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Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt

Inklusion

Vision und Wirklichkeit

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029386-1

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-029387-8

epub: ISBN 978-3-17-029388-5

mobi: ISBN 978-3-17-029389-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. 1 Auftakt: Der lange Weg zu einer inklusiven Gesellschaft
  2. 2 Inklusion und Exklusion: der Blick auf die Geschichte
  3. 3 Das Recht auf Teilhabe: die UN-Behindertenrechtskonvention und andere internationale Dokumente
  4. 4 Inklusion als gesellschaftspolitische Aufgabe
  5. 5 Gerechte Bildung: die inklusive Schule
  6. 6 Vorreiter in Sachen Inklusion: Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg
  7. 7 Pädagogische Professionalität im Wandel
  8. 8 Wie läuft es im Ausland mit der Inklusion? Drei europäische Beispiele
  9. 9 Das »Kreuz mit den Lernschwachen« – oder Grenzen der Pädagogik
  10. 10 Resümee und Perspektiven: »Eine Mitte für alle«
  11. 11 Literatur

 

 

 

Allen Pädagoginnen und Pädagogen, Ausbildern und Begleitern, die sich den liebevollen, achtsamen Blick für das einzelne Kind, den einzelnen Jugendlichen bewahrt haben und die mit Zuversicht und Tapferkeit, jeden Tag aufs Neue, für deren Lebensglück eintreten.

1          Auftakt: Der lange Weg zu einer inklusiven Gesellschaft

 

 

 

»Wenn ein Volk keine Vision hat, verwildert es.«

Sprüche 29, 18

Es gibt keinen Zweifel: Das Thema »Inklusion« ist in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Einen Bewusstseinswandel in der Einstellung gegenüber behinderten Menschen zeigen jüngere Beispiele durchaus eindrucksvoll.

Zur besten Sendezeit zeigt die ARD im Mai 2012 den viel beachteten und kontrovers diskutierten Spielfilm »Inklusion – Gemeinsam anders«. Das Hamburg Museum eröffnet im November 2013 eine Ausstellung mit dem Titel »Geht doch! Inklusion erfahren«, die Hamburger Kammerspiele präsentieren im Mai 2014 Inszenierungen von »Rain Man« und »Ziemlich beste Freunde«, und auf dem Berliner Tempelhofer Feld wird im Juli 2014 der »Inklusionslauf Berlin« veranstaltet. Auch der Rat der evangelischen Kirche hat sich des Themas angenommen und unter dem Titel »Es ist normal, verschieden zu sein« (2014) eine Orientierungshilfe herausgegeben. Die Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet im September 2015 den Kongress »inklusiv politisch bilden«, auf dem es um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten geht.

Und wer hätte es noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass eine deutsche Ministerpräsidentin (Marlu Dreyer, Rheinland-Pfalz) offen über ihre Krankheit Multiple Sklerose spricht und auf einem Dorf in einem Wohnprojekt mit behinderten Menschen lebt (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 13.1.2013) und dass eine Abgeordnete mit einem Kind mit Downsyndrom in den Bundestag einzieht (Cicero, H. 11. 2014)?

Das Wirtschaftsmagazin »Brand Eins« widmet der Inklusion im Dezember-Heft 2013 zum Thema »Zeitgeist« den Artikel: »Ein ambitionierter Plan. Alle Kinder sollen zusammen lernen, ob behindert oder nicht. Das ist politischer Wille in Deutschland. Und neuerdings einklagbar. Auch machbar?«. Berichtet wird über eine Grundschule sowie ein privates Gymnasium in München, und der Tenor ist, dass Inklusion Freiräume, Zeit, Kommunikation und Geld benötigt. Sehr nüchtern schließt der Artikel: »Ohne milliardenschwere Investitionen wird Inklusion ein Lippenbekenntnis bleiben. Geld allein aber, auch das erfährt man …, reicht nicht« (Brand Eins, 15. Jg., H. 12 v. 2013, S. 149).

Das bringt auf den Punkt, was all jene, die sich in Theorie und Praxis mit der Inklusion beschäftigen, seit langem wissen: Die Vision von Inklusion braucht zwei Voraussetzungen für eine erfolgreiche Annäherung an die gesellschaftliche Realität, zum einen die Veränderung von Bewusstsein und zum anderen die Bereitstellung der materiellen Basis.

Das Ziel, gängige Vorstellungen von Normalität gegen den Strich zu bürsten, in den Medien die Frage zu stellen »Was ist normal«? (Die Zeit Nr. 20 v. 8.5.2013) und in der Kunst und der »Krüppelbewegung« »Unvollkommenes ist schön« zu propagieren, markiert einen auffälligen Bruch mit traditionellen Einstellungen und Überzeugungen.

Ein bemerkenswerter kultureller Wandel offenbart sich aber auch in der Akzeptanz und Verwendung der »Leichten Sprache«. Nicht nur Behörden und amtliche Verlautbarungen befleißigen sich ihrer, sie findet zunehmend auch Eingang in den öffentlichen Raum. Auf der Website hamburg.de wird der Fahrdienst für behinderte Menschen in Leichter Sprache präsentiert, der Deutschlandfunk offeriert das Portal »nachrichten-leicht.de« und sogar Teile der Bibel sind bereits übersetzt worden. Schließlich unterstreicht die Gründung des Instituts für Leichte Sprache und Inklusion (ISI) in Köln im Januar 2014 eine wachsende Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, Leichte Sprache als einen »Schlüssel zur Enthinderung der Gesellschaft« (Aichele 2014) zu verankern, ein Schlüssel, der keineswegs nur Menschen mit Lernschwierigkeiten dient, sondern auch allen anderen Bevölkerungsgruppen, die von kommunikativer Exklusion bedroht bzw. betroffen sind.

