Liebe Leserin, lieber Leser,
Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.
Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.
Wir wünschen viel Vergnügen.
Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team
Molly und ihr Freund Jackson leben ein turbulentes Großstadtleben in New York mit angesagten Jobs, einer schicken Wohnung und vielen Partys. Aber dann erhält Molly einen Brief, der alles verändert: ihre Tante Gynnie, bei der sie früher immer ihre Sommerferien verbracht hat, ist gestorben. Molly ist tieftraurig. Seit Jahren hatten die beiden keinen Kontakt mehr und nun ist es zu spät. Aber Tante Gynnie hat für Molly ein Abschiedsgeschenk: Molly ist die Erbin von Tante Gynnies kleinem Hotel, dem Mountain Lake Inn.
Kurzerhand fliegt Molly mit ihrem Freund Jackson nach Maple Creek. Dort angekommen erfolgt allerdings die Ernüchterung: Maple Creek ist nicht nur viel kleiner und verschlafener als Molly es in Erinnerung hatte, auch das Mountain Lake Inn hat schon bessere Tage gesehen.
Schweren Herzen entscheidet sich Molly das Hotel erst renovieren zu lassen, bevor sie es verkauft. Doch das erste Zusammentreffen mit dem ortsansässigen Zimmermann Nat verläuft alles andere als harmonisch. Für ihn ist Molly eine zickige, eingebildete Großstadttussi, für Molly ist Nat ein raubeiniger, uncharmanter Hinterwäldler.
Die Unstimmigkeiten zwischen den beiden werden auch nicht besser, als Molly für vier Wochen nach Maple Creek zurückkehrt, um Tante Gynnies Haus. Aber je länger Molly sich in Maple Creek aufhält, umso nachdenklicher wird sie. Denn aus der Ferne wirkt ihr New Yorker Großstadtleben gar nicht mehr so glamourös wie sie immer dachte …
Auftakt der großen Maple Creek Serie!
Über Olivia Anderson
Hinter dem Pseudonym Olivia Anderson verbirgt sich die Bestsellerautorin Gerlinde Friewald. Sobald sie lesen konnte, hat Gerlinde Friewald gelesen. Sobald sie schreiben konnte, hat sie geschrieben – im wahrsten Sinne des Wortes. Was früher nebenbei geschah und auch in ihren Beruf in der Werbung und PR naturgemäß einfloss, betreibt sie seit über zehn Jahren als Hauptpassion: Schreiben. Mit ihrer Familie lebt sie im Süden Wiens in Österreich. Gerlinde Friewald ist in verschiedenen Genres der Unterhaltungsliteratur beheimatet. Besonders wichtig sind für sie – ob Krimi, Thriller oder Liebesroman – die Spannung und das Gefühl für die Menschen in der Geschichte.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Wiedersehen in Maple Creek
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Newsletter
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Impressum
Gekonnt schlängelte sich Molly durch die Menschenmassen auf dem Bürgersteig, sprang im richtigen Augenblick nach rechts und schlüpfte durch den Eingang in das Foyer des Wohnhauses.
Der Concierge begrüßte sie mit einem Lächeln. »Guten Abend, Miss Jensen.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Rushhour?«
Obwohl es sich zweifellos um eine rhetorische Frage handelte, antwortete Molly. »Gehwege und Straßen sind hoffnungslos verstopft.« Sie formte mit den Fingern ein Herz. »Aber selbst dafür liebe ich New York. An keinem anderen Ort auf der Welt möchte ich leben. Ist Jackson schon zu Hause?«
»Nein, Mister Coleman ist noch nicht eingetroffen.«
Molly verdrehte die Augen. »Wir sind heute auf eine Geburtstagsparty eingeladen. Ich bin schon spät dran, aber Jackson kommt sicherlich wieder erst im allerletzten Augenblick. Kann ich die Post haben?«
Der Concierge lächelte abermals, griff unter den Tresen und zog einen kleinen Stapel Briefe hervor. »Willy hat in der Tagesschicht ein gesondertes Schreiben von FedEx für Sie übernommen. Der große Umschlag ist es.«
Molly warf einen Blick darauf und zog die Brauen hoch. »Danke, Chris. Bis später.« Sie nahm die Briefe an sich und ging zum Lift. Während sie in den sechsundzwanzigsten Stock hochfuhr, betrachtete sie den Umschlag. Er wirkte formell. Eine getarnte Werbung schloss sie aus. Werbung via FedEx zu versenden, sprengte das Budget jeder Kampagne. Ihr Blick fiel auf den Poststempel: Kanada. Wer schrieb ihr aus Kanada?
Nur äußerst selten befand sich in ihrer Post eine Überraschung. Sie wusste, wann die laufenden Rechnungen kamen, genauso wie ihre abonnierten Zeitschriften. Neben Werbesendungen erhielt sie noch regelmäßig das Programm eines kleinen Theaters und den Newsletter des Wohnhauses. Sämtlicher Kontakt mit Freunden und Bekannten lief zeitgemäß über das Internet. Niemand schickte mehr eine Postkarte oder einen Brief.
In Windeseile änderte sie ihre Planung. Sie hatte genau eine Stunde Zeit, um sich für die Party zurechtzumachen. Eigentlich war die Vorbereitung bereits minutiös getaktet: sofort unter die Dusche, danach in die Küche, um ihren Energysmoothie zuzubereiten, wieder ins Badezimmer, das hoffentlich bereits etwas angetrocknete Haar föhnen und Make-up auflegen, zum Abschluss ankleiden.
Auf ihren täglichen Smoothie wollte sie keinesfalls verzichten, aber wenn sie sich die Haare nicht wusch, sondern sie hochsteckte, sparte sie mehr als zehn Minuten ein. Diese gewonnene Zeit wollte sie nutzen, um den Brief zu öffnen.
