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Die Autorin

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Dr. Vera Bernard-Opitz (Em. Assoc. Prof. NUS) ist Verhaltenstherapeutin und BCBA-D (Board Certified Behavior Analyst-Doctorate). Sie arbeitet international als Autorin, Referentin und Supervisorin mit Eltern und ihren Teams.

 

Die Illustratorin

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Andra Bernard ist Mediengestalterin (andrabernard.design), die mehrere Bücher illustriert hat und in einer Medienfirma arbeitet.

Vera Bernard-Opitz

Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen

Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Eltern und Lehrer

4., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Für Luzia und Aute Opitz

 

Die Autorin und der Verlag danken Marian, Jannik und Andra, die sich für die Erstellung der Fotos zur Verfügung gestellt haben.

Ein besonderer Dank geht an Andra Bernard, die den allergrößten Teil der Zeichnungen gefertigt hat

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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4., erweiterte und überarbeitete Auflage 2020

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-036514-8

 

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-036515-5

epub:  ISBN 978-3-17-036516-2

mobi:  ISBN 978-3-17-036517-9

Inhalt

  1. Vorwort zur 1. Auflage
  2. Vorwort zur 2. Auflage
  3. Vorwort zur 3. Auflage
  4. Vorwort zur 4. Auflage
  5. Einleitung
  6. 1     Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
  7. 1.1     Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
  8. 1.2     Wie wird die Diagnose von ASS erstellt?
  9. 1.2.1     Besteht eine Autismus-Spektrum-Störung?
  10. 1.2.2     Wie ist der Entwicklungsstand und die Intelligenz?
  11. 1.2.3     Welche zusätzlichen Probleme bestehen?
  12. 1.3     Welche frühen Anzeichen für ASS gibt es?
  13. 1.4     Was ist für die Prognose von Kindern mit ASS wichtig?
  14. 1.4.1     Fähigkeits- statt defizitorientiertes Vorgehen
  15. 1.5     Zusammenfassung
  16. 2     Welche Therapieansätze gibt es?
  17. 2.1     Gibt es »Allheilmittel«?
  18. 2.2     Was ist Strukturierte Therapie und Autismus-spezifische Verhaltenstherapie (AVT)?
  19. 2.3     Zusammenfassung
  20. 3     Das Therapiespektrum von Autismus-Spektrum-Störungen
  21. 3.1     Welche Eigenschaften haben AVT-Methoden?
  22. 3.1.1     Diskretes Lernformat (DLF)
  23. 3.1.2     Präzisionslernen (PL)
  24. 3.1.3     Natürliches Lernformat (NLF)/Erfahrungsorientiertes Lernen/Pivotal Response Training (PRT)
  25. 3.1.4     Visuelle Strategien (VS)
  26. 3.1.5     Kognitive Verhaltensmodifikation
  27. 3.2     Warum sind AVT-Methoden sinnvoll?
  28. 3.3     Welchen Erfolg bringt AVT?
  29. 3.3.1     Erfolge beim Diskreten Lernformat
  30. 3.3.2     Erfolge beim Präzisionslernen
  31. 3.3.3     Erfolge beim Natürlichen Lernformat und dem Pivotal Response Training
  32. 3.3.4     Erfolge visueller Strategien
  33. 3.3.5     Erfolge kognitiver Strategien
  34. 3.4     Zusammenfassung
  35. 4     Wie geht man mit Verhaltensproblemen um?
  36. 4.1     Wie kann man Problemverhalten verstehen?
  37. 4.1.1     Warum tut mein Kind das?
  38. 4.2     Was sind die konkreten Schritte einer Verhaltensanalyse?
  39. 4.2.1     Was genau kann man beobachten?
  40. 4.2.2     Wie oft/lange/intensiv tritt es auf?
  41. 4.2.3     In welcher Situation tritt es auf, in welcher nicht?
  42. 4.2.4     Welche autismusspezifische Auffälligkeiten und Lernhindernisse müssen berücksichtigt werden?
  43. 4.2.5     Welche Strategien sind sinnvoll?
  44. 4.3     Zusammenfassung
  45. 5     Wie kann Verhalten aufgebaut werden?
  46. 5.1     Welche Verstärker gibt es?
  47. 5.2     Was sind natürliche Verstärker?
  48. 5.3     Was sind Münzverstärker?
  49. 5.4     Wie findet man optimale Verstärker?
  50. 5.5     Zusammenfassung
  51. 6     Wie ist die konkrete Therapie zu gestalten?
  52. 6.1     Räumlichkeiten und Materialien
  53. 6.1.1     Diskretes Lernformat (DLF)
  54. 6.1.2     Präzisionslernen (PL)
  55. 6.1.3     Natürliches Lernformat (NLF)
  56. 6.1.4     Visuelle Systeme (VS)
  57. 6.2     Die erste Therapiestunde
  58. 6.3     Wie unterscheidet sich kind- und therapeutenzentriertes Vorgehen?
  59. 6.3.1     Kindzentrierte Strategien
  60. 6.3.2     Therapeutenzentrierte Strategien
  61. 6.4     Entwicklung eines individuellen Therapieplans
  62. 6.5     Zusammenfassung
  63. 7     STeP-Curriculum: Trainingsaufgaben
  64. 7.1     Aufmerksamkeit, Blickkontakt und gemeinsamer Blickbezug
  65. 7.1.1     Warum sind Aufmerksamkeit, Blickkontakt und gemeinsamer Blickbezug wichtig?
  66. 7.1.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  67. 7.1.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es beim Blickkontakt?
  68. 7.1.4     Wie wird in den Trainingssequenzen vorgegangen?
  69. 7.1.5     Trainingssequenz
  70. 7.2     Zuordnen
  71. 7.2.1     Warum ist Zuordnen wichtig?
  72. 7.2.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  73. 7.2.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es beim Zuordnen?
  74. 7.2.4     Wie wird in den Trainingssequenzen vorgegangen?
  75. 7.2.5     STeP-Trainingssequenz
  76. 7.3     Imitation
  77. 7.3.1     Warum ist Imitation wichtig?
  78. 7.3.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  79. 7.3.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es bei Imitation?
  80. 7.3.4     Wie wird in den Trainingssequenzen vorgegangen?
  81. 7.3.5     STeP-Trainingssequenz
  82. 7.4     Sprachverständnis
  83. 7.4.1     Warum sind Aufgaben zum Sprachverständnis wichtig?
  84. 7.4.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  85. 7.4.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es beim Sprachverständnis?
  86. 7.4.4     Wie wird in den Trainingssequenzen vorgegangen?
  87. 7.4.5     STeP-Trainingssequenz
  88. 7.5     Aktive Kommunikation – erste Äußerungen
  89. 7.5.1     Warum ist aktive Kommunikation wichtig?
  90. 7.5.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  91. 7.5.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es bei der ersten aktiven Kommunikation?
  92. 7.5.4     Wie wird in den Trainingssequenzen vorgegangen?
  93. 7.5.5     STeP-Trainingssequenz
  94. 7.6     Erweiterte Kommunikation
  95. 7.6.1     Warum sind Übungen zur erweiterten Kommunikation wichtig?
  96. 7.6.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  97. 7.6.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es bei erweiterter Kommunikation?
  98. 7.6.4     Wie wird in den Trainingssequenzen vorgegangen?
  99. 7.6.5     STeP-Trainingssequenz
  100. 7.7     Spiel- und Sozialverhalten
  101. 7.7.1     Warum sind Spiel- und Sozialverhalten wichtig?
  102. 7.7.2     Was sind die individuellen Schlüsselfragen?
  103. 7.7.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es beim Spiel- und Sozialverhalten?
  104. 7.7.4     Wie wird Spiel- und Sozialverhalten aufgebaut?
  105. 7.7.5     STeP-Trainingssequenz
  106. 7.8     Selbstversorgung und Selbständigkeit
  107. 7.8.1     Warum sind Selbstversorgung und Selbständigkeit wichtig?
  108. 7.8.2     Welches sind die individuellen Schlüsselfragen?
  109. 7.8.3     Welche Schwierigkeitsstufen gibt es sei Selbstversorgung und Selbständigkeit?
  110. 7.8.4     Wie werden Selbstversorgung und Selbständigkeit aufgebaut?
  111. 7.8.5     STeP-Trainingssequenz
  112. 8     Wie stellt man ein häusliches Therapieprogramm auf?
  113. 8.1     Was ist ein häusliches Trainingsprogramm?
  114. 8.2     Warum ist ein häusliches Trainingsprogramm wichtig?
  115. 8.3     Wer kann Kinder und Jugendliche mit ASS anleiten?
  116. 8.4     Wie wird ein Haustraining organisiert?
  117. 9     Entwicklungsstörungen
  118. 9.1     Was sind Entwicklungsstörungen?
  119. 9.2     Was ist Multiple Intelligenz?
  120. 9.3     Können Kinder mit Entwicklungsstörungen von strukturierten Therapieprogrammen profitieren?
  121. 9.4     Zusammenfassung
  122. 10  Onlineberatung
  123. 10.1  Was ist Onlineberatung?
  124. 10.2  Warum ist Onlineberatung sinnvoll?
  125. 10.3  Wie wird Onlineberatung durchgeführt?
  126. 10.4  Wer kann von Onlineberatung profitieren?
  127. 10.5  Wo kann ich mehr über Onlineberatung erfahren?
  128. Schlussbemerkung
  129. Glossar
  130. Literatur
  131. Anhang
  132. Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 1. Auflage