Aber es ist auch unübersehbar, dass die Debatte um Inklusion in Deutschland häufig von Uninformiertheit, Naivität und dogmatischer Fixierung gekennzeichnet ist, häufig emotional und moralisierend, thematisch verengt und somit einseitig geführt wird, etwa wenn traditionelle »Sonderinstitutionen« wie Förderschulen, Einrichtungen der berufliche Rehabilitation, Werkstätten für behinderte Menschen und andere Einrichtungen pauschal abqualifiziert und ideologische Debatten um ihre Existenzberechtigung geführt werden – Debatten, die oft fruchtlos verlaufen, da sie wichtige Zusammenhänge vernachlässigen.

Es geht mir in diesem Buch nicht um die rückwärtsgewandte Argumentation eines Für oder Wider Inklusion und den Versuch ihrer jeweiligen empirischen Beweisführung. Die Entscheidung für eine inklusive Gesellschaft ist eine wertegeleitete, sie kann daher weder bewiesen noch widerlegt werden, und die Entscheidung für Inklusion ist in Deutschland durch die Ratifizierung der UN-Konvention im Jahre 2009 getroffen worden. Worum es aber in der Gegenwart geht, ist die sehr entscheidende Frage, wie wir das Ziel der Inklusion in gesellschaftliche Praxis umsetzen wollen (s. a. Moser 2012, S. 7). Hier nun tun sich in der Tat beträchtliche Hürden auf, die es aufzuklären und abzubauen gilt.

Die inklusive Gesellschaft ist eine großartige Vision. Sie spornt an, in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür zu arbeiten, dass Menschen, die am Rande stehen oder gar von Ausschluss bedroht sind, ihren Platz als Bürger und Bürgerinnen mit unveräußerlichen Rechten in diesem Land finden. Dies betrifft behinderte Menschen, chronisch Kranke, aber auch Sinti und Roma, Flüchtlinge und Migranten, alte und pflegebedürftige Menschen – kurzum all jene, die der solidarischen Unterstützung durch die Gesellschaft bedürfen.

Es liegen unzählige Abhandlungen zum Thema Inklusion vor und die berechtigte Frage muss daher lauten: Noch ein Buch über Inklusion? Wurde nicht schon alles gesagt und geschrieben, was vonnöten ist? Ja, und nein! Es gibt in der Tat in Deutschland viele Publikationen zum Thema Inklusion, aber sie sind in gut deutscher Manier nicht selten moralisch überhöhte und dogmatisch grundierte Programmschriften für die gute Sache oder sie verlegen sich mehr auf Kritik und Abwehr. Was oft fehlt, ist eine Reflexion der Vision von Inklusion in ihrem komplexen Bedingungsgefüge.

Eine tragfähige Veränderung von gesellschaftlichem Bewusstsein im Sinne von Inklusion wird langfristig nur gelingen, wenn realisiert wird, welche tiefe historische Zäsur im Umgang mit behinderten Menschen in Deutschland, aber auch anderen Ländern, die Forderung nach Inklusion darstellt. Ferner bedarf es einer differenzierten, nüchternen Betrachtung internationaler Programmatiken und Praktiken, um einen begründeten nationalen Standpunkt zu entwickeln. Unverzichtbar für die hiesige Diskussion um Inklusion ist auch die Frage nach der Verfasstheit unserer Gesellschaft und im Hinblick auf die inklusive Schule die nach der Struktur des deutschen Schulsystems. Schließlich wird allzu leicht vergessen, dass es einzelne Menschen, die jeweiligen Professionellen, sind, die in der Praxis die Forderung nach Inklusion umsetzen sollen. Sie zu hören und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen, dürfte einer der Garanten für eine erfolgreiche Umsetzung des Ziels der Inklusion sein. Ein Schwerpunkt des Buches liegt daher in der Wiedergabe von Interviews, die ich mit Akteuren geführt habe.

Als die Bildungseuphorie und Reformbewegung der 1960er und 1970er Jahre zugunsten der Gesamtschule ins Stocken geriet, benannte der Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke als einen der Gründe für das Scheitern die »historische Ahnungslosigkeit« der Reformer (1977, S. 172 f.). Ein mangelndes historisches Gedächtnis könnte auch die Inklusionsbewegung zu Fall bringen, denn nur wer seine Herkunft kennt, vermag Zukunft zu gestalten. Ich möchte daher im 2. Kapitel zeigen, dass aus historischer Sicht nicht nur Strukturveränderungen, sondern vor allem ein grundlegender Mentalitätswandel erforderlich ist. In der Vergangenheit schwankte der Umgang mit behinderten Menschen stets zwischen Inklusion und Exklusion, und auch in der Pädagogik sind diese Ambivalenzen nachweisbar.

