Rebecca Elbs: Leo und Lucy

 

Oh Mann, Leo würde so gerne beim Vorlesewettbewerb das Skateboard seiner Träume gewinnen! Und danach die Skatermeisterschaft. Vom Preisgeld könnte er endlich den größten Wunsch seiner allerbesten Freundin Lucy erfüllen. Guter Plan, nur ist Leo leider der schlechteste Leser von ganz Köln-Chorweiler. Aber zum Glück weiß Lucy immer eine Lösung! Bis zum Wettbewerb müssen jedoch auch noch einige andere Abenteuer bestanden werden – zusammen mit Hund Blumenkohl, reichlich schrägen Nachbarn aus Leo und Lucys Hochhaus und dem komischen Cornelius aus dem Horror-Weg. Das schwarze Loch unter dem Aufzug und jede Menge vermisster Hunde sind da nur der Anfang. Und am Ende hat Leo vielleicht sogar zwei allerbeste Freunde.

Ausgezeichnet mit dem Kirsten-Boie-Förderpreis

Wohin soll es gehen?

 

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Für Emmi, Robbe, Flo und alle,
die diese Worte gerade lesen

Regel 1:

Wenn möglich, Außerirdischen aus dem Weg gehen

Drei – zwei – eins. Bei null zwänge ich mich durch die Luke meiner Mondrakete. Mit Skateboard unterm Arm ist das gar nicht so einfach. Schließlich bin ich mit dem Astronauten-Anzug dreimal so breit wie sonst. Und irre heiß ist es hier drin auch. Ich fühle mich wie eines dieser Würstchen in den Hotdogs für einen Euro am Kiosk. Zu allem Übel bin ich an allen Seiten verkabelt: am Helm, an den Schultern und am Rücken. Damit ich im Notfall nicht ins Universum hinausfliege und verloren gehe.

Aber jetzt kommt ja erst der schwierigste Teil. Denn: Hier oben wiege ich gerade mal so viel wie vier Milchtüten. Ich setze ein Bein auf den Mondboden. Dann das zweite. Und wieder das erste. Doch anstatt zu laufen, hüpfe ich auf und ab wie ein Flummi. Ich darf jetzt auf keinen Fall auf den Rücken plumpsen. Dann ist es aus und vorbei und ich kann nur noch wie ein Käfer mit allen vieren strampeln und hoffen, dass jemand vorbeikommt.

Ich versuche, mein Skateboard auf dem hellen Mondboden abzusetzen. Doch es schwebt mir immer wieder entgegen. Kein Wunder. Wiegt hier oben ja auch nur ein paar Gramm. Ich muss unbedingt meinen Vater und Ersten Kommandanten der Mondrakete fragen, ob man da nicht was machen kann. Ultraschwere Walzenräder dranmontieren oder so. Als ich aufblicke, sehe ich nur Grün: grüne Beine, grünen Oberkörper, grünlich schimmerndes Gesicht.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Skateboards im Klassenzimmer nichts zu suchen haben?«, schreit mich der Außerirdische an. »Dafür haben wir Schließfächer!«

Ich zucke zurück. Alien-Spucke ist auf meinem Visier gelandet. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich wische mir mit meinem riesigen Astronauten-Handschuh den Sabber ab und denke, dass dieser Außerirdische noch so einiges darüber lernen muss, wie man Fremde begrüßt.

»Und was ist das?« Er streckt seinen Arm aus und ich schaue hinunter.

»Wir haben Deutsch, Leo. Nicht Zeichnen!« Er trommelt mit seinem dicken Zeigefinger auf die Linien. Dann reißt er mir das Deutschheft unter den Händen weg, starrt auf meine Verschönerungs-Bildchen am Rand und schüttelt den Kopf. »Und wenn das nicht in deinen Schädel geht, dann muss ich eben deinen Eltern wieder einen Brief schreiben!«

Mein Magen krampft sich zusammen, weil ich gerade begreife, dass der Mann in Grün dort vor mir in Wirklichkeit mein Klassenlehrer ist.

