Kapitel 2
In der Nacht tat Mami noch nicht einmal so, als würde sie schlafen. Sie warf sich neben mir auf dem Ausziehsofa herum, stand auf und legte sich wieder hin. Gegen drei Uhr morgens ging ich in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen, da kochte sie einen großen Topf ajiaco – kolumbianische Hühnersuppe. Ihre langen, gewellten Haare fielen ihr aus dem sonst so festen Knoten. Sie schnitt und rührte unendlich langsam, während sie aus dem winzigen Fenster starrte. Der Himmel war kalt und stahlgrau, der abnehmende Mond bloß eine Sichel.
»Mami? Warum kochst du?«, fragte ich.
»¡Mi’ja!«, rief sie und drehte sich um. Sie blinzelte schnell, um alle Anzeichen dafür, dass sie einen Schreck bekommen hatte oder auch nur von meiner Stimme überrascht worden sein könnte, zu verbergen. Dann kam sie zu mir und legte mir ihre kräftigen Hände auf die Wangen. »Vali, vete a dormir«, sagte sie.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte ich.
»Du musst«, erwiderte sie.
Mami war eine leidenschaftlicher Mensch und konnte knallhart sein. Ich war überzeugt, dass sie mit ihren nur eins fünfundfünfzig die Welt aufhalten oder Ernie und mich durch die Apokalypse tragen konnte – was auch immer zuerst erforderlich war. Sie hatte breite Schultern, einen tonnenförmigen Leib und wettergegerbte hellbraune Haut. Ihre dunklen Augen funkelten stets vor Entschlossenheit. Mami arbeitete auf McAuley’s Dairy Farm knapp außerhalb von Southboro, der Stadt, in der wir in Vermont lebten. Gerade vor ein paar Wochen hatte sie geholfen, ein Kalb auf die Welt zu bringen. Es war eine Steißgeburt. Mami hatte mir erzählen wollen, wie aufregend es war, seine Plazenta aufzufangen, aber ich musste würgen. Mami war absolut nie zimperlich oder verängstigt. Ihre Überlebensregeln lauteten:
1. Liebe alle Lebewesen, groß wie klein.
2. Sorge dich nicht und danke dem Herrn für dein Leben.
3. Beschütze deine Familie um jeden Preis.
»Mi ’ja, a dormir«, sagte sie, ihre Stimme leise und rau. Ihre vollen Lippen formten sich nur dann zu einem Lächeln, wenn sie es wollte. Jetzt verzog sie den Mund missbilligend.
Ich tat es ihr nach, unser Gesichtsausdruck war fast identisch. Ich fand es schön, meiner Mami so sehr zu ähneln. Wir hatten die gleiche Hautfarbe, die gleichen langen Haare, sogar die gleichen Hüften. Wir trugen dieselben BHs, benutzten dieselben Lipliner und teilten unsere Liebe für Old School Reggaeton. Vor allem hatte ich das Gefühl, dass Mami in mich hineinsehen, durch meine ganze Verwirrung und Angst dringen und auf mein Herz aufpassen konnte.
Normalerweise hätte ich nie gewagt, ihr zu widersprechen. Ich wäre zurück ins Bett gegangen, wie sie es mir gesagt hatte. Ich war ein sehr respektvolles Kind. Aber ich konnte meine Gefühle nicht einfach ignorieren und mich wieder hinlegen. Egal, was Mami mir einzureden versuchte, das hier war kein normaler Tag. Gerade erst vor ein paar Stunden hatten wir mitverfolgt, wie dieses Mädchen an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten in die Luft gejagt worden war, wie Leute in San Diego auf die Mauer losgingen und Schüsse in die Menge abgefeuert wurden. Das hier war der Morgen danach, oder vielleicht war es nur eine Fortsetzung des schrecklichen Moments, in dem wir uns hier befanden, während die Westküste in Flammen stand und niemand uns sagte, was los war.
Wenn ich mich noch mal hinlegte und die Augen zumachte, würde ich wieder das Mädchen mit dem hüpfenden Pferdeschwanz sehen, wie es von einem Augenblick auf den anderen von Flammen verschluckt wurde. Oder ich würde einschlafen und den nächsten Albtraum von ihr haben, wie sie auf eine Landmine tritt und ihr Körper explodiert und Eingeweide und Augäpfel und Fetzen ihres Mickey-Mouse-T-Shirts durch die Luft fliegen.