Da in der Forderung nach Inklusion in Deutschland die Behindertenrechtskonvention von 2006 als Kronzeuge angeführt wird, sollen in den Mittelpunkt des 3. Kapitels verschiedene internationale Dokumente zur Behindertenpolitik gerückt werden. Eine Analyse dieser Papiere belegt die Notwendigkeit der Adaption internationaler Programmatiken an nationale Gegebenheiten und bestreitet damit einen Widerspruch zwischen dem Ziel der Inklusion im Sinne von Selbstbestimmung und Teilhabe und der Existenz besonderer Organisationsformen für behinderte Menschen in den einzelnen Ländern.

Inklusion in gesellschaftstheoretischer Dimension wird in Kapitel 4 erörtert, indem Inklusion und Exklusion als ambivalente Prozesse entwickelter Staaten beschrieben werden. Gesellschaftliche Teilhabe auch für behinderte Menschen umzusetzen, kann nur in einem demokratischen Sozialstaat gelingen, in dem auch die Würde der schwächsten Gesellschaftsmitglieder anerkannt und respektiert wird.

Im 5. Kapitel stelle ich die Frage nach der strukturellen Verfasstheit des deutschen Bildungswesens und damit nach den Realisierungschancen einer inklusive Schule, um im anschließenden Kapitel 6 die Entwicklung in Berlin und Hamburg näher zu beleuchten, die beiden Stadtstaaten, die sich seit mehr als vier Jahrzehnte Integration bzw. Inklusion auf die Fahnen geschrieben haben.

Die Sicht der Akteure und damit die Debatte um pädagogische Professionalität bildet den Mittelpunkt des 7. Kapitels, um schließlich im 8. Kapitel am Beispiel von Frankreich, Luxemburg und Schweden erneut die internationale Perspektive aufzunehmen. Das 9. Kapitel wendet sich der besonderen Gruppe der Lernschwachen zu, Schüler, die in entwickelten Schulsystemen schon seit mehr als einhundert Jahren zwischen allen Stühlen sitzen. An ihrer Lage werden ungelöste Strukturprobleme moderner Bildungssysteme, aber auch die Grenzen pädagogischer Anstrengungen erkennbar. Den Abschluss des Buches bilden ein Ausblick in Kapitel 10 und eine Literaturauswahl, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Der Schwerpunkt meiner Darstellung liegt, gemäß meiner beruflichen Herkunft, auf dem Felde der Pädagogik – einer Pädagogik, so hoffe ich zu zeigen, die weder gesellschaftspolitischen Allmachtphantasien huldigt noch ihre Bedeutung und Wirksamkeit für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft unter den Scheffel stellt. Dabei sollen vor allem jene zu Wort kommen, die an verschiedenen Orten des pädagogischen Feldes an der Verwirklichung des Ziels Inklusion arbeiten: Lehrer, Schulleiter, Ausbilder, Sozialarbeiter, Behördenvertreter.

Dieses Buch will nicht nur die Fachleute, sondern auch Neugierige und interessierte Laien erreichen. Daher mein Bemühen, jenen Wissenschaftsjargon zu vermeiden, der eher vernebelt als dass er erklärt, und einer affirmativen Sprache aus dem Wege zu gehen, die vermeintliche Gewissheiten vorgaukelt anstatt den kritischen Verstand zu wecken.

Noch eine Vorbemerkung ist unerlässlich. Von behinderten oder beeinträchtigten Menschen zu sprechen, ist eigentlich eine unzulässige Generalisierung, denn keine Behinderung gleicht der anderen. All jene, zu denen eine Sinnesschädigung, eine intellektuelle Einschränkung, eine körperliche oder psychische Beeinträchtigung gehört, sind verschieden, da Individuen. Der Sprachgebrauch verführt uns stets zu Verallgemeinerungen und zur Abstraktion, dem kann auch ich nicht entgehen; es gilt aber auch für dieses Buch, dass es immer nur um den einzelnen Menschen geht.

Eine letzte Bemerkung ist mein Dank an all jene, die dazu beitrugen, dass dieses Buchprojekt schließlich konkrete Gestalt annahm: Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag, Dietrich Ellger, Kathleen Fietz, Tobias Hensel und allen Interviewpartnern, die mir ihre Zeit und ihr Vertrauen schenkten.

2          Inklusion und Exklusion: der Blick auf die Geschichte

 

 

 

»Niemals hab’ ich einen Vater gesehen, der seinen Sohn, wenn er auch gleich bucklig oder grindig war, nicht für sein Kind erkannt hätte; obwohl er, wenn er nicht ganz von Zärtlichkeit berauscht ist, schon merkt, wo’s ihm fehlt; aber bei alledem ist es sein Kind.«

Michel de Montaigne 1580

Es ist auffallend, dass in der öffentlichen Debatte um Inklusion die historische Dimension so gut wie keine Rolle spielt. Dieser Mangel an historischem Bewusstsein, der übrigens national (Zymek 2013) und international (Shakespeare 2006, S. 158 f.) beklagt wird, hat allerdings gravierende Folgen für die Diskussion aktueller Problemlagen. Denn nur ein kritischer Blick auf die Geschichte lässt die Gegenwart verstehen und begründete Handlungsperspektiven für die Zukunft entwerfen. Dies gilt auch für den Bereich der Pädagogik. Will man historisch gewachsene Strukturen verändern, so bedarf es nicht nur der Akzeptanz aller Beteiligten, sondern auch eines längerfristigen Mentalitätswandels – wenn nicht das Gegenteil erreicht werden soll. Der Erziehungswissenschaftler Helmut Fend bemerkt hierzu: »Ohne eine historische Sensibilität können Gestaltungsaktivitäten im Bildungswesen schnell zu Vorschlägen und Maßnahmen führen, die an die historisch entstandenen kulturellen Vorgaben nicht anschließbar sind und deshalb vom schulischen ›Innensystem‹ abgestoßen werden« (Fend 2006, S. 17).

