Mathilda Grace
ABSOLUT INS HERZ
Absolut ins Herz
1. Auflage, Mai 2021
Impressum
© 2021 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2020
Fotos: GDJ, ractapoulous, geralt; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Korrektorat: Corina Ponta
Web: www.mathilda-grace.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Diese Geschichte handelt von einem fiktiven LGBT-Zentrum in Boston.
Absolut ins Herz enthält homoerotischen Inhalt.
Mathilda Grace
Liebesroman
Liebe Leserin, Lieber Leser,
ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.
Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.
Dankeschön.
Liebe Grüße
Mathilda Grace
Das »Boston Hearts« ist ein privat geführtes LGBT-Zentrum für obdachlose und anderweitig gefährdete Jugendliche in Boston, eröffnet von dem Anwalt Maximilian Endercott vor über fünfundzwanzig Jahren. Heute betreiben er und sein Ehemann Elias, der gleichzeitig Arzt des Zentrums ist, das »Bostons Hearts« gemeinsam und haben seit der Gründung nach und nach acht teils schwer missbrauchte und traumatisierte Jugendliche als Ziehkinder angenommen und sie mit viel Liebe und Geduld großgezogen.
Diese Männer erzählen in der »Boston Hearts Reihe« ihre Geschichten.
Zwei seiner Brüder sind vom Markt und Kade MacDonald in heller Aufregung, denn er will auf keinen Fall die Nummer drei werden. Darum wird er sich auch tunlichst von dem neuen Hausmeister im LGBT-Zentrum seiner Väter fernhalten, denn Joe Travis ist genau das, was sich Kade unter seinem ganz persönlichen Traummann vorstellt. Höflich, anständig, gut aussehend, liebt Kinder – und er ist hinter Kade her, wie der Teufel hinter der armen Seele.
Prolog
Kade
Als sie ihn fanden, war sein Bruder bereits tot und er selbst stand kurz davor ihm zu folgen.
Eine Stunde lang kämpften Sanitäter und ein sich zufällig vor Ort befindlicher Chirurg um ihrer beider Leben, und am Ende holten sie sowohl ihn als auch seinen Zwilling zurück in eine Welt, die für sie bislang nur aus einem dunklen, feuchten Keller und einem zugigen Dachboden bestanden hatte.
Sie hatten keine Namen, keinen Geburtstag, keine Eltern.
Niemand hatte gewusst, dass es sie gab.
Niemand hatte nach ihnen gesucht.
Kinder des Teufels nannte sie der Mann mit den dunklen Augen und wirren Haaren, den andere Männer in Uniform aus dem Haus brachten und in einen Wagen setzten.
Sie sahen ihn nie wieder.
Aber sie hörten das Geflüster. Von einer toten Frau oben im Bett, bereits skelettiert und zurechtgemacht wie eine Braut am Tag ihrer Hochzeit. Sie hörten, dass diese Frau ihre Mutter war, gestorben am Tag ihrer Geburt, und dass ihr psychisch kranker Vater, jener Mann mit den wirren Haaren, über ihren Verlust, den Verstand verloren und sie eingesperrt hatte, unfähig, sich richtig um sie zu kümmern, aber auch unfähig, jemandem zu sagen, dass sie existierten.
Sie sahen die mitleidigen Blicke, die sie allerdings erst Jahre später als mitleidig begriffen.
Sie sahen das Kopfschütteln und die Ratlosigkeit, wie man mit ihnen verfahren sollte.
Sie sahen die Hilflosigkeit in den Gesichtern der Menschen, die sich jetzt um sie kümmern sollten, und die nicht einmal in der Lage waren, ihnen zu erklären, warum sie nicht mehr auf den Dachboden oder in den Keller zurück durften. Weg von all dem grellen Licht und den störenden Geräuschen, die seinem Bruder so sehr in den Augen und den Ohren wehtaten, dass er immerzu weinte, sobald sie ihm keine Medikamente gaben, die ihn schlafen ließen.
Aber dann kamen sie.
Elias und Maximilian Endercott.
Sie löschten das Licht an der Decke, zogen die Vorhänge an den Fenstern zu und ließen die Rollos hinunter, bevor sie zwei kleine Leuchten einschalteten, die Sterne an die Decke warfen, und ihnen danach beibrachten, ein Kartenspiel zu spielen, um ihnen am Ende des Tages eigene Namen zu geben.
Kade und Marc MacDonald.
MacDonald, nach ihrer verstorbenen Mutter.
Kade – der starke Kämpfer.
Marc – die sanfte Seele.
Eine Beschreibung, die Kade gefiel, denn er hatte seit jeher auf seinen Bruder aufgepasst, der jetzt weniger weinte und von Tag zu Tag mehr lächelte, sobald Elias und Maximilian sie erst zu zweit und schließlich mit diesen beiden Jungen besuchten, die eines Tages ihre neuen Brüder werden würden.
Mit zwölf Jahren – zumindest schätzten die Ärzte ihr Alter auf diese Zahl – waren sie Gespenster ohne Namen.
Mit dreizehn lernten sie, dass Licht und Geräusche normal waren und ihnen keine Angst machen mussten.
Mit vierzehn versuchten ihre coolen Brüder ihnen, begleitet von viel Gelächter und dem stolzen Grinsen ihrer neuen Väter, das Fahrradfahren beizubringen.
