Craig ist als Soldat in einer afghanischen Taliban-Hochburg im Einsatz, als ihm ein tölpeliger Hund mit kurzen Beinen und großen Augen zuläuft. Der zutrauliche Streuner bekommt den Namen Fred und bringt neuen Pep in die Monotonie des Soldatenlebens. Schließlich gelingt es Craig, Fred aus dem Kriegsgebiet zu schmuggeln. Doch die Freude über die Heimkehr währt nur kurz: Zurück in den USA verfolgen ihn Erinnerungen an den Krieg. Erst mit Hilfe von Fred lernt er, sein Trauma zu überwinden ...
Craig Grossi ist Veteran des US-Marine-Corps und Träger des Verwundetenabzeichens. Nach seiner Rückkehr aus Afghanistan arbeitete er für den militärischen Nachrichtendienst DIA und besuchte die Universität Georgetown. Wenn er nicht gerade mit Fred auf Reisen ist, engagiert er sich für Kriegsveteranengruppen. Craig und Fred wohnen in Washington, DC. Im Internet trifft man die beiden unter www.fredtheafghan.com.
CRAIG GROSSI
Aus dem amerikanischen Englisch von
Maria Mill
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2017 by Craig Grossi
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Craig & Fred. A Marine, A Stray Dog, and How They Rescued
Each Other«
Published by arrangement with William Morrow, an imprint of
HarperCollins Publishers, LLC
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Artur Senger, Köln
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
Umschlagmotiv mit freundlicher Genehmigung des Autors
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6065-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Eine Weile wandelte ich unter Giganten.
Dieses Buch widme ich meinen Weggefährten –
denen, die heimgekehrt sind, und denen,
die es nicht geschafft haben.
Meine Geschichte handelt nicht von Ruhm und Größe,
sondern davon, wie einer zur Erkenntnis gelangt,
dass nicht, was uns geschieht, entscheidend ist,
sondern wie wir darauf reagieren.
Einige Namen und Einzelheiten in diesem Buch, die zur Identifizierung von Personen dienen könnten, wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen; ihre großartigen Taten jedoch und ihre Geschichten sind wahr.
Der Sommer in North Carolina ist derart heiß, dass man ihn schmeckt. Die Luft ist so feucht, dicht und dampfig, dass sie einem buchstäblich in der Kehle kleben bleibt. Wir hatten die Fenster des Land Cruisers unten, und zum Glück spürte ich, wie es abkühlte, erst langsam, dann auf einen Schlag. Mit dem linken Arm auf dem Türrahmen und der rechten Hand am Lenkrad lehnte ich mich zum offenen Fenster. Vor uns und zu beiden Seiten erhoben sich die blaugrünen Smoky Mountains. Ich holte tief Luft und lächelte.
Neben mir auf dem Beifahrersitz fummelte Josh am Radio herum, bis er bei Johnny Cash gelandet war. Das Gerät funktionierte genauso schlecht wie die Klimaanlage, doch wir hatten mit Klebestreifen einen kleinen Bluetooth-Lautsprecher aufs Armaturenbrett geklebt, der seinen Zweck erfüllte. Cash sang Can’t Help but Wonder Where I’m Bound, und wir sangen mit und wurden immer leiser, bis wir in Gelächter ausbrachen.
Von hinten schob Fred plötzlich seinen Kopf zwischen uns. Mit offenem Mund leise hechelnd sah er dabei aus, als lächle er. »Schöne Musik, Alter, was?«, fragte ich, und Josh drehte sich um und kraulte ihn hinter dem weißen Schlappohr. Fred gähnte ausgiebig und dramatisch, winselte ein bisschen und rollte sich erneut auf seinem Nest aus Decken und Kissen zusammen. Er hatte eindeutig den besten Platz erwischt.
Es war der Sommer des Jahres 2015, und wir steuerten auf unserem Roadtrip, der uns in – voraussichtlich – fünf Wochen quer durchs Land führen sollte, der Nachmittagssonne entgegen. Unser Plan, falls man ihn so nennen konnte, war eher vage: nach Westen fahren, bis wir ans Meer kamen, dann nach Norden, bis wir Seattle erreicht hatten, und zurück nach Osten, bis wir wieder daheim waren. Josh hatte sich richtiggehend ins Zeug gelegt und echte Lobbyarbeit betrieben, um Co-Pilot sein zu dürfen: »Du kommst zweimal so weit, und es kostet dich nur die Hälfte«, hatte er immer wieder beteuert. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Wenn ich alleine losfuhr, das wusste ich, würde ich mich mit Sicherheit auf irgendwelche sinnlosen Herausforderungen einlassen und mir, dem Jeep und Fred zu viel abverlangen. Josh, den ich aus Georgetown kannte, war eine Stimme der Vernunft. Er war wie ich in Afghanistan gewesen und zurückgekehrt, doch keiner von uns hatte bisher allzu viel vom eigenen Land gesehen.
Also beluden wir meine Karre mit Campingausrüstung – Zelten, Schlafmatten, Holzkohle, einem Ka-Bar-Messer sowie Football, Frisbee-Scheibe und zwei Mountainbikes auf dem Dachgestell – und los ging’s. Die Räder gehörten beide mir: Ich hoffte, dass Josh mit mir würde radeln können, hatte ihn aber noch gar nicht gefragt. Josh hatte 2009 in Afghanistan, als der Stryker seines Teams auf eine Sprengfalle fuhr, ein Bein verloren. Die Explosion zerstörte das achträdrige Panzerfahrzeug und riss Josh direkt überm Knie das rechte Bein ab.
Inzwischen hatte er eine ziemlich krasse Prothese samt Roboterknie, bisher jedoch noch keine rechte Gelegenheit gehabt, sie zu testen. Sich von einer derartigen Verletzung zu erholen ist kein Spaziergang – und das ist kein Wortspiel. Joshs Heilungsprozess hatte eine ganze Reihe von chirurgischen Eingriffen (der letzte erst vor wenigen Monaten) auch an seinem »gesunden Bein« erfordert, das bei der Explosion ebenfalls schwer verletzt worden war. Obwohl er im Jahr vor unserer Reise seinen Abschluss in Georgetown gemacht hatte, hinderten ihn die Operationen an der Jobsuche und zwangen ihn zu einem Leben in der Warteschleife. Als ich ihn ein paar Wochen zuvor in unserer Lieblingskneipe in Washington, D.C. entdeckt hatte, sah er ganz schön scheiße aus. Josh war eigentlich ein ganzes Stück größer als ich, wirkte aber wie geschrumpft. Noch am selben Abend fassten wir eilig unseren Plan. Und binnen einer Woche waren wir on the road.