 

 

 

In den vergangenen 35 Jahren hat sich das Wissen über Autismus-Spektrum-Störungen (Abk.: ASS) und ihre Behandlung erheblich erweitert. Dem Spektrum der Störungen steht jetzt ein Spektrum an empirisch überprüften, strukturierten Behandlungsmethoden gegenüber. Während wir noch in den 1970er-Jahren den Verhaltensauffälligkeiten der betroffenen Kinder meist hilflos gegenüberstanden, gibt es mittlerweile gut dokumentierte therapeutische Hilfen.

In der Fachliteratur werden jedoch auch heute noch oft verschiedene Therapieansätze als einander ausschließend dargestellt. Dem damit verbundenen Wetteifer um die »einzig heilbringende Therapie« wird in diesem Buch entgegengestellt, dass Schlüsselverhaltensweisen von individuellen Kindern entscheidend sein sollten für die Wahl einer bestimmten Methode. Verhaltenstherapeutisches Vorgehen, Präzisionslernen, erfahrungsorientierte Ansätze und visuelle Methoden werden hierbei detailliert anhand von Beispielen beschrieben.

Wir hoffen, dass dieses Buch Ihnen als Eltern und Professionellen hilft, einen Überblick über strukturierte Therapiemethoden zu bekommen und individuelle Therapiepläne für Ihre Schützlinge zu entwickeln. Darüber hinaus soll es dazu beitragen, englischsprachige Entwicklungen im Bereich der Autismustherapie in Deutschland leichter verfügbar zu machen. Wir haben durch viele konkrete Beispiele versucht, dieses Buch verständlich und praxisnahe zu gestalten. Betroffenen Familien soll es das Gefühl und Wissen vermitteln, dass sie selbst einen entscheidenden Beitrag leisten können, ihrem Kind zu helfen. Speziell das letzte Kapitel zur häuslichen Therapie zeigt hierbei anschauliche Wege auf.

Zahlreiche Menschen haben direkt oder indirekt zum Gelingen dieses Werkes beigetragen. Als erstes möchte ich meine Doktormutter, Frau Prof. Erna Duhm, nennen sowie Prof. Friedrich Specht, beide von der Universität Göttingen, die mich mit ihrem Idealismus angesteckt haben, so dass dieses Krankheitsbild zu meinem beruflichem Hauptinteresse geworden ist. Prof. Robert Koegel von der University of California Santa Barbara verdanke ich meine verhaltenstherapeutische Grundeinstellung sowie die Einführung in Elternarbeit und Curriculumentwicklung. Stark beeinflusst hat mich – wie viele andere Schüler – Frau Prof. Carol Prutting, ebenfalls an der gleichen Universität, durch ihr großartiges Wesen sowie die Betonung linguistischer und entwicklungsorientierter Aspekte der Förderung.