»Du starrst mich an, als wäre ich ein Außerirdischer«, motzt er und kneift die Augen zusammen.

Wenn der wüsste, denke ich. Selber schuld. Warum muss er sich auch so grün anziehen?

»Hallo? Bist du wieder gelandet, Leo?«, fragt er und fuchtelt dabei so dämlich mit den Armen. So, als wäre er ein Verkehrspolizist auf der Kreuzung, wenn die Ampel kaputt ist.

Ich nicke.

Herr Dölb pfeffert mein Deutschheft vor mir auf den Tisch und stapft zurück zu seinem Pult.

Hinter mir tuscheln welche.

Ich drehe mich um. Natürlich: Niklas und Maya.

»Was?!«, fauche ich.

In Niklas’ Gesicht sprießen rote Flecken.

Ich fixiere ihn mit meinem Laserblick.

»Na ja, du hast doch gar keinen Vater. Weil Herr Dölb gerade ›Eltern‹ gesagt hat.«

In mir kocht wieder mal der Vulkan hoch. Den kenne ich schon, das passiert in letzter Zeit öfters. »Habe ich wohl«, zische ich zurück.

»Oooch, und wo ist der dann?«, fragt Maya. Sie spricht mit mir, als wäre ich fünf.

Wenn ich darauf antworte, glauben sie es mir doch nicht. Aber das ist ihr Problem, nicht meins.

»Er ist Astronaut auf einer geheimen Mission«, murmele ich so nebensächlich wie möglich.

Maya und Niklas prusten los.

»Genau«, schaltet sich Jannis ein. »Deswegen wohnst du ja auch im hässlichsten Hochhaus der ganzen Liller Straße. Weil Astronauten so wenig Geld verdienen.«

Niklas kommen die Tränen vor lauter unterdrücktem Lachen.

Der Vulkan in mir bricht aus. Ich springe auf und balle meine Hände zu Fäusten.

»Leo, setz dich sofort wieder hin!«, brüllt Herr Dölb in meine Richtung.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass ich auf unserem Dach liege. Mit verschränkten Armen unter dem Kopf. Und dabei schaue ich auf die Milchstraße am Nachthimmel. Das hilft manchmal, wenn der Vulkan gerade überkocht. Ich hole Luft und lasse mich wieder auf meinen Stuhl fallen.

Immerhin hat man von uns aus eine hammermäßige Aussicht, denke ich. Auf jeden Fall eine bessere, als wenn man in einem dieser zwei kleinen Häuser vor uns wohnt. Dann hat man nämlich nur ein Hochhaus vor der Nase und sonst nichts.

»Bevor ihr euch noch prügelt, lesen wir bis zur Mittagspause den ›Text der Woche‹ auf Seite 24. War ja auch Hausaufgabe«, sagt Herr Dölb und klappt sein Deutschbuch auf.

Es raschelt im Klassenzimmer. Alle suchen die Seite 24.

In mir brodelt es immer noch. Als ich die eng beschriebene Doppelseite anstarre, kommen mir die Buchstaben vor wie kleine Ameisen.

Herr Dölb will, dass Cornelius vorliest. Ich ziehe Luft durch meine Zahnritze. Gerade noch mal Glück gehabt.

Schon nach Cornelius’ ersten paar Sätzen denke ich, dass mir gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Er liest so dermaßen schnell, dass ich jetzt schon nicht mehr weiß, wo wir sind. Würde sich Cornelius eine Krawatte umbinden, könnte er locker die Nachrichten im Fernsehen vorlesen. Er muss so was wie ein Genie sein, schießt es mir durch den Kopf, gerade in dem Moment, als Herr Dölb doch noch meinen Namen aufruft.

Ich schlucke, weil mein Hals plötzlich ganz trocken ist.

»Du hast doch übers Wochenende zu Hause mit jemandem geübt? So, wie ich es euch aufgegeben habe, oder?«, fragt er und zieht seine Brille tiefer.

Ich nicke. Ich will ja nicht wieder nachsitzen müssen.