Mit zwanzig schloss Kade endlich die Schule ab, unter dem Jubel seiner klatschenden Brüder, und küsste noch in derselben Nacht zum ersten Mal einen anderen Mann, den sein Bruder Cole ein paar Wochen später verprügelte, als Kade herausfand, dass sein Freund nur versuchte, ihn ins Bett zu bekommen, um eine Wette zu gewinnen.
Mit zweiundzwanzig wusste er immer noch nicht, was er aus seinem Leben machen sollte, also schlugen ihm seine Väter vor, sich versuchshalber ein bisschen mit der Verwaltung und der Organisation des »Boston Hearts« zu beschäftigen.
Kade erkannte schnell, dass ihm beides lag.
Fünf Jahre später schloss er erfolgreich sein BWL-Studium ab und nahm den Job an, den Maximilian ihm anbot, um ganz offiziell für seine Väter zu arbeiten und sich um all die kleinen und größeren Probleme zu kümmern, die es nun einmal so mit sich brachte, wenn man ein LGBT-Zentrum für obdachlose und benachteiligte Kinder und junge Erwachsene führte.
Kapitel 1
Kade
Kade MacDonald war auf der Flucht.
Eigentlich stimmte das nicht mal, schließlich konnte er im »Boston Hearts« so schnell durch die Flure laufen, wie es ihm beliebte, immerhin arbeitete er hier. Andererseits war es schon ein wenig auffällig, wie er sich in unbeleuchteten Nischen und Ecken herumdrückte, um möglichst ungesehen in sein Büro zu kommen, wo ein Berg Arbeit auf ihn wartete.
Ein heiteres Lachen ließ ihn sich nur noch tiefer in die enge Nische drücken, in die er zuvor mit dem auf lautlos gestellten Handy in der einen und einer Kaffeetasse in seiner anderen Hand gehuscht war, um Joe Travis, dem neuen Hausmeister im LGBT-Zentrum seiner Väter, aus dem Weg zu gehen, der seit seiner Einstellung hinter ihm her war, wie der berühmte Teufel hinter der unschuldigen Seele.
Coles lässige Worte, nach denen er in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Und weil sein älterer Bruder ihn schon vor zwei Tagen auf seiner letzten Flucht vor Travis erwischt hatte, dürfte auch der Rest ihrer großen, neugierigen und immer zu Klatsch aufgelegten Familie mittlerweile Bescheid wissen, dass er einen Verehrer hatte.
Und genau das war leider Kades Problem. Er wollte keinen Verehrer. Er wollte auch keinen Freund. Schon gar keinen sexy Hausmeister, der in seiner Latzhose einen so knackigen Arsch vorzuweisen hatte, dass er Kade seit Wochen feuchte Träume bescherte. Mister Nervensäge, Joe Travis, sah umwerfend aus, wusste das und versuchte jeden Tag aufs Neue, ihn im Haus zu erwischen und auf ein Date einzuladen.
Nicht, dass Kade grundsätzlich etwas gegen Dates hatte, im Gegenteil. Ein paar hatte er in seinem Leben schon gehabt und er hatte auch nicht abstinent gelebt oder jedes Mal die goldene Regel, erst drei Dates und dann Sex, befolgt. Kade mochte Sex, aber er hielt es lieber unverbindlich. Vor allem seit er Dreißig geworden war und festgestellt hatte, dass ihm die Arbeit hier im Zentrum, mit den Kids, die seine Hilfe brauchten, viel mehr brachte, als eine Nacht schweißtreibender Sex. Und wenn er es auf einen Orgasmus abgesehen hatte, nun, den konnte er auch allein haben. Dafür brauchte es keinen anderen Mann.
Jedenfalls keinen in Fleisch und Blut, korrigierte sich Kade in Gedanken, denn die nächtliche, sexy Traumversion reichte ihm in seinem Bett derzeit völlig.
Außerdem gab es da Marc.
Sein sanfter Zwilling, der in seinem Lehrerjob hier im Haus seine Erfüllung gefunden hatte, und obwohl Kade das wusste, fiel es ihm immer noch unglaublich schwer, seinen Bruder sein eigenes Leben leben zu lassen. Vor allem seit sie nicht mehr in dem hübschen Zimmer bei ihren Vätern lebten, sondern jeder für sich ein eigenes Apartment bewohnten. Er hatte von Geburt an auf Marc aufgepasst und dass der ihn mittlerweile nicht mehr brauchte, damit kam Kade nicht sehr gut zurecht. Eines Tages würde sich das bestimmt ändern, aber momentan fühlte sich Marcs Selbstständigkeit für ihn wie ein Verlust an.
»Er ist in den Garten raus.«
Kade zuckte ertappt zusammen und lugte aus der Nische, vor der ein sehr amüsierter Derrick stand, einen großen Karton in den Händen haltend, der bis zum Rand mit Taschenbüchern und Hardcoverausgaben vollgepackt war. Die neue Bestellung für die Bibliothek war pünktlich eingetroffen. Sehr gut.
»Sicher?«, fragte er misstrauisch und Derrick lachte.