Die Geschichte des Umgangs mit behinderten Menschen lässt sich in den Kategorien von Inklusion und Exklusion beschreiben (vgl. Janzten 2010), und die Überlieferungen belegen, dass es zu allen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen gesellschaftlichen Einschluss und Ausschluss von behinderten Menschen gegeben hat. Dabei kann mit Blick auf die Historie weder von einer kulturoptimistischen Verbesserung der Lage Behinderter die Rede sein noch von der gegenteiligen kulturpessimistischen Annahme einer generellen Verschlechterung ihrer Situation (vgl. Neubert/Cloerkes 1994, S. 96). Die kulturell und zeitlich sehr variablen Reaktionsmöglichkeiten sind vielmehr bedingt durch Einflussfaktoren, die abhängig sind von der Art der Behinderung, dem Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung und der Situation der jeweiligen Gruppe, in der der behinderte Mensch sich befindet.

Der Ethnologe Klaus E. Müller (1996) analysierte die jahrhundertelange Entwicklung bei alten Naturvölkern als auch späten Hochkulturvölkern in ihrem Verhältnis zu gesellschaftlichen Außenseitern, wie Menschen mit einer Behinderung. Er beschrieb ihre ambivalente gesellschaftliche Funktion, die zum einen das jeweilige Sozialgefüge und seine Ordnung bedroht, aber zum anderen auch stabilisiert. Nach Müller werden diese Fremden und Andersartigen abgelehnt, ausgegrenzt und verfolgt und zugleich auch wieder »gebraucht«, da ihnen bestimmte hellseherische und heilende Kräfte zugesprochen werden, so etwa geistig behinderten Menschen in einigen Kulturen. Die »Grenzlinge« gehören jedoch unaufhebbar zur Spezies Mensch und daher kann Müller resümieren, »jeder ist seines Nächsten Krüppel« (a.a.O., S. 290), denn »generell, im Vergleich zu den Göttern gesehen, sind an sich jedoch alle Menschen Mängelwesen, unzulänglich beschaffen, mit teils erheblichen Schwächen, quasi ›Behinderte‹ unterschiedlicher Abstufung« (a.a.O., S. 189).

Wie Kulturwissenschaften und Ethnologie uns zeigen, standen jene, die »anders« waren, in einem ambivalenten Verhältnis zur »Kerngesellschaft« oder »Kerngruppe«. Die Bandbreite menschlicher Reaktionen reicht vom blumengeschmückten Grab eines behinderten Menschen zur Zeit des Neandertalers (vgl. a.a.O., S. 208) bis hin zur geplanten und organisierten physischen Vernichtung zur Zeit des deutschen Faschismus. Dazwischen liegen alle variablen Formen von gesellschaftlichem Ausschluss und Zugehörigkeit, von Inklusion und Exklusion.

Der Faschismus, insbesondere in seiner deutschen Ausprägung als Nationalsozialismus, bildet den bisherigen Höhepunkt einer Exklusionspolitik gegenüber behinderten Menschen. Bekanntlich entschieden allein der »rassische Wert« und die Fähigkeit zu nützlicher Arbeit über ihre Überlebenschancen im Dritten Reich. All jene, die diese Eigenschaften nicht aufwiesen, wurden der Vernichtung preisgegeben. Zweifelsohne gab es auch unter Stalins Herrschaft eine Vernichtungspolitik gegenüber verschiedenen Menschengruppen, nicht zuletzt auch Kranken und Behinderten (vgl. Wirth 2006), aber anders als im Nationalsozialismus wurde diese nach bisherigem Kenntnisstand weder systematisch geplant noch mit organisatorischer Akribie durchgeführt.

Die Ungeheuerlichkeit der NS-Behindertenpolitik bleibt bis zum heutigen Tag Stachel und Wunde im kollektiven Gedächtnis; sie warnt vor naivem Glauben an historischen Fortschritt, und sie hat ihre Wirkung bis in die unmittelbare Gegenwart. Nach vielen Jahren des Schweigens werden seit den 1970er Jahren Formen des Gedenkens und Erinnerns an die NS-Verbrechen an behinderten Menschen gesucht. Exemplarisch ist hierfür die Errichtung eines Denkmals in den 1980er Jahren direkt vor der Berliner Philharmonie am ehemaligen Ort der Organisationszentrale der »Euthanasie« in der Tiergartenstraße 4, nach der sie ihren Tarnnamen »T4« erhalten hatte. Im September 1995 veranstalteten Vertreter der deutschsprachigen Heil- und Sonderpädagogik eine Gedenkfeier für die Opfer der »Euthanasie« an diesem Ort und bekannten eine Mitschuld ihrer Berufsgruppe an der Ausgrenzung behinderter Menschen im Nationalsozialismus (Ellger-Rüttgardt 1999 u. 2000).