»Na, dann schieß mal los«, murmelt Herr Dölb, schiebt seine Brille wieder hoch und kratzt sich am Kopf.

Die Ameisen fangen an, wie wild über die Seiten zu tanzen, und ich blinzele. Das Blinzeln wirkt irgendwie hypnotisierend auf die Tierchen und sie stehen plötzlich alle wieder still. Aber ich habe immer noch keine Ahnung, wo wir überhaupt sind.

»Zeile neun in der Mitte«, flüstert Cornelius von rechts. Er sitzt drei Plätze weiter und hält sein aufgeschlagenes Buch in meine Richtung. Er zeigt sogar mit dem Finger auf die Stelle.

Ich zähle neun Zeilen von oben runter und fahre mit meinem Zeigefinger in die Mitte. »Da-s«, lese ich noch fast an einem Stück, als der nächste Buchstabe zu einer Schlange wird und davonzischt. Ich fange das Reptil zum Glück mit meinen Augen wieder ein und lese weiter: »sch-mu-u-t…« Ich stocke. Der nächste verflixte Buchstabe dreht sich plötzlich um seine eigene Achse. Als ob er eine Leuchtreklame auf dem Tankstellendach am Athener Ring wäre, und ich weiß nicht, ob es ein »n« oder ein »z« sein soll. Ich starre den Rest des Wortes an und beschließe, dass es ein »z« sein muss. »Sch-mut-t-zig-ge.«

Ich schlucke. Das nächste Tierchen wird plötzlich zu dem McDonald’s-Zeichen und mir läuft zu allem Übel auch noch das Wasser im Mund zusammen. Oder ist es doch ein »W«? »Wa-a-«, lese ich vor. Die zwei Zeichen danach mutieren beide gleichzeitig zu Glühwürmchen und jagen sich gegenseitig so schnell über den Rand des Deutschbuchs hinaus, dass ich total den Überblick verliere. Ich schaue zu Herrn Dölb und hoffe, dass er mich jetzt bald mal erlöst.

Genau in dem Moment zuckt der mit den Schultern. »Lass mal gut sein, Leo. Wir haben ja nicht den ganzen Tag Zeit«, murmelt er und schüttelt den Kopf. »Cornelius, liest du bitte den Rest vor? Dann verstehen wir wenigstens, um was es überhaupt geht. Leo, du bleibst nach der Schule direkt eine Stunde da. So ist das eben, wenn man lieber sein Deutschheft vollkritzelt, als dass man seine Hausaufgaben macht.«

Ich seufze und sinke auf dem Stuhl in mich zusammen. An dieser Mondlandschaft am Heftrand arbeite ich schon seit letztem Dienstag. Und direkt nach der Schule wollte ich eigentlich mit Lucy auf den Skater-Platz. Um ihr meinen neuen Trick mit dem Schrottboard zu zeigen: meinen ›Fast-volle-Drehung-im-Flug-mit-angewinkelten-Knien-Trick‹. Daraus wird dann wohl nichts. Mir ist ganz übel.

Und dass Cornelius mich irgendwie traurig ansieht, bevor er wieder nachrichtenmäßig weiterliest, macht es auch nicht wirklich besser.

Regel 2:

Sich auf keinen Fall verschlucken lassen

Mit mir und dem Leben ist es so: Ich wohne in einer Weltraum-Rakete, die auf der Insel Köln-Chorweiler zurückgelassen wurde. Zumindest nennt Finn unseren Stadtteil immer eine Insel. Und der muss es ja wissen. Schließlich ist er der Sozialarbeiter des Chorweiler Jugendzentrums.

Ich finde eigentlich, unsere Gegend ist eher wie eine ganze Galaxie. Eine Galaxie, die so groß ist, dass mein Kopf fast explodiert, wenn ich sie mir vorstelle.

Denn darin gibt es so einiges: Sterne, Planeten, Astronauten auf geheimer Mission, meine Mama, meine beste Freundin Lucy, ihren Terrier Blumenkohl, Weiße-Mäuse-Toast mit Waldmeister-Brause und extraviel Schokocreme – und mich zum Beispiel. Und einmal im Jahr das Lille-Fest im Hof natürlich, mit Grillen, Lichterketten und allem Drum und Dran. Das ist fast so toll wie Silvester – nur ohne Böller.

