Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-95311-5

August 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: Finepic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für meinen Sohn Theo,
der den Ball passt, wie es Barça lehrt

Die Entdeckung des schönen Fußballs. Ein Vorwort

Ich war ein junger Fußballreporter in London, nicht ganz so blond und stur wie der legendäre Bernd Schuster, aber doch auch durchdrungen vom Hochmut der Jugend, alles anders machen zu können als die anderen. Als mich zum Beispiel ein Magazin fest als Redakteur anstellen wollte, fiel ich mit der Frage durch, ob ich da denn jeden Tag um zehn Uhr im Büro sein müsse. Ich verdiente als selbstständiger Journalist wenig und war glücklich in London. Es gab nur ein Problem: Meine damalige Freundin und jetzige Frau weigerte sich, nach England zu ziehen. Sie arbeitete damals in Hamburg, und schon aus einer Art Gleichberechtigung – um nicht zu sagen: Trotz  – lehnte ich es dann ab, dorthin zu ziehen. Wir waren also nicht sehr weit gekommen bei unserer Suche nach einem gemeinsamen Wohnort, als ich im November 2001 den Fußballprofi Markus Babbel interviewen sollte. Markus spielte damals für den FC Liverpool. Ich wollte mit ihm über seinen Traum reden, einmal – nur einmal – in der Heavy-Metal-Band Metallica aufzutreten.

Warum käme ich nicht nächsten Dienstag nach Liverpool, schlug Markus vor, da könne ich abends das Champions-League-Spiel Liverpool gegen den FC Barcelona ansehen, und am folgenden Morgen würden wir dann über Metallica reden.

So machten wir es.

Markus selbst konnte damals wegen einer Verletzung nicht an dem Spiel mitwirken, und so traf ich ihn kurz vor Anpfiff auf der Tribüne an der Anfield Road. Neben ihm stand ein Mann mit blond gefärbten Haaren und unterhielt sich auf Deutsch mit Markus. Ich weiß leider nicht mehr, was genau der Mann erzählte, ich erinnere mich nur noch, dass es großer Unfug über Fußball war.

»Was war das denn für ein Vogel?«, fragte ich Markus Babbel, als der junge Mann sich verabschiedet hatte. »Das war Campino, der Sänger von den Toten Hosen!«, flüsterte Markus. Dann begann das Spiel, das mein Leben veränderte.

Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Im modernen Fußball ist es wichtig, kompakt zu verteidigen und dann so schnell wie möglich nach vorne zu spielen, um den Gegner zu überraschen. Dachte ich. Bis ich dem FC Barcelona an diesem Abend zuschaute. Sie kümmerten sich überhaupt nicht um die angeblichen taktischen Weisheiten des modernen Spiels. Ich suchte ihre kompakte Verteidigung und entdeckte auf den ersten Blick gar keine Abwehr. Bis ich merkte, dass sie die Abwehrreihe dorthin schoben, wo bei anderen Teams das Mittelfeld war, extrem weit vorne, was doch Liverpool viel Platz zu kontern ließ – das war doch verrückt! Oder? Irgendwann bemerkte ich staunend, dass Liverpool kaum aus dem Zentrum des Spiels vorwärts kam. Weil ihnen Barças geballte Verteidigung im Mittelfeld schon dort den Raum zum Vorwärtsspielen nahm.

Was das schnelle Angriffsspiel betraf, so spazierte Barça gemächlich in den Angriff. Permanent passten sie den Ball hin und her. Normale Teams passten vielleicht drei-, viermal den Ball, bis sie im Angriff waren, Barça passte zehnmal, 15-mal hin und her. Und zwar so gut, so genau, so sicher, dass Liverpool nur dem Ball hinterherrannte. Dann plötzlich, unvorhergesehen, nahm Barças Passspiel Fahrt auf.

Sechs Minuten vor Ende jener Champions-League-Partie führte der FC Barcelona 2:1 in Liverpool. Xavi, ihr Pass-Obermeister im Mittelfeld, passte zu Rivaldo, der zu Rochemback, und ich begann zu begreifen, was Ewigkeit ist: 34 Pässe reihten sie aneinander, ehe ein Liverpudlian zum Einwurf klärte. Overmars warf ein, und Barças Passspiel ging wieder los. Bis Overmars Pass Nummer 24 zum 1:3 nutzte.

Die Fans des FC Liverpool vergaßen, ihre Elf anzufeuern. 45 000 an der Anfield Road starrten auf das Spielfeld, und man glaubte, einen Gedanken aus 45 000 Gehirnen auf den Rasen fallen zu hören: Das ist kein Fußball mehr. Das ist Wahnsinn.

Am nächsten Tag rief ich meine Frau an: »Ich weiß, wo wir gemeinsam wohnen werden. In Barcelona.« Einen Monat später trafen wir uns mit ein paar Koffern in der Hand am Flughafen Barcelona. Wir wollten ein Jahr bleiben, damit ich diesen eigenartigen Fußball studieren konnte, und blieben zwölf Jahre. Ich erlebte den Triumphzug einer Sehnsucht: Der schönste Fußball kann doch der erfolgreichste sein.