»Ja, ganz sicher. Aber ich bezweifle, dass er bei dieser Kälte lange draußen bleibt. Also sieh zu, dass du schnell in dein Büro kommst und es von innen verriegelst und verrammelst. Wobei ich ihm sogar zutraue, dass er von außen über den Balkon bei dir einsteigt. Leg dir am besten einen vierbeinigen Bodyguard mit scharfen Zähnen zu, der ihm in den Hintern beißt, wenn er zu lästig wird.«
»Joe ist nicht lästig, er ist nur … hartnäckig.« Kade deutete mit dem Kopf auf den Karton und ignorierte den Spruch mit dem Bodyguard, weil seine Familie seit Neuestem auf Hunde stand, nachdem Dare seiner kleinen Lilly einen tollpatschigen Dalmatiner-Welpen namens Bubbles geschenkt hatte. »Hast du mir die Rechnung geschickt?«
Derrick schmunzelte. »Die Rechnung liegt längst in deinem E-Mail-Postfach. Übrigens, er ist nicht nur hartnäckig, er ist bis über beide Ohren in dich verliebt, Kade.«
»Ja, ja, ja«, maulte er und machte sich an Derrick vorbei aus dem Staub, dessen heiteres Glucksen ihm folgte, bis er um die nächste Ecke bog, nachdem er einen genauen Blick in den Flur geworfen hatte, um sicherzugehen, dass der auch wirklich leer war, und dann schnell in sein Büro huschte.
Erleichtert aufatmend streckte er sich und stellte die Tasse ab, um einen raschen Blick aufs Handy zu werfen, ob es in der WhatsApp-Gruppe, die sie für alle Kinder im »Boston Hearts« eingerichtet hatten, etwas Neues gab. Da das jedoch nicht der Fall war, setzte er sich an seinen Schreibtisch und trank einen Schluck Kaffee.
Draußen fegte ein eisiger Wind pfeifend um das Haus und Kade schauderte unwillkürlich, als er sich daran erinnerte, wie er vorhin sein Apartmenthaus verlassen hatte. Das Jahr schien wirklich Rekorde brechen zu wollen. Erst der lange Winter bis in den Mai und nach einem kurzen Sommer hatte es bereits im November das erste Mal geschneit und seither irgendwie auch nicht mehr aufgehört. Was ihr ach so toller Präsident natürlich seit Beginn der letzten, heißen Wahlkampfphase dazu genutzt hatte, sich im TV lang und breit darüber auszulassen, wo denn der angebliche Klimawandel bliebe, der die Welt mit Hitze und Dürre bedrohte.
Die Dummheit dieses Mannes war erschreckend, aber Kade hatte weitaus Besseres zu tun, als sich weiter Gedanken darum zu machen. Rechnungen bezahlen zum Beispiel. Und dann die Vorratsliste für die Küche in Angriff zu nehmen, denn für die anstehende Weihnachtszeit brauchten sie oft das Doppelte an Vorräten von Lebensmitteln wie Mehl, Milch, Eier, Margarine, Kakao oder Zucker. In den folgenden Wochen würden hier im »Boston Hearts« Unmengen an Keksen und andere Leckereien gebacken werden, von dem alljährlichen Weihnachtsessen mal ganz zu schweigen.
Ein kaum hörbares Klopfen an der Tür lenkte ihn von der Kaffeetasse ab, nach der Kade gerade hatte greifen wollen, und er sah zur Tür. »Ja?«
Die Tür wurde ein Stück aufgeschoben, doch es dauerte ein wenig, bis der feingliedrigen Hand, die sich dann langsam um das dunkle Holz legte, ein Körper folgte, der genauso schlank und zierlich war wie die Hand. Kade warf seinem Besucher ein einladendes Lächeln zu.
»Hey, Brody.«
»Hey.«
Mehr sagte der schüchterne Junge vorerst nicht, aber daran hatte Kade sich bereits gewöhnt. Brody Cooper war ihr letzter Neuzugang im Herbst gewesen und dass er überhaupt mit ihm sprach, war für alle im Haus ein Riesenerfolg, denn Brody kam aus schlimmen Verhältnissen. Das traf zwar auf alle Kinder im »Boston Hearts« zu, aber Kade konnte sich nicht erinnern, dass sie vor Brody schon mal jemanden aufgenommen hatten, der von seinem eigenen Vater wie ein wildes Tier in einem zugigen Schuppen gehalten worden war. Maximilian versuchte seitdem herauszufinden, wie alt Brody war und ob er noch anderweitig Familie hatte, denn Brodys Vater hatte sich mit einem Revolver das Leben genommen, aber vorher wenigstens genug Anstand besessen, den Notruf zu wählen, damit Brody nicht starb, denn von der Eisenkette um seinen Hals hätte sich der Junge niemals selbst befreien können.
Drei Monate war das nun her und alle im Haus freuten sich über jeden noch so kleinen Fortschritt, den Brody machte. Und sei es nur die Tatsache, dass er endlich in seinem Bett schlief, statt darunter auf dem Boden, wie in den ersten Wochen, wo er offenbar in jeder Minute damit gerechnet hatte, wieder zurück in den Schuppen gebracht zu werden.