Auch für mich war es ein günstiger Zeitpunkt: Zwar studierte ich nach wie vor in Georgetown, hatte jedoch beschlossen, mir den Sommer freizunehmen. Man könnte sagen, ich wollte meinen letzten College-Sommer in vollen Zügen genießen, ehe ich Examen machte und die Maloche wieder losging. Ein Jahr zuvor hatte ich mir meinen Traum-Jeep, einen 1988er Toyota Land Cruiser, gekauft, nachdem ich ihn auf dem Gelände einer Autowerkstatt in unserer Nähe entdeckt hatte, wo er in seinem königsblauen Originallack herumstand. Wie ein liebeskranker Teenager behielt ich die Karre wochenlang im Auge. Ich war pleite und wusste nicht mal, ob sie überhaupt zum Verkauf stand. Doch als ich eines Tages eine Überweisung des Kriegsveteranenministeriums auf meinem Konto entdeckte – eine Invalidenrente in Höhe eines Jahresgehalts, die plötzlich freigegeben worden war –, da wusste ich, dass es Zeit wurde, es herauszufinden. Noch am selben Nachmittag steuerte ich meinen neuen Jeep vom Werkstattgelände. Fred thronte, Vorderpfoten auf der Armlehne und Kopf aus dem Fenster gestreckt, auf dem Beifahrersitz. Er reckte die Schnauze in die Höhe, wie er es immer tat, als sei er stolz auf seinen neuen fahrbaren Untersatz. Seit ich Fred das erste Mal so gesehen hatte, hatte ich davon geträumt, mit ihm in diesem Jeep durchs ganze Land zu fahren.
»Wir werden uns durch die Wälder und Büsche schlagen«, hatte ich zu Josh gesagt, als wir unsere Reise planten. Ich wollte mich nicht an ausgetretene Pfade halten; wir würden uns neue bahnen.
»Ich habe ein Drei-Tage-Limit, Mann«, hatte Josh erwidert und auf sein Knie gedeutet. »Das ist die Lebensdauer der Batterie in dem Ding da.« Sobald sie leer war, hüpfte er auf einem Bein, und wir waren am Arsch.
Josh war neunundzwanzig, wenige Jahre jünger als ich, und stammte aus Minnesota. Er war ein entspannter Typ und kam mit jedem klar. Aber ich wusste, dass Josh, wie ich, Grenzen ausreizen wollte. Vor seiner Verletzung war er in Topform gewesen. Er war ein kräftiger Kerl, etwa eins fünfundachtzig groß und schlank und athletisch gebaut. Er konnte neunzig Kilo drücken und schaffte es locker, mit 36 Kilo auf dem Buckel zehn Meilen zu hiken. Nach dem Anschlag änderte sich alles. Er musste völlig neu lernen, all das mit nur einem Bein hinzukriegen. Unsere Reise war die erste Gelegenheit für ihn, wirklich zu sehen, wozu er imstande war.
Wir fuhren in ein Tal hinunter. Die Straße schlängelte sich durch die Berge; sie war zu beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt. Ihre Blätter flirrten im Fahrtwind des vorbeidüsenden Land Cruisers. Draußen schwoll ein mächtiges Brausen an, wie von einem Zug, der in einen Bahnhof einfährt. Josh drehte die Musik leiser, damit wir es hören konnten. Während wir uns dem Talboden näherten, merkten wir, dass es das Geräusch eines Flusses war. Wir hielten Ausschau nach einer Stelle zum Parken, um hinabzuwandern und ihn uns anzusehen.
Genau darum ging es uns ja: die Möglichkeit, etwas Neues zu entdecken, dem Unerwarteten zu begegnen, jeden Tag in dieser Vorfreude auf das Unbekannte zu beginnen. Vier Jahre war es her, seit ich das Marine Corps verlassen hatte. Meine Zeit bei den Marines war ein ständiges Auf und Ab gewesen, doch stets hatte ich das Gefühl, dass das, was ich tat, Relevanz besaß. Nach meinem Abschied landete ich in einem Schreibtischjob, wo es gleichgültig schien, ob ich überhaupt aufkreuzte. Also ging ich aufs College zurück, einfach, um es versucht zu haben; sobald ich meinen Abschluss in der Tasche habe, dachte ich, kann ich ja wieder arbeiten und mir einen besseren Job besorgen. Aufsteigen. Mir eine Herausforderung suchen. Doch je länger ich aus dem Job draußen war, umso klarer wurde mir auch, dass ich nicht zurückwollte. Was ich stattdessen tun sollte? Keine Ahnung. Sobald mir etwas leichtfällt, fühle ich mich unbehaglich. Das war meine ganze Jugend hindurch so, aber nach dem Einsatz wurde das Gefühl nur noch stärker.
Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, ich hätte beim Aufbruch zu dieser Reise nicht nach dem Leben gesucht, das ich aus Afghanistan kannte. Das klingt vielleicht verrückt, ist aber so. Jeder Veteran, den ich kenne, sehnt sich irgendwann nach der tagtäglichen Dringlichkeit und Unsicherheit des Lebens in der Kampfzone. Wenn man nicht weiß, was der Tag bringt, wenn das einzige Ziel darin besteht, sich selbst und die Kameraden am Leben zu erhalten, wird alles erstaunlich einfach. Und hat man erst mal einen Geschmack davon bekommen, ist vieles, was man zu Hause macht, einfach nicht mehr dasselbe.
Manche werden verfolgt von dem, was sie in Afghanistan getan und gesehen haben. Ich bin da keine Ausnahme. Manches kann man nicht vergessen. Anderes will man auch nicht vergessen, wie etwa die Erinnerung an die Freunde, die nicht heimgekehrt sind. Die man sterben sah. Ich glaube, meine Weigerung, hinter einem Schreibtisch dahinzuvegetieren, war vielleicht auch eine Art, dieses Andenken – und sie – zu ehren. Oder vielleicht auch nur meine Art, damit fertigzuwerden. Womöglich konnte ich das ja unterwegs herausfinden.
Josh erspähte eine Abzweigung, und ich fuhr rechts ran. Als der Jeep zum Stehen kam, hob Fred den Kopf. Er sah mich an und hob fragend die Augenbrauen. »Du bleibst hier, Freddy«, sagte ich. Josh und ich stiegen aus und entdeckten eine steile, bergab führende Treppe. Wir gingen langsam, Schritt für Schritt. Der Fluss da unten war großartig. Wir schauten zu, wie das Wildwasser über Felsen und Geröll toste und dabei ein fortwährendes Donnergrollen erzeugte. Einige Minuten standen wir am Ufer und kühlten uns im Gischtnebel ab.
Nach ausgiebigem Genuss der Nebelluft und des Wasserrauschens erklommen wir wieder die Stufen. Als wir die Straße beinahe erreicht hatten, blieb ich wie angewurzelt stehen. Da, am oberen Ende der Treppe, stand Fred. Er musste aus dem Wagenfenster gesprungen sein.
»Fred!«, rief ich in dieser halblauten, unheilverkündenden Stimme der Hundehalter. »Was soll denn das?« Er senkte den Kopf und huschte zu Josh hinüber. Nie zuvor hatte er sich auf diese Weise aus dem Wagen befreit. Es machte mich fertig. Was, wenn in dem Moment, als er auf der Straße landete, ein Auto vorbeigekommen wäre? Dabei kannte ich sein eigentliches Ziel: Er wollte mit uns zusammen sein. Fred wollte mich einfach im Auge behalten und auf mich aufpassen. Wir drei waren jetzt eine Gang, von daheim bis nach Kalifornien und wieder zurück.