Aber es gibt auch Außerirdische, erste Stunden bei Herrn Dölb (eine davon beginnt in 47 Minuten), die Idioten aus dem Orrer Weg, lautes Vorlesen und Nachsitzen. So wie gestern Nachmittag eben.

Und schwarze Löcher gibt es auch. In der Mitte unserer Galaxie befindet sich so eins. Und diese Mitte ist ausgerechnet genau in unserer Weltraum-Rakete drin. Direkt unter unserem Aufzug. Aber keiner außer mir scheint das bemerkt zu haben.

Keine Ahnung, wie das schwarze Loch da reingekommen ist. Aber jeden einzelnen Tag setze ich mich freiwillig der Gefahr aus, dort hineinzufallen. Weil ich wegen Lucy die Treppe ja nicht benutzen kann.

Doch bevor dieses schwarze Loch mich heute oder in naher Zukunft endgültig verschluckt, möchte ich mich noch schnell richtig vorstellen. Falls meine Geschichte irgendwann in den Nachrichten landet. Damit man nachlesen kann, wer dieser Held eigentlich war.

Mein Name ist Leo Lennert. Der Leo aus dem 15. Stock mit dem Skateboard vom Sperrmüll und den Comic-Bildern im Kopf, die sich ständig wie von selbst in meinen linierten Schreibheften ausbreiten. Der Leo, der nur alle vier Jahre großen Geburtstag hat. Weil die Erde nämlich nicht nur 365 Tage, sondern zusätzlich noch 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden braucht, um die Sonne zu umkreisen. Und diese Zeitreste muss man dann vier Jahre lang zusammensparen, bis dann endlich wieder ein Geburtstag für mich rausspringt. (Morgen, am 29. Februar, ist es aber zum Glück wieder so weit. Weil endlich mal wieder Schaltjahr ist.)

»Ich glaube, es würde helfen, wenn du die Augen aufmachst, Leo. Und dein Skateboard unter den Arm klemmst«, höre ich Lucys Stimme neben mir.

Als ich meine Augen öffne, grinst sie mich breit an. Ihr 1-a-Zahnlücken-Grinsen. »Oder willst du den Aufzugsknopf mit deiner Gedankenkraft drücken?«

Will ich natürlich. Kann ich leider noch nicht. Muss dringend auf meine Liste. Meine Die-allerwichtigsten-Dinge-die-ich-noch-lernen-muss-bevor-ich-plötzlich-erwachsen-bin-Liste.

Ich schiebe mein Skateboard unter den Arm und drücke auf das orange leuchtende E – E wie Erde. Hoffen wir, dass die Anziehungskraft unseres Planeten heute stark genug ist.

Wenn man nämlich zu tief in ein schwarzes Loch fällt, wird man lang gezogen wie eine Spaghetti-Nudel. Das wäre von Vorteil für meine eins Komma einunddreißig Meter Körpergröße. Ist unter Durchschnitt, hat Dr. Mussmann gesagt. Aber Nachteil Nummer eins: Ich würde noch dünner aussehen. Nachteil Nummer zwei: Soweit ich weiß, ist noch keiner aus einem schwarzen Loch lebendig wieder herausgekommen.

Als der Sog im Aufzug so stark wird, dass mein Erdnussbutter-Aufbackbrötchen mit extraviel Käse in meinem Magen lang gezogen wird, halte ich mir mein Skateboard über den Kopf. Zur Sicherheit.

»Tut mir leid, dass es gestern nach der Schule nicht mehr geklappt hat. Mit dem Skater-Platz. Und vor allem, dass ich dir nicht mehr Bescheid sagen konnte«, sage ich und seufze. »Aber eine Stunde lang einem Kaktus die Seite 24 vorzulesen, ist auch kein Spaß. Das kannst du mir glauben.«

»Du musstest einem Kaktus was vorlesen?«, fragt Lucy und runzelt die Stirn.