»Schokolade.«
Kade gluckste leise und zog die unterste Schublade seines Schreibtischs auf, wo er seit einiger Zeit immer Schokolade für Brody aufbewahrte, denn nach der war er verrückt. Niemand konnte sagen, wieso Brody ausgerechnet ihn als Bezugsperson ausgesucht hatte, aber Kade mochte den Jungen und er mochte Schokolade. Es fiel ihm daher nicht schwer, sie regelmäßig mit Brody zu teilen, der den ihm zugeworfenen Schokoriegel dann mit einem begeisterten Laut auffing, ehe er das Büro genauso zurückhaltend wieder verließ, wie er es zuvor betreten hatte.
Schmunzelnd schloss er die Schublade wieder, griff nach seinem Kaffee und gönnte sich zwei Schlucke, um sich danach endlich den offenen Rechnungen zuzuwenden. Als die bezahlt waren, war der restliche Kaffee kalt und Kade überlegt, sich in der Küche frischen zu besorgen.
Stattdessen wanderte sein Blick erneut zum Fenster, das im unteren Bereich ein paar Zentimeter mit Schnee bedeckt war. Der eisige Wind fegte ihn immer wieder mit neuen Böen heran, was zwar wunderschön aussah, aber auch für Probleme sorgte, denn mittlerweile mussten alle Wege um das »Boston Hearts« herum jeden Tag mehrmals gefegt und eisfrei gemacht werden, damit sich niemand aus Versehen verletzte. Und das war eine Mammutaufgabe, die Joe nicht alleine bewältigen konnte. Aus diesem Grund hatten sie einen Winterdienst engagiert, der sich um die großen Wege und Zufahrten kümmerte, während Joe mit den älteren Kids im Haus dafür sorgte, dass alle anderen Wege begehbar waren.
Bereits in dreieinhalb Wochen war Weihnachten und sollte es bis dahin so weiter schneien, bestand durchaus die Gefahr, dass sie hier draußen völlig eingeschneit wurden. Nicht zum ersten Mal, denn Boston hatte schon einige harte Winter hinter sich. Sie würden auch den diesjährigen überstehen und Kade hätte seinen Schreibtisch längst hinter sich gelassen, um unten im Garten einen Schneemann zu bauen, so wie er es früher mit Begeisterung getan hatte, würde er nicht in Arbeit ersticken.
Sein Blick fiel unwillkürlich auf den kleinen Schneemann mit einem gestrickten Schal, der seit dem ersten Advent neben seinem künstlichen Tischweihnachtsbaum auf der rechten Ecke des Schreibtischs stand. Er wusste nicht, wem er die niedliche Figur aus Porzellan zu verdanken hatte, hatte aber längst einen gewissen Hausmeister in Verdacht, denn sein Büro stand Tag und Nacht jedem im Haus offen und es war zudem der einzige Ort im Zentrum, an dem Joe Travis sich benahm, wie sich ein Hausmeister zu benehmen hatte. Hier gab es keine Witze, kein freches Grinsen, keine Einladungen zu Dates.
Es kam Kade immer vor, als wäre sein Büro so eine Art von neutraler Zone und er war insgeheim froh darüber. Wie hätte er hier arbeiten sollen, wenn er ständig Gefahr lief, von einem verliebten Hausmeister überfallen zu werden? Na gut, so nötig hatte es Joe Travis mit Sicherheit nicht, dass er ihn kurzerhand überfallen würde, und um ehrlich zu sein, war sich Kade auch nicht sicher, ob er sich wirklich dagegen wehren würde, denn Joe Travis war ein heißer Typ. Vor allem in dieser Latzhose, die er zur Arbeit trug und in deren gefühlt tausenden von Taschen er offenbar einen ganzen Werkzeugkoffer unterbrachte, weil er immer das richtige Werkzeug zur Hand hatte, sobald es darum ging, ein lockeres Scharnier zu reparieren, einen rostigen Nagel für ein Bild zu ersetzen oder die Rollleiter in der Bibliothek zu retten, weil Derrick das alte Ding toll fand und auf keinen Fall eine neue kaufen wollte.
Dabei hatte das »Boston Hearts« ein ausreichendes Budget für derartige Dinge, doch seit Joe bei ihnen arbeitete, blieb das jeden Monat zu einem Drittel unangetastet, denn der Kerl war ein Genie im handwerklichen Bereich und seine Väter liebten ihn dafür genauso wie die Kids, weil in diesem Haus wirklich kein Tag verging, an dem nicht irgendwo etwas repariert oder ersetzt werden musste.
So wie der Schwibbogen auf seinem Fensterbrett, erinnerte sich Kade und warf einen Blick auf das Corpus Delicti, das sich in diesem Jahr einfach nicht hatte einschalten lassen. Kade war kurz davor gewesen, den Bogen zu entsorgen, bis Joe vor einer Woche plötzlich in seinem Büro aufgetaucht war und nach fünf Minuten »Hm.« und »Ah.« Geräuschen den Wackelkontakt am Anschlussstück repariert hatte. Was immer das auch bedeutete. Kade war zwar ein Genie, wenn es um Zahlen, Warenbestände und Papierkram im Allgemeinen ging, aber von Technik oder Reparaturen hatte er keine Ahnung.
