsvorbereitungsstunde machte Mary, die Leiterin, eine ungewöhnliche Gruppenübung mit uns. Sie ließ eine Schüssel mit kleinen, gefalteten Zetteln herumgehen. Jeder enthalte »eine zum Nachdenken anregende und herausfordernde Frage« zum Geburtsvorgang, sagte sie. Jedes Paar zog einen Zettel, las ihn laut vor und gab eine ehrliche Antwort darauf.

Die Fragen bezogen sich auf Situationen bei der Geburt, die womöglich von unseren Erwartungen oder einer üblichen Geburt abwichen. Einige hypothetische Fragen befassten sich mit der Würde des Geburtsvorgangs, eine mit dem Einsatz von Schmerzmitteln trotz des Wunsches einer natürlichen Geburt. Bei anderen ging es um einen unerwarteten Kaiserschnitt oder außergewöhnlich lange oder komplizierte Wehen.

Die Frage, die Jim und ich zogen, lautete: »Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Baby mit einem gesundheitlichen oder genetischen Problem oder einer Behinderung auf die Welt käme?«

Das ist ganz offensichtlich eine Frage, über die Eltern nicht gerne nachdenken. Wir hatten im Kurs nicht über Geburtsfehler oder schwere Probleme bei den Wehen oder der Entbindung gesprochen. Jim und ich hatten über derlei Dinge nie nachgedacht. Meine Schwangerschaft war vollkommen komplikationslos verlaufen, und in unseren Familien gab es keinerlei genetische Probleme. Meine einzige Befürchtung war, dass die Geburt meinen Körper zu sehr beanspruchen könnte. Doch wir mussten uns eine Antwort überlegen.

Als wir dran waren, bemerkte ich, wie sich bei den anderen die Mienen veränderten. Die unbeschwerte Atmosphäre verwandelte sich. Alle Blicke waren auf uns gerichtet; alle wollten wissen, was wir auf diese Frage sagen würden. Doch unsere Antwort war unverbindlich: »Es wäre nach all den Jahren der Vorfreude und den Monaten der Vorbereitung natürlich eine riesige Enttäuschung.« Was hätten wir sonst schon sagen können?

»Man muss sich darüber im Klaren sein, dass während des Geburtsvorgangs oder mit der Gesundheit eines Neugeborenen manchmal Unerwartetes auftreten kann«, erklärte unsere Kursleiterin, nachdem wir unsere Antwort gegeben hatten.

Niemand stellte irgendwelche Fragen. Keiner von uns wollte, dass sie ins Detail ging, niemand wollte mehr darüber hören. Das Thema war zu tief gehend und machte zu viel Angst, nicht zuletzt, da doch alle so offensichtlich gesund waren. Also gingen wir zur nächsten Übung über, und die letzte Stunde des Kurses endete fröhlich. Uns allen war schwummrig vor Aufregung und Vorfreude auf unsere Geburtstermine in den nächsten Wochen. Wir hatten eine Telefonkette eingerichtet, um den Überblick zu behalten, und kurz nach der letzten Entbindung wollten wir uns alle noch einmal zusammen mit unseren Babys treffen. Jim und ich fuhren an diesem Abend in bester Stimmung nach Hause. Wir freuten uns auf ein glückliches neues Kapitel unseres gemeinsamen Lebens und darauf, dieses Glück mit neuen Bekannten zu teilen, mit denen wir uns lebenslange Freundschaften erhofften.

Ahh – ein weiterer heftiger Schmerz reißt mich aus diesem Traumzustand. Na ja, es ist ohnehin Zeit für meinen Gang ins Badezimmer mitten in der Nacht. Dieses Aufwachen jeden Morgen um vier Uhr früh macht mir inzwischen nichts mehr aus. Mein Körper hat sich an Schlafunterbrechungen gewöhnt. Ich stelle mir das als gute Vorbereitung für nächtliches Stillen vor. Doch dieses Mal scheide ich eine Menge Flüssigkeit, Schleim und etwas verdünntes Blut aus. Beim Blick in die Toilettenschüssel, um festzustellen, ob der berühmt-berüchtigte Schleimpfropf abgegangen ist, durchbohrt mich ein langer, heftiger Schmerz.