Viele Ideen und Ansätze haben sich im Laufe der Jahre unabhängig entwickelt bzw. sich gegenseitig beeinflusst. Materialien und Publikationen von zahlreichen Autoren sind neben unserer eigenen Erfahrung in das vorgelegte STeP-Curriculum (Strukturiertes Training und Erfahrungsorientiertes Programm) eingeflossen, seien es Überlegungen verhaltensorientierter Autoren (Lovaas, Maurice, Leaf, McEachin, Freeman), Ansätze zum Präzisionslernen (Leach, Fabrizio, Moors), erfahrungsorientierte und spielorientierte (Quill, Schuler) oder visuelle Ansätze (Bondy, Frost, Hodgon), sowie das TEACCH-Programm (Schopler & Mesibov). Allen Genannten möchte ich an dieser Stelle meine Anerkennung ausdrücken!

Sehr zu Dank verpflichtet bin ich meiner langjährigen Kollegin, Frau Dr. Elizabeth McInnis, vom Stein Center San Diego, die mit ihrem großartigem Team von Lehrern – speziell Cheryl Armstrong, Mary McIntosh und Chris Gommel – über die vergangenen 25 Jahre gezeigt hat, dass man selbst schwer gestörten Kinder mit ASS durch strukturierte Arbeit, neueste Trainingsprogramme und unermüdlichen Einsatz wirksam helfen kann.

Bei meiner Rückkehr nach Deutschland haben die Leitungen der Johannes-Anstalten Mosbach, Volker Dehn und Dr. Peter Rösinger die Wege geebnet, um im Rahmen des sog. »Kommunikationsförderbereichs« (= KFB) individuelle Therapieprogramme für Menschen mit Autismus zu ermöglichen. Ohne die Mitarbeiter des Psychologischen Dienstes und des KFBs – speziell Günter und Werner Blesch, Ursula Müller-Dietrich, Karin Holz, Dünna Leib und Julia Henkel – sowie die Unterstützung von Wohnbereich und Schule würden viele Bewohner der Johannes-Anstalten auch heute noch ohne angemessene Kommunikation sein. Da Ansätze zum strukturierten Lernen im KFB ihren Anfang nahmen, gilt auch ihnen hier mein aufrichtiger Dank.

Durch meine Auswanderung nach Singapur eröffneten sich mir neue Möglichkeiten und Perspektiven: mit Hilfe von Frau Ann Devadas, erste Direktorin von Margaret Drive Special School, und einem Team engagierter Lehrer baute ich das STeP-Programm auf, das im Laufe von zehn Jahren bei mehr als 100 Kindern mit ASS angewandt wurde. Durch Unterstützung von Dr. Vasoo konnte parallel zu dieser Schule an der National University of Singapore eine Klinik und ein Autismusforschungszentrum aufgebaut werden. Hierbei entstand das STeP-Curriculum, das an zahlreichen Kindern erprobt wurde. Meinen Forschungsassistenten Annabel Chen, Adrian Kok, Sharul Sapuan, Tan Yew Kong, Tan Yit Lai, Nah Yong Hwee, Siow Ing sowie vielen anderen Mitarbeitern gilt mein spezieller Dank für ihren Einsatz trotz begrenzter Mittel.

Jahrelanger Austausch mit Frau Salwanizah Bte Mohd. Said (Leiterin des Frühförderzentrums der Autism Assoziation Singapore) über Wege und Möglichkeiten, Programme zu verbessern und individuellen Kindern zu helfen, haben ihren Niederschlag in vielen Trainingsprogrammen gefunden. Kinder und ihre Eltern waren ebenfalls maßgeblich mitbeteiligt an der Entwicklung von Therapieprogrammen. Hierbei sind zahlreiche Ideen entwickelt worden, die nun geteilt werden können.

Diskussionen mit Kollegen über Inhalte dieses Buches haben wertvolle Anregungen gegeben, so von Frau Dr. Hanne Dirlich-Wilhelm (München), Prof. Sven Bölte (Universität Frankfurt/Main), Frau Evelyn Seika (Brisbane, z. Zt Zayed University) und besonders meiner jahrelangen Kollegin und guten Freundin Frau Ute Genser-Dittmann (Heidelberg). Ihre unermüdliche und gründliche Durchsicht und Bearbeitung meiner Texte sowie deren Anpassung an die besondere Situation in Deutschland haben zu vielen wichtigen Verbesserungen des Buchmanuskriptes geführt. Ganz herzlichen Dank für so viel idealistische Hilfe!

Auch Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und seinem Team vom Kohlhammer Verlag möchte ich für die hilfreiche Unterstützung und kompetente Redaktion des Buches meinen aufrichtigen Dank sagen.

»Last but not least« möchte ich meiner Familie für den Verzicht auf gemeinsame Freizeit, die Unterstützung meiner Arbeit und den Glauben an ihr Endprodukt danken. Meinen Kindern Marian und Andra meine Komplimente für ihre Hilfe bei technischen Problemen sowie die erfrischenden Zeichnungen. Auch meinem Mann, Dr. Hans-Ulrich Bernard, Dank für ein Jahr »Rücken-frei-halten«!

Auch wenn dieses Buch nun »fertig« vorliegt, ist es eigentlich nur ein erster Schritt. Das STeP-Curriculum wird sich hoffentlich weiterentwickeln im Einsatz mit betroffenen Kindern sowie unserem zunehmendem Wissen um ihre optimale Förderung. Es bleibt zu wünschen, dass durch das vorliegende Programm alle Kinder Lernfortschritte machen, manche sich langsam, aber stetig weiterentwickeln, andere von Tag zu Tag ihr Lerntempo verbessern und wieder andere große Sprünge machen.

 

Irvine, CA, und Hildesheim, im Winter 2005

Vera Bernard-Opitz

Vorwort zur 2. Auflage

 

 

 

Hiermit legen wir die 2. Auflage des Praxishandbuchs vor, das von einigen Kollegen liebenswürdigerweise als »Standardwerk« für Eltern und Mitarbeiter von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bezeichnet wird. Es ist mittlerweile ins Englische übersetzt und in zahlreichen Workshops vorgestellt worden.