Oder von mir, wie ich über den Streifen Land renne, um sie wieder zusammenzustückeln, wohl wissend, dass es mir nicht gelingen wird.
»¿Mi’ja?« Mami drückte meine Wangen. »Ab.«
»Aber was ist mit Tía Luna? Hast du mit ihr geredet?«
Mami schüttelte den Kopf und wendete sich wieder dem Topf auf dem Herd zu.
»Gibt es immer noch keinen Empfang?«, fragte ich. Sie antwortete nicht. Doch ein Blick auf mein Handy verriet es mir. Die Regierung hatte alles abgeschaltet – Internet, Mobilfunk. Die Botschaft war klar: Hier gibt es nichts zu sehen und nichts zu tun. Man zeigte uns nichts weiter als einen leeren Stuhl und das Porträt des Präsidenten in einem Raum aus Beton.
Wir befanden uns in völliger Dunkelheit.
»Es gibt nur noch die Nationalen Nachrichten«, sagte Mami resigniert. »Dort wird ständig dasselbe erzählt. Von der Wirtschaft, die so gut läuft, und den Handelskriegen, die wir gewinnen. Und wusstest du, dass es eine neue Sandale mit … cremallera … mit Reißverschluss gibt? Die ist diese Saison sehr beliebt.«
»Was redest du da?«, rief ich ein bisschen zu laut.
»Schhh. Por favor. Ernie schläft noch«, flüsterte Mami. »Mehr sagt man uns nicht. Das sind alle Neuigkeiten, die ich für dich habe. Das sind alle Neuigkeiten, die es gibt.«
Ich griff nach Mamis Handy auf dem Küchentresen. Es war ganz warm. Sie hatte Tía Lunas Nummer seit dem Abend dreiundfünfzigmal angerufen. Ich rief ein vierundfünfzigstes Mal an, doch wieder hörte ich nur den nichtssagenden Spruch: Ihr Anruf kann zurzeit nicht entgegengenommen werden.
»Vali, por favor«, sagte Mami und nahm mir das Telefon ab, bevor ich die Nummer noch einmal wählen konnte.
»Ich will wissen, was los ist!«
»Ich auch, mi’ja. Aber man sagt uns jetzt nichts. Also geh schlafen.« Sie drückte mich schnell an ihre Brust, dann schob sie mich zur Küchentür hinaus. Und das war’s.
Ich versuchte, wieder einzuschlafen. Ich versuchte es wirklich. Ich ging ins Wohnzimmer und legte mich hin, erst auf meine Seite des Betts, dann auf Mamis Seite, dann quer. Es ging einfach zu viel in mir vor. Ich sah Bilder von dem Mädchen, wie es einen Fuß vor den anderen setzte. Ich sah die Erde explodieren, die Kamera fallen, die rennenden Füße und den aufwirbelnden Staub. Ich hörte die wahnsinnigen Schüsse.
Ich nahm mein Handy und suchte nach Informationen über den letzten Abend. Aber es gab nichts. Oder vielmehr gab es nichts anderes als die Nationalen Morgennachrichten, mit bleich geschminkten Sprecherinnen und Sprechern, die auf Wetterkarten zeigten und vorgaben, aus leeren Bechern Kaffee zu trinken, und an der von der Regierung finanzierten Farce mitwirkten – über die Vereinigten Staaten, die zu einem wunderbaren neuen Tag erwachten. Obwohl ich ganz sicher wusste, dass wir uns in der schlimmsten Wirtschaftskrise der Geschichte der USA befanden. Hier wuchs nichts. Die Dürre tötete das Vieh und jede Art von Vegetation, das Wasser war strikt rationiert, und wir konnten froh sein, dass Mami überhaupt einen Job hatte.
Die Nachrichtensprecherinnen und -sprecher mit ihren weißen, geraden Zähnen verkündeten erfundene Wahrheiten, wie
Die US-Wirtschaft boomt!
Die Dürre ist fast vorbei!
Und sehen Sie sich diese wunderbaren neuen Sandalen an!
Ich konnte es durchaus verstehen. Ich konnte verstehen, wie das amerikanische Volk von diesen geistlosen Nachrichten hypnotisiert werden konnte. Ich wollte mich auch davon einlullen lassen und den Nachrichten glauben. Es wäre so viel einfacher gewesen.