Diese Gedenkstätte, die aus einer in den Boden eingelassenen Tafel und einer Skulptur Richard Serras besteht, erfuhr Kritik, da sie weder eine ausreichende öffentliche Wirkung erziele noch genügend informativ sei. Nach vielen Jahren der Diskussion im politischen Raum, vorangetrieben vor allem von der Initiative »Runder Tisch T4« und der »Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde« (DGPPN), wurde am 13. April 2011 ein interfraktioneller Antrag auf Errichtung eines Gedenkortes für die Opfer der NS-»Euthanasie«-Morde im Bundestag eingebracht. Ziel des neu zu gestaltenden Denkmals war, den »historischen Ort sichtbar zu machen« und über den Ort, die Opfer, das Verbrechen und die Täter aufzuklären und zu informieren (image Kasten 1).

Deutscher Bundestag

Drucksache 17/5493

17. Wahlperiode 13.04.2011

Antrag

der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die-GRÜNEN

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie war die Erfassung, Verfolgung und Ermordung von Menschen mit Behinderung und psychisch Kranken. Der dabei von den Nationalsozialisten verwendete Begriff der »Euthanasie« war eine bewusste Verharmlosung für den Tatbestand des Massenmordes. Zudem kann dieses sog. »Euthanasie«-Programm als eine Vorstufe für ihre späteren Planungen des Holocaust und des systematischen Mordens an den europäischen Juden sehen werden …

Die Realisierung eines Gedenkortes für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Verbrechen und die Aufklärung über Tat und Täter am Platz vor der Berliner Philharmonie ist nicht nur eine Berliner, sondern auch eine gesamtstaatliche Aufgabe, die dem Anspruch der Bundesrepublik Deutschland, für eine würdige Erinnerung an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus einzutreten, gerecht wird. Ziel sollte es sein, das bestehende Denkmal und den Gedenkort so aufzuwerten, dass dem Anliegen, am Ort der Täter über die Dimension des Verbrechens und seine Opfer zu informieren, entsprochen werden kann …

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich in Ergänzung und unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen in den Ländern für die gemeinsam von Bund und Berlin zu verantwortende Aufwertung des bereits bestehenden Denkmals für die Opfer der »Euthanasie«-Morde sowie ihre angemessene Würdigung am historischen Standort der Planung und Organisation der »Aktion T 4« in der Tiergartenstraße 4 in Berlin einzusetzen und weitergehend über »Euthanasiemorde«, Zwangssterilisation und anderen damit zusammenhängenden NS-Verbrechen zu informieren …

Kasten 1: Quelle: Deutscher Bundestag, Drucksache 17/5493 v. 13.4. 2011

In einer Bundestagsdebatte im November 2011 wurde der Antrag behandelt und bei Enthaltung der Linksfraktion einstimmig angenommen. Schließlich erfolgte 2014 die Einweihung des neuen Mahnmals, eingeläutet durch die Eröffnung einer Wanderausstellung im Deutschen Bundestag mit dem Titel »Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus« (Schneider/Lutz 2014).

Anlässlich der Eröffnungsfeier sagte ein Vertreter der »Bundesvereinigung Lebenshilfe«: »Wir brauchen die Inklusion als Schutz, damit so etwas nicht wieder geschieht.« Besser kann man nicht ausdrücken, wie sehr die Debatte um Inklusion des historischen Bewusstseins bedarf, denn niemand sollte annehmen, dass die Überzeugung von der »Minderwertigkeit« behinderter Menschen nur von überzeugten Nazis vertreten wurde. Nein, sie war dank jahrelanger und raffinierter Propaganda wie ein schleichendes Gift in die Gedankenwelt und die Überzeugungen vieler Deutscher eingedrungen, sie bestand bereits vor 1933, und sie wirkt nach bis in die Gegenwart.

Geschichte, die nicht vergehen will, ist auch die Triebfeder des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal, der in seinem Roman »Le Village de l’Allemand ou le Journal des frères Schiller« von 2008 (auf Deutsch: »Das Dorf des Deutschen oder das Tagebuch der Brüder Schiller«) das Leben eines algerischen Jugendlichen in einer Pariser Vorstadt und dessen Suche nach der Wahrheit über das Leben seines verstorbenen deutschen Vaters schildert, eines Mitgliedes der SS. Besonders berührend für den deutschen Leser ist nicht nur die Aufdeckung der KZ-Tätigkeit des Vaters, sondern auch die im französischen Original immer wiederkehrenden deutschen Worte wie »minderwertige Leute« (S. 162) oder »Vernichtung lebensunwerten Lebens« (S. 149). Erschreckend ist die gezogene Parallele zwischen dem Nationalsozialismus und dem Islamismus, der, so Boualem Sansal, in den französischen Banlieues mit Riesenschritten das »Vierte Reich« vorbereitet (S. 178).

Ein letztes Beispiel für die Wirkmächtigkeit der jüngsten Geschichte ist der Aufruf von Vertretern der französischen Zivilgesellschaft im Oktober 2014 zur Errichtung eines Mahnmals für die Opfer der »Euthanasie« in Frankreich. Dieser Aufruf richtet sich an den Präsidenten der Republik und erhebt die Forderung nach einem Ort des Erinnerns für die französischen Opfer der »Euthanasie« (image Kasten 2).

Appel national pour un mémorial en hommage aux personnes fragilisées par la maladie et le handicap condamnées à mourir sous le régime de Vichy

Charles Gardou

Professeur à l’Université Lumière Lyon 2

Peut-on collectivement oublier le destin tragique des enfants, des femmes et des hommes, fragilisés par la maladie et le handicap qui furent exterminés par le régime nazi ou condamnés à mourir par celui de Vichy?