»Ich war ja der Einzige, der gestern nachsitzen musste. Also habe ich erst dem Dölb den Anfang von Seite 24 vorgelesen. Laut und deutlich. Nach zehn Minuten ist ihm aber plötzlich eingefallen, dass er noch ganz viel kopieren muss. Und ich habe genau gehört, wie er gemurmelt hat, dass der Kaktus auf der Fensterbank vielleicht mehr Geduld hat als er.«

Lucy schüttelt den Kopf so fest, dass die schokobraunen Locken in ihr Gesicht hüpfen. Wie das Lametta an unserem Weihnachtsbaum immer, wenn Blumenkohl nach seinem Adventsknochen sucht.

»Dein Herr Dölb macht mich echt fertig, Leo. Der würde übrigens auch einen guten Kaktus abgeben, finde ich. Bei Frau Lubenstein würde das nicht passieren. Die nimmt sich immer extra viel Zeit für einen, wenn man etwas noch nicht so gut kann. Das mit gestern ist aber nicht so schlimm. Ich musste sowieso noch was Wichtiges erledigen. Kannst mir ja deinen Skateboard-Trick jetzt gleich noch vor der ersten Stunde zeigen.«

»Geht nicht. Dafür brauche ich den Schwung von der Rampe.«

Lucy nickt.

»Was musstest du denn gestern noch erledigen? Hattest du so viele Hausaufgaben?«, frage ich.

Lucy schüttelt den Kopf.

»Für deine Eltern wieder einen Brief übersetzen?«

»Nee.«

»Mit Blumenkohl um den Block fahren?«

»Auch nicht.« Lucy presst die Lippen zusammen. »Ich kann nicht darüber reden, Leo«, sagt sie schließlich und starrt dabei ihre Schuhe an.

Ich schlucke. Eigentlich erzählen wir uns immer alles. Aber na gut. Man muss den Menschen ihren eigenen Willen lassen. Auch wenn man sie nicht versteht. Sagt Mama immer.

»Glaubst du, dass du es morgen bekommst?«, fragt Lucy plötzlich und atmet tief durch.

Sie ist wahrscheinlich froh, dass ihr ein anderes Thema eingefallen ist. Dabei hält sie sich ganz oben an den Gurten ihres kleinen Einhorn-Rucksacks fest, den sie sich wie immer vor den Bauch geschnallt hat. Es sieht so aus, als wäre das ein nach vorne gerutschter Fallschirm und sie bereit zum Sprung.

Ich sehe zur silbernen Decke unseres Aufzugs. Die acht rostigen Schrauben wackeln wieder bedenklich.

»Wenn nicht«, antworte ich leise, »habe ich keine Ahnung, wie ich diesen Geburtstag überstehen soll, Lucy. Ehrlich. Dann kann ich nur noch hoffen, dass mich nicht die ganz große Leere überfällt. So wie damals, als Meerrettich in der Waschmaschine ums Leben kam.«

Lucy knabbert an ihrem rechten Daumennagel und nickt. Dazu muss sie nichts sagen. Sie war ja selbst dabei, als wir damals meinen Hamster Meerrettich aus der Waschtrommel fischten. Obwohl er da schon nicht mehr atmete, war er noch warm. Doch das kann auch am 90-Grad-Waschgang gelegen haben. Man weiß es ja nicht. Genauso, wie ich mir immer noch nicht erklären kann, wie der kleine Meerrettich überhaupt in die Waschtrommel kam.

Ich schaue zu Lucy und sie hat wieder diese Falte mitten auf der Stirn. Ihr muss ich die große Leere ganz bestimmt nicht erklären. Sie hat es ja auch nicht immer leicht in ihrem Leben.

»Du bekommst es sicher. Diesmal auf jeden Fall. Ich meine, wie viele gelbe Wunsch-Klebezettel hast du in eurer Wohnung verteilt?«, fragt sie und schaut mich mit großen Augen an.