Es ist so weit! Meine lange überfälligen Wehen haben eingesetzt! Meine Gedanken beginnen sich zu jagen: Wie wird es werden? Wird die Geburt lang und schmerzvoll? Werde ich Medikamente oder einen chirurgischen Eingriff brauchen? Was, wenn ein Notkaiserschnitt erforderlich wird? Werden wir einen Jungen bekommen, wie wir es uns insgeheim erhofft haben?

Ich gehe zurück zum Bett, um noch ein wenig zu schlafen. Ich versuche, mit meiner beleuchteten Armbanduhr die Wehen zu verfolgen, und stelle schon bald fest, dass sie ziemlich regelmäßig kommen. Bis sechs Uhr gehe ich noch mehrmals zur Toilette, und die Wehen werden stärker und häufiger. Ich wecke Jim auf. Er zieht sich an und macht Kaffee. Und dann platzt meine Fruchtblase.

Wir fahren rasch in das nur zehn Minuten entfernte Krankenhaus. An die dunkle, dräuende Frage unserer letzten Kursstunde denke ich überhaupt nicht.

Ich werde zur Entbindungsstation gebracht, und man sagt mir, ich solle eines dieser komischen Krankenhaus-Nachthemden anziehen. Zu diesem Zeitpunkt, bereits mitten in schweren Wehen, ist mir mein Aussehen wirklich völlig egal. Zwischen den Kontraktionen komme ich mir vor wie in einem Zustand der Lethargie. Wir freuen uns, dass statt dem kalten, sterilen Kreißsaal der behagliche und angenehme Entbindungsraum für uns zur Verfügung steht.

Ich schaffe es, mich auf den Entbindungstisch zu legen, und warte auf die erste Untersuchung.

»O mein Gott!«, schreit plötzlich die Krankenschwester, »ich sehe schon den Kopf des Babys; es hat ganz viele Haare!« Und dann feuert sie eine Serie von Fragen und Aussagen auf mich ab: »Gratuliere, Ihr Muttermund ist voll geweitet, Sie sind bereit zu entbinden. Ich muss so schnell wie möglich den Arzt für Sie holen; pressen Sie noch nicht. Wie lange hatten Sie zu Hause schon Wehen? Warum haben Sie so lange gewartet, um in die Klinik zu kommen?«

Jim und ich erklären, dass ich zu Hause nur kurz Wehen hatte und dass sie auch nicht besonders schwierig für mich waren. Ich strahle, trotz meiner Benommenheit. Was habe ich für ein Glück! Wir kennen kein Paar, bei dem die Geburt so unkompliziert war. Ich fühle mich entspannt, beinahe schläfrig, obwohl ich keine Medikamente bekommen habe. Zwischen meinen Kontraktionen und dem Pressen döse ich sogar. Ich bin stolz darauf, dass mein Körper so toll »funktioniert«.

Der Arzt ist nun immer bei uns. Er sitzt auf einem Hocker am Fuß meines Betts und wartet auf die nächste Welle der Kontraktionen und des Pressens. Er sagt mir, ich werde einen Dammschnitt brauchen, weil das Baby sehr groß ist: mindestens vier Kilo. Huch! Jim ist eins fünfundachtzig, ich bin aber zwanzig Zentimeter kleiner und zierlich. Ich denke lieber nicht an die Logistik und konzentriere mich stattdessen ganz auf die Anweisungen des Arztes.

Nach dem Dammschnitt beginnt der am Kopf des Babys befestigte Wehenschreiber anomal zu piepsen. Ich sehe sofort eine verwickelte Nabelschnur vor meinem geistigen Auge. Verdammt, ich wusste, dass das zu gut war, um wahr zu sein. Ich drehe mich auf die rechte Seite und dann auf die linke, doch das Gerät piepst immer noch und zeigt damit ein anhaltendes Problem an.