Se souvient-on que, selon le Tribunal Militaire International, créé en août 1945, 275 000 enfants ou adultes affectés d’une déficience mentale ou physique furent assassinés dans le cadre d’Aktion T4, mis en oeuvre par le Troisième Reich? Ce plan d’extermination fut précédé et accompagné de stérilisations contraintes, pratiquées à partir de l’une des toutes premières législations nazies. Au nom de l’ »hygiène raciale«, elle fut appliquée à la manière d’une »ordonnance médicale«, pour protéger le peuple de la »gangrène ou de la tumeur cancéreuse«, que représentaient ceux que l’on jugeait »génétiquement inférieurs«.

On estime à 400 000 le nombre des personnes stérilisées entre 1934 et 1945, en incluant celles relevant des territoires annexés par l’Allemagne après 1937 tenus d’appliquer la même loi.

S’y ajoutent les 50 000 personnes internées dans les hôpitaux psychiatriques français, sous le régime de Vichy, mortes par abandon, absence de soin, sous-alimentation et autres maltraitances.

Crimes immondes.

Or, qui se souvient de ces victimes? Quel acte symbolique a été posé dans notre pays pour perpétuer leur mémoire? Aucun.

Demandons au Président de la République que notre pays érige, dans un lieu symbolique, un mémorial qui leur soit dédié

JE SIGNE CET APPEL ET JE LE DIFFUSE DANS MES RESEAUX

Signature sur le site

(http://www.change.org/fr/p%C3%A9titions/pour-un-m%C3%A9morial-en-hommage-aux-personnes-handicap%C3¬%A9es-victimes-du-r%C3%A9gime-nazi-et-de-vichy)

Kasten 2: Aufruf zur Errichtung eines Mahnmals für die Opfer der Euthanasie in Frankreich vom 28.10.2013

Die pädagogischen Anstrengungen für Bildung und Erziehung behinderter Schüler in der Vergangenheit können in Abhängigkeit vom Blickwinkel des Betrachters sowohl als Erfolgs- als auch Verfallsgeschichte beschrieben werden. Geht man vom Phänomen des Scheiterns pädagogischer Prozesse für diese Gruppe von Schülern im Rahmen der allgemeinen Schule aus, dann schreibt sich die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik zweifellos als eine Erfolgsgeschichte, da sie die Verdienste um die Durchsetzung des Rechts auf Bildung in den Mittelpunkt rückt (vgl. Möckel 2007). Richtet sich die Betrachtung aber zugleich auf die dunklen Seiten dieser pädagogischen Spezialdisziplin – etwa Abschottungstendenzen gegenüber der allgemeinen Pädagogik, übersteigerte professionelle Profilierung, Disziplinierungstendenzen gegenüber ihrer Klientel, gesellschaftspolitische Abstinenz bzw. Ignoranz gegenüber politischen Herausforderungen –, dann ist anzuerkennen, dass auch die Heilpädagogik wie jede Pädagogik der Moderne durch das Phänomen der Ambivalenz gekennzeichnet ist, nämlich durch die Gleichzeitigkeit von Universalisierung und Partikularisierung, durch die Gleichzeitigkeit von Kultivierung versus Disziplinierung und Kontrolle (vgl. Tenorth 2006, S. 498; Ellger-Rüttgardt 2008a, S. 15 ff.).

Bildsamkeit als der zentrale Begriff der Pädagogik schließt als Idee und aus anthropologischer Sicht alle Personen ein, also auch behinderte; sie gilt demnach universell. In ihrer praktischen Wirksamkeit – und darin lag und liegt ihr paradoxaler Charakter – führte diese Idee der Bildsamkeit bislang immer auch zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen.

Erinnert sei an die Zeit der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts, als einzelne Pioniere zum ersten Mal systematische Unterrichtsversuche für gehörlose und blinde Kinder der unteren Stände unternahmen. Ob in Edinburgh, Paris, Leipzig, Wien und wenig später auch in Berlin – stets waren es außergewöhnliche Persönlichkeiten, die zum entscheidenden Motor für die institutionelle Entwicklung eines besonderen Zweigs im Bildungswesen wurden. Ob diesen mutigen Schritten Einzelner aber Erfolg und eine langfristige Wirkung beschieden waren, hing von den jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Umständen ab.

Die ersten Bildungsversuche für Gehörlose und Blinde, später auch für geistig behinderte und verwahrloste Kinder, waren stets nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Angesichts des allgemein hohen Bildungsstandards Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen (vgl. Wehler 1989, S. 478 ff.), nimmt sich die Schulbesuchsquote sinnesbehinderter Schüler äußerst bescheiden aus – von der Gruppe der geistig Behinderten war noch gar nicht die Rede. Nach Schätzungen kamen 1860 nur 12 Prozent der statistisch erfassten Blinden überhaupt in den Genuss von Bildung (vgl. Dreves 1998, S. 546), und damit blieb der Großteil behinderter Kinder und Jugendliche in Preußen ohne jeden Unterricht. Diesen Umstand dürfen wir mit Fug und Recht als Exklusion bezeichnen.