Eine häufige Rückmeldung zur 1. Auflage des Buches bestand darin, dass dieses nicht nur Kindern mit ASS hilft, sondern Kindern mit anderen Entwicklungsverzögerungen – wie zum Beispiel geistiger Behinderung – eine Vielzahl an Anregungen gibt. Diesen Hinweis aufgreifend wird in der 2. Auflage diesen Kindern und ihrer Förderung ein eigenständiges Kapitel gewidmet.

Eine zweite Rückmeldung bezog sich auf den Wunsch, in den beschriebenen Methoden und Aufgabensequenzen praktisch angeleitet zu werden. Wir haben dieses in Ansätzen in Form besagter Workshops sowie von Onlineberatung verwirklichen können. Onlineberatung hat sich dabei als gute Möglichkeit herausgestellt, Beteiligte durch das Internet in die beschriebenen Interventionsmethoden einzuführen sowie eine Abstimmung der Förderung auf individuelle Kinder zu ermöglichen. Auch hierzu ist der Neuauflage ein neues Kapitel beigefügt.

Ein umfangreiches Praxishandbuch für ein weites Spektrum an besonderen Kindern wird immer wieder Veränderungen nötig machen. Wir hoffen, dass wir gemeinsam mit Kindern und beteiligten Eltern und Fachkräften Wege finden, Verhaltensprobleme zu verbessern, Lernen zu erleichtern und dazu beitragen, dass alle Kinder einer lebenswerten Zukunft entgegensehen.

 

Irvine, CA, und Hildesheim, im Frühjahr 2007

Vera Bernard-Opitz

Vorwort zur 3. Auflage

 

 

 

Seit der ersten Herausgabe dieses Buches hat sich sehr viel im Bereich von Autismus-Spektrum-Störungen getan. So hat sich die Zahl der von Autismus betroffenen Kinder weiter rasant erhöht, seit kurzem liegt der Anteil bei einem von 68 Kindern (Center for Disease Control (CDC), 2010). Zahlreiche Forschungszentren haben die Spreu unter den Therapien vom Weizen getrennt und Kataloge an evidenzbasierten Therapiemethoden veröffentlicht. Hierzu gehören die hier vorgestellten Strategien: das Diskrete Lernformat, das Natürliche Lernformat/Pivotal Response Training sowie visuelle Hilfen und Präzisionslernen.

Zunehmend werden auch an Autismuszentren Entscheidungen für eine bestimmte anerkannte Therapiemethode abhängig gemacht von den jeweiligen individuellen Voraussetzungen beim Kind und der Frage, ob die Methode zu dem Therapieziel und dem sozialen Umfeld passt. Entsprechend wird im folgenden STeP-Curriculum auch weiter versucht, individuelle Prädiktoren für den Therapieerfolg zu finden und dementsprechend die passende Therapiemethode anzubieten.

Auch wenn die vorliegende dritte Auflage auf den ersten Blick sehr vergleichbar zu ihren Vorgängern ist, sind viele wichtige Änderungen eingeflossen.

Eine Erweiterung der Lernaufgaben, ein Update der Literatur und Hinweise auf neue Lernmöglichkeiten durch Mobile Apps für iPad und Tablet-PC stellen einige der Verbesserungen dar. Erneut möchte ich allen Kollegen, Eltern und nicht zuletzt ihren sehr besonderen Kindern für die neuen Anregungen und Ideen zu diesem Buch danken. Auch nach 8 Jahren ist das Buch nicht endgültig fertig und sollte auch weiter nicht als »Kochbuch«, sondern als »Ideen-Leitfaden« angesehen werden. Wir wünschen Kindern und ihren Therapie- und Förderteams ganz viel Erfolg und Freude mit dem STeP-Curriculum.

 

Irvine, CA und Hildesheim, im Winter 2014

Vera Bernard-Opitz

Vorwort zur 4. Auflage

 

 

 

Im Vergleich zu den vorherigen Auflagen bezieht sich die vorliegende Version unseres Praxishandbuchs nicht nur auf junge Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen, sondern auch auf Schulkinder und Jugendliche. Besonders im ersten Teil haben wir neue Beispiele für Jugendliche eingefügt und aufgezeigt, welche der ABA-AVT Methoden für welche Altersstufen nachweislich effektiv sind. Wir haben dabei Beispiele für AVT-Programme von Individuen am unteren und oberen Ende des Autismus-Spektrums gegeben. Bei Jugendlichen mit wenig Unterstützungsbedarf (sog. »Asperger Syndrom«) spielen Videomodellierung, Lern-Apps, integrierte Spielgruppen, Sozialtrainingsgruppen und kognitive Ansätze eine besondere Rolle. Leider mussten wir auf eine ausführliche Behandlung der entsprechenden Übungsprogramme verzichten, da das den Rahmen dieses Buchs gesprengt hätte.

Die vor kurzem im Kohlhammer Verlag erschienene Praxisserie »AutismusKonkret« kann jedoch weiterführende Hinweise zu den erwähnten Lernstrategien geben. Mittlerweile stehen in dieser Serie konkrete Ausführungen zu den hier aufgeführten Lernmethoden zur Verfügung, die dieses Buch gut ergänzen. Auch zukünftige Praxisbücher der Serie entsprechen dem derzeitigen internationalen Wissensstand.1

Wir hoffen, dass auch die vorliegende 4. Auflage dieses Buchs dazu beiträgt, das weite Spektrum an evidenzbasierten Ansätzen für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen bekannter zu machen. Autismus verhindert normale Lernchancen, was oft langfristig zu dramatischen Lebensläufen führt. Das versuchen wir seit Jahren mit Eltern und Kollegen zu verhindern. Kinder und Jugendliche mit ASS sollen durch gezielte Hilfen – soweit wie möglich – ihre kognitiven, kommunikativen und sozialen Fähigkeiten sowie ihre Selbständigkeit entwickeln. Das kann für ein Kind mit hohem Unterstützungsbedarf ein Training sein, um seine Bedürfnisse mitzuteilen, zu spielen, sich sinnvoll zu beschäftigen und Freunde zu bekommen. Für einen Jugendlichen mit weniger Unterstützungsbedarf kann es die Chance sein, schulisch, persönlich und sozial erfolgreich zu sein. Langfristiges Ziel ist in beiden Fällen, dass Betroffene – je nach ihren Möglichkeiten – am Leben der Gemeinschaft teilhaben können und die Chance haben, möglichst autonom ihr Leben zu gestalten. Selbstverständlich ist hierfür ein umfassendes Verständnis von Autismus eine Akzeptanz der Andersartigkeit sowie eine intensive Zusammenarbeit mit Familien und Professionellen notwendig.