Ungeduldig wartete sie, bis der Lift endlich anhielt und die Tür zur Seite glitt. Die Lifttür war noch nicht ganz geöffnet, als Molly schon hindurchschlüpfte und den Gang entlang zu ihrem Apartment eilte.
Jackson und sie lebten in einer – für Manhattaner Verhältnisse – großen Wohnung mit weitläufigen Glasfronten vom Boden bis zur Decke, hohen Innentüren und geschickt platzierten Säulen als Raumteiler. Jackson bevorzugte einen kühlen, modernen Einrichtungsstil, der sich mit vielen Chromelementen und den vorherrschenden Farben Schwarz und Weiß bemerkbar machte. Molly hatte mit ihrem Gespür für Details das Ihre dazu beigetragen, die Wohnung dennoch wohnlich wirken zu lassen. Es hatte nicht viel gebraucht: hier eine kuschelige Decke und Zierkissen, dort einige Kerzen und vor allem viele Pflanzen, die sie mit Hingabe pflegte.
Während Molly die Wohnungstür aufschloss, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hängte die Jacke in die Garderobe und stellte ihre Schuhe in den Schrank, dann lief sie mit der Post ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen.
Bevor sie den Brief öffnete, hielt sie inne und betrachtete noch einmal den Umschlag. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Entgegen ihrem sonst gelassenen Naturell war sie richtiggehend aufgeregt. Sie öffnete das Kuvert und zog den Inhalt heraus. Es handelte sich um ein zweiseitiges Begleitschreiben und säuberlich geheftete Papiere in einer Klarsichthülle. Ihre Anspannung zog schlagartig an.
Hastig überflog Molly den Inhalt des Briefes. Er war von einem Anwalt Namens Jim Ryder unterzeichnet. Sie blätterte zurück, las nochmals, nun genau, dann zog sie die Papiere aus der Hülle und ging Seite für Seite durch.
Wie hypnotisiert fixierte sie eine Weile das letzte Blatt. »O nein«, flüsterte sie und erschrak über ihre eigene Stimme, die in der Stille seltsam widerhallte.
Unvermittelt schossen Bilder aus der Vergangenheit durch ihren Kopf. Erst zeigten sie sich verschwommen, als betrachtete sie alles durch ein beschlagenes Fensterglas, dann wurden sie klarer. Die weiß gestrichene Veranda mit den Korbsitzmöbeln, die in kleinen Grüppchen beieinanderstanden und auf den See ausgerichtet waren, das Wäldchen auf der anderen Seite des Seeufers, der breite Steg, der sicherlich fünfzehn Meter weit ins Wasser reichte. Das Wasser selbst war so klar, dass man jeden Stein am Grund des Bodens erkennen konnte, bis es schließlich tiefer wurde und man nur noch in ein sattes Blaugrün blickte, das immer dunkler wurde, je weiter man zur Mitte des Sees kam. Die Sonne brachte die Farben zum Strahlen – das Blau des Wassers, die schneeweiße Veranda, die grünen Bäume.
Ja, an die Farben erinnerte sie sich besonders. Sie waren intensiv und kräftig gewesen, voller Leben und Energie. Und wie aus dem Nichts erklang Tante Gynnies fröhliche Stimme: »Molly! Es gibt Apfelkuchen mit Sirup! Aber lauf jetzt bloß nicht wieder zum Händewaschen ins Haus. Ein bisschen Schmutz im Magen hat noch keinem Menschen geschadet.« Die Gäste auf der Terrasse hatten gelacht.
»O nein!«, flüsterte Molly noch einmal und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie presste die flache Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen, aber es half nichts. Sie gab einen leidvollen Ton von sich, dann begannen die Tränen zu fließen. Sie schlang die Arme um ihren Körper und krümmte sich zusammen.
»Warum weinst du?«
Molly schreckte hoch und blinzelte. Sie hatte Jackson nicht kommen hören. Wie lange saß sie überhaupt schon hier und weinte? »Ein Todesfall«, brachte sie mit belegter Stimme hervor.