»Komm, Kleiner«, sagte ich etwas nachgiebiger. Ich packte Fred behutsam am Schlafittchen, zog ihn an der locker sitzenden Nackenhaut zu mir her und küsste ihn auf die Stirn. »Ich lass dich nicht allein.«
Ich öffnete die Wagentür, und Fred sprang, ehe Josh und ich einstiegen, auf seinen Sitz. Ich drehte den Schlüssel um, und aus dem kleinen Lautsprecher schmachtete Johnny Cash. Wir kehrten auf die Serpentinenstraße zurück und setzten unsere Fahrt fort. Wir waren noch ganz am Anfang.
»Ihr werdet tagelang in der eigenen Pisse stehen.« So hatte uns ein Analyst vor Sangin, Afghanistan, gewarnt. Mit anderen Worten: Sobald wir gelandet waren, würden wir zu sehr mit der Bekämpfung der Taliban beschäftigt sein, um auch nur eine Pinkelpause einlegen zu können. Und der Mann behielt recht.
Unsere Infiltration erfolgte per Helikopter. Während des Flugs wurde nicht viel geredet. Das Innere eines CH-53 ähnelt einer undichten Waschmaschine, ist hohl und laut, also einer Konversation nicht unbedingt zuträglich. Stattdessen hockten wir Schulter an Schulter im Dunkeln und warteten. Ich wollte gar nicht groß an das denken, was uns der Analyst erzählt hatte. Besser, man hegte keine Erwartungen. Ich wollte unvoreingenommen an die Sache rangehen. Bereit sein.
Ich spürte, wie das Triebwerk ruckelte, als wir zur Landung ansetzten. Es war beinahe Mitternacht. Denn da war es für die Hubschrauber und uns am sichersten. Ich guckte nach unten, kontrollierte zum letzten Mal meine Ausrüstung und setzte meine Nachtsichtbrille auf: Brille ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck; tatsächlich war das Nachtsichtgerät, das wir trugen, ein großes Monokel. Man zieht es vom Helm runter und positioniert es vor einem Auge, sodass ein Auge im Nachtsicht-Modus, das andere im Dunkeln ist. Am Anfang ist das irritierend. Ich war so grün bei meiner ersten Mission, dass ich nicht kapierte, wie es funktionierte. Die Marinesoldaten um mich herum zogen ihre Geräte runter, schalteten sie ein, und ich saß da und fingerte bis zur Landung an meinem herum. Und dann kapierte ich es immer noch nicht, sodass ich aufgab und die Brille in dieser Nacht überhaupt nicht benutzte. Vielleicht hielten sie mich deswegen für besonders taff, vielleicht auch nur für doof.
Mein Job war Human Intelligence oder »menschliche Aufklärung«, sprich, meine Aufgabe im Einsatzgebiet bestand darin, den Dorfbewohnern möglichst viel über die Taliban zu entlocken. Und wenn wir einen Talibankämpfer erwischten, war ich der Einzige in der Einheit, der ihn verhaften und vernehmen durfte. Unmittelbar zuvor hatte meine erste Mission mich nach Trek Nawa, eine Stadt in der Nähe von Marjah geführt. Dort hatte ich mir mein Combat-Action-Ordensband verdient und sogar einen Taliban festgenommen und verhört. Dennoch, was für Trek Nawa galt, musste nicht unbedingt auch für Sangin gelten. Soweit wir informiert waren, erwartete uns dort ein ganz anderer Kampf.
Die Jungs, mit denen ich hinter die feindlichen Linien geflogen wurde, waren RECON-Marines, Aufklärungs-Marines. War mein Spezialgebiet die Kommunikation, so war ihres der Kampf. Sie waren das Nonplusultra – eine Elitetruppe von Special-Ops-Leuten, knallhart und erfahren. Sie ähnelten Profisportlern und waren überdies gewieft. Ich wollte nicht, dass sie mich für eine Nulpe hielten, irgendeinen Nerd von Intelligence, der ihnen nichts nützen würde bei ihrer Mission. Vor meinem Einsatz hatte ich mir fast den Arsch abtrainiert, war zweimal am Tag im Kraftraum gewesen. Um das Vertrauen meiner Kameraden zu gewinnen, würde ich ihnen nicht nur beweisen müssen, dass ich physisch imstande war, bei langen Nachtpatrouillen und Schießereien mitzuhalten, sondern auch, dass ich etwas ins Kampfgebiet mitbrachte, das sie selbst nicht besaßen.
Es wurde Zeit für die Landung. Wir saßen schweigend im Hubschrauber, der grüne Schein der Nachtsichtgeräte erhellte unsere Gesichter. Ein paar Meilen abseits eines Gehöfts, das eine Drohne vorher ausgekundschaftet hatte, setzte man uns ab. Wir würden reingehen, es zu unserem Stützpunkt machen und den Rest der Nacht mit dem Füllen von Sandsäcken und der Vorbereitung des Angriffs verbringen, der höchstwahrscheinlich bei Sonnenaufgang erfolgen würde.
Bei der vorausgegangenen Mission hatten wir einen britischen Soldaten namens Jack dabeigehabt. Guter Typ. Eigentlich sollte er mit uns nach Sangin kommen, doch er verabschiedete sich. »Ich geh da nicht mehr hin«, meinte er. Er war schon zwei Jahre zuvor dort gewesen, als die Sicherung des Stützpunkts noch in der Verantwortung der Briten lag. »Das ist so ein Ort, wo du, sobald du um ’ne Ecke biegst, zwei Taliban vor dir stehen hast. Und der eine hat ’ne Panzerfaust, der andere ein Maschinengewehr in der Hand, und sie warten nur drauf, dich abzuknallen«, sagte er. »Beknackt, das Kaff.«
Sangin hatte nun mal diesen Ruf. Die Taliban waren dreister dort, weil es ein wichtiger Ort für den Mohnanbau war und der Opiumhandel das große Ding, über das sich die Taliban finanzierten. Außerdem hatten die Koalitionskräfte in der letzten Zeit nicht genug Truppen dort stationiert, sodass die Taliban die totale Kontrolle und volle Bewegungsfreiheit besaßen. Wir rückten auf ihr Gebiet vor und machten uns auf viele Kämpfer und gewaltige Feuerkraft gefasst. Alles war denkbar: Leichtgeschütze, Panzerfäuste, Raketen, Mörser, DschK-Maschinengewehre. Wenn die Taliban eine Gegend derart kontrollierten, dann hatten sie auch Macht über die Familien in den Dörfern, denen wiederum keine Wahl blieb. Ganz grundsätzlich bedeutete dies, dass die Taliban sich nahmen, was sie wollten und von wem sie es wollten, und so das örtliche Wirtschaftsleben zum Erliegen brachten. Diese Dörfer waren extrem arm, sodass die Taliban oft die Einzigen waren, die etwas von größerem materiellem Wert besaßen, angefangen von Turnschuhen und Handys bis hin zu den kleinen Motorrädern, auf denen sie herumknatterten. Brauchten sie was zu essen, kreuzten sie auf Märkten oder vor Bäckereien auf und nahmen sich, was immer sie wollten. Hatte ein Motorrad eine Panne, suchten sie den einzigen Mechaniker des Dorfes auf und griffen sich die Teile oder brachten ihn mit vorgehaltener Waffe dazu, ihre Motorräder zu reparieren. Sie ruinierten Hochzeitsfeiern, indem sie Musikinstrumente zerbrachen oder Gäste, weil sie getanzt hatten, bestraften. Sie rekrutierten kleine Jungs – oder nahmen sie einfach mit.