Aber ich wusste, was es bedeutete, eine Lüge zu leben. Eine Lüge, wegen der ich Menschen gegenüber, die ich nicht kannte, schüchtern und unsicher war. Eine Lüge, die mich nervös machte, sobald ich Sirenen hörte oder wenn ich in der Schule eine Aufgabe bekam, die das Erzählen der persönlichen Familiengeschichte beinhaltete. Eine Lüge, die sich durch meine Ängste noch weiter verfestigte und immer größer wurde.
Für mich begann die Lüge, als wir Kolumbien verließen.
Mein Name ist Valentina González Ramirez, aber Menschen, die mich richtig gut kennen, nennen mich Vali. Ich wurde in der Stadt Suárez, eingekeilt zwischen Bergen im Norden der Provinz Cauca, geboren. Dort lebte ich, bis ich vier Jahre alt war, daher habe ich nur noch Erinnerungsfetzen von Farben und Geräuschen:
Die orange glühende Sonne, die durch unseren hölzernen Türrahmen fiel.
Das schnelle Keuchen von Papi, während er mit mir auf dem Rücken einen steilen, schlammigen Pfad emporlief.
Der Staub unter mir, der sich dunkelrot färbte, nachdem ich über die Schaufel eines Bergbaubaggers gestolpert war und mir die Unterlippe aufgeschlagen hatte.
Die Süße von Mamis Kochbananen auf unserem Herd.
Doch die Fäden, die diese Details miteinander verbanden, sah ich nicht. Ich wusste nichts von den großen Unternehmen, die unsere Stadt übernehmen wollten. Ich wusste nichts von den Morddrohungen und dass tatsächlich Menschen umgebracht wurden, wenn sie die Unternehmen davon abhalten wollten, das Gold unter unseren Bergen hervorzuholen. Und ich wusste definitiv nichts davon, dass meine Großeltern, meine abuela und mein abuelo, in ihrem brennenden Haus in den Flammen umgekommen oder dass fünf Mädchen gefoltert und in dem Fluss, in dem ich Schwimmen gelernt hatte, ertränkt worden waren.
Sie waren alle Opfer eines bewaffneten Konflikts ohne Kriegserklärung. Es handelte sich nicht mehr um den zweiundfünfzigjährigen Bürgerkrieg in Kolumbien, dieser Krieg war stiller. Fast noch tödlicher, weil er so verborgen und grausam war. Ein Krieg, getarnt im Gewand des Friedens.
Mami hatte mir das alles erzählt, nachdem wir in die USA gekommen waren. Sie sagte, sie vermisse Kolumbien jede einzelne Sekunde jedes Tages, aber dass die Berge und Flüsse voller Blut seien. Deswegen mussten wir unser Zuhause verlassen und uns hier ein neues erschaffen.
Tu naciste en Colombia pero también eres de acá, sagte Mami jeden Abend zu mir, bevor ich schlafen ging.
Und ich antwortete: Naci en Colombia pero también soy de acá.
Es war wie ein Gebet, eine Bitte. Ich würde immer Kolumbianerin sein. Genauso wie ich immer Amerikanerin sein würde. Zumindest fühlte ich mich wie eine Amerikanerin, nachdem ich jetzt schon seit zwölf Jahren hier lebte.
Zwei Wochen nach meinem vierten Geburtstag gingen Mami, Papi und ich über die Grenze nach San Diego. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, weil ich Mami da zum ersten Mal weinen gesehen hatte und sie mir nicht sagen konnte, ob sie weinte, weil sie glücklich oder traurig war. Wir schliefen eine Zeit lang in einer Obdachlosenunterkunft, doch dort wurden Mami und ich von Papi getrennt, was mich wütend machte und mir Angst einjagte. Also beschloss Mami, dass wir stattdessen im Park schliefen, damit wir alle zusammen sein konnten. Papi fand eine Farm, auf der er und Mami tagsüber Tomaten pflücken konnten. Ich saß währenddessen hinter einem Schuppen und musste ganz leise sein, um niemanden zu stören. Von den ganzen Tomaten bekam ich Bauchschmerzen und ich wurde ziemlich oft von Bienen gestochen.