Erneut bin ich dabei sehr dankbar für die Anregungen von Kollegen, die Alltagsideen von Eltern, Lehrern und Co-/Therapeuten, Schulbegleitern und Betroffenen und nicht zuletzt dem engagierten Team des Kohlhammer Verlags. Ich hoffe, dass auch die neuen Zeichnungen meiner Tochter Andra dazu beitragen, dieses Buch anschaulich zu machen und dass Sie als Leser es gerne in die Hand nehmen.

 

Irvine, Juni 2020

Vera Bernard-Opitz

1     Bisherige Veröffentlichungen der Praxisserie: AutismusKonkret, Kohlhammer Verlag (Hrsg. Vera Bernard-Opitz):

Images  »Anders denken Lernen«, Baker, 2017

Images  »Lernen mit ABA und AVT«, Bernard-Opitz & Nikopoulos, 2017

Images  Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen, Bernard, 2017

Images  »Sehen und Verstehen«, Häussler, 2018

Images  »Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen«, Bernard-Opitz, 2018

Images  »Lernen von Spiel und Beziehungen zu Gleichaltrigen« Wolfberg, 2019

Images  Nur dabei sein reicht nicht, Schirmer, 2019

Images  Alltagsorientiertes Lernen von Menschen mit Autismus, Röttgers & Rentmeister, 2019

Einleitung

 

 

 

Frühkindlicher Autismus ist ein Krankheitsbild, dessen Diagnose in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen hat. Während man noch 1968 von vier autistischen Kindern auf 10.000 ausging, hat sich diese Zahl im Jahr 2000 nach Schätzung einiger Autismusspezialisten um 200 % auf mehr als ein autistisches Kind per 1000 erhöht. und im Jahr 2010 auf eins in 68 (CDC, 2010). Es wird kontrovers diskutiert, ob die beobachtete Zunahme durch eine Verbesserung und Ausweitung der Diagnose bedingt ist oder ob es sich um eine tatsächliche Erhöhung autistischer Störungen handelt (Fombonne, 1999; California Department of Developmental Services, 2000). Auch wenn es in Deutschland keine epidemiologischen Daten zum Autismus gibt, weisen die Wartezeiten bei Spezialeinrichtungen und Therapeuten auf eine deutliche Zunahme dieses Krankheitsbildes hin.

Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (Abk.: ASS) und wie können sie am erfolgreichsten behandelt werden? Diese Frage von Eltern und Therapeuten wird im vorliegenden Therapieleitfaden behandelt. Im praktischen Teil des Buches wird ein verhaltenstherapeutisches Trainingsprogramm dargestellt. Dieses ist speziell für junge Kinder mit autistischem Verhalten und assoziierten Problemen wie Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität sowie Lernproblemen geeignet. Wir haben jedoch in der nun vorliegenden 4. Auflage auch Kinder und Jugendliche am oberen Ende des Spektrums mit ASS mitberücksichtigt und auf Interventionsmöglichkeiten für diese Gruppe hingewiesen.

Das Trainingsmanual beruht auf dem aktuellen internationalen Wissensstand im Bereich der Therapie autistischer Kinder und Jugendlicher. Fallbeispiele aus langjähriger Erfahrung in Deutschland, Singapur und Kalifornien mit mehr als 1000 autistischen Kindern in Frühförderstellen, Spezialschulen, Ambulanzen, Reha-Einrichtungen und einer Universitätsklinik werden behandelt. Empirisch fundierte Methoden und Curricula werden in überschaubarer Weise dargestellt, wobei für die Gruppe der Betroffenen mit hohem Funktionsniveau in Methoden der kognitiven Verhaltensmodifikation eingeführt wird.

Individuen mit Autismus-Störungen zeigen eine Vielzahl von Verhaltens-, Motivations- und Lernproblemen, denen weder undifferenziert ganzheitliche Therapieansätze noch eingleisige Interventionen mit Universalanspruch gerecht werden. Wir zeigen demgegenüber auf, dass eine erfolgreiche Therapie einen klar strukturierten, durchsichtigen Prozess voraussetzt. Hierbei stehen die Probleme des individuellen Kindes, seine Interessen und Fähigkeiten im Zentrum. Meist müssen verschiedene Therapiemethoden miteinander kombiniert werden. Aus der Verhaltensanalyse und individuellen Fähigkeitsprofilen werden dabei konkrete Therapievorschläge abgeleitet. Es wird an Beispielen aufgezeigt, dass die Intervention direkt auf den Ergebnissen der diagnostischen Erfassung aufbauen sollte.

Therapieansätze, die Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten nachgewiesenermaßen helfen, werden verglichen. An Beispielen werden neue verhaltenstherapeutische Methoden, Präzisionslernen, erfahrungsorientiertes Lernen, visuelle Strategien wie das Handzeichentraining, das Bildaustauschprogramm PECS, das TEACCH-Training sowie bebilderte Handlungspläne dargestellt. Programme zur Selbstkontrolle, dem »anders denken lernen« (Baker, 2017) dem Problemlösen und der Flexibilität werden zusammengefasst. Dieses Buch hilft Eltern und Therapeuten, durch Beispiele von Aufgabenabfolgen Trainingsprogramme zu planen und in strukturierter Weise durchzuführen. Dabei werden konkrete Hilfen für eine intensive Förderung zu Hause gegeben.

1          Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?

 

1.1     Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?