Mit dumpfem Geräusch setzte der Heli in einer Staubwolke auf, und wir stiegen, Gewehr im Anschlag, hinaus in die Nacht. Die Wüstenerde unter meinen Stiefeln war hart, und eine dünne Schicht seidigen Staubs überzog alles wie Wasser. Ich verkniff mir das Husten. Die Rotoren rührten einen heftigen Staubwirbel auf und erhoben sich erneut in den Himmel. Es gibt nichts Schlimmeres als das Gefühl, das dich packt, wenn sich dieses Brummen in der Ferne verliert. Wenn es nur noch dich und die Jungs am Boden gibt und keine Maschine, um dich zu beschützen oder blitzschnell herauszuholen, dann wird es ernst.
Wir setzten uns in Marsch, einer hinter dem anderen, um Sprengfallen zu vermeiden. Das einzige Geräusch machten unsere über die Erde scharrenden Stiefel und die auf dem Rücken rutschenden Rucksäcke. Wegen seiner sehr geringen Luftverschmutzung gilt Afghanistan als ideal für die Sternenbeobachtung. Doch ich schwöre, in Sangin sank der Staub nie zu Boden. Über uns war nur dunkler, trüber Himmel, der an ein verschmiertes impressionistisches Gemälde erinnerte.
Über sanft gewellte Hügel marschierten wir zwei, drei Meilen nach Westen. Insgesamt waren wir drei Züge aus Marineinfanteristen plus »Anhängseln« wie mir, dem Team zur Kampfmittelbeseitigung und Angehörigen der Afghanischen Nationalarmee. Alles in allem waren wir an die sechzig. Unsere Ausrüstung und die Rucksäcke wogen schwer – dreißig Kilo und mehr. Doch dafür hatten wir schließlich trainiert. Nach einer Weile wurde mein Pulsschlag wieder gleichmäßiger. Mein Körper begann sich mit der Vorstellung, wo wir jetzt waren, vertraut zu machen.
Als wir das Gehöft erreichten, erblickten wir am Eingang einen älteren Mann, der uns offenbar hatte kommen hören. Wir richteten unsere Stützpunkte stets auf »besetztem« Gelände ein – wo bereits ein »Lebensmuster« vorhanden war. Wenn schon Leute dort wohnten und nicht in die Luft geflogen waren, war das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der Ort nicht von Sprengfallen verseucht war.
Ali, unser Dolmetscher bei dieser Mission, und ich näherten uns dem Alten, um mit ihm zu reden. Ali hatte mich schon auf dem letzten Einsatz begleitet, und wir hatten uns angefreundet. Er stammte aus Afghanistan, war aber schon vor Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Nun war er zurückgekehrt, um seinem Heimatland zu helfen und für sich, seine Frau und sein Neugeborenes daheim in Arizona einen anständigen Lebensunterhalt zu verdienen.
»Arizona, echt wahr?«, zog ich ihn gern auf. »Du bist also von einer Wüste in die nächste gezogen.«
»Meine neue Wüste hat Klimaanlage, mein Freund«, erwiderte Ali dann lächelnd. Ali liebte Klimaanlagen.
Wir traten zu dem Mann und schüttelten ihm die Hand. An dieser Stelle musste ich immer erklären, wer wir waren, dass wir gekommen waren, um zu helfen – und unsere Anwesenheit es erfordern würde, dass der Mann und seine Familie auf ein anderes Anwesen umzogen. Die Hofanlagen in Sangin variierten in der Größe; die meisten besaßen ein oder mehrere freistehende Bauten, die unterschiedlichen Zwecken dienten, etwa zur Lagerung von Reis oder als Wohnräume. Um die Gebäude herum erstreckten sich hohe Umfassungsmauern aus Lehm, und Großfamilien teilten sich den Platz in ihrem Innern, zuweilen auch gemeinsam mit ihrem Vieh. Manche Gehöfte standen für sich, während andere sich eine Umfassungsmauer mit dem Nachbaranwesen teilten. Häufig waren die Familien, denen wir in Sangin begegneten, auch Nomaden und zogen von Hof zu Hof, um als Farmpächter zu arbeiten. In diesem Fall etwa erzählte uns der Alte, er und seine Familie seien noch nicht lange dort, und erklärte sich zum Umzug bereit. Er öffnete die kleine Metalltür des Anwesens, und nacheinander traten wir ein. Einige von uns begannen sofort, Mauern und Dächer zu verstärken, während andere dem Mann und seiner Familie beim Umzug aufs Nachbargrundstück halfen, das einige hundert Meter entfernt lag.
Das Gehöft war groß. Die dicken Lehmmauern um uns herum waren etwa vier Meter hoch und umfassten eine Fläche von ungefähr fünfzig mal zwanzig Metern. Im Innern standen ein paar schlichte Bauten; kleine Hütten von knapp vier Metern Länge und drei Metern Breite: eine in der Nordwestecke, auf der wir einen Dachposten errichteten; eine in der Mitte, aus der wir eine improvisierte Kommandozentrale machten; und zwei weitere, die ebenfalls zu Verteidigungsposten aufgerüstet wurden. Die ganze Nacht über füllten wir wie am Fließband grüne Plastiksandsäcke. Mit einer zusammenklappbaren Schippe half ich, Berge von Staub und Sand in die Säcke zu schaufeln, anschließend trug sie ein anderer rüber zu den Marines, die sie dann auf die Dächer der kleinen Lehmgebäude hievten. Die im gefüllten Zustand kugelsicheren Sandsäcke wurden ringsum zu einem Wall aufgestapelt, sodass man sicher dahinterhocken und rausgucken konnte. Unten am Boden bohrten wir auch pizzagroße Löcher in die Wände. Wir mussten ja irgendwie sehen und rausschießen können. »Mörderlöcher« nannten wir die.
Wir brauchten die ganze Nacht. Als der Himmel wieder blau zu werden begann und das Licht sich über den Horizont ergoss, sah ich die weite, unendliche Wüste, die sich östlich von uns erstreckte. Im Westen des Lagers verlief der Highway 611, und jenseits davon lag die »Grüne Zone«. Wir nannten sie so, weil dort der Helmand floss und die Wüste üppig grünen Äckern wich. Mais- und Mohnfelder breiteten sich zu beiden Seiten des Flusses sowie entlang eines weitläufigen Netzes von Bewässerungskanälen aus. Ich beobachtete, wie eine dicke Nebelschicht von den Kanälen aufstieg und verdunstete.