»Hab sie nicht gezählt. Aber allein am Kühlschrank kleben drei. Außerdem habe ich schriftlich und im Voraus auf ein Weihnachtsgeschenk verzichtet. Wenns sein muss, braucht Mama mir überhaupt nie mehr etwas zu schenken, das habe ich ihr auf den Zettel am Badezimmerspiegel geschrieben. Bis ich 18 bin.«

Lucy nickt wieder und beißt sich auf ihre Unterlippe. So, wie sie es immer tut, wenn plötzlich eine Frage in ihrem Gehirn entsteht und sie darüber brütet, ob sie die rauslassen soll.

»Was denn?«, frage ich und atme tief durch.

Die Leuchtzahl für die Stockwerke hüpft von der 8 auf die 7. Ab da lässt der Sog des schwarzen Lochs immer nach.

»Na ja, ich frage mich halt manchmal …«, murmelt sie.

Ich seufze.

»Jetzt lass es schon raus, Lucy. Beste Freunde lassen immer alles raus.«

»Ist halt so, Leo: Ich frag mich manchmal, was denn dann anders ist, wenn du dein XW90-sonst-irgendwas bekommst.«

Ich muss schlucken. »Was dann anders ist, wenn ich morgen das Skateboard meiner Träume zum Geburtstag bekomme?«, frage ich und kann es nicht fassen. So eine Frage kann wirklich nur Lucy stellen.

In meinem Bauch kribbelt es plötzlich ein bisschen. Wir fahren gerade am vierten Stock vorbei.

»Wenn ich morgen das Skateboard bekomme, dann bin ich der glücklichste Junge der ganzen Liller Straße. Wahrscheinlich der glücklichste Junge überhaupt. Das sage ich dir. Weil … dann …«, ich schließe die Augen und stelle mir alles ganz genau vor, »… dann kann ich endlich bei der großen Skater-Meisterschaft in Köln mitmachen. Denn mit zwei Vorderrädern, die eiern, komme ich auf der großen Rampe kein Stück hoch. Aber mit dem neuen Brett und mit viel Übung und ein bisschen Glück gewinne ich den Skater-Pokal und …«

»Und dann, Leo?«, fragt Lucy. Mit dieser Besserwisser-Stimme, die einen in den Wahnsinn treiben kann. »Was genau ist dann anders? Ich wills ja nur verstehen, weil du dich so festbeißt. An diesem Skateboard.«

Wir sind gelandet. Auf E wie Erde. Ich lächle. Vor Erleichterung und weil Lucy ja irgendwie recht hat: Auch wenn ich das Skater-Turnier gewinne, bin ich immer noch derselbe Leo, der sich jeden Tag todesmutig dem schwarzen Loch stellen muss. Leo Lennert, der Panik davor hat, auch nur seine Adresse vor der Klasse vorzulesen. Und der auf einer Insel mit Namen Köln-Chorweiler wohnt.

(Allerdings, ob Chorweiler wirklich eine Insel ist, kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Aber wenn man weit genug rausfährt, fängt vielleicht ja doch irgendwann das Meer an, von dem alle nach den Ferien immer erzählen.)

Und eines steht so fest wie Frau Milchmayers Fünf-Schichten-Torte mit extraviel Sahnesteif: Mit dem Preisgeld des Skater-Turniers von 1000 Euro würde ich Lucy endlich einen neuen Untersatz kaufen. Weil: Ihr jetziger ist uralt, eiert noch stärker als mein Schrottboard und ist verdammt schwer zu schieben.

Regel 3:

Nicht auf Idioten hören

»Mach dich mal leicht!«, rufe ich, als ich kurz darauf mit Karacho Lucy die Rampe zu ihrem Teil der Schule hochschiebe, dem Anbau für die Fünftklässler.