Der Wunsch, möglichst vielen gehörlosen und blinden Kindern Unterricht zu vermitteln, führte in der 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zu der Idee der »Verallgemeinerung«, die nicht nur in Preußen, sondern auch in Wien und Frankreich propagiert wurde (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008 a, S. 108 ff.). Sie repräsentierte den Versuch, die betreffenden Schüler in der Elementarschule ihres Heimatortes direkt zu beschulen. Gedanke und Plan der »Verallgemeinerung« waren ein großartiges und faszinierendes bildungspolitische Projekt: ein Elementarschulwesen zu schaffen, das auch den sinnesbehinderten Kindern zugänglich sein sollte, das durch Kombination von Spezial- und Volksschulen frühzeitige und behindertengerechte Bildung vermitteln, durch ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit von behinderten und nicht behinderten Kindern soziales Lernen befördern und Exklusion verhindern sollte und das eine Lehrerbildung anstrebte, in der eine spezielle Pädagogik ein integraler Bestandteil derselben werden sollte.

Aber diese Idee scheiterte und musste scheitern – so urteilen wir aus heutiger Sicht. Die Gründe hierfür sind vielfältiger Natur. Sie lagen zum einen in einer halbherzigen Bildungspolitik, die zwar das Bildungsrecht Sinnesbehinderter im Prinzip anerkannte und zu befördern suchte, die aber weder bereit noch in der Lage war, die erforderlichen ideellen und materiellen Voraussetzungen für die Realisierung der formulierten Bildungsziele zu schaffen. Und sie waren folglich begründet in einer Systemschwäche des Bildungswesens, gekennzeichnet durch übergroße Klassen und damit der fehlenden Möglichkeit zur Individualisierung, ferner in gering oder gar nicht qualifizierten und schlecht bezahlten Pädagogen sowie im Mangel an spezifischen Hilfsmitteln.

Schließlich lagen die Gründe des Scheiterns der Idee der »Verallgemeinerung« aber auch in der Natur einer sich etablierenden speziellen Pädagogik selbst, die nicht nur die Beachtung der Individualität des einzelnen Zöglings einforderte, sondern auch in didaktischer Hinsicht besondere Akzente setzte – etwa, wenn der damalige Direktor der Berliner Blindenanstalt daran erinnerte, dass der Unterricht für die Blinden besonders den Musik- und Handarbeitsunterricht zu pflegen habe und dass er Zweifel hege, ob dieses in ausreichender Weise in den Elementarschulen geschehen könne. Damit wird Mitte des 19. Jahrhunderts erkennbar, dass sich eine eigenständige Pädagogik und pädagogische Profession für Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen zu etablieren beginnt, die im Bewusstsein der Zeitgenossen zwar noch Teil der Elementarpädagogik ist, aber in Theorie und Praxis einen zunehmenden Eigencharakter entfaltet.

Repräsentativ für die damals noch bestehende enge Verbindung von einer allgemeinen und einer besonderen Pädagogik ist der 1861 erschienene erste Band des zweibändigen Werkes »Die Heilpädagogik« von Georgens und Deinhardt, das die Programmatik für eine theoretisch und praktisch fundierte neue pädagogische Disziplin beinhaltete, die sich fortan Heilpädagogik nannte. Dieses letztlich allein von Heinrich Marianus Deinhardt verfasste Werk (Stöger 2011) ist aus heutiger Sicht von ungebrochener Aktualität, denn es ist geprägt von der Nähe der Heilpädagogik zur allgemeinen Pädagogik und zur allgemeinbildenden Schule, und es atmet den revolutionären Geist einer sozialpolitisch bewussten und verantwortlichen Heilpädagogik (vgl. Ellger-Rüttgardt 2011a).

Nahezu zeitgleich, nämlich 1859, erschien das bahnbrechende Buch Charles Darwins »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein«, das eine neue Sicht auf die Welt einläutete und großen Einfluss auf eine Pädagogik für behinderte Schüler nehmen sollte. Die zunehmende Propagierung sozialdarwinistischen Gedankenguts hatte zur Folge, dass behinderte Menschen zunehmend als minderwertige und überflüssige Glieder der Gesellschaft klassifiziert wurden. Aber auch die Medizin, und hier vor allem die Psychiatrie, veränderte ihre Rolle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem Anwachsen ungelöster sozialer Probleme aufgrund gravierender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse nahm die Psychiatrie zunehmend auch die »armen Irren« in den Blick, die aber nicht primär unter dem Aspekt des Heilens, sondern dem traditionellen der Aufbewahrung betrachtet wurden. Die wachsende gesellschaftliche Bedeutung der Medizin gewann auch Einfluss auf die Heilpädagogik. Diese hatte sich in ihrer Anfangszeit ganz bewusst als pädagogische Disziplin definiert, auch wenn die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit der Medizin stets unbestritten war (image Kasten 3).

Was in den Rahmen der Normalität, den die Anlage, die Sitte, das Vorurteil und das Urtheil gebildet haben, nicht hineinpasst, wird von der Gesellschaft überall, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, ausgeschlossen, bei Seite geschoben, verdeckt. Ebenso verfahren die Erziehung und die Heilpraxis, welche an sich die Aufgabe haben, die Abnormitäten und Deformitäten, die sich vorfinden, so weit es möglich ist, zu überwinden und die Normalität herzustellen.

Kasten 3: Quelle: Georgens/Deinhardt 1861, S. 30

Dieses noch bei Georgens und Deinhardt anzutreffende, gewissermaßen partnerschaftliche Verhältnis von Heilpädagogik und Medizin verlor sein Gleichgewicht spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts, als den Medizinern in Preußen 1859 durch staatliche Entscheidung die ausschließliche Leitungsfunktion der Heil- und Pflegeanstalten übertragen wurde. Die Heilpädagogik selbst geriet immer stärker in den Bann einer sich naturwissenschaftlich verstehenden Medizin und war zumindest in Teilen auf dem Wege, ihre zentrale pädagogische Kategorie der Bildsamkeit zugunsten einer der Medizin entliehenen Terminologie von Krankheit und Gesundheit aufzugeben.