San Diego war wunderschön und schrecklich zugleich. Die Straßen waren breit und asphaltiert. Jeden Abend, wenn die Sonne unterging, verfärbte sie sich rosa. Es gab einen Vergnügungspark mit Achterbahnen und springenden Delfinen. Doch irgendwie fühlte ich mich ständig einsam, selbst als ich in den Kindergarten kam und Zeit mit Kindern meines Alters verbrachte. Ich wusste, ich war anders. Ich wusste, nicht alle Familien mussten sich einen Plan für den Fall überlegen, dass Mami oder Papi nicht von der Arbeit nach Hause kamen, weil die Einwanderungsbehörde sie geschnappt hatte. Ich wusste, es war nicht normal, dass ich jedes Mal zusammenzuckte, wenn jemand an die Tür klopfte.
Ich lernte den Treueschwur auf die Flagge der Vereinigten Staaten auswendig und sprach ihn beim täglichen Aufsagen in der Schule besonders laut. Auf dem Pausenhof freundete ich mich mit einem blonden Mädchen namens Rosie an. Sie sagte, dass ich ihre beste Freundin sei und jederzeit bei ihr schlafen könne. Doch als ich es einmal machen wollte, fragte mich ihr Vater, woher ich käme, und ich wurde so nervös, dass ich »Nirgendwoher!« sagte und nach Hause lief. Danach redete Rosie nicht mehr mit mir.
Mami, Papi und ich zogen in ein eigenes Apartment. Eigentlich war es ein Büroraum über einem Autohaus, daher roch es immer nach Benzin, und statt eines Kühlschranks hatten wir bloß eine Kühlbox. Aber es war unseres. Ich weiß noch, wie ich am Anfang der ersten Klasse unsere neue Adresse auf mein Notizbuch schrieb – für den Fall, dass ich es verlor. Und weil ich so stolz war.
Ich bettelte Mami ständig an, mir Jeans und Stirnbänder zu kaufen, damit ich aussah wie die ganzen beliebten Mädchen in meiner Klasse. Aber ich sah nicht aus wie sie. Egal, wie ich mich kleidete, ich hätte nie so ausgesehen wie sie. Ich war breiter und dunkler. Ein Mädchen sagte einmal, ich habe die Farbe ihrer Lieblingskaramellsorte. Ein anderes fragte mich, warum die Haare an meinen Armen so lang seien und ob ich ihr beibringen könne, das R zu rollen.
Ich wollte einfach nur mit der Schule fertig werden und arbeiten gehen wie meine Eltern. Ich erzählte ihnen, dass ich eines Tages Herzspezialistin oder eine berühmte Sängerin werden und genug Geld verdienen würde, um ihnen ein schickes Auto aus dem Autohaus unter uns zu kaufen – zum vollen Preis. Mami lachte und Papi sagte, er könne es gar nicht erwarten, damit zu fahren. Ich dachte, ein Auto wäre das, was sie am meisten brauchten. Sie rackerten sich beide in mehreren Jobs ab, um für Essen und Miete aufzukommen und für das neue Baby zu sparen. Mami war mit meinem kleinen Bruder Ernesto schwanger, der am selben Tag geboren wurde, als der Präsident Kaliforniens Gouverneur durch ein Mitglied seiner Regierung ersetzte, um für »Einheit und Integrität« zu sorgen.
Zu dieser Zeit wurden die Abschiebungsrazzien immer schlimmer. Jeden Tag gab es Aufstände und Proteste. Als der Präsident zum dritten Mal wiedergewählt wurde, erlaubten mir meine Eltern, am Abend aufzubleiben und mit ihnen Nachrichten zu gucken. Fassungslos sahen wir das Feuerwerk in Rot, Weiß und Blau losgehen während nördlich der Grenze die ersten Stahlträger in den Boden gerammt wurden.
Es geschah wirklich. Zwischen Mexiko und Kalifornien wurde die Great American Wall errichtet.
Kurz darauf traten die Pressezensurgesetze in Kraft. Papi warf unseren Fernseher raus und sagte, ab jetzt würden wir nur noch echte Nachrichten aus unabhängigen Quellen verfolgen. Doch die Regierung drang auf jede mögliche Weise in unseren Raum ein. Der Präsident erschien überall in riesigen, flackernden Hologrammen wie irgendein intergalaktischer Prophet. Er redete davon, dieses Land »säubern« zu wollen, damit es keine Obdachlosigkeit, keine Seuchen, keine Drogen und keine sonstigen Bedrohungen unserer Demokratie mehr gab.