Der 611er »Highway« war in Wirklichkeit nur eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende, sprengfallenverseuchte Staubpiste, deren südlichster Punkt die Distrikthauptstadt Sangin, der nördlichste der Kajaki-Damm bildete. Wie ein Druckverband trennte der Highway das bewässerte Land in der Grünen Zone von der ausgedörrten Wüste, in der wir unseren Posten errichtet hatten.
Die Taliban hielten sich in der Grünen Zone auf. Unsere Aufgabe war es, sie von dort zu vertreiben, damit eine Ingenieurskompanie der Koalitionskräfte auf dem Highway 611 sicher von der Distrikthauptstadt zum Kajaki-Damm im Norden gelangen konnte. Sobald das Gebiet gesichert war, konnte man die Straße von Sprengsätzen räumen, was wiederum ermöglichen würde, die dringend benötigten Turbinenteile zum Damm zu befördern. Und wenn der erst mal funktionierte, würde er genügend Energie erzeugen, um die gesamte Region mit Strom zu versorgen.
Manchmal, wenn ich Sangin zu beschreiben versuche, erkläre ich, es sei wie West Virginia. Wobei ich keinem West-Virginier zu nahetreten will, aber unser eigenes kulturelles Klischee vom wilden und wundervollen Gebirgsstaat ist ein ganz brauchbarer Vergleich. So lässt sich verdeutlichen, wie abgeschieden und ländlich Sangin ist – so sehr nämlich, dass auch viele Afghanen sich weigern, dorthin zu reisen. Es ist Stammesland, Heimat nur weniger Einwohner, von denen die meisten Bauern sind und größtenteils keinerlei Zugang zu formaler Bildung oder Elektrizität besitzen. Und das sind nur einige der Gründe, die das Gebiet so anfällig für Missbrauch und den Einfluss der Taliban machen.
Als das dritte Bataillon, fünfte Marineeinheit (auch Infanteriebataillon 3/5 oder Darkhorse genannt) einige Wochen vor unserer Mission in der Distrikthauptstadt eingetroffen war, waren die Soldaten in der Hölle gelandet. In der ersten Woche verloren sie zehn Leute. Wir waren nicht nur gekommen, um die Taliban entlang des Highways zu vertreiben, sondern auch um die 3/5-Marines im Süden zu entlasten.
Meine Hauptaufgabe in Sangin bestand nun darin herauszufinden, wer wer war. Wie ein taktisch operierender Anthropologe musste ich die Lage am Boden aus der Sicht eines Dorfbewohners erfassen. Ich musste die Einheimischen kennenlernen. Wie nannten sich die Leute hier? Welchen Stämmen gehörten sie an? Wie verdienten sie sich ihren Lebensunterhalt? Und welchen Einfluss übten die Taliban auf ihr Leben aus? Indem ich Beziehungen zu den Menschen knüpfte, würde ich in der Lage sein, wichtige Informationen aus erster Hand zu gewinnen. Außerdem wollte ich eine Datenbank mit den Namen, Stämmen, Familienmitgliedern, Jobs und Wohnorten der Leute anlegen. Denn so besäße das Marine Corps, falls es das Gebiet auch künftig sicherte und hielt, ein Dossier über jeden einzelnen Einwohner.
Als der neue Tag anbrach, bezogen zwei Marines auf dem Dach Stellung und richteten ihre Ferngläser auf die Felder. Diese CH-53-Hubschrauber sind nicht gerade leise. Die Leute wussten, dass wir da waren. Und auch wenn die Taliban unsere Position noch nicht ausgemacht hatten, bald würden sie es tun.
Einer der Marines rief vom Dach herunter:
»Ich sehe Bewegung! Im Nordwesten!«
Ich trat hinter die Schießscharte und spähte hinaus in die Grüne Zone. Er hatte recht: An den Feldrändern tauchten Menschen auf, querten die Grenze zur Wüste und kamen näher. Doch als ich hinausschaute, sah ich, dass sie sich nur langsam bewegten. Sie trugen Dinge, die wie Reissäcke und Taschen mit persönlicher Habe aussahen. Da war einer, der eine Schubkarre mit einer alten Frau schob, und ein anderer, der einen Esel führte, an dessen Flanken Decken und Eimer baumelten. Das waren keine Talibankämpfer. Das waren Dorfbewohner. Mit ihrer Habe auf dem Rücken verließen sie die Grüne Zone. Fluchtartig.
Es wurden immer mehr. Zwei Stunden lang sahen wir zu, wie sich Dutzende von Menschen von der Grünen Zone auf die staubige Ansammlung von Lehmgehöften in unserer Nachbarschaft zubewegten. Wären sie an Ort und Stelle geblieben – das wurde uns allmählich klar –, hätten sie riskiert, von den Taliban zu Zielscheiben gemacht zu werden. Denn deren Kämpfer konnten, sobald sie ihre Angriffe auf uns starteten, die Häuser der Bauern als Deckung benutzen. Dies war eine wohlbekannte Taktik der Taliban, und eine ganz verheerende.
Ich erinnere mich, wie erschöpft sie wirkten, wie geschlagen. Es mochte Jahre her sein, dass hier Truppen stationiert waren, sicher, doch sie hatten das alles schon einmal durchgemacht. Hätte es uns nicht gegeben, hätten sie lediglich versucht, die Taliban-Besatzung zu überstehen. Mit uns aber mussten sie in einer Kampfzone überleben. Was für ein Scheißdurcheinander, dachte ich. Wir mussten das einfach auf die Reihe kriegen. Diese Leute mussten den Frieden und die Freiheit bekommen, die sie verdient hatten. Der Morgenhimmel barst schier vor Licht. Schon nach ein paar Stunden klebte mir der Staub in den Haaren, auf der Haut und den Kleidern. Alles verströmte denselben muffigen Geruch. Ich griff nach einer Flasche, spritzte mir Wasser ins Gesicht und begann dann mit meinem Lieblingsritual: der Zubereitung von Instant-Kaffee. Meine Schwester hatte mir einen kleinen Jetboil-Kocher geschenkt, mit dem man Wasser in sechzig Sekunden heiß bekam. Pure Magie.
Auf der anderen Seite des Lagers erblickte ich Master Sergeant Top, unseren Anführer, der gerade das Gleiche tat. Ein altgedienter Veteran mit Quadratschädel und Fäusten wie Stahlbeton. Top verlor selten mehr als zwei Worte auf einmal.
Ich hob meine heiße Kaffeetasse an die Lippen, und dann hörte ich es: den unverkennbaren, überwältigenden Donner einer Attacke.