Das war Adrians Metier, den er schon ein paar Mal mit Joe fachsimpelnd im Haus oder in Joes Büro, das gleichzeitig auch eine kleine Werkstatt war, vorgefunden hatte. Anfangs war er deswegen furchtbar misstrauisch gewesen, vor allem seit jeder in ihrer riesigen Familie wusste, dass sein Großvater erst Cole und anschließend auch Dare verkuppelt hatte, aber seit Joe für das »Boston Hearts« arbeitete, hatte es keinen entsprechenden Spruch in diese Richtung gegeben.
Was andererseits dann auch schon wieder verdächtig war. Nicht, dass sein Großvater es je vergessen würde, ihn daran zu erinnern, dass er mit Mitte Dreißig längst alt genug war, um sesshaft zu werden. Im Gegenteil. Solche Sprüche durfte er sich mindestens einmal wöchentlich anhören, was Kade wiederum mit ebenso schöner Regelmäßigkeit einfach ignorierte und sich stattdessen gerne zum Essen einladen ließ, sobald ihm Emma fehlte oder er zu faul zum Kochen war.
Der Hausanschluss begann zu klingeln und Kade riss sich vom Anblick des Schwibbogens los. »Boston Hearts, Kade am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«
»Sehr freundlich, Bursche. Anscheinend habe ich bei deiner Erziehung ja doch nicht alles falsch gemacht.«
Kade lachte leise. »Hallo, Grandpa.«
»Hallo, mein Junge. Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht, aber wie ich dich kenne, sitzt du an diesem winterlichen Dienstagmorgen bereits seit Stunden am Schreibtisch, statt das Wetter auszunutzen und einen Schneemann zu bauen, so wie früher. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Du warst ein niedlicher Bengel und hast immer so laut gekreischt, dass mir die Ohren klingelten, während Cole dir Schnee in den Kragen gestopft hat. Hach, ich vermisse die alten Zeiten.«
Kade eindeutig nicht, immerhin war er kein dünner Hering mehr, der nicht einmal gewusst hatte, was Schnee war, bis Cole und Dare es Marc und ihm mit einer Schneeballschlacht ein für allemal gezeigt hatten. Auf die Grippe hinterher hätte er zwar verzichten können, aber die zwei Wochen, in denen sich Marc danach um ihn gekümmert hatte, hatte seinen Bruder und ihn nur noch enger zusammengeschweißt.
»Grandpa ...«
»Und?«, unterbrach der ihn feixend. »Hast du seit deinem letzten Besuch bei uns endlich deinen zukünftigen Ehemann gefunden und willst ihn mir vorstellen?«
Als hätte er es nicht geahnt. Kade wusste nicht, ob er lachen oder lieber den Kopf auf die Tischplatte schlagen sollte. Aber da ersteres ihm vermutlich ein Paar von Adrian lang gezogene Ohren einbrachte, und zweiteres ziemlich wehtat, entschied er sich für einen anderen Weg, der zumindest bei ihm gleich für blendende Laune sorgen würde.
»Mein letzter Besuch bei euch ist gerade mal zwei Tage her, aber selbst wenn es wirklich so wäre, Grandpa, würde ich ihn dir garantiert nicht vorstellen.«
»Und wieso nicht, bitteschön?«, fragte Adrian prompt und hörbar entrüstet. »Als dein Großvater ist es ja wohl mein gutes Recht und natürlich auch meine geliebte Pflicht sicherzugehen, dass du einen guten Mann findest, oder etwa nicht? Wenn ich mich da auf Elias und Maximilian verlasse, die euch Jungs mit Sicherheit sogar tätowierte Rocker als Partner erlauben wür...« Adrian brach ab und schnappte nach Luft. »Oh mein Gott, das ist es, nicht wahr? Du heiratest einen Rocker. Und ihr wollt mir das alle nicht erzählen, was natürlich eine bodenlose Frechheit ist. Ein Rocker. Es ist unfassbar. Wie kannst du nur? Du machst deinem Familiennamen keine Ehre, Kade Endercott.«
»MacDonald«, korrigierte Kade trocken, da er wusste, dass das Adrian erst so richtig in Fahrt bringen würde.
»Papperlapapp«, grollte sein Großvater und Kade wäre vor unterdrücktem Gelächter beinahe erstickt. »Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist. Kein Rocker. Wenn ich das Emma erzählen muss, lege ich dich übers Knie. Warum kannst du nicht einen nerdigen Bücherwurm heiraten wie Cole oder einen begabten Handwerker wie Dare? Nimm dir ein Beispiel an Maximilian, der hat sich einen Arzt geangelt. Stattdessen willst du dir einen Rocker ins Ehebett legen? Wie viele Tattoos hat der Mann? Vor allem, wo auf seinem Körper hat er sie? Ich habe mal gesehen, dass es Männer gibt, die sich sogar ihren … na du weißt schon, mit Tinte verschandeln. Wobei ich mich frage, wie das möglich ist, ohne dass sie dabei in Ohnmacht fallen. Nehmen die vorher eine Dosis Viagra und hoffen, dass er stehenbleibt, während sie besinnungslos auf dem Tätowierstuhl liegen?«
»Ich frage mich eher, was du dir angesehen hast, um solche Sachen zu wissen, Grandpa«, murmelte Kade und verbiss sich ein Lachen, denn er kannte da ein gewisses Filmchen aus dem Erwachsenenbereich, mit einem sexy Darsteller, der sich seinen kompletten Penis tätowiert hatte. Was in diesem Film ganz nett anzusehen gewesen war, gar keine Frage, aber im realen Leben wollte er lieber nicht genauer darüber nachdenken, wie dieses Tattoo zustande gekommen war.