In Wirklichkeit meinte er, keine undokumentierten Immigrantinnen und Immigranten mehr. Niemanden mehr wie uns.
Von nun an, erklärte er, müssen sich alle, die in den Vereinigten Staaten lebten, am Handgelenk einen ID-Chip unter der Haut einsetzen lassen. Auf den Chips würden alle Informationen über uns gespeichert sein – Ausweisnummer, Geburtsort, Blutgruppe, Krankheitsgeschichte, sogar Allergien. Die Chips würden alles viel einfacher machen, erklärte der Präsident. Mit einem simplen Scan wüssten wir ein für alle Mal, wer hierhergehörte.
Wer keinen Chip hatte, war offensichtlich »illegal«.
Sich einen Chip einsetzen zu lassen war schmerzlos und umsonst, aber vorgeschrieben. Wir mussten nichts weiter tun, als mit unserer Geburtsurkunde oder dem Nachweis unserer Staatsangehörigkeit in eine Klinik zu gehen. Die Chips waren so klein, dass sie mithilfe von ein bisschen Betäubungsspray durch eine Spritze injiziert werden konnten. Ich hatte zugesehen, wie Ernie seinen Chip bekam. Er war noch ein Baby und gab kaum einen Mucks von sich. Für ihn war es leicht, einen Chip zu bekommen, denn er war in den Vereinigten Staaten geboren.
Bei Mami, Papi und mir war es anders.
Während der Präsident noch vor dem Feuerwerk redete, fing Mami bereits an, alle, die sie in San Diego kannte, zu kontaktieren und um Hilfe zu bitten. So machte sie jemanden ausfindig, der in seiner Küche gefälschte ID-Chips einsetzte. Er nahm fünftausend Dollar pro Stück, was viel mehr war, als meine Eltern hatten, selbst wenn wir in Raten zahlten. Papi sagte, er würde sich später einen Chip holen, es sei wichtiger, dass Mami und ich einen hätten. Er sagte, er würde vorsichtig sein, es würde alles gut gehen.
Der Chip war nicht größer als ein Reiskorn, aber als der Mann in meine Haut schnitt, tat es so sehr weh, dass ich ohnmächtig wurde – eine Betäubung hätte extra gekostet. Ich hatte mir fest vorgenommen, mutig zu sein. Ich drückte Mamis Hand und sah ihr fest in die Augen. Sie hatte diesem Mann buchstäblich jeden Penny gegeben, den wir besaßen. Als ich aufwachte, war ich
Amelia Catherine Davis
Ausweisnummer 072 54 3998
Geboren am 22. 07. 2016, in Arcata, Kalifornien
Blutgruppe: A+, braune Augen, keine Allergien
Ich wusste nicht, wer Amelia Catherine Davis in Wirklichkeit war. Ich wusste noch nicht mal, ob sie tot war oder noch lebte. Ich wusste nur, dass sie mir eine neue Identität gegeben hatte, eine neue Chance, in Sicherheit zu leben. Ich wiederholte die Daten wieder und wieder. Ich sagte sie vor meinen Eltern auf, vor Ernie, der noch ein Baby war, vor den Wänden unseres Apartments, vor dem Himmel. Ich sagte sie zehnmal auf, bevor ich ins Bett ging, zehnmal, bevor ich mir die Zähne putzte, und zehnmal für jeden Schuh, den ich morgens anzog. Ich rieb das Narbengewebe an meinem rechten Handgelenk, bis es ganz rot und wund war. Ich musste mich versichern, dass es noch da war, dass ich noch da war.
Kurz darauf führte die Regierung die ersten ID-Scanner in Kalifornien ein. Sie sahen aus wie diese Geräte, mit denen die Barcodes von Lebensmitteln gescannt werden. Nur waren es statt Kassiererinnen und Kassierern Mitarbeitende der Einwanderungsbehörde in voller Kampfmontur, die kontrollierten, ob wir es alle hindurchschafften. Als ich zu meinem ersten Scan an der Schule stehen bleiben musste und zusah, wie das dünne blaue Licht über meine pummelige Hand strich, dachte ich, ich könnte jeden Moment in eine Million Teile zerfallen.