Ich weiß, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht klar denken kann – schließlich bin ich im Endstadium meiner Wehen –, aber ich frage: »Was zum Teufel ist los?«

Jim schaut verängstigt. Niemand beantwortet meine Frage. Wissen sie nicht, was los ist? Vor einer Viertelstunde meinte der Arzt noch, was für eine leichte Geburt es werden würde. Jetzt ist seine Miene düster.

Plötzlich verändert sich alles. Ich werde hektisch von dem kleinen, ruhigen Entbindungsraum in einen riesigen, kalten Operationssaal gebracht, der sich rasch mit medizinischem Personal und Geräten füllt. Helle, blendende Lichter strahlen jetzt auf mich herab – ein krasser Kontrast zu der gemütlichen Atmosphäre, an die ich mich in den letzten Stunden gewöhnt hatte. Für einen Kaiserschnitt bin ich doch schon viel zu weit, denke ich mir. Wie konnte sich meine Geburt so plötzlich von einem Traum in einen Albtraum verwandeln? Aber vor allem frage ich mich: Wie geht es meinem Baby?

Der Arzt erklärt, dass der Herzschlag des Kindes angestrengter und schwächer wird; er drängt mich, bei der nächsten Kontraktion mein Bestes zu geben und zu pressen, so stark ich kann, damit das Baby herauskommt. Ich stütze die Arme auf das Metallbett und presse mit all meiner Kraft und einem heftigen Schrei. Ich höre einen dumpfen Laut und fühle mich plötzlich unglaublich erleichtert. Erschöpft und schläfrig lasse ich mich auf das Kissen sinken.

»Gratuliere, Liz und Jim, Sie haben ein Mädchen«, verkündet der Arzt. »Und ein ordentlich großes noch dazu!«

Man bringt mir mein Baby, eingewickelt in ein weiches Tuch, aber ich fühle mich so ausgelaugt und schläfrig, dass ich kaum die Augen offen halten kann. Jim hält sie für mich, denn meine Arme sind einfach zu schwach. Ich sehe sie mir an und lächle über ihr rundliches Gesicht. Doch nach einer Minute verblasst mein Lächeln.

Irgendetwas stimmt nicht. Warum ist sie so still? Ihre Augen sind geschlossen. Warum weint oder schreit sie nicht? Und was bin ich für eine schreckliche Mutter, dass mir beim Anblick meines Neugeborenen bange wird? Mein Hirn muss von den Wehen durcheinander sein. Ich versuche, mich zu sammeln, und betrachte sie eingehender.

Sie scheint ein wenig dunkelhäutig zu sein – fast bläulich. Die Krankenschwester hält ihr einen Sauerstoffschlauch unter die Nase. Ich erinnere mich, in meinem Geburtsbuch gelesen zu haben, dass größere Babys manchmal eine bläuliche Farbe haben, wenn sie zur Welt kommen. Und sie ist definitiv groß: fast neun Pfund und dreiundfünfzig Zentimeter. Das ist Familienrekord! Wenn sie so groß ist, dann muss sie gesund sein, denke ich. Aber trotz meiner Benommenheit spüre ich, dass etwas einfach nicht stimmt.

Sie haben Jim unsere Tochter abgenommen und sind mit ihr in einem angrenzenden Zimmer. Die Schwester erklärt, man werde einige Blutuntersuchungen machen und die Kleine bekomme eine Sauerstoffmaske, bis sie etwas Farbe zeige. Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich weitere Fragen stellen. Jim scheinen die vagen Antworten, die man uns gibt, zu genügen, und ich habe nicht die Energie zu widersprechen. Ich bitte ihn, mich zu beschwichtigen, und schlafe dann ein. Er verlässt das Zimmer, um telefonisch die Geburt unserer Tochter anzukündigen. Auf ihren Namen haben wir uns noch nicht geeinigt.