Jackson setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Wer ist es?«
Molly wischte sich die Tränen von den Wangen und richtete sich auf. »Meine Tante Gynnie.«
»Ich habe den Namen noch nie von dir gehört.«
Molly zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie einfach … vergessen.« Gedankenverloren wiederholte sie: »Einfach vergessen …«
»Na ja, wenn du keinen Kontakt zu ihr hattest, ist das nicht verwunderlich. Man denkt nun mal nicht an jeden entfernten Verwandten. Es erstaunt mich eher, dass du in Tränen aufgelöst hiersitzt.«
»Aber ich hatte Kontakt zu ihr! Es ist nur ewig lang her. Als Kind habe ich jeden Sommer bei ihr verbracht. Die Zeit bei Tante Gynnie war … toll.«
Jackson stieß ein Murren aus. »Dann müssen wir wohl zum Begräbnis. Das gehört sich. Wann findet es statt?«
So war Jackson, sachlich und die Dinge rasch auf den Punkt bringend. Molly schüttelte den Kopf. »Das Begräbnis muss längst vorbei sein. Ich bin nicht verständigt worden.« Sie zeigte auf die Unterlagen, die sie auf dem Couchtisch abgelegt hatte. »Wir müssen trotzdem nach Maple Creek. Ich habe … geerbt.« Sie griff sich an die Schläfe. »Tante Gynnie hatte keine Kinder, und wie in dem Schreiben steht, keinen anderen Erben benannt. Eigentlich würde mein Vater als ihr direkter Verwandter alles bekommen, doch da auch er bereits verstorben ist, fällt die Hinterlassenschaft an mich.«
»Und was ist alles?«
»Das Mountain Lake Inn.« Noch konnte Molly keinen klaren Gedanken fassen, aber sie bemerkte, wie Jackson langsam ungeduldig wurde. Also setzte sie zu einer Erklärung an, auch wenn es ihr schwerfiel. »Tante Gynnie war Inhaberin eines kleinen Hotels in Maple Creek, es liegt direkt an einem See. Eine wunderbare Gegend, die Berge im Hintergrund, die Bäume reichen teilweise bis zum Ufer …, geriet Molly trotz ihrer Trauer ins Schwärmen. »Ein Ort wie in einem Märchen. Ich bin sehr glücklich dort gewesen.«
Jackson war offensichtlich bei den Wörtern »Erbe« und »Hotel« hängen geblieben. »Du hast also tatsächlich ein kleines und feines Hotel an einem See geerbt?«
»Es sieht so aus, ja.«
»Und wo liegt dieses Maple Creek?«
»In … Kanada.«
»In Kanada?« Jackson blickte sie ungläubig an. »Deine Eltern stammten beide aus Washington D. C. Was hat die Schwester deines Vaters nach Kanada verschlagen?«
»Ich weiß es nicht, und ich habe auch nie darüber nachgedacht«, entgegnete Molly kühl. Es traf sie, dass Jackson in keiner Weise auf ihre Erinnerungen und Gefühle einging. Er könnte sie doch zumindest fragen, was sie empfand, oder sie einfach in den Arm nehmen und trösten. Immerhin hielt er ihre Hand. Das war für Jackson schon ein intensives Zeichen seiner Anteilnahme.
Er schien ihre Distanz nicht zu bemerken. »Dann müssen wir wohl oder übel nach Kanada fliegen.« Demonstrativ hob er den Arm und tippte auf seine Armbanduhr. »Du solltest dich jetzt aber langsam zurechtmachen. So wirst du doch nicht zur Party wollen?« Er musterte sie.
Irritiert starrte Molly ihn an. In manchen Belangen konnten zwei Menschen nicht unterschiedlicher sein als sie und Jackson. Schon einige Male hatte sie sich gefragt, wie ihre Beziehung verlaufen würde, könnten sie mehr Zeit miteinander verbringen. Die Antwort gefiel ihr ganz und gar nicht. Es war schon gut, dass sie beide viel arbeiteten und die spärliche Freizeit häufig mit Freunden verbrachten. Auf diese Weise gestaltete sich ihre Partnerschaft sehr harmonisch.
»Ich wäre heute kein unterhaltsamer Gast. Die Nachricht verwirrt mich, und ich bin traurig. Es ist nicht leicht, das alles zu begreifen. Stört es dich, wenn ich zu Hause bleibe?«
»Wo denkst du hin? Überhaupt nicht. Ich gehe gern allein auf die Party. Vor allem, wenn ich rechtzeitig davon erfahre. Mit ›rechtzeitig‹ meine ich im Übrigen nicht eine halbe Stunde davor.« Die Ironie in Jacksons Stimme war unüberhörbar. Ruckartig stand er auf und verließ das Wohnzimmer.
Molly sah ihm nach, dann erhob auch sie sich. Sie kannte Jackson gut genug, um zu wissen, was die nächsten Tage bringen würden, wenn sie jetzt nicht mit zur Party ging. Er würde nur das Notwendigste mit ihr reden, noch länger als sonst im Büro bleiben und – was für Molly am schlimmsten war – ihr allmorgendliches Kaffeedate in der Küche bewusst versäumen. Dieses Ritual bedeutete ihr sehr viel. Im Grunde war es die einzige Zeit des Tages, wo sie wirklich in Ruhe miteinander plaudern konnten. Sie sprachen über die Arbeit, das anstehende Abendprogramm, und manches Mal führten sie einfach nur Smalltalk. Es waren fünfzehn Minuten, die nur ihnen gehörten. Bei dem schnellen Leben in New York und der Arbeit – Jackson war Broker, und sie arbeitete als Redakteurin bei einem Modemagazin – war das wertvolle Zeit.
Sie würde den Abend schon irgendwie überstehen. Vielleicht tat ihr die Ablenkung sogar gut. Bliebe sie zu Hause, würde sie ohnehin nur grübeln, weinen und in Erinnerungen schwelgen. An das schlechte Gewissen, Tante Gynnie vergessen zu haben, durfte sie erst gar nicht denken.
Die drei Männer hatten sich in Jim Ryders Büro eingefunden. Jim saß mit einer Zigarre in der Hand zurückgelehnt in seinem Stuhl und kraulte mit der anderen Hand den Kopf seines Hundes, der neben ihm auf dem Boden saß. Verstohlen warf er einen Blick auf Nats undurchdringliche Miene. Es würde nicht leicht werden, ihn zu überzeugen. Aber er musste es ein letztes Mal versuchen. Bei Morris machte er sich keine Sorgen. Sie hatten ebenfalls bereits darüber gesprochen, und er stand auf seiner Seite.
Grundsätzlich bedeutete es für Morris als Immobilienmakler und für Nat als Inhaber der hiesigen Zimmerei ein Geschäft, sogar ein gutes. Die persönliche Komponente wog in diesem speziellen Fall jedoch schwer. Vor allem Nat war durch seine enge Beziehung zu Gynnie zu sehr mit dem Hotel verbunden. Dazu kamen seine ureigenen Sichtweisen auf bestimmte Dinge, die wohl nur mit viel Überzeugungsarbeit und guten Argumenten umzudrehen waren.