»Kann nichts dafür, dass wir so spät dran sind«, ruft Lucy und kichert. »Erst musste ich mit Blumenkohl einmal um den Block fahren, weil Papa heute Frühschicht hat. Und zu Hause wollte er dann nicht mehr aufhören, mit mir zu kuscheln – also Blumenkohl, nicht Papa –, und bekam jedes Mal einen Bell-Heul-Anfall, sobald ich ihn auf dem Boden abgesetzt habe. Außerdem hat Mama heute Morgen Oladi gebacken. Ich durfte nicht los, bevor ich nicht den ganzen Stapel aufgegessen hatte.«

Ich hätte heute mal lieber bei Lucys Familie frühstücken sollen. Ich liebe diese russischen Oladi-Pfannkuchen-Dinger von Frau Blinow. Vor allem, wenn es warme Pflaumen-Matsche dazu gibt.

»Jetzt gehts alleine, Leo«, ruft Lucy, als wir es über die fiese Kante geschafft haben. Ich ziehe mein Schrottboard aus ihrem Einkaufsnetz, wir geben uns High five und grinsen uns an. Und während ich Lucy nachschaue, freue ich mich so was von auf den Tag, an dem ich ihr diesen Sportrollstuhl aus dem Katalog schenke. Eingewickelt und mit einer fetten Schleife. Von mir aus auch eine pinke mit Glitzer und allem Drum und Dran. Ab dann kann ich zur Schule skaten und Lucy rast neben mir her. Und manchmal überholt sie mich dann mit ihrem raketenmäßigen Flitz-Geschoss, wie eine von Onkel Bastians Leuchtraketen an Silvester. Und ich halte mich an ihrer Rollstuhllehne fest und lasse mich ziehen. Bis ich genügend Schwung habe, um …

»Leo?« Sie hält an.

»Was?«

»Hier. Von Mama. Für dich. Habe ich fast vergessen, dir zu geben.«

Lucy wedelt mit einer Papiertüte mit Fettflecken. Wie ich Frau Blinow liebe!

Während ich auf meinem Skateboard die Rampe runterrase, schiebe ich mir einen der Oladi in den Mund. Das Rezept von Lucys Mama muss unbedingt auf meine Liste, was ich lernen muss, bevor ich plötzlich erwachsen bin. Dann muss man nämlich von heute auf morgen alles selber kochen. Sagt Lucy.

Ich gehe in die Hocke und surfe seitlich über die zwei flachen Stufen. Etwas holprig zwar, aber mit den weichen Rädern von meinem neuen Skateboard geht das ab morgen bestimmt wie Butter.

Ich muss plötzlich an Sternschnuppen denken. In genau so einer Kurve fahre ich gerade nämlich über den Schulhof. So, als ob ich in großem Bogen durch den Sternenhimmel fallen würde. Nur, dass eine Sternschnuppe eigentlich gar kein Stern, sondern ein Trümmer-Stückchen aus dem Weltall ist, das an der Erdatmosphäre kratzt und dabei Funken schlägt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich fische einen zweiten Pfannkuchen aus der Papiertüte und beschließe, alle fünf noch vor der ersten Stunde bei Herrn Dölb zu vernichten. Um Herrn Dölb zu überleben, brauche ich was für meine Nerven.

Erst jetzt bemerke ich den Meteoriten, der von links heranschießt.

Ich sehe Sterne und mein Kopf brummt. Ich liege auf dem Rücken, und als ich die Augen öffne, scheinen die Wolken über mir am Himmel nach links zu rasen. So, als wären sie mit Onkel Bastian auf der Autobahn.

Und dann erscheint plötzlich Cornelius’ knallrotes Vollmondgesicht über mir. Er starrt mich mit aufgerissenen Augen an und ich mache mir Sorgen, dass gleich der dicke Schweißtropfen an seiner Augenbraue auf mich runterfällt. Cornelius atmet schwer und seine Stirn ist ganz faltig. So, als ob er schwer über etwas nachdenken muss. Und genau in dem Moment, als ich erwarte, dass er mich doch sicher jetzt endlich fragt, ob bei mir alles in Ordnung ist, schnappt er sich den Fußball, der neben meinem linken Knie liegt, murmelt »Das ist meiner« und rennt davon.

Ich setze mich auf. Als ich meinen Kopf abtaste, bemerke ich einen kleinen Hügel. Direkt über meinem linken Auge. Ich schaue Cornelius nach, wie er mit dem Fußball unterm Arm zu den Idioten aus dem Orrer Weg rennt.