Ich werde davon wach, dass der Arzt an meinem Unterleib herumdrückt, um die Nachgeburt herauszubekommen, und mich dann näht. Weil ich so groggy bin, fällt mir nicht auf, dass er nicht gut gestimmt und gesprächig wegen des fröhlichen Ereignisses ist.

»Wir werden Ihren neuen Kinderarzt hinzuziehen«, sagt der Arzt, als Jim zurückkommt. »Wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir von ihm gehört haben.«

Ich habe mich für diesen Kinderarzt auf Empfehlung meines Frauenarztes entschieden. Wir kennen ihn bislang noch nicht persönlich. Wir dachten nicht daran, dass mit unserem Baby vielleicht etwas nicht in Ordnung sein könnte und zogen deshalb auch nicht in Erwägung, schon im Vorhinein einen Kinderarzt zu Rate zu ziehen.

»Sobald der Sauerstoff-Messwert bei Ihrem Baby so ist, wie wir ihn haben wollen, bringen wir es Ihnen«, verspricht der Arzt.

Diese beruhigende Aussage lässt mich erleichtert seufzen, und ich döse noch einmal weg. Ich habe noch nie eine Geburt erlebt, deshalb gehe ich davon aus, dass das, was die Mediziner tun und uns sagen, alles ganz normal ist. Ich weiß es nicht besser. Ich vertraue darauf, dass der Doktor immer recht hat. Und in meinem Erschöpfungszustand bin ich nicht wach genug, um voll zu begreifen oder zu argwöhnen, dass mit unserer Tochter etwas absolut nicht stimmt. Bei einer derart leichten Geburt und angesichts ihrer Größe und ihres Gewichts wäre es dumm, mir Sorgen zu machen.

Sobald ich gesäubert und genäht bin, werde ich in mein Entbindungszimmer geschoben. Nach einem kurzen Nickerchen dort fühle ich mich wach und ausgeschlafen, spüre die frohe Erregung über unser Kind und will mein wundervolles Baby nun unbedingt sehen. Ich sehne mich danach, es zu halten, mich mit ihm zu verbinden und es womöglich zu stillen.

Eine Krankenschwester kommt, und ich bitte sie, uns unser Kind zu bringen, damit wir unseren Bindungsprozess beginnen können. Im Geburtsvorbereitungskurs war die Bedeutung eines möglichst frühen Körperkontakts immer wieder betont worden.

Sie geht, um nachzusehen.

Dann treffen Jims und meine Eltern ein, beide hocherfreut und mit Blumensträußen. Unser Baby ist das erste Enkelkind in der Familie. Jim bringt sie alle in den Säuglingssaal, um nach unserem Baby zu sehen. Sie ist zwar noch nicht in der Babystation, doch sie treffen dort den neuen Kinderarzt, der auf dem Weg zu uns ist.

Er betritt mein Zimmer mit offensichtlich düsterer Miene. Nun merken alle, dass womöglich etwas nicht stimmt. Meine Freude verfliegt schlagartig, ich spüre Beklemmung, ja Angst. Jim hält meine Hand, unsere Eltern sind um uns versammelt, und so warten wir auf das, was nun kommt, und machen uns auf schlechte Nachrichten gefasst.

»Ich habe Ihre Tochter eben untersucht«, beginnt er, »und teile Ihnen nun ein vorläufiges Ergebnis mit. Sie war bei der Geburt blau aufgrund von Sauerstoffmangel, was meiner Vermutung nach mit einem schweren Herzfehler zu tun hat. Leider überschreitet die Behandlung eines solchen Defekts meine Kompetenz und auch die Möglichkeiten dieses Krankenhauses. Ihr Baby braucht so schnell wie möglich eine spezielle Behandlung in einer Kinderklinik. Ich habe bereits den Transport per Krankenwagen in das William Penn Memorial Hospital in North Philadelphia veranlasst.«

Ohne eine nennenswerte Pause fährt er fort. »Ich empfehle, dass Sie Ihrem Kind formell einen Namen geben und es informell hier in Ihrem Zimmer taufen, bevor es der Rettungswagen in die Spezialklinik bringt«, erklärt er sachlich und verlässt dann den Raum.