Jim räusperte sich. »Molly Jensen hat mich telefonisch kontaktiert. Sie hat die Papiere erhalten und kommt in den nächsten Tagen zu uns nach Maple Creek. Morgen gibt sie mir Bescheid, wann genau sie anreisen wird. Sie muss in der Arbeit noch ihren Urlaub abstimmen.« Jim blickte von Morris zu Nat. »Sie ist Gynnies Nichte, und wir müssen sie tatkräftig unterstützen. Es wird bestimmt nicht einfach für sie, den Anblick zu verkraften. Sie hat das Hotel anders in Erinnerung.«
Morris nickte. »Das ist doch selbstverständlich. Ich bereite die notwendigen Informationen für sie vor, und wenn sie will, stehe ich ihr zur Verfügung. Viele Möglichkeiten hat sie nicht, wie sie mit dem Hotel verfahren kann. Verkaufen oder verpachten. Dass sie hierherzieht und das Hotel übernimmt, schließe ich aus. Auf jeden Fall sollte sie das Haus renovieren lassen, bevor ich in Aktion trete, aber darüber haben wir bereits letztes Mal gesprochen.«
»Gänzlich verfallen lassen wäre auch noch eine Variante, oder gleich abreißen«, warf Nat ein. Er hielt die Arme verschränkt. Sein Gesicht zeigte nach wie vor keine Regung.
»Das wäre weder für Molly Jensen noch für Maple Creek sinnvoll«, antwortete Jim. In Gedanken dankte er Morris für den Versuch, das Gespräch sofort in die richtige Bahn zu lenken, auch wenn er gescheitert war. Nats Einwand war vorauszusehen gewesen.
»Sie kann mit dem Maple Lake Inn machen, was sie will. Und wer es schafft, einen wunderbaren Menschen wie Gynnie einfach komplett aus seinem Leben zu streichen, wird sich auch nicht um ein Hotel Sorgen machen«, entgegnete Nat.
»Du weißt genau, dass Gynnie ihrer Nichte keine einzige Minute böse war, weil sie sich nie bei ihr gemeldet hat. Gynnie war allein wichtig, dass es ihr in New York gutgeht. Sie war stolz auf Molly und hat die Umstände verstanden. Außerdem rede ich nicht von persönlichen Befindlichkeiten, sondern von rein finanziellen Belangen.«
»Gynnie war der gutmütigste Mensch, den ich gekannt habe, natürlich hätte sie sich nie beschwert oder ein schlechtes Wort über Molly gesagt«, konterte Nat. Jims sachlichen Hinweis ließ er unkommentiert.
Jim hob den Zeigefinger und schüttelte ihn. »Gynnie konnte ihre Meinung sehr wohl kundtun, bei Bedarf auch lautstark und nachhaltig.«
Morris schmunzelte. »Das stimmt. Denkt nur an die Auseinandersetzungen mit meiner Frau. Gynnie war die Einzige, die ihr hin und wieder so richtig die Meinung gesagt hat.«
»Und dir hat es jedes einzelne Mal eine diebische Freude bereitet, gib es zu.«
Morris zuckte mit den Schultern. »Ich enthalte mich der Stimme.« Sein Schmunzeln wurde breiter.
»Zurück zum Thema«, sagte Jim nach einem Moment des Schweigens. »Nat, du bist der Einzige, der die Arbeiten am Hotel in der richtigen Form bewerkstelligen kann. Damit meine ich, so wie Gynnie es gewollt hätte. Jemanden von außerhalb zu beschäftigen würde nicht nur höhere Kosten für Molly Jensen bedeuten, sondern bestimmt auch dem Aussehen des Hotels schaden. Du kennst das Maple Lake Inn wie kein Zweiter und hast ein Herz dafür.«
Nat seufzte. »Okay, du kannst mich vorschlagen. Ich sage euch aber gleich, es geht mir ausschließlich um Gynnie. Ich mache das nur für sie. Möchte Jensen ein anderes Unternehmen beauftragen, ist das für mich in Ordnung. Dann habe ich wenigstens nichts mit ihr zu tun.«
Jim nickte. Innerlich atmete er auf. Er hatte die richtigen Worte gewählt. »Das reicht mir für den Anfang.« Er beugte sich vor und fixierte Nat. »Du hast Gynnie sehr gerngehabt, sie war wie eine Mutter für dich. Ich kann verstehen, dass du dich über Molly Jensens Verhalten ihr gegenüber ärgerst. Für dich ist es etwas Persönliches. Es geht uns aber nichts an, vergiss das bitte nicht. Ob Molly Jensen ihre Tante einmal täglich angerufen und oft besucht hat oder ob sie gar keinen Kontakt miteinander hatten, muss uns egal sein. Wäre Gynnie noch am Leben, würde sie ihre Nichte mit offenen Armen empfangen. Und so sollten wir das auch halten. Ich kann mich nicht mehr an Molly als Kind erinnern. Am Telefon hat sie ausgesprochen nett geklungen.«
»Gynnie hat oft von ihr gesprochen. Meinst du nicht, sie hat es getan, weil sie sie vermisst hat?« Nat wollte noch nicht lockerlassen.