»Was hast du gesagt?«, fragte sein Großvater.
Nichts, nichts, entschied Kade und lachte in sich hinein, um sich gleich darauf zu räuspern. »Ich wollte von dir wissen, was du gegen Rocker hast, Grandpa? Blake ist sogar ein ehemaliger Knastbruder und er darf Dare trotzdem heiraten.«
»Dein zukünftiger Schwager ist ein guter Mann, auf den ich nichts kommen lasse«, grollte Adrian wie erwartet und da hielt Kade sein Lachen nicht länger zurück. »Frecher Bursche. Dein Bruder hat einen wunderbaren Verlobten und ein tolles Mädel gleich dazu bekommen, nimm dir daran ein Beispiel.«
»Oh ja, und du hast ihn Dare ausgesucht.«
»Und? Hast du bisher eine Beschwerde von deinem Bruder gehört? Nein. Ich sollte mich endlich auf die Suche nach einem passenden Ehemann für dich machen, Kade, sonst wird das nie was werden, bevor du Vierzig bist … Da fällt mir ein, ich habe neulich einen alten Freund getroffen, der einen Enkel hat ...«
»Vergiss es, Grandpa. Du weißt, was Elias davon hält«, fuhr Kade Adrian schaudernd über den Mund, da er auf keinen Fall verheiratet werden wollte. Schon gar nicht mit dem Enkel eines alten Freundes seines Großvaters. Der bestimmt ein netter Kerl war, er wollte diesem Unbekannten da nichts unterstellen, aber dennoch kam das nicht infrage.
»Von dem habe ich bislang auch keine Beschwerde gehört, was seine zukünftigen Schwiegersöhne angeht«, erinnerte ihn Adrian spitz und Kade stöhnte. »Jetzt tu nicht so theatralisch. Der junge Mann, von dem ich rede, passt mit Sicherheit besser zu dir als dieser Rocker, mit dem du hoffentlich noch nicht die Bettfedern quietschen lässt. Ich verlange ja nicht, dass ihr erst heiraten müsst, bevor ihr schweißtreibenden Sex haben könnt, aber ein wenig Anstand wäre ...«
»Grandpa, es gibt keinen Rocker«, erklärte Kade belustigt, auch wenn das wahrscheinlich nichts nützen würde.
»Ich werde mich bei Maximilian über dich beschweren.«
Ja, genau so hatte er sich das gedacht, und nach einem »Ich hab dich lieb, Grandpa.« legte Kade lachend auf, weil er sich endlich einen frischen Kaffee holen wollte, da er es irgendwie nicht auf die Reihe bekam, sich eine eigene Kaffeemaschine in sein Büro zu stellen, die ihm jeden Tag Unmengen an Wegen ersparen würde. Aber andererseits ersparte ihm die ständige Lauferei die Treppen rauf und runter das Sportprogramm, und nirgends bekam man so leckeren Kaffee wie in der Küche. Von dem Essen, das dort ständig zur Selbstbedienung bereit stand, weil bei der Menge Kinder im Haus immer eines Hunger hatte, gar nicht zu reden.
Mit einer Kaffeetasse in einer und einem Teller mit belegten Sandwichs in seiner anderen Hand, betrat Kade wenig später wieder sein Büro, als das Telefon auf dem Schreibtisch erneut zu klingeln begann. Das konnte doch nur einer sein.
»Ja?«, nahm er den Anruf entgegen, nachdem er den Teller und die Tasse abgestellt hatte und zur Balkontür getreten war, um einen Blick in die glitzernde Winterlandschaft zu werfen.
Es war ein wunderschöner Anblick und er wurde noch ein bisschen besser, als Kade Joe Travis entdeckte, der sich gerade mit einer Schneefräse über die große Terrasse hermachte. Dick eingepackt, mit Handschuhen, Mütze und einem Schal in dem gleichen Muster, wie der Schneemann auf seinem Schreibtisch ihn um den Hals trug, arbeitete er sich schnell und effizient in Richtung Treppe vor, für die schon ein Besen bereitstand. Kade seufzte leise, als Joe stoppte und sich vorbeugte, um etwas an der Fräse einzustellen. Gott, dieser Hintern.
»Bewunderst du die Aussicht?«
Kade fuhr auf dem Fuße herum und wurde rot, als er Marc an der Tür stehen sah, während sein Vater Maximilian ihm ins Ohr lachte, was ihn wieder daran erinnerte, dass er das Telefon in der Hand hatte.
»Äh … Kann ich dich zurückrufen, Dad? Marc ist hier.«
»Natürlich, mein Junge.«
Verflixt, sein Vater wusste etwas. Wahrscheinlich wusste er nicht, was er wusste, aber dass etwas im Busch war, das wusste Maximilian jetzt definitiv und wahrscheinlich würde er später alles versuchen, um ihm ein paar Details zu entlocken. Nicht, dass er vorhatte, sie seinem Vater zu geben. Es ging niemanden etwas an, dass er Joe Travis' Hintern heiß fand. Abgesehen von seinem Bruder vielleicht, denn Marc würde niemandem etwas erzählen, wenn er ihn darum bat.