Wir sind alle vor den Kopf geschlagen. Entsetzt. Ich wende mich Jim zu, und alle brechen in Tränen aus. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass etwas nicht stimmt, seit ich unser süßes Baby zum ersten Mal sah, und nun drehen sich meine Gedanken im Kreis, und meine Traumbilder von einem perfekten Familienleben zerbersten und verdunkeln sich. Wie konnte uns das passieren? Wir haben doch alles richtig gemacht! In unseren Familien gibt es keinerlei Hinweise auf ernste gesundheitliche Probleme oder Geburtsfehler. Ich habe während meiner Schwangerschaft so sehr aufgepasst!

Ich denke an all die idiotischen Frauen, die während der Schwangerschaft trinken oder rauchen und irgendwie trotzdem rundum gesunde Kinder bekommen. Das macht mich wütend. Warum ich? Warum bestraft Gott ausgerechnet mich? Ich habe mich so angestrengt, habe so sorgfältig geplant – ich wollte dieses Baby unbedingt haben!

»Das ist nicht fair!«, schreie ich heraus. Es macht mich so traurig, dass uns mein armes kleines Mädchen weggenommen wird und wir sie nicht einmal im Arm halten oder mit ihr schmusen konnten. Ich habe solche Angst, was als Nächstes passieren wird, wenn sie uns weggenommen wird.

Eine Krankenschwester und das Transportteam kommen ins Zimmer, mit meinem Baby, das in einem Sauerstoff-Inkubator schläft. Ich breche erneut in Tränen aus. Im Schlaf sieht sie so bemitleidenswert aus. Ich fühle so viel Liebe und Schmerz, dass ich es fast nicht ertragen kann. Meine Arme wollen verzweifelt meine Tochter halten und ihr meine Wärme geben, aber sie ist von uns weggesperrt, in einem sterilen Glaskasten, in dem ich sie nicht einmal berühren kann. Mir ist schlecht.

Jemand vom Klinikpersonal öffnet den Deckel des Brutkastens, reicht mir ein Schälchen Wasser und bittet mich, unsere Tochter zu taufen. Ich muss mich jetzt für einen Namen entscheiden. Mit zitternder Hand gieße ich etwas Wasser über ihren Kopf und bestimme, dass ihr Name Lauren Elizabeth Barker sein soll. Ich schluchze erbärmlich, bete laut und bitte Gott, er möge unsere kostbare Tochter schützen und heilen. Dass ich ihr meinen Namen gegeben habe, ist mir ein kleiner Trost. Es fühlt sich an, als habe ich ihr einen Teil meiner selbst gegeben, den sie in die andere Klinik mitnehmen kann. Ich greife in den Inkubator und berühre ihr winziges Händchen, um mich zu verabschieden, und breche beinahe wieder in Tränen aus.

Jim fährt im Krankenwagen mit in die Kinderklinik. Seine Eltern folgen ihm mit ihrem Wagen, um ihn dort zu unterstützen und bei ihm sein zu können. Weil Lauren so groß ist, ist es für mich wegen meines Dammschnitts und der anderen Geburtstraumata zu schmerzhaft, mich zu bewegen oder gar zu laufen. Ich bin physisch und emotional in einem katastrophalen Zustand und noch nicht in der Lage, der Welt ins Auge zu blicken. Meine Eltern bleiben, um mich zu trösten. Im Lauf des Tages telefonieren sie immer wieder mit Angehörigen und Freunden, um allen erschöpfend zu erklären, was geschehen ist und wie wenig wir bislang wissen.