»Hat Gynnie auch nur einmal etwas Negatives über Molly gesagt? Oder hast du irgendeinen Groll gespürt?«
Nat schüttelte den Kopf. Er stützte sich an den Armlehnen des Stuhls ab und stand auf. »Ich werde die Arbeiten mit meiner Zimmerei übernehmen, wenn es notwendig ist. Den roten Teppich rolle ich für Molly Jensen aber bestimmt nicht aus. Ich muss wieder zur Arbeit. Gib mir Bescheid, Jim, wenn sie kommt. Dann halte ich mich bereit.«
Jim wartete, bis er die Haustür zuschlagen hörte, dann sagte er: »Nat hat Gynnies Tod am schwersten von uns allen getroffen. Diese extreme Abneigung gegen Molly Jensen kann ich trotzdem nicht nachvollziehen.«
»Vergiss nicht, er hat sich in den letzten Monaten rührend um Gynnie gekümmert und sie mehr oder weniger beim Sterben begleitet. Das hinterlässt Spuren. Wie du richtig gesagt hast, ist es für ihn etwas Persönliches. Ich kann es schon verstehen. Molly Jensen als Mensch ist ihm egal, für Gynnie hätte er sich jedoch gewünscht, dass sie hier gewesen wäre. Du bist ein guter Kerl, Jim, und ich kann mir lebhaft vorstellen, was Gynnie dir vor ihrem Tod aufgetragen hat. Aber Nat wird das schon machen.«
Jim horchte auf. Er hatte einen ganz anderen Eindruck: Nat lenkte seinen Groll sehr wohl speziell auf Molly Jensen. Warum, wusste er nicht. Vielleicht konnte Nat seine Trauer besser verarbeiten, wenn er auf eine dritte Person wütend war. Er formulierte den Gedanken nicht aus, sondern sagte: »Davon kannst du ausgehen, dass Gynnie mich ins Gebet genommen hat. Ich soll dafür sorgen, dass es Molly an nichts fehlt und sie es in Maple Creek so einfach und angenehm wie möglich hat. Ich hoffe nur, der Junge verhält sich dementsprechend.«
»Ein Junge ist Nat schon lang nicht mehr. Er ist ein erwachsener Mann. Wie alt ist er jetzt, dreißig, fünfunddreißig?«
»Zweiunddreißig. Ich weiß es so genau, weil ich Lucy in dem Jahr kennengelernt habe, als er zur Welt gekommen ist. Ich habe sie damals zum ersten Mal nach Maple Creek mitgenommen, und sie war ganz begeistert von dem Kleinen. Selbst hatten wir ja später nicht das Glück, Kinder zu bekommen.«
»Wie lang ist es her, seit Lucy …?«
»Fast fünfzehn Jahre.«
»Du müsstest nicht allein sein, Jim.«
»Das sagst du mir immer wieder.«
»Weil es die Wahrheit ist. Ein bisschen Glück schadet niemandem. Und auch du wirst nicht jünger.«
Jim lachte. »Ich fühle mich in der zweiten Blüte meines Lebens. Aber du hast recht, wir werden nicht jünger, und es wäre in der Tat schön, die kleinen Freuden des Lebens teilen zu können.«
»Ja, die Zeit vergeht schnell«, antwortete Morris nachdenklich. »Nächstes Jahr feiern Elisabeth und ich unseren zwanzigsten Hochzeitstag. An ihr Jawort erinnere ich mich, als hätte sie es gestern ausgesprochen. Bis heute weiß ich nicht, ob es ein Segen oder ein Fluch war.« Er grinste.
»Auf jeden Fall hast du einen Orden verdient, Morris.«
»Nicht nur einen, das kann ich dir versichern. Aber ob du es glaubst oder nicht, ich kann mir ein Leben ohne Elisabeth nicht vorstellen.«
Kurz sahen sich die beiden Männer erstaunt an, dann begannen sie zu lachen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass wir in spätestens einem Monat mit Minimum fünfzehn Prozent über dem Schnitt liegen. In drei Tagen bin ich zurück, dann stoßen wir darauf an. Ich melde mich bei Ihnen.« Jackson stieß sein Broker-Lachen aus und beendete das Gespräch, dann wandte er sich Molly zu. »Sorry, aber die Arbeit verfolgt mich selbst bis nach Kanada. Gibst du mir noch einmal eine Zusammenfassung?«
Seit sie am Flughafen ins Taxi gestiegen waren, hatte Jackson telefoniert. Molly war es ganz recht gewesen. So konnte sie ungestört aus dem Wagenfenster blicken, die vorbeiziehende Landschaft in sich aufnehmen und an Tante Gynnie denken. Dabei kamen der Reihe nach kleine Erinnerungen hoch. Bald würden sie Maple Creek erreichen, und sie spürte, wie ihre Aufregung zunahm.
Sie riss sich von der Umgebung los und sah Jackson vorwurfsvoll an. »Du hast mir kein einziges Mal wirklich zugehört. Habe ich recht?«
»Sei nicht sauer. Diese Reise kostet mich in Summe vier Tage. Ich hatte den Kopf voll damit, in der Arbeit alles unter Dach und Fach zu bringen.«
»Schon in Ordnung. Wir fahren jetzt direkt zu dem Anwalt, der mir den Brief geschickt hat und das Erbe von Tante Gynnie verwaltet. Er hat bereits mit dem ansässigen Immobilienmakler Kontakt aufgenommen und war auch so nett, für uns ein Zimmer in einer Pension etwas außerhalb von Maple Creek zu buchen.«
»Wir müssen in einer Pension übernachten, weil dein Hotel seit einem halben Jahr geschlossen hat. Du siehst, zum Teil habe ich aufgepasst.«
Unwillkürlich zuckte Molly bei der Erwähnung ihres Hotels zusammen. Obwohl mittlerweile einige Tage vergangen waren und sie alles Notwendige in die Wege geleitet hatte, war sie noch immer verwirrt und schaffte es nicht, ihre Gefühle zu ordnen. Im Augenblick durchlebte sie ein buntes Potpourri aus Trauer, Unruhe und Wehmut.