Ich bin Amelia Catherine Davis. 072 54 3998, wiederholte ich in Gedanken. Ich bin in den Vereinigten Staaten geboren.
Als der Scan abgeschlossen war, hörte ich ein leises Klicken, und der Mann hinterm Scanner nickte und schickte mich weiter. Mir war so schlecht vor lauter Aufregung, dass ich erst einmal auf Toilette gehen und meine Wange gegen die kalten Fliesen pressen musste, um mich zu beruhigen. Doch als ich meinen Eltern beim Abendessen davon erzählte, nickten sie stolz. Papi nannte mich sogar seine kleine guerrera.
»Ich bin nicht klein«, sagte ich und streckte die Brust raus. Er lachte und strich sich über den Bart. Das machte er ständig.
Bis sie ihm den Bart abrasierten.
Am letzten Tag vor den Winterferien in der dritten Klasse wurde Papi, während ich in der Schule meiner Freundin die Haare flocht, von der Einwanderungsbehörde festgenommen. Er wurde in Handschellen abgeführt und in einen Viehtransporter gedrängt. Alle auf der Tomatenfarm – insgesamt über dreihundert Menschen – wurden zusammengetrieben und zu einer Haftanstalt an einem geheimen Ort transportiert. Mami war an dem Tag zu Hause, weil Ernie Fieber hatte. Doch sobald sie von der Razzia erfuhr, schnürte sie sich meinen kleinen Bruder vor die Brust und kam zur Schule gelaufen, um mich in der Pause abzupassen.
Statt sie lächelnd zu begrüßen oder auch nur ihren sorgenvollen Blick zu bemerken, fragte ich: »Was machst du hier? Ich spiele Fangen!«
Sechs Monate lang war Papi in der Haftanstalt. Sie hatten ihm alle Habseligkeiten abgenommen und den Kopf kahl geschoren. Wenn er uns über Videofon anrief, biss ich mir immer in die Wangen, um nicht zu weinen. Er rief alle paar Tage zu unterschiedlichen Zeiten an und fragte uns nach den ganzen albernen Details unseres Lebens. Ich erzählte ihm, dass Ernie jetzt krabbeln konnte und Unmengen von Avocados aß. Ich berichtete, dass ich der einzige neunjährige Sopran im Schulchor war und 92 Prozentpunkte aufs Diktat bekommen hatte. Es fühlte sich seltsam an, ihm all das zu erzählen, aber er sagte, er wolle es hören. Als wollte er sich versichern, dass wir ohne ihn zurechtkamen.
Das taten wir aber nicht. Zumindest ich tat es nicht. Das war das Schwerste an diesen langen Monaten – vorzugeben, als ginge es uns allen gut, als wären wir glücklich. Die Lehrerinnen und Lehrer an der Schule anzulächeln oder den Mann, der den kleinen Lebensmittelladen nebenan besaß, und mich zu fragen, ob sie sich wünschten, dass auch ich verschwand.
Ich hatte vor allen und allem Angst. Vor den Scan-Stationen und den Transportern und der Frage: Wie geht’s?, oder Alles okay?
Ich wurde schweigsam und wütend und klein wie eine geballte Faust. Ich zuckte zusammen, wenn ich das Gefühl hatte, dass mich jemand komisch ansah – schon allein, wenn ich das Gefühl hatte, dass mich überhaupt jemand nur ansah. Ich wollte einfach auf die Welt einschlagen, meinen Papi schnappen und wegrennen.
Wir mussten aus dem Autohaus ausziehen und lebten wieder in der Obdachlosenunterkunft. Mami konnte nicht zurück zur Arbeit. Die beiden Farmen, auf denen sie als Tagelöhnerin gearbeitet hatte, beschäftigten zwar wieder Leute, aber Mami hielt es für zu riskant, selbst mit gefälschtem Chip. Sie hörte von einem Netzwerk von Kindermädchen, die gut bezahlt wurden, aber auch das schien gefährlich. Wir wussten nicht, wo die »Säuberungen« als Nächstes stattfinden würden und wem wir vertrauen konnten. Jedes Mal, wenn wir mit Papi redeten, sagte er, er würde bald nach Hause kommen. Nur klang seine Stimme mit der Zeit immer müder und weniger überzeugend.