Direkt über mir kreischte der Himmel: »WUUUSCH!«
Ich blickte auf und sah eine Rakete, die durch die Luft flog und der sofort die nächste folgte. Sie segelten fast gemächlich vorbei, so als trieben sie dahin. Ihre Wege kreuzten sich, und vage registrierte ich, dass man sie von unterschiedlichen Orten abgeschossen haben musste. Eine zischte irgendwohin davon und verfehlte unser Lager. Die andere barst in einer scharfen, ohrenbetäubenden Explosion am anderen Ende des Geländes, innerhalb unserer Mauern, doch zum Glück an einer Stelle, wo sich gerade niemand befand. Es krachte schon, ehe das Ding überhaupt aufschlug – es war eine RPG, eine Panzerabwehrrakete, die in der Luft detonierte. Und die bewirkte, dass mir die Zähne klapperten und die Ohren klingelten.
Ich schaute wieder zu Top hinüber, der sich sofort in Bewegung setzte. Er lief in unsere improvisierte Einsatzzentrale, eine der kleinen Lehmhütten in der Mitte des Anwesens, um ans Funkgerät zu gelangen. Um mich herum schlüpften die Jungs in ihre Ausrüstung. Ich sah Dave an, einen der Bombenräumer, der bereits in Schutzweste und Helm steckte. Scheiße, dachte ich und griff nach meinen Sachen.
Ich stürzte zur Mauer und spähte durch eine Schießscharte. Ich sah nur Wüste und Staub. Nichts. Hinter mir bekam die Westmauer – die zur Grünen Zone wies – das ganze Kampfgeschehen ab. Gewehrgeschosse prallten auf Lehm, sodass der Dreck nur so spritzte. Die Jungs auf dem Dach brüllten einander zu, während sie nachvollzogen, wo die RPGs abgeschossen worden waren, und sich auf Erwiderung des Feuers vorbereiteten.
Auch über Funk konnte man ihre Meldungen hören; wir waren fast eingekesselt; das Feuer der Taliban kam aus einem Radius von 270 Grad um uns herum. Zu Beginn hatten es die Jungs auf dem Dach noch mit Maschinengewehr- und kleinkalibrigem Feuer zu tun gehabt. Doch dann konnte man hören, wie die Stimmen sich veränderten, als sie berichteten, dass »ein Teil des Beschusses« nun gezielt und treffsicherer sei. Wir hatten lediglich zwei Dachstellungen, die der Grünen Zone zugewandt waren, beide mit jeweils zwei Leuten bemannt, sowie ein paar Schießscharten unten. Alles in allem hieß das, dass wir gerade mal acht Jungs hatten, die das Feuer von, tja, einigen hundert Taliban erwiderten. Die Schüsse traktierten die Sandsäcke mit einem fast ununterbrochenen Rat-a-tat-tat-tat-tat-tat. Es wurde zu heftig, und die Jungs mussten die Köpfe einziehen. So mag man sich echt nicht überrumpeln lassen; es bedeutet, dass man den Feind nicht zurückschlagen kann. Dass es nur noch schlimmer kommen kann. Über uns strahlte der wolkenlose blaue Himmel.
Und dann: »Sani!«
Ich hörte den schrillen, lauten Ruf, der über Funk von dem Dachposten kam, der der Grünen Zone am nächsten lag.
Sani, sprich Sanitäter, war kein Wort, das man während eines Feuergefechts hören wollte. Von meinem Standort unten an der Mauer blickte ich hoch und sah, dass es Aaron war, Joes Wachkollege, der da rief. Ich kannte Joe und Aaron von meinem ersten Einsatz: Joe und ich hatten uns schnell angefreundet, als wir über unser gemeinsames Interesse am Mountainbiken und Snowboarden ins Gespräch kamen. Und nun lag Joe schlaff und kraftlos da oben neben seinem Kollegen. Scheiße, dachte ich.
Hektisch löste Aaron Joes Helm, während die Schüsse weiter über sie wegzischten. Er packte den Helm an der Vorderseite, zerrte und zog ihn ab, damit er die Verletzung besser sehen und versuchen konnte, die Blutung zu stillen.
Doch Joes Helm war leer. Kein Blut, keine Schädelfragmente. Aaron inspizierte erneut Joes Kopf, dann wieder den Helm und versuchte, sich das Geschehene zusammenzureimen. Er wusste, Joe war getroffen worden – er lag bewusstlos vor ihm –, doch rein körperlich sah er ganz okay aus. Aaron kontrollierte den Helm erneut und fand sie: zwei Löcher, wo das Geschoss in den Helm eingedrungen und wieder ausgetreten war. Joe stöhnte und begann sich zu bewegen.
»Wir müssen dich runterschaffen, Mann«, sagte Aaron. Der verwirrte Joe öffnete die Augen und begann, Kopf voran auf die Leiter zuzukriechen. Von unten gebot Jim, der Sanitäter, ihm Einhalt.
»Hey, hey, hey, langsam, Junge! Du musst dich umdrehen!«, schrie er nach oben. Schwindlig und verwirrt wendete Joe und stieg rückwärts, Füße voran, herunter.
Ich rannte zur Leiter und wartete mit Jim. Wir hielten Joe und betteten ihn auf die Erde. Jim begann, Joes Kopf zu untersuchen, teilte die kurzen Haare mit den Fingern. Währenddessen setzte Aaron über uns die Feuererwiderung fort.
Es war keine Wunde zu entdecken. Joe war – irgendwie – okay. Das Geschoss hatte seinen Helm zwar gestreift, ja sogar durchschlagen, aber sein Kopf war nicht getroffen.
Die erste Attacke dauerte nicht lange, nicht einmal eine halbe Stunde, auch wenn es sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Die eine Minute ist noch die Hölle los, in der nächsten herrscht Ruhe. Du merkst, du bist schweißgebadet, bei vierzig Grad im Schatten steckst du in dieser ganzen schweren Schutzmontur und einem Helm, und dein Mund glüht wie ein Backofen. Aber du bist am Leben.
Binnen einer Stunde folgte der nächste Angriff. Er ähnelte dem ersten. Die Taliban fangen gern mit was Rasantem an – indem sie eine großmächtige Waffe einsetzen und hoffen, uns damit Verluste beizubringen. Manchmal bedeutete das eine Panzerabwehrrakete oder Mörserfeuer; manchmal war es schwerer Beschuss durch ein großkalibriges Gewehr aus kurzer Distanz, etwa durch ein DSchK (was man »Dischka« aussprach). Oder es handelte sich um eine rückstoßfreie Waffe, eine Art Leichtgeschütz, das von einem Jeep oder vom Boden aus abgefeuert wurde. Sie starteten die Angriffe stets von mindestens zwei Standorten aus, gefolgt von Mörserbeschuss und Gewehrfeuer. Anschließend sammelten sie sich wieder, positionierten sich neu und starteten etwa eine Stunde später die nächste Attacke. Und so ging es weiter bis Sonnenuntergang.