»Wie ich es verstanden habe, musste Tante Gynnie krankheitsbedingt vor einem halben Jahr schließen. Ich weiß nicht einmal, wie sie ihre letzten Monate verbracht hat, geschweige die vielen Jahre davor. Es sind so viele Fragen offen. Ach Jackson, denkst du wirklich, es ist richtig, sofort den Verkauf einzuleiten?«
Jackson deutete mit dem Kopf auf das Wagenfenster. »Kannst du dir vorstellen, mehr Zeit als zwingend notwendig hier zu verbringen? Seit wir in das Taxi gestiegen sind, sehe ich nur Bäume und wieder Bäume und noch mehr Bäume. Würdest du das Hotel vermieten, müsstest du immer wieder hierherkommen, um nach dem Rechten zu sehen. Werden die Menschen nicht kontrolliert, betrügen sie, das ist so. Und ständig würde es etwas zu tun geben: Reparaturen, Neuanschaffungen und so weiter. Die Verantwortung läge beim Eigentümer, also bei dir.«
»Du hast ja recht, trotzdem kommt es mir irgendwie falsch vor. Es ist, als würde ich ein Stück meiner Vergangenheit –« Molly brach mitten im Satz ab. »Da! Das Ortsschild von Maple Creek.«
Jackson stieß einen Seufzer aus. »Willkommen im Niemandsland.«
»Warte, bis du das Hotel und den See gesehen hast. Es ist wirklich wunderschön.«
Jackson warf ihr einen skeptischen Blick zu, erwiderte jedoch nichts.
Als das Taxi vor einem großen, aber schlicht wirkenden Holzhaus anhielt, verdichtete sich sein Blick. Er beugte sich vor und fragte den Taxifahrer: »Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind? An der Adresse sollte eigentlich das Büro eines Anwalts sein.«
Der Mann nickte. »Jim Ryder, Rechtsanwalt, Carolstreet 11 in Maple Creek. Jeder, der hier in der Gegend wohnt, kennt ihn. Sein Haus, sein Büro. Ich stamme aus der Gegend, nur zur Info.« Er öffnete die Autotür, stieg aus und ging zum Kofferraum, um das Gepäck zu holen.
Molly und Jackson stiegen ebenfalls aus.
Während Jackson das Gepäck entgegennahm und den Fahrer bezahlte, sah Molly sich um und suchte nach einem Anhaltspunkt, nach irgendetwas, an das sie sich erinnern konnte, aber alles hier erschien ihr fremd.
Der Taxifahrer lächelte Molly an, dann nickte er Jackson zu, wobei er ihn wie schon am Flughafen von oben bis unten beäugte.
Molly hätte schwören können, dass der Mann nicht nur den Kopf senkte, sondern ihn auch schüttelte. Was er dachte, konnte sie sich lebhaft vorstellen.
»Wollen wir?« Jackson machte einige Schritte auf das Gartentor zu, betrachtete die altmodische Klingel und drückte auf den Schalter mit der Aufschrift »Büro«. Im Inneren des Hauses ertönte eine Glocke.
Kurz darauf wurde die Eingangstür aufgezogen. Ein großer, kräftiger Mann in Jeans und einem karierten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln erschien im Türrahmen. Neben ihm tauchte der Kopf eines Hundes auf. »Die Gartentür ist offen, kommen Sie herein.«
»Danke«, rief Molly, während Jackson das Tor öffnete und ihr den Vortritt ließ. Als sie vor dem Mann stand, reichte sie ihm die Hand. »Molly Jensen, hallo.«
»Ich bin Jim Ryder.«
Molly beugte sich vor zu dem Hund und ließ ihn an ihrer Hand schnüffeln, dann kraulte sie ihn hinter dem Ohr. »Und du?«
»Das ist Cicero.« Jim zog die Brauen hoch und schüttelte auch Jacksons Hand. »Und Sie?«
»Jackson Coleman. Ich bin Mollys Lebensgefährte.«
»Angenehm. Jim Ryder.«
Molly fiel auf, wie auch der Anwalt Jackson verstohlen musterte. Jackson wirkte, das musste sie zugeben, mit seinem anthrazitfarbenen Anzug, der dunkelblauen Krawatte und den eleganten Schuhen aber auch wirklich wie ein exotischer Vogel in der Arktis. Grundsätzlich mochte sie seine schicken Businessoutfits durchaus, doch gab es Anlässe, bei denen Jeans und Pulli einfach besser passten. Eine Reise nach Kanada war ohne Zweifel ein solcher Anlass.
»Kommen Sie, gehen wir in mein Büro.« Jim schloss die Haustür hinter Molly und Jackson und bog rechts in ein Zimmer ab. Cicero folgte ihm auf dem Fuß.
Jims Büro war genau so, wie Molly es sich spontan bei Jims Anblick vorgestellt hatte: geräumig, im Zentrum ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz voller Papiere und Akten, zwei überfüllte Bücherregale. Es roch nach altem Papier und Zigarrenrauch. Zwischen den Akten auf dem Schreibtisch entdeckte sie einen großen Aschenbecher, darin lag eine zur Hälfte gerauchte Zigarre.
Während Jim sich setzte, zeigte er auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Cicero wartete, bis Molly sich gesetzt hatte, und stellte sich neben sie. Automatisch streckte sie ihre Hand aus und begann ihn wieder zu streicheln.
»Mögen Sie Hunde, Miss Jensen?«, fragte Jim.