Eine dominant medizinische Sicht auf pädagogische Problemlagen manifestierte sich im letzten Drittel des Jahrhunderts in eklatanter Weise in der sich etablierenden Hilfsschulpädagogik, die in einer Interessenallianz mit Staat und Volksschullehrerschaft für die Einrichtung einer neuen Schulform warb: der Hilfsschule (image Kap. 9).

Das Dritte Reich war, wie eingangs erwähnt, national und international der bisherige Höhepunkt einer Exklusionspolitik gegenüber behinderten Menschen. Allein der »rassische Wert« und die wirtschaftliche Nützlichkeit legitimierten deren Lebensrecht zur Zeit des Faschismus (image Kasten 4).

Hitler in einem Gespräch von 1941:

Verbrecher, asoziale Elemente, die auch nicht durch Erziehung, Belehrung und Gefängnis auf bessere Wege gebracht werden könnten … seien Schmarotzer an der gesunden Gesellschaft und lebten nur davon, die ordentlichen Menschen auszubeuten. Man könne von ihnen nicht erwarten, dass sie einen Staat, der Ordnung und Disziplin verlangt, bejahten. Hier könne man nur eines: Sie vernichten. Hierzu habe der Staat ein Recht, denn, wenn auf der einen Seite die wertvollen Menschen an der Front ihr Leben einsetzten, sei es verbrecherisch, die Schurken zu schonen. Man müsse sie beseitigen oder – wenn sie nicht gemeingefährlich seien – in Konzentrationslager sperren, aus denen man sie nicht mehr herauslassen dürfe.

Kasten 4: Quelle: Sachße/Tennstedt 1992, S. 269

Es war nur folgerichtig, dass alle Bildungsanstrengungen für behinderte Schüler auf ein Minimum reduziert bzw. ganz eigestellt wurden. Verhängnisvoll war diese Zeit aber auch für das Selbstverständnis einer Pädagogik für behinderte Schüler, die sich unter der NS-Herrschaft und vorangetrieben von regimetreuen Professionellen als eine »Sonderpädagogik« definierte, die, getrennt von der allgemeinen Schule und der Mutterdisziplin Pädagogik, auf ihre disziplinäre und schulorganisatorische Eigenständigkeit pochte.

Struktur und Selbstverständnis einer auf »Besonderung« angelegten Heil- und Sonderpädagogik wirkten lange nach in der Nachkriegszeit, und eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit unterblieb weitgehend. Unreflektierte Kontinuität der Sonderpädagogik verhinderte auch, dass an die Ideen und Traditionen einer Verbindung von allgemeiner Pädagogik und Heilpädagogik angeknüpft wurde. Stattdessen erfolgte ein expansiver Ausbau des Sonderschulwesens in beiden deutschen Teilstaaten bei gleichzeitiger starker innerer Ausdifferenzierung (image Kasten 5), nicht selten in guter Absicht, aber kaum historisch reflektiert (vgl. Bleidick/Ellger-Rüttgardt 2008).

KMK 1960: Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens

Bezeichnung und Aufzählung der Sonderschulen

Zu den Sonderschulen gehören

 

•  Blindenschule

•  Sehbehindertenschule

•  Gehörlosenschule

•  Schwerhörigenschule

•  Sprachheilschule

•  Körperbehindertenschule

•  Krankenschule und Hausunterricht

•  Hilfsschule

•  Beobachtungsschule

•  Erziehungsschwierigenschule

•  Gefängnisschule (Schule im Jugendstrafvollzug)

•  Sonderberufsschule (als eigene Schule oder in Verbindung mit anderen Sonderschulen)

Kasten 5: KMK 1960: Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens

Ein wirklicher Neuanfang im Selbstverständnis der Heil- und Sonderpädagogik in Deutschland markierte das Gutachten des Deutschen Bildungsrates »Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher« aus dem Jahre 1973, das zwar weniger historisch, wohl aber international-vergleichend argumentierte. Seit den Tagen der Weimarer Republik wurde damit zum ersten Mal wieder für mehr Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern im Bildungswesen plädiert und mit der Tradition eines strikt separaten Sonderschulwesens gebrochen. In Anknüpfung und als Ergänzung zum »Strukturplan für das Bildungswesen« des Deutschen Bildungsrats von 1970 wurde als neues Ziel die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher propagiert, die eingebettet sein sollte in eine umfassende Reform des gesamten Schulwesen (image Kasten 6).

Für diese neue Empfehlung mußte die Bildungskommission davon ausgehen, daß behinderte Kinder und Jugendliche bisher in eigens für sie eingerichteten Schulen unterrichtet wurden, weil die Auffassung vorherrschte, daß ihnen mit besonderen Maßnahmen in abgeschirmten Einrichtungen am besten geholfen werden könne. Die Bildungskommission folgt dieser Auffassung nicht. Sie legt in der vorliegenden Empfehlung eine neue Konzeption zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher vor, die eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung mit Nichtbehinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontakte mit Nichtbehinderten ermöglicht. Damit stellt sie der bisher vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schulische Integration entgegen.