Und dann rief er auf einmal nicht mehr an. Wir warteten tagelang, und die Tage wurden zu Wochen und dann zu einem Monat. Noch nicht einmal die Anwältin, für die Mami unser letztes Geld zusammengekratzt hatte, konnte unsere Fragen beantworten. Wir erfuhren nie, wann, wie oder warum die Haftanstalt aufgelöst worden war und man die Undokumentierten in Flugzeuge zwang, um sie abzuschieben. Wir erfuhren nie, wo Papi gewesen war, bevor der Krieg in Kolumbien ihn einholte.
Hatte er es zurück in unsere Heimatstadt Suárez geschafft?
War er gerade aus dem Flugzeug gestiegen?
Wusste er, wer ihm neunmal in den Rücken schoss?
Mami hatte nie gewollt, dass ich das Foto von den sterblichen Überresten meines Vaters sah. Kein neunjähriges Kind sollte so etwas sehen müssen. Doch eine unserer Cousinen, die noch in Suárez lebte, schickte Mami eines Tages, als wir gerade zu Abend aßen, eine Nachricht. Mami ließ ihr Telefon fallen und stieß ein herzzerreißendes Klagen aus. Als ich nach dem Telefon griff, versuchte sie noch, es mir wegzureißen, doch zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie nicht genug Kraft.
Das Foto zeigte Papis Leiche. Er lag neben einem steilen Bergpfad, vielleicht demselben Pfad, den er mit mir auf dem Rücken hochgestiegen war, als ich mit meinen wenigen Jahren die Schönheit der Berge noch nicht zu schätzen wusste. Sein Gesicht grün und blau geschlagen und im Schmerz erstarrt. Überall war Blut.
Ich starrte auf das Bild. Versuchte, es neu zu sortieren, auf den Kopf zu stellen oder umzudrehen, für den Fall, dass es jemand anders war. Aber ich konnte nicht leugnen, dass es mein Papi war. Er trug dasselbe blassgelbe T-Shirt, in dem ich ihn vor fast einem Jahr zum letzten Mal gesehen hatte. Seine neuen Barthaare stachen in dünnen Stoppeln aus der Haut an seinem Kinn.
Ich sah das Bild von Papi, im Tod verrenkt und kalt, ständig vor mir. Ich sah ihn, wenn ich abends die Augen schloss und wenn ich sie morgens wieder aufschlug, wenn ich mir die Haare bürstete oder im Radio eine Gitarre hörte, wenn ich Röstzwiebeln roch und wenn ich redete oder lachte oder atmete.
Am Sonntag, nachdem wir das Bild erhalten hatten, ging Mami mit uns in die Kirche, um für ihn zu beten. Ich wollte alle dort anbrüllen: Mein Papi ist tot! Sie haben ihn mir weggenommen, und euch allen ist das völlig egal!
Doch stattdessen saß ich da und weinte noch nicht einmal.
Ich wartete bloß darauf, dass die Kerzen alle ausgingen.
X
»Niños, Vali, Ernesto!«, rief Mami aus der Küche. Mit tränenüberströmtem Gesicht wachte ich auf. Ich hatte mal wieder von Papi geträumt. Deswegen ängstigte ich mich davor, einzuschlafen, besonders wenn Mami nicht neben mir lag. Ich wurde viel zu schnell in diese brutalen Erinnerungen gesogen. »Vengan! Rapido!«
Ernie stolperte aus seinem Kabuff, das Mami für ihn als Schlafzimmer umfunktioniert hatte. Es war winzig, aber seins. Was ein Segen war, auch wenn es darin nach alten Socken stank.
»Was ist denn los?«, fragte er mich und klimperte nervös mit seinen langen Wimpern, während er auf eine Erklärung wartete, warum ich geweint hatte. Er umklammerte Señor Cebra – das lila-weiß gestreifte Stoffzebra, das er, seit er ein Baby war, immer mit ins Bett nahm. Manchmal vergaß ich, dass mein kleiner Bruder erst acht Jahre alt war. Was schnell passierte, denn er hatte Papis Gene und reichte mir schon bis zum Kinn. Ernesto Palmero nannte Mami ihn, weil er in die Höhe schoss wie eine Palme.
»Nichts. Alles okay«, sagte ich.
Nichts war okay. Nichts an dieser ganzen Welt war okay.
Aber vielleicht war ich einfach zu sehr daran gewöhnt, eine Lüge zu leben, um etwas anderes zu sagen.