Wenn Cornelius rennt, dann wackelt alles an seinem Körper ein bisschen und ich muss immer an Oladi-Teig denken. Und jedes Mal schäme ich mich, wenn dieses Bild in meinem Kopf aufploppt.

Herr Dölb hat mal gesagt, dass er noch nie einen so unsportlichen Jungen gesehen hat. Dass das aber halb so schlimm ist, weil Cornelius ja schlau für drei ist.

Ich bezweifle stark, dass Herr Dölb über mich sagen würde, dass ich zwar schlecht lesen kann, aber dafür skate für drei. Aber man weiß es ja nicht.

Fest steht jedenfalls, dass Cornelius den Fußball gerade so dermaßen fest geschossen hat, dass mir jetzt der Kopf dröhnt.

Ich stehe auf und sammle die Oladi von den Pflastersteinen auf, fiesele den Dreck ab und stecke sie zurück in die Tüte. Dann streiche ich mir den Sand von der Hose und schüttele meine Beine aus. Alles noch dran. Habe zum Glück ja Übung im Fallen.

Auf dem Weg zum Schuleingang strenge ich mich an, vor mich auf den Boden zu starren. Doch ich spüre vier Augenpaare im Rücken.

»Oooh, h-h-hats wehgetan, L-L-Leoo?«, ruft Niklas und lacht. Sein Ziegen-Lachen.

Ich huste und gehe weiter. Wie Lucy immer sagt: Einfach nicht beachten. Das ärgert sie am meisten.

»Liest du uns gleich wieder was vor, L-L-Leoo?«, fragt Jannis. »Damit wir was zu lachen haben?«

»Und damit wir nicht drankommen. Weil du so l-laaang dafür b-b-braaauuuchst«, schreit Maya. Sie dehnt jeden einzelnen Buchstaben extra lang und wiehert los.

Mein Magen zieht sich zusammen, und ich bereue, so viele Oladi gegessen zu haben. Nur noch zehn Schritte bis zur Tür. Und dann so schnell wie möglich die Treppe zum Klassenzimmer rauf. Bevor mein Vulkan wieder ausbricht.

»Ach, lasst ihn doch in Ruhe«, höre ich Cornelius noch sagen. »Der ist Legastheniker. Dafür kann er doch nichts.«

Da ist es wieder. Dieses Wort, bei dem ich irgendwie immer an einen Legostein-Tiger denken muss. Das stand auch auf dem Zettel von Herrn Dölb letzten Monat. Ich habe es heimlich im Computer-Unterricht gegoogelt. Das ist jemand, der es schwer hat, Buchstaben zu Wörtern zusammenzubauen. Und umgekehrt. Oder so ähnlich. In meinem Fall stimmt das aber wohl nicht so ganz. Ich bringe einfach nur kein Wort über die Lippen, wenn ich vorlesen soll und dabei von Idioten angestarrt werde.

Ich ziehe die tonnenschwere Eingangstür einen Spalt auf und zwänge mich durch. Ich hole Luft und kann plötzlich nicht anders, als durch die Glastür noch mal zu denen aus dem Orrer Weg zu schauen. So, wie die aufeinanderkleben, sehen sie aus wie ein Sternhaufen. Wie ein Haufen von Sternen einer anderen Galaxie. Sie ziehen sich wahrscheinlich gegenseitig an, weil sie alle aus der gleichen Straße kommen. Wo jeder Einzelne von ihnen mit Familie ganz allein in einem Haus wohnt. Mit eigenem Garten samt Trampolin.

Es klingelt. Und plötzlich kapiere ich, was dieser Einstein in meinem letzten Leih-Buch aus der Stadtteil-Bibliothek damit meint, wenn er sagt, dass alles relativ ist: Im Vergleich zu der bescheuerten Sache auf dem Schulhof eben bin ich sogar erleichtert, dass jetzt endlich die erste Stunde bei Herrn Dölb anfängt.