Wir erlebten viele solcher Tage. Die Jungs wechselten sich auf den Dächern ab. Munition kam herein. Die Temperatur stieg. Wir wurden beschossen; wir erwiderten den Beschuss. Nachmittags, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und es bis zu sechsundvierzig Grad heiß wurde, verstummte die Wüste für kurze Zeit. Es war unerträglich, man konnte nichts tun, und für ein paar Stunden stellten die Taliban ihre Feindseligkeiten ein.
Wir nutzten die Zeit, um unsere Gewehre zu reinigen und unsere MREs (»Meals ready to eat« oder Fertigmahlzeiten) zu essen, sprich vakuumversiegelte Astronautennahrung fürs Militär. Wir spielten Karten und dösten. Wir versuchten, Witze zu reißen, uns zu beruhigen, uns ein wenig zu säubern. Ohnehin waren wir völlig verdreckt und mit Schlammspritzern übersät – winzigen Staubkörnern auf der Haut, die man mit keinem Feuchttuch mehr wegbekam. Unser »Bad« war ein Hühnerstall, wo wir unser Geschäft in kleine Silbertütchen mit desodorierendem Pulver verrichteten und sie dann auf eine Brand-Müllkippe schmissen. Schneller als man vielleicht denken möchte, wird einem das zur Normalität.
Irgendwann zwischen zwei Taliban-Angriffen entdeckte ich dann ihn.
Ich war erhitzt und erschöpft, versuchte aber in meinen Sandalen und den dünnen grünen »Silkies« genannten Laufshorts kühl und gelassen zu bleiben. Ich stand da, füllte meine Wasserflasche und erhitzte Wasser für Ali, der trotz der Bullenhitze auf einem Glas Tee zu seinem Lunch bestand. Als ich den Deckel auf meine Wasserflasche drückte, sah ich einen vertrottelt wirkenden Hund über den Hof traben. Mit den kurzen Beinchen und einem Elan, der eher an einen Welpen denken ließ, besaß er nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Straßenkötern, denen ich bislang in Afghanistan begegnet war. Die meisten waren groß und massig, trieben sich in Rotten herum und balgten aggressiv um Reviere und Essensfunde.
Ich merkte gleich, dass dieser Hund anders war. Er hatte kein Rudel; er war allein. Lässig paradierte er mit wippendem Schwanz und erhobener Schnauze im Dreck herum, als sei er ungeheuer stolz auf den Bissen, den er in der Schnauze trug. Er strahlte etwas Unschuldiges aus; das Leben in der Kampfzone schien ihm nichts anhaben zu können.
Ich hatte diese Nummer bei ihm während des knappen Tags, den wir inzwischen auf dem Grundstück waren, wiederholt beobachtet. Im Anschluss daran ging er immer rüber zur Brand-Müllkippe, um nach etwas Essbarem zu stöbern und anschließend kleine Reste zu seinem improvisierten Bau zurückzutragen, der in einem schattigen Fleckchen unter ein paar Büschen bestand. Komischer kleiner Hamsterer, dachte ich mir.
Bei unserer Ankunft am Gehöft hatte ich mich bei dem alten Mann nach zwei dort herumstreunenden Hunden erkundigt. »Gehören die beiden Ihnen?«, fragte ich ihn. Denn wäre es so gewesen, hätten wir ihm geholfen, sie mitsamt seinem Vieh zum neuen Grundstück seiner Familie zu bringen.
»Nein, nein, nein«, entgegnete er. Und es wäre auch ungewöhnlich gewesen, hätte sich ein Bauer in Sangin einen Haushund gehalten. Die Dorfbewohner liebten Tiere und kümmerten sich aufs Gewissenhafteste um ihr Vieh, doch sie konzentrierten sich aufs Überleben und die Ernährung ihrer Familien; sie konnten es sich schlicht nicht leisten, ein Haustier zu füttern und zu versorgen. Gelegentlich begegneten wir »Haus«-Hunden, die sich dann allerdings ausnahmslos als Kampfhunde entpuppten. Nachdem die Familie aus- und wir eingezogen waren, blieb der kleine Hund. Es war fast so, als gehöre das Anwesen ihm. Ich stand da und sah zu, wie er sich auf seinen Platz unter den Büschen flackte. Neben ihm lagen weitere Essensreste, die er angehäuft hatte: Verpackungen von Fertigmahlzeiten, Salzstangen, Knochen.
Ich stellte meine Wasserflasche ab, nahm ein Stück Beef Jerky und näherte mich ihm, wobei ich mit meinen Sandalen etwas Staub aufwirbelte. Als der Hund merkte, dass ich auf ihn zuging, unterbrach er seine Mahlzeit und schaute mich an. Er beobachtete, wie ich näher kam, und blinzelte mit zusammengekniffenen Lidern, um die Augen vor Sonne und Staub zu schützen.
Ein paar Schritte vor ihm hielt ich inne.
»Hey, Kumpel«, begann ich. »Wie läuft’s denn so?«
Er schien mich aufmerksam zu betrachten. Ein inniger – ja geradezu menschlicher – Ausdruck lag in seinen großen hellbraunen Augen. Einen Moment lang sahen wir uns nur an. Dann hörte ich ein leises wusch wusch wusch, und hinter ihm stieg eine kleine Staubwolke auf. Ich konnte es kaum glauben: Er wedelte mit dem Schwanz.
Ich verstand das als Einladung näher zu kommen und ging in die Hocke, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Sein Fell war in der Hauptsache weiß, unterbrochen von großen hellorangebraunen Flecken. Er hatte Schlappohren und eine lange Schnauze mit großer schwarzer Nase. Während er mich anguckte, zuckten seine Augenbrauen neugierig hin und her. Noch immer wedelte er mit dem Schwanz, und seine Miene war sanft und gelassen, so als lächle er.
Der Hund wirkte quietschfidel, doch ich sah, dass er von schwarzen, münzgroßen Insekten befallen war. Sie umschwirrten ihn und gruben sich ihm im Gesicht und am Hals ins Fell.
Ich streckte den Arm aus und hielt ihm das Beef-Jerky-Stück hin. »Na komm, Kleiner«, sagte ich.
Der Hund stand auf und schüttelte sich, als wolle er, ehe er sich mir näherte, so viele Fliegen wie möglich loswerden. Er tat, immer der Nase nach, ein paar Schritte nach vorn und inspizierte die Gabe, ehe er sie mir behutsam mit den Vorderzähnen aus der Hand zog. Ich musste lachen, als ich ihm beim Kauen zusah. Die meisten mir bekannten Hunde machten sich nicht mal die Mühe, ein Leckerli zu kauen, bevor sie es hinunterschlangen.
»He, du hast ja direkt Manieren, was?«, lobte ich ihn und streckte die andere Hand aus, damit er sie beschnuppern konnte. Da er nichts dagegen zu haben schien, kraulte ich ihm den Hals und die Ohren. Sein Fell war stumpf und staubverklebt; es fühlte sich unnatürlich steif an, fast wie eine verdreckte Jeans. Doch der Hund drängte glücklich in meine Richtung und schien das Kraulen zu mögen. Ich fragte mich, ob es womöglich das erste Mal war, dass er überhaupt gestreichelt wurde.