»Hast du nicht Unterricht?«, fragte Kade nach einem Blick auf die Uhr, stellte das Telefon in die Station und grinste schief, als sein Zwilling leise lachte und dann ungeniert hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, um sich ein Sandwich zu stibitzen. »Hey, das ist mein Frühstück, du Dieb.«
»Ich war spät dran heute früh«, nuschelte Marc mit vollem Mund und Kade verdrehte die Augen, ehe er sich kurzerhand auf die Schreibtischkante setzte und sich das zweite Sandwich nahm, bevor sein Bruder ihm das ebenfalls klaute.
»Kau runter, Blödmann. Und schling nicht so.«
Er lächelte, als Marc zu ihm hoch blinzelte, weil er wusste, dass die Ermahnung umsonst war. Marc wusste, dass sie nicht mehr hungern mussten, aber die Angst davor war leider so tief in ihm verwurzelt, dass er sie wahrscheinlich niemals ablegen würde. Kade hatte selbst Tage, vor allem wenn er mal wieder nicht dazu gekommen war einzukaufen, an denen er sich aus der Küche im Zentrum bediente und viel zu viel mitnahm, aus einer vollkommen irrationalen Angst heraus, dass am nächsten Tag nichts mehr da war. Aber dank der immer geduldigen und vor allem erfahrenen Unterstützung von Sean Beaumont, dem langjährigen Psychologen hier im »Boston Hearts«, waren die Anfälle, die jedes Mal mit verrückten Hamsterkäufen endeten, im Laufe der Jahre selten geworden und dafür war Kade dem Mann unglaublich dankbar.
»Brody ist unten«, erklärte sein Bruder, als er aufgegessen hatte, und zwinkerte ihm grinsend zu. »Er beobachtet unseren, laut meiner Schüler, sehr heißen Hausmeister auf der Terrasse beim Schneeschieben.«
Kade verpasste ihm einen gespielt tadelnden Schlag gegen den Hinterkopf, der Marc nur lachen ließ. »Abmarsch. Geh aus unserer Jugend Genies machen«, grollte er und deutete auf den Berg Papiere in seiner Ablage. »Ich habe hier zu arbeiten und muss vorher noch Dad zurückrufen, um ihm zu versichern, dass ich nicht im Traum daran denke, einen von Kopf bis Fuß tätowierten Rocker zu heiraten.«
Marc stöhnte auf. »Grandpa?«
»Wer sonst?«
»Wie kommt er auf einen Rocker?«
Kade hob ratlos die Arme. »Ich habe keine Ahnung und ich will auch nicht wissen, warum er über Männer Bescheid weiß, die sich die Schwänze tätowieren lassen … Nein, frag nicht. Ich bin traumatisiert von diesem Gespräch.«
Marc lachte, erhob sich und umarmte ihn. »Hab dich lieb.«
»Ich dich auch, kleiner Bruder.«
Kurz darauf war er wieder allein und starrte missmutig auf den Stapel Papiere, der erledigt werden wollte. Dazu standen heute ein paar Anrufe beim Jugendamt an, weil unter anderem immer noch der Bescheid fehlte, der Brodys Unterbringung im »Boston Hearts« offiziell machte, und Maximilian wartete mit Sicherheit bereits auf seinen Rückruf.
Kade schürzte die Lippen und blickte aus dem Fenster. Der Schneefall war dichter geworden, dafür hatte der Wind etwas nachgelassen. Die perfekte Gelegenheit, um sein inneres Kind für eine Weile rauszulassen, denn genau darauf hatte er gerade unglaublich Lust. Scheiß auf den lästigen Papierkram. Der war nachher auch noch da, ganz egal, ob er jetzt loszog und einen Schneemann baute oder nicht. Und vielleicht gelang es ihm ja sogar, einen schüchternen, schokoladensüchtigen Teenager zur Mithilfe zu überreden.
Kades Blick landete auf seinem Garderobenständer, an dem sein Wintermantel hing, dann grinste er und griff zum Telefon. »In zwei Minuten draußen im Garten. Ich habe vor, mit Brody einen Schneemann zu bauen. Machst du mit?«
Kapitel 2
Joe
Was für ein Anblick.
Joe musste wirklich an sich halten, um nicht zu den dreien aufzuschließen und ihnen beim Bauen ihres Schneemanns eine Weile Gesellschaft zu leisten. Aber das hätte Brody vermutlich vertrieben und das wollte er keinesfalls riskieren, nachdem der Junge sich endlich ein bisschen aus der Höhle herauswagte, in der er jahrelang gelebt hatte.
Wobei es keine Höhle, sondern ein Schuppen gewesen war, in dem man ihn auch noch angekettet hatte. Joe konnte und wollte sich auch gar nicht vorstellen, wie schlimm das gewesen sein musste. Eines wusste er allerdings mit Sicherheit, nämlich dass das »Boston Hearts« eindeutig der richtige Ort für Brody Cooper war, um eines Tages hoffentlich psychisch stabil genug zu sein, damit er sich ein eigenes Leben aufbauen konnte.