1.2     Wie wird die Diagnose von ASS erstellt?

1.2.1     Besteht eine Autismus-Spektrum-Störung?

1.2.2     Wie ist der Entwicklungsstand und die Intelligenz?

1.2.3     Welche zusätzlichen Probleme bestehen?

1.3     Welche frühen Anzeichen für ASS gibt es?

1.4     Was ist für die Prognose von Kindern mit ASS wichtig?

1.4.1     Fähigkeits- statt defizitorientiertes Vorgehen

1.5     Zusammenfassung

 

1.1       Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?

Seit der Erstbeschreibung des frühkindlichen Autismus durch Leo Kanner 1943 haben sich die diagnostischen und therapeutischen Ansätze beim Autismus stark geändert (Kanner, 1943; Asperger, 1944; Lovaas, 1968; Lovaas & McEachin,1993; Lord & Schopler, 1994; Maurice et al., 1996; Prizant et al., 1997; Koegel et al., 1998; Aspy & Grossmann, 2007; Bölte, 2009). Autismus wird derzeit als schwerwiegende Störung angesehen, die weite Bereiche der kindlichen Entwicklung betrifft. Der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« (Abk.: ASS) verdeutlicht, dass ein Kontinuum von Symptomen und Schweregraden zu diesem Krankheitsbild gehört (Wing & Gould, 1979; Wing, 1988; NIMH, 2004; Kaufmann, 2012).

ASS sind bei verschiedenen Personen unterschiedlich ausgeprägt und verändern sich oft bei ein und demselben Kind im Laufe seiner Entwicklung. Es gibt kein einziges Verhalten, das immer auftritt und keines, das Kinder automatisch von einer Autismusdiagnose ausschließt. Andererseits gibt es klare Gemeinsamkeiten, die bei den meisten Personen mit ASS gefunden werden wie z. B. bestimmte soziale Auffälligkeiten (Lord & McGee, 2001). Die Schwere der Symptome sowie das Profil der Fähigkeiten variiert von erheblicher Beeinträchtigung bis zu einem fast normalen Verhalten. Wahrnehmungsstörungen, Kommunikationsauffälligkeiten, Defizite im Sozialverhalten sowie das Intelligenzniveau zeigen in der Gruppe der Betroffenen eine erhebliche Bandbreite von sehr subtilen Störungen bis zu erheblicher Beeinträchtigung.

Wie der Begriff »Haus« eine ganze Vielfalt von Gebäuden miteinschließt (z. B. Hochhaus, Bungalow, Villa, Hütte), so umfasst der Begriff »Autismus« viele Varianten und Facetten. Ein Mensch mit Autismus kann ein selbstständig lebender Arbeiter, Angestellter, freischaffender Künstler oder Akademiker sein, er kann aber auch ein Mensch sein, der nicht sprechen kann, nie gelernt hat, sich selbst zu versorgen und der lebenslang Hilfe benötigt. Andererseits haben Menschen mit Autismus auch eine Reihe gemeinsamer Merkmale. Im Folgenden wird versucht, diese Gemeinsamkeiten aufzuzeigen ebenso wie Interventionen, die wie ein Schlüssel zu einer ganz bestimmten Tür bzw. einer ganz speziellen Verhaltensauffälligkeit passen.

Autismus-Spektrum-Störungen umfassen verschiedene Störungsbilder

Images  Frühkindlicher Autismus

Images  Asperger-Syndrom

Images  Rett-Syndrom

Images  Desintegrationsstörungen

Images  Unspezifische Entwicklungsprobleme

Die Diagnose des Autismus beruht auf Verhaltensbeobachtungen und Interviewdaten und erweist sich in vielen Fällen als recht komplex. Da es bislang nur unzureichende biologische Marker gibt, passt sich die Diagnose dem jeweiligen Wissens- und Forschungsstand an und ist daher ein »work in progress« (Lord & Jones, 2012).

So beruhen deutschsprachige Diagosen meist auf der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-11), die in der elften Version vorliegt. Hier werden seit 2019 Betroffene mit starker Beeinträchtigung (ehemals »Kanner-Syndrom«) und geringerer Beeinträchtigung (ehemals »Asperger-syndrom«) sowie Menschen, die unter »PDD-NOS« (= Pervasive Developmental Disorder not otherwise specified«) leiden, unter der Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« (Abk: ASS) zusammengefasst. Hierbei wird spezifiziert, ob es sich um ein Syndrom mit oder ohne Sprache und mit oder ohne intellektuelle Beeinträchtigung handelt (Lai et al. 2014).

Im anglo-amerikanischen Raum hat sich ebenfalls der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« durchgesetzt. Hier dominiert das Diagnostische und Statistische Manual (DSM-5), das derzeit in der fünften Version vorliegt. Die neue DSM-5-Klassifikation betont das Kontinuum der Autismus-Störung und verzichtet auf die Bezeichnung »Asperger-Syndrom«. Da dieser Begriff derzeit jedoch diskutiert wird und ICD-10 (International Classification of Disease, www.autimus-online.de) im deutschsprachigen Bereich immer noch dominiert, wird im Folgenden weiter vom unteren Bereich der Autismus-Störung als »frühkindlicher Autismus« und dem oberen Ende als »Asperger-Syndrom« oder »hochfunktionalem Autismus« (High-Functioning-Autismus, Abk.: HFA) gesprochen (Wing, Gould & Gillberg, 2011; https://www.cdc.gov/ncbddd/autism/hcp-dsm.html). Auch weiter wird diskutiert, ob sich das Asperger-Syndrom signifikant von dem klassischen Autismus und vom High Functioning Autismus (Abk: HFF) unterscheidet (Kamp-Becker et al. 2010; Noterdaeme, M., Wried, E. & Höhne, C., 2009).

Eine umfassende Diagnose durch spezialisierte Psychologen, Psychiater oder Neurologen ist in jedem Fall notwendig, um das Krankheitsbild von ähnlichen Störungen abzugrenzen. Hierzu gehören zum Beispiel Hospitalismus, Enzephalitis, frühkindliche Schizophrenie, Lesch-Nyhan-Syndrom, Angelman-Syndrom, geistige Behinderung oder Wahrnehmungsstörungen (im Hinblick auf die ausführliche Differentialdiagnostik siehe Remschmidt, 2000; Bormann-Kischkel, 2009).