Das jogo bonito, das schöne Spiel, war schon für tot erklärt worden, seit das Brasilien von Zico und Socrates mit seiner bedingungslosen Hingabe an die Spielfreude bei der Weltmeisterschaft 1982 gegen Italien seine grausame Niederlage erlitt. Fortan setzte sich der Fußball, der Risiken zu minimieren versucht, auf breiter Basis durch, und spätestens die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland mit ihren grauen Partien verdeutlichte, wie der moderne Fußball Gefahr lief, Opfer seiner eigenen Qualität zu werden: Weil die Profis mittlerweile technisch so präzise, so schnell spielen konnten, wurde die Angst, dem Gegner nur keine entscheidende Blöße zu geben, zum Grundgedanken. Heute ist der Fußball allgemein wieder attraktiver, angriffslustiger geworden. Doch geht es den meisten Teams darum, so schnell wie möglich vor des Gegners Tor zu kommen: Über die Hälfte aller Tore fällt in zwölf oder weniger Sekunden, nachdem der Ball vom Gegner erobert wurde. Gerade im deutschen Fußball hat die von Ralf Rangnick angeführte Stuttgarter Schule die Schnelligkeit zum obersten Gebot gemacht: Den Gegner möglichst weit vorne auf dem Spielfeld attackieren, damit der Weg zum Tor bei Ballgewinn nicht mehr weit ist, und dann, schnell, schnell, bam, bam, bam, zum Abschluss kommen. Borussia Dortmund in den Anfangsjahren unter Trainer Jürgen Klopp und Bayer 04 Leverkusen unter Roger Schmidt waren und sind die Fahnenträger dieses »Heavy-Metal-Fußballs«, wie ihn Klopp taufte: Schnellkraft ist die Leitkultur. Entgegen diesen Trends beharrt Barça seit Jahrzehnten stur darauf, nach der anmutigen Melodie von Violinen zu spielen: Genauigkeit geht vor Schnelligkeit.

Lange schien das nicht mehr als eine verwegene (oder, ehrlich gesagt: verzweifelte) Idee. Vor 15 Jahren, in meiner Anfangszeit in Barcelona, scheiterte Barça meist grandios. Doch eigensinnig und geduldig setzten sie ihr vermeintlich antiquiertes, ausgiebiges Passspiel fort. Und dann … gewann Barça zwischen 2006 und 2015 viermal die Champions League. Die spanische Nationalelf, die Barças Fußballer genauso wie Barças Spiel vom Passen und Weiterpassen adoptierte, siegte als erste Auswahl bei drei Meisterschaften hintereinander, bei der Weltmeisterschaft 2010 genauso wie bei der Europameisterschaft 2008 und 2012.

Im modernen Fußball dauert eine Epoche oft nicht länger als drei Jahre, so rasend schnell wechseln die Protagonisten, so geschwind werden Sieger vom Thron gestoßen. Barça jedoch gelingt es seit über einem Jahrzehnt immer wieder zu triumphieren; die Barça-Helden wechseln, die Spielidee, der wahre Held, bleibt: Von der Barça-Elf des Lächelns um Ronaldinho und Deco über das Barça Guardiolas zum Barça der kongenialen Stürmer Lionel Messi, Luis Suárez und Neymar. Viele von uns werden in 20 oder 40 Jahren zurückblicken und sagen: Es war der beste Fußball, den wir je sahen.

Wie bei allen Siegerteams wartete allerdings auch bei Barça ein Teil des Publikums nach einigen Jahren ungeduldig darauf, sie endlich fallen zu sehen. Niemand sieht sich schneller am Gewohnten satt als Fußballfans. Barças permanenter Ballbesitz langweile, verkündeten die Grantler. Diese Kritik war zu einem Teil berechtigt, weil die spanische Nationalelf wie bisweilen auch Barça in den späten Jahren ihrer Dominanz von der Dekadenz nicht frei blieb und den Ballbesitz zu oft nur noch zu einem Verwaltungsfußball einsetzte. Ohne Wagnis und Hochtempo passten sie ihn nun über weite Strecken hin und her. Aber im Kern blieb die Kritik an Barças Spiel absurd: Man kritisierte sie dafür, dass sie so dominant, so perfekt waren. Gerade in nördlichen Ländern wie Deutschland oder England schlägt Barça von einem Teil des Publikums Verachtung entgegen. Es sind Länder, in denen Fußball von jeher mehr als Kampf denn als Spiel geliebt wird. Einen Gegner zu überwinden, ihn mit Leidenschaft zu bezwingen begeistert dort Fans, auch weil es ihnen das Gefühl gibt, mit ihren leidenschaftlichen Gesängen mitzukämpfen, mitzusiegen. Ich verbrachte, bis ich spontan nach Barcelona zog, mein ganzes Leben in England und Deutschland, auch ich liebte das Gefühl, im Regen, im Matsch eine Fußballschlacht zu gewinnen. Aber nach wenigen Jahren als Barças Beobachter hatte ich das Gefühl, beim FC Barcelona eine höhere Stufe des Fußballs zu erleben: Aus dem eigenen Strafraum bis vor das Tor des Gegners mit vielen flachen, eleganten Pässen zu kommen ist nicht nur die schwierigste Art, Fußball zu spielen. Es erinnert auch auf wunderbare Weise daran, was Fußball sein sollte: ein Spiel. Barças Fußball ist eine Ode an die Spielfreude, an das Spielerische im Menschen.

Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Vielzahl meiner damaligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel in diesem Werk leicht bearbeitet zusammenzutragen, um noch einmal daran zu erinnern, wie besonders Barças Fußball ist. Er ist es wert, dass wir uns an ihn erinnern, dass etwas von ihm bleibt.