Doch im Moment war der zurückhaltende Junge noch weit davon entfernt, ansatzweise stabil zu sein. Dass er allerdings gerade mit Kade MacDonald und dessen Vater Elias Endercott im Garten einen gewaltigen Schneemann baute und dabei eine Menge Spaß hatte, dem breiten Grinsen in seinem Gesicht nach zu urteilen – Maximilian, Adrian und Sean würden begeistert sein, und aus diesem Grund hielt sich Joes schlechtes Gewissen in Grenzen, als er sein Handy zückte und begann, heimlich ein kurzes Video zu drehen, das er an die drei weiterschickte, ehe er sich daran machte, die Treppe vom Schnee zu befreien.
Das war einer seiner vielen verschiedenen Jobs im Zentrum und es war der erste Job überhaupt, den Joe gerne machte. Sein Großvater hatte sich deswegen Sorgen gemacht, das wusste er, genauso wie seine älteren Schwestern, denn obwohl er in ihrer Familie das Küken war – trotz seiner fast vierzig Jahre –, hatte er lange Zeit nichts mit seinem Leben anzufangen gewusst. Er war nie auf die schiefe Bahn geraten und er war auch nicht der Dümmste in der Schule gewesen.
Joe hatte beruflich bloß nie etwas gefunden, das ihn lange genug gefesselt hatte, um dabei zu bleiben, sodass er sich Jahr für Jahr mit ständig neuen Gelegenheitsjobs herumgeschlagen hatte, bis sein Großvater im Herbst mit dem Angebot aus dem »Boston Hearts« an ihn herangetreten war. Erstaunlicherweise schien es genau das Richtige zu sein, denn Joe liebte sowohl die körperlich äußerst anstrengenden Tätigkeiten, wie jetzt das Schneeschieben, als auch die Fummelarbeiten, wenn irgendwo eine Tür quietschte, eine Birne gewechselt werden musste oder ein Kronleuchter drohte, von der Decke zu fallen.
Wobei Joe auf letztgenannten Vorfall gut hätte verzichten könnten. Das war vielleicht ein Chaos gewesen, als Derrick vor vier Wochen aufgefallen war, dass der Leuchter seltsam schief hing, und das direkt über einer rege frequentierten Sitzecke in der Bibliothek, die sie nach diversen Umbauarbeiten erst frisch eingerichtet hatten. Wäre das riesige Ding aus der gebrochenen Halterung gefallen, hätten Kinder sterben können.
Allein die Vorstellung bescherte ihm eine Gänsehaut, denn dank seiner Schwestern hatte er einen gewaltigen Stall voll mit Nichten und Neffen, die er über alles liebte, und so langsam kam Joe in ein Alter, wo er ernsthaft darüber nachdachte, selbst ein oder zwei solcher Zwerge in die Welt zu setzen. Allerdings sollte er besser in Erfahrung bringen, was sein Auserwählter über das Thema Kinder dachte, und vor allem, wie er dazu stand, selbst welche zu produzieren.
Sein Handy piepte und er machte eine kurze Pause, um in den Garten zu schauen, wo die drei Helden gerade versuchten, den Bauch des Schneemanns zu formen. Grinsend kramte Joe sein Handy aus der Jackentasche. Ah, Sean Beaumont. Und die Nachricht des Psychologen bestand aus einem Smiley, in Form eines hochgereckten Daumen, gefolgt von dem Satz: Ich wusste, dass Kade einen Zugang zu ihm findet. Joe schrieb nicht zurück. Jeder hatte gehofft, dass es Kade früher oder später gelingen würde zu Brody durchzudringen, und diesem ersten Schritt in die richtige Richtung würden hoffentlich weitere folgen.
Manchmal kam er sich vor, als wäre er längst ein Teil dieser eingeschworenen Gemeinschaft. Ein Teil der Endercotts, denn so behandelten sie ihn. Von Anfang an hatten sie das getan. Es gab keine Unterschiede zwischen Maximilian Endercott oder seinem Mann Elias, denen all das hier gehörte, und jemandem wie ihm, dem zuletzt hinzugekommenen, kleinen Angestellten. Jeder wurde in diesem Haus gleich behandelt und das war mit Sicherheit auch ein Grund, warum Joe sich hier so wohl fühlte und weshalb er diesen neuen Job, ganz unabhängig von seinen Gefühlen für Kade, unbedingt behalten wollte.
Sein Handy piepte erneut und die Nachricht ließ ihn heiter lachen. Wenn sich ein stinkreicher Anwalt im schicken Zwirn darüber beschwerte, dass er arbeiten musste, während seine Männer Spaß hatten – das musste man definitiv nicht mit einer Antwort kommentieren.
Ein lautes Lachen lenkte ihn vom Handy ab und ließ ihn in den Garten hinunterschauen, wo der Schneemann mittlerweile komplett war, inklusive zweier Äste als Arme, einem karierten Schal und einem Eimer als Hut. Glucksend machte er ein Foto für sich selbst, während die Baumeister eine Diskussion wegen der fehlenden Kohlestücke anfingen, die darin mündete, dass sie zu dritt den Weg ins Haus einschlugen, um Kohle und eine Möhre als Nasenersatz zu holen.
Joe sah ihnen amüsiert nach und wollte sein Handy gerade wieder wegstecken, als es anfing zu klingeln. Nach einem Blick auf das Display grinste er und nahm ab. »Hallo, Adrian.«