Die im Folgenden aufgezeigten Methoden und Übungen sind zum Teil auch für Individuen mit anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen geeignet, müssen jedoch abgewandelt werden. Für die Planung von Therapien ist jedoch im Allgemeinen nicht die diagnostische Zuordnung wichtig, sondern das individuelle Kind mit seinen Fähigkeiten und Problemen.

1.2       Wie wird die Diagnose von ASS erstellt?

Für das diagnostische Vorgehen ist bei Verdacht auf Vorliegen von ASS folgende Übersicht hilfreich.

Diagnostik bei Verdacht auf ASS

1.2.1 Besteht eine Autismus-Spektrum-Störung?

Images  Auffälligkeiten im Sozialverhalten

Images  Auffälligkeiten in der Kommunikation und Sprache

Images  Wiederholendes und stereotypes Verhalten sowie eingeschränkte Interessen

1.2.2 Wie ist der Entwicklungsstand und die Intelligenz?

Images  Normal oder verzögert

Images  Spezielle Defizite und Fähigkeiten

Images  Intelligenzprofil

1.2.3 Welche zusätzlichen Probleme bestehen?

Images  Organische Auffälligkeiten, z. B. Hören und Sehen

Images  Schlafprobleme, Essensprobleme o. ä.

Images  Aufmerksamkeitsstörungen

Images  Sensorische und motorische Auffälligkeiten

Images  Emotionale und kognitive Probleme

1.3 Welche frühen Anzeichen gibt es?

Images  Warnzeichen

1.4 Was ist für die Prognose von Kindern mit ASS wichtig?

1.4.1 Fähigkeits- statt defizitorientiertes Vorgehen

1.2.1     Besteht eine Autismus-Spektrum-Störung?

Die Diagnose einer autistischen Behinderung wird im Wesentlichen durch Beobachtung und Fragebogenerhebung durchgeführt. Im Rahmen des neuen Spektrum-Ansatzes werden aber verstärkt genetische Risikofaktoren, Biomarkers und die Familiengeschichte mit einbezogen.

Erste Hinweise auf autistische Symptome im Alter von 18 bis 24 Monaten gibt bereits die Beobachtungs- und Interviewliste für Autismus bei Kleinkindern, die sog. CHAT-Liste (Checklist for Autism in Toddlers – Checkliste für Autimus bei Kleinkindern) und ihre Variationen (Q-CHAT, Allison et al., 2008; M-CHAT-Modified, Robins et al., 2014). Als grobes Erfassungsinstrument kann sie auch von weniger spezialisierten Erziehern, Krankenschwestern oder Kinderärzten eingesetzt werden. Eine deutsche Übersetzung liegt vor (Bölte & Poustka, 2004). Anhand von fünf Verhaltensweisen kann mit großer Wahrscheinlichkeit eine autistische Behinderung festgestellt werden. Hierzu gehören die folgenden kritischen Verhaltensweisen.

Indikatoren für autistische Beeinträchtigung bei Kleinkindern (CHAT)

Fragen an die Eltern

Images  Beschäftigt sich Ihr Kind mit imaginativem Spiel? (z. B.: Tut es so, als ob es mit Puppengeschirr Tee zubereitet?)

Images  Zeigt Ihr Kind jemals auf einen Gegenstand, um Sie auf etwas Interessantes hinzuweisen? (sog. protodeklaratives Zeigen)

Beobachtung

Images  Kann Ihr Kind während der Untersuchung mit Puppengeschirr (Teetasse und Teekanne oder anderem imaginativen Spielzeug) so tun, als ob es z. B. Tee zubereitet, eingießt, trinkt etc.?

Images  Folgt es Ihrem Zeigefinger, wenn Sie auf etwas Interessantes im Raum zeigen (»Sieh mal, da ist ein Kreisel/Auto …«!)? Sieht es dabei den Gegenstand an oder nur die zeigende Hand?

Images  Sieht das Kind sowohl Sie als auch den Gegenstand an, zu dem Sie zeigen? (z. B. »Wo ist das Licht/der Teddy«?)

Diese Erfassung liefert erste Hinweise auf das Risiko einer autistischen Beeinträchtigung. Sofern die obigen Verhaltensweisen nicht beobachtet werden können, sollte die Untersuchung nach einem Monat wiederholt werden. Wichtig zu wissen ist, dass das CHAT kein alleiniges ausreichendes Diagnoseinstrument darstellt und dass es bei Verdacht auf Autismus durch detaillierte Diagnostikverfahren ergänzt werden muss.

Für Kinder und Jugendliche sind als Screeningverfahren der Fragebogen über Verhalten und soziale Kommunikation (FSK) (Bölte et al., 2000) sinnvoll sowie die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (Remschmidt & Kamp-Becker, 2006; Bölte & Bormann-Kischkel, 2009). Screeningverfahren, Beobachtungsinstrumente und Fragebogen werden für die verschiedenen Altersstufen und Schweregrade des Autismus eingesetzt.

Images

Abb. 1.1: Diagnostische Instrumente für ASS

Sehr viel aufwendiger als CHAT ist die Erhebung anhand des Autismus-Diagnose-Interviews (Autism Diagnostic Interview Schedule R., ADI-R, Lord et al.,1994, Lord, Rutter et al., 2012), sowie des dazugehörigen Beobachtungssystems (Autism Diagnostic Observation Schedule, ADOS 2, 2012). Ein spezielles Training in diesen Erfassungsinstrumenten sowie eine ausgiebige Erfahrung in der Diagnose autistischer Störungen sind unabdingbar. Schwerpunkte der Erfassung sind Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und dem Spielverhalten wie Blickkontakt, Anlächeln, imaginatives Spiel, Nachahmung, Freundschaft mit Gleichaltrigen und affektives Eingehen auf andere. Ein weiterer Untersuchungsbereich bezieht sich auf Auffälligkeiten in der Kommunikation wie Zeigegeste, Nicken, Kopfschütteln, echolalische bzw. funktionale Sprache oder auch die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, sich zu unterhalten. Der dritte Diagnosebereich betrifft wiederholendes und stereotypes Verhalten sowie eingeschränkte Interessen. Hier werden ungewöhnliche Vorlieben, zwanghafte Routinen, sprachliche Rituale, stereotype Bewegungen und Wahrnehmungsauffälligkeiten erfragt.