»O ja, und wie.«
»Das dachte ich mir. Cicero sucht sich immer genau aus, wem er seine Zuneigung schenkt. Für mich ist er wie ein Messgerät für den menschlichen Charakter. Nun gut …« Er zog eine Akte von einem Stapel und schlug sie auf. »In den Papieren, die ich Ihnen geschickt habe, steht im Wesentlichen alles vermerkt, und am Telefon haben wir bereits den Ablauf besprochen. Das Wichtigste: Haben Sie sich schon entschieden, wie Sie mit dem Maple Lake Inn verfahren wollen?«
»Ja. Ich lebe und arbeite in New York, um das Hotel könnte ich mich nicht entsprechend kümmern. Ich möchte es verkaufen«, antwortete Molly.
»Es besteht auch die Möglichkeit, es zu vermieten.«
Molly dachte an Jacksons Worte. »Ich müsste immer wieder nach Maple Creek kommen, um nach dem Rechten zu sehen. Außerdem kenne ich mich in der Hotelbranche nicht aus.«
»Früher haben Sie doch auch viel Zeit hier verbracht und Ihre Aufenthalte sehr genossen, wie ich hörte. So groß wäre der Aufwand nicht. Sie könnten auch einen Verwalter bestellen, mich zum Beispiel.«
Jims Worte irritierten Molly. »Ich … ja, das stimmt. Als Kind war ich jeden Sommer in Maple Creek. Woher wissen Sie das? Kennen Sie mich aus dieser Zeit?« Das letzte Mal war sie vierzehn Jahre alt gewesen. Danach hatten sich ihre Sommer drastisch verändert. Anstatt mit anderen Kindern herumzutollen und im See zu baden, war sie von ihren Eltern in Lern- und Weiterbildungscamps geschickt worden, und noch später hatte sie die Ferien genutzt, um zu reisen.
Jim lehnte sich zurück. »Ich habe Sie damals sicherlich bei Gynnie gesehen, jedoch offen gestanden keine Erinnerung an Sie. Aber Gynnie hat oft und gern über Sie gesprochen, daher meine Kenntnis.«
Augenblicklich schloss sich eine kalte Hand um Mollys Herz. Sie senkte die Lider und spürte, wie ihre Augen nass wurden. »Ich habe Tante Gynnie zuletzt gesehen, als ich achtzehn Jahre alt war. Mit Freunden habe ich damals eine Reise nach Kanada unternommen, und in diesem Zuge sind wir drei Tage bei ihr geblieben.« Die kalte Hand drückte zu. Molly wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und an die frische Luft gelaufen. Kaum konnte sie den Drang, loszuweinen, unterdrücken.
Jim schien ihre Gefühle zu erahnen. »Machen Sie sich keine Gedanken, Miss Jensen. Gynnie wusste genau, wie das Leben einer jungen Frau verläuft. Sie hat das verstanden.« Er lächelte. »Sie war doch selbst ein Wirbelwind, der nur durch Zufall hier gelandet und geblieben ist. Ihre Tante hat mir selbst erzählt, wie lang es gedauert hat, bis sie sesshaft geworden ist und ihren Platz auf dieser Welt gefunden hat – in Maple Creek.«
»Eigentlich weiß ich sehr wenig über Tante Gynnies Leben. Ich erinnere mich an sie als ungemein herzlichen und heiteren Menschen. Sie war nie verheiratet, hatte keine Kinder, aber viele Freunde. Das war‘s. Meine Eltern haben nie viel über sie gesprochen. Es wäre schön, mehr über sie zu erfahren. Ich habe wunderbare Sommer bei ihr verbracht.« Verlegen fuhr sich Molly durchs Haar. Was erzählte sie da? Normalerweise ging sie weniger freimütig mit ihren Gedanken um. Es musste an Jims einfühlsamen Worten liegen.
»Vielleicht finden wir einen ruhigen Moment, dann erzähle ich Ihnen mit Freude mehr über Gynnie. Wir waren sehr gute Freunde.«
Ein Poltern vor der Bürotür hielt Molly von einer Antwort ab. Die Tür wurde, ohne anzuklopfen, aufgezogen, und ein Mann betrat den Raum. Er wirkte wie eine etwas jüngere und schmächtigere Ausgabe von Jim. »Hallo zusammen. Ich bin Morris von Morris Immobilien.« Er sah Jim fragend an. »Bin ich zu früh?«
Jim winkte ihn heran. »Nein. Wie immer genau im richtigen Augenblick. Den Papierkram erledigen wir später. Das sind Molly Jensen und ihr Lebensgefährte, Jackson Coleman.«
Morris reichte beiden die Hand und betrachtete Molly ungeniert. »Sie haben dieselbe Nase mit den Sommersprossen darauf, wie Ihre Tante sie gehabt hat. Wollen wir los?«
Jackson räusperte sich. »Wohin?«
»Na, zum Maple Lake Inn natürlich«, antwortete Morris. »Oder wollen Sie sich das Hotel nicht anschauen?«
Eine neuerliche Gefühlswelle erfasste Molly. In Kürze würde sie das Maple Lake Inn wiedersehen. Sie freute sich darauf, zugleich verspürte sie Angst. Wie würde sie reagieren? Das schlechte Gewissen hing wie ein Damoklesschwert über ihr und ließ sich nicht zur Seite schieben. Sie hatte es nicht verdient, das Hotel zu erben. Und nun wollte sie es auch noch so rasch wie möglich verkaufen. Warum waren manche Dinge richtig, wenn man sie von der logischen Seite betrachtete, fühlten sich dennoch völlig falsch an?
Ach, Tante Gynnie, es tut mir so leid. Wie gern würde ich die Zeit zurückdrehen. Dann könnte ich vieles anders machen, dachte sie und spürte, wie sich Cicero fester an ihr Bein schmiegte. Die Wärme des Hundes und seine Berührung beruhigten sie. Es schien wirklich, als spüre er ihren Schmerz und wolle sie trösten.