Als Kind hatte ich mir immer einen Hund gewünscht. Ja, ich ging so weit, mir von meinem eigenen Geld eine Leine anzuschaffen, und machte dann nach der Schule die Runde, klopfte an die Türen der Nachbarn und bot ihnen an, kostenlos ihre Hunde auszuführen. Manche erlaubten es mir sogar. Mein Lieblingshund war ein alter Basset namens Irene. Irene hatte diese dicken Pfoten und riesige Schlappohren. Wenn ich mit ihr Gassi ging, trabte sie mit hocherhobener Schnauze und alle möglichen Gerüche erschnuppernd an straff gespannter Leine vor mir her. Dieser staubige Welpe mit dem langen Rumpf und den kurzen Beinchen erinnerte mich an sie.
Ehe ich mich aber völlig hinreißen ließ, bremste ich mich erst mal. Mit Hunden zu kuscheln war in Afghanistan tabu. Bei meiner Ankunft im Land hatte ich am Hauptstützpunkt zwei komplette Orientierungstage über mich ergehen lassen, wo sie uns sämtliche Regeln, große wie kleine, ausbuchstabierten. Kein Alkohol. Keine Pornografie. Und – aus taktischen Gründen – kein Salutieren vor Vorgesetzten. Eine der denkwürdigeren Grundsätze stammte von einer Tierärztin der Hundestaffel der Militärpolizei. »Keine Hunde«, meinte sie lapidar und erzählte uns dann Horrorgeschichten über Typen, die sich mit Tollwut angesteckt hatten. Wenn wir uns mit einem Hund erwischen ließen, erklärte sie, werde der ohne Angabe von Gründen eingeschläfert. Außerdem war ich noch immer total fokussiert darauf, mich bei den RECON-Leuten zu bewähren. Ich musste bei diesem Einsatz meinen Wert unter Beweis stellen, nicht mit einem Hund im Staub rumhocken.
Mit derlei im Sinn erhob ich mich widerwillig. Der Hund stand nur da und starrte zu mir hoch. »Okay, mein Freund«, sagte ich, drehte mich um und kehrte in meine Hofecke zurück.
Doch schon nach wenigen Schritten spürte ich einen leichten Stups am Fußknöchel. Ich guckte hinunter und sah, wie der Hund breit grinsend und schon wieder schwanzwedelnd zu mir hochstarrte. Von der anderen Hofseite her hatte Matt, einer der Bombenräumer, unseren Austausch verfolgt. »Sieht aus, als hättst’n neuen Freund!«, brüllte er. Ich aber hörte: »Sieht aus wie’n Fred!« Und der Name blieb ihm.
Fred lief hinter mir her zum improvisierten Lager, wo ich meinen Schlafsack hatte. Ich versuchte gar nicht erst, ihn davon abzuhalten. Vielleicht, dachte ich, war’s ja doch nicht so schlimm, wenn ich ihm noch ein Stück Trockenfleisch und Wasser gab.
Ich schnappte mir ein großes Blechgeschirr, das herumlag – wahrscheinlich hatte es zum Tränken der Kühe gedient –, und füllte es mit Wasser aus meiner Feldflasche. Nachdem ich es vor Fred hingestellt hatte, sah ich ihm zu, wie er das Ding bis auf den letzten Tropfen ausschleckte. Ich stand über ihm und lächelte. Genauso, wie er behutsam das Trockenfleisch in Empfang genommen hatte, leckte er mit höflichen kleinen Bewegungen das Wasser auf.
Jim, der Sani, hatte ebenfalls zugeschaut. Bei Jim gewann man den Eindruck, als sei er als Kind Eagle Scout, so eine Art Oberpfadfinder, gewesen. Er war ein Superschlauer und hatte immer alles nötige Werkzeug bei sich. Nachdem er sich von seinem Schattenplatz erhoben hatte, kam er zu mir herüber, um das Ungeziefer an Freds Hals genauer in Augenschein zu nehmen. Er zog eine Pinzette aus seiner Gürteltasche, deutete auf die Insekten und meinte: »Halt ihn doch mal fest, und ich gucke, ob ich ein paar von den Blutsaugern entfernen kann?«
Wir kauerten beide im Staub. Ich ging in den Schneidersitz, zog Fred zu mir her und hielt ihn bei den Schultern. Die Insekten, die fliegenden Zecken ähnelten, gruben sich in Freds Fell und bohrten sich in seine Haut. Sie loswerden hieß, dass Jim sie ihm aus der Haut herausziehen musste.
»Pass auf, Mann«, zischte ich, als Jim mit der Pinzette dem ersten Insekt zu Leibe rückte. Ich hatte keine Ahnung, wie Fred reagieren würde. Jim zog heftig, und mit einem einzigen Ruck hatte er die erste Lausfliege samt einem kleinen Fellbüschel herausgerissen. Ich machte mich auf Gejaule gefasst oder sogar einen Biss von Fred, doch der hockte nur gleichmütig da. Jim und ich tauschten einen Blick. Vorsichtig machte er weiter und zog eine Lausfliege nach der anderen. Fred aber blieb geduldig sitzen und ließ uns unsere Arbeit tun.
Als wir damit fertig waren, türmte sich ein winziger Fliegenfriedhof neben uns auf dem Boden. Jim tätschelte Fred den Kopf und erhob sich. »Wow«, meinte er. »Unglaublich, dass er das mit sich machen lässt.«
Fred in seiner neu gewonnenen Freiheit schüttelte sich noch einmal und zockelte dann zu meiner Isomatte. Er trat unter das Moskitonetz – einen kokonartigen Ein-Mann-Schutz, in dem wir schliefen – und kletterte hinein, wobei er sich den Stoff passend zurechtschob. Es war, als hätte er es schon Hunderte Male vorher getan. Zufrieden mit allem legte er sich nieder, stieß einen Seufzer aus und schloss blinzelnd die Augen. Auch ich strotzte vor Dreck, und es störte mich überhaupt nicht, wenn dieser staubige Welpe ein Plätzchen auf meinem Bett haben wollte. Jim und ich lachten.
»Der macht sich’s hier richtig gemütlich!«, meinte er.
Ich beugte mich über ihn und zog das Moskitonetz für unseren neuen Freund zu. Ich befand mich gut sechstausend Meilen von zu Hause in einem Kampfgebiet, in einer der brutalsten Gegenden der Welt. Und da war dieser Hund, der anders als ich hier daheim war. Sangin war alles, was er kannte. Und obwohl Fred wahrscheinlich nie zuvor einen Schluck sauberes Wasser geschmeckt hatte oder hinterm Ohr gekrault worden war, war er sanft und freundlich. Als ich jetzt zu ihm hinunterblickte, machte ich mir keine Sorgen mehr wegen der No-Dog-Richtlinie oder wann die nächste Panzerabwehrrakete geflogen kam. In diesem Augenblick fühlte auch ich mich zu Hause.