Diagnostische Hinweise auf Autismus

Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und im Spielverhalten

Images  Blickkontakt

Images  Anlächeln

Images  Imaginatives Spiel

Images  Imitation

Images  Freundschaft

Auffälligkeiten in der Kommunikation

Images  Zeigegeste

Images  Nicken, Kopfschütteln

Images  Echolalie

Images  Funktionale Sprache

Images  Konversation

Wiederholendes und stereotypes Verhalten und eingeschränkte Interessen

Images  Vorlieben

Images  Rituale, Zwänge, stereotype Bewegungen

Images  Wahrnehmungsauffälligkeiten

Starke Wahrnehmungsprobleme, Selbststimulationen und Zwänge können die normale Entwicklung von Betroffenen erheblich behindern. Untersuchungen haben einen Zusammenhang dieser Symptome zu neuropsychologischen und physiologischen Abnormitäten ergeben (Dawson, 1989; Bauman & Kemper, 2005; Dziobek & Bölte, 2009; Freitag, 2009). Viele Kinder neigen zu Unter- oder Überstimulation in bestimmten Wahrnehmungskanälen.

Drei Fallbeispiele

Der 5-jährige Michael verbrachte die meiste Zeit mit dem Schlenkern von Gegenständen und dem Öffnen und Schließen von Türen. Wenn man ihn unterbrach, schrie er ausdauernd und war untröstlich.

Starkes Selbstverletzungs- und Zwangsverhalten schränkte die Entwicklung der 18-jährigen Regina erheblich ein. Sie schlug sich den Kopf so hart an Kanten an, dass sie mehrfach genäht werden musste. Obwohl ihr Intelligenzniveau im Bereich der Lernbehinderung lag, galt sie aufgrund der Schwere der Verhaltensstörungen als nicht beschulbar. Erst als wir begannen, Konsequenzen für ihr Selbstverletzungsverhalten unvorhersehbar zu machen und es damit abzubauen, konnte das Mädchen Unterricht erhalten.

Kommentar: Für Regina waren negative Konsequenzen nur dann wirksam, wenn sie nicht vorhersehbar waren.

Wahrnehmungsstörungen und Zwangsverhaltensweisen können auch bei Personen mit ASS und normaler Intelligenz beobachtet werden. Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass sie aus der Sicht des Betroffenen oft eine klare Funktion haben.

Eine Laborassistentin mit ASS schloss sich mehrmals am Tag bei der Arbeit auf der Toilette ein. Sie sprang dort auf der Stelle und schlug sich, da sie befürchtete, das Gefühl für ihren Körper zu verlieren.

Einige Kinder reißen sich Kleider vom Leib, weil sie den Kontakt von Stoff auf der Haut oder aber des Größenetiketts im T-Shirt nicht ertragen. Andere dagegen sind so schmerzunempfindlich, dass selbst ein gebrochener Finger lange Zeit unentdeckt bleibt. Wieder andere vermeiden feste Nahrung oder bestimmte Nahrungsmittel oder nehmen sogar Ungenießbares zu sich. Auch bei Gerüchen können extreme Über- und Unterempfindlichkeit beobachtet werden. Manche Kinder schnüffeln an Gegenständen, die geruchlos sind, während für andere die normale Geruchswelt unerträglich scheint. Autobiografische Berichte von Betroffenen weisen darauf hin, dass Auffälligkeiten in verschiedenen Wahrnehmungskanälen oft inkonstant sind. So klingt ein und dieselbe Lautstärke manchmal zu leise und kurze Zeit später so laut, dass sie unerträglich scheint (William, 1992; White, 1987; Grandin, 1986).

Während vor einigen Jahren die Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus keine funktionale Sprache entwickelte, sind es mittlerweile nur noch etwa 25 %. Diese deutliche Verbesserung kann durch früher einsetzende Förderung, aber auch durch Ausweitung der Diagnose auf Kinder und Jugendliche mit milderen Formen von Autismus erklärt werden. Einige lernen durch Nachahmungstraining Laute, Worte und Sätze, während anderen spiel- oder erfahrungsorientiertes Vorgehen die erhofften Kommunikationsfähigkeiten näherbringt. Andere nicht-verbal kommunizierende Personen können ihre Defizite durch Einsatz von Bildern, Schrift, Kommunikationsgeräten oder Handzeichen kompensieren. Dennoch bleibt in den meisten Fällen die schulische und soziale Integration nicht-sprechender Kinder begrenzt.

Nicht immer ist das Verhalten von Personen mit ASS so auffällig wie in den aufgeführten Beispielen. Probleme von Menschen am oberen Ende des Spektrums sind oft weitaus subtiler und betreffen das mangelnde Hineindenken in andere (Theory of Mind), Defizite im Sozialverhalten, der Selbständigkeit sowie der Exekutiven Funktionen (z. B. Aufmerksamkeit, Flexibilität, Planung, Selbstkontrolle). Auch hier ist gezielte Hilfe notwendig (Pellicano, 2012; Bernard-Opitz, 2014a).

Fallbeispiel

So schien der zehnjährige Mark nach intensiver jahrelanger Therapie »geheilt«. Die Eltern berichteten jedoch das folgende Erlebnis: Eines Tages verschwand Mark spurlos auf einer Party, die die Familie in der Nachbarschaft besuchte. Ausgiebiges Suchen war ergebnislos und die Eltern riefen die Polizei zur Hilfe. Die fand den schlafenden Jungen in seinem eigenen Bett. Die Erklärung für sein Nachhausegehen bestand darin, dass es dunkel war und dass er dann immer schlafen gehe.

Kommentar: Mark hatte nicht gelernt, sich in seine Eltern hineinzudenken, die sich Sorgen machen, wenn man sie nicht informiert. Für ihn war es lediglich wichtig, seinen gewohnten Regeln zu folgen, wie »ist es dunkel, geh’ ich