Jackson hatte Molly in Jims Wagen den Beifahrersitz überlassen und hinten Platz genommen. Seit sie aus Jims Büro gegangen waren, hatte er kaum ein Wort gesagt. Er schien sich unwohl zu fühlen, aber darum konnte sich Molly jetzt nicht kümmern. Sie saß kerzengerade und blickte wie gebannt durch die Windschutzscheibe.
Jim warf einen kurzen Seitenblick auf sie und fragte: »Suchen Sie etwas, was Sie wiedererkennen?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Oh, ich habe nur geraten. Sie starren durch die Scheibe wie eine Katze auf das Mauseloch. Nichts für ungut.«
Molly lächelte. Jim war ein Fremder, doch fühlte sie sich in seiner Gegenwart wohl. Mehr als das, sein offener und natürlicher Umgang mit ihr erinnerte sie an die unbeschwerten Sommer bei Tante Gynnie. Genau diesen Gedanken sprach sie aus. »Da draußen erscheint mir alles fremd, aber Sie erinnern mich an meine Zeit in Maple Creek.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, es klingt seltsam, doch Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt habe. Auch die Situation habe ich mir anders ausgemalt.«
»Sie meinen anders, als Sie es von New Yorker Anwälten gewohnt sind? Vielleicht etwas legerer?«
»Ganz genau das meine ich. Aber wirklich, Mister Ryder, Sie erinnern mich an Tante Gynnie, oder besser ausgedrückt: an ihre Art.«
»Ich werte das als Kompliment.« Jim deutete mit dem Kinn nach vorn. »Da ist schon die Einfahrt zum Mountain Lake Inn.«
Molly sah das hölzerne Hinweisschild, und die Erinnerung kam schlagartig hoch. Früher war es weiß gestrichen gewesen mit schwarzen Buchstaben, die sich scharf abgezeichnet hatten. Jetzt allerdings wirkte es richtiggehend verfallen. Es stand schief, und die weiße Farbe war einem fleckigen Grau gewichen. Die schwarzen Buchstaben zeigten keine klaren Umrisse und hoben sich kaum mehr vom Hintergrund ab.
Jim lenkte den Wagen in die Einfahrt, und Molly hielt den Atem an. Auf dem einst blitzsauberen Fahrweg zum Hotel lagen heruntergefallene Äste und anderer Unrat. Sie wollte fragen, ob sich seit der Schließung vor einem halben Jahr niemand mehr um das Grundstück gekümmert habe, doch der Anblick des Gebäudes, das nun vor ihnen erschien, ließ sie nur bestürzt nach Luft schnappen.
Es befand sich in einem schrecklichen Zustand. Die rote Farbe blätterte an vielen Stellen großflächig ab, zwei Drittel des Daches waren mit einer Plane abgedeckt, wahrscheinlich war es undicht. Die Sträucher rund um das Hotel sahen verwildert aus, ihre Äste wuchsen in alle Richtungen.
Tante Gynnie hatte immer sorgsam darauf geachtet, dass die Natur nicht überhandnahm. Sie hatte die Sträucher zwar in ihrer natürlichen Form belassen, aber so zurechtgeschnitten, dass sie das Gebäude nicht berührten. »Es wäre schlecht für das Mauerwerk. Denk daran, wenn du selbst vielleicht einmal ein Haus hast«, hatte Tante Gynnie ihr erklärt.
Jim hielt den Wagen an, knapp hinter ihnen blieb Morris stehen. Sie stiegen aus.
Molly brachte kein Wort heraus. Hätte sie jemand nach ihrem Befinden gefragt, wäre kein vernünftiger Satz über ihre Lippen gekommen. Es schmerzte zu sehr, das Hotel in diesem Zustand zu sehen. »Ich gehe … zur Veranda«, flüsterte sie stockend und lief auch schon los. Sie musste für einen Augenblick allein sein, um sich zumindest ein wenig beruhigen zu können.
Der Kiesweg um das Haus herum sah nicht besser aus als die Zufahrt. An manchen Stellen waren die Steine verschwunden, und die Erde darunter lag frei. Überall wucherten Gräser und Unkraut. Das kann doch innerhalb eines halben Jahres nicht dermaßen verwildern, durchfuhr es Molly. Sie bog um die Ecke und erstarrte aufs Neue.
Die Veranda wirkte noch desolater als der Rest des Hauses. Der weiße Anstrich war fast nicht mehr vorhanden, ein Seitenpfosten war eingeknickt. Sie ging weiter und betrachtete die Treppe, die zur Veranda führte. Zwei Stufen waren eingebrochen. Von ihrer Position aus erkannte sie, dass auch einige Balken des Verandabodens beschädigt waren. Sie hätte sich nicht getraut, die Treppe und die Terrasse zu betreten.
Hinter sich hörte sie den Kies knirschen, und sie drehte sich um.
»Sie haben das Hotel ganz anders in Erinnerung, nicht wahr?«, bemerkte Jim leise.
»Was ist hier geschehen? Das kann doch nicht alles innerhalb so kurzer Zeit passiert sein«, sprach Molly ihren Gedanken von gerade aus.
Jim schüttelte den Kopf. »Das Hotel hat zwar erst seit einem halben Jahr geschlossen, aber schon davor war Gynnie nicht mehr imstande, das Haus in Schuss zu halten. Es ist ihr in den letzten Jahren nicht besonders gut gegangen. Als der Verfall begonnen hat, sind die Gäste immer weniger geworden, und ihre treuen Stammgäste von früher … nun, die sind langsam weggestorben oder konnten aufgrund ihres Alters nicht mehr reisen.« Er räusperte sich. »Ich hatte überlegt, Sie am Telefon zu informieren, konnte es aber nicht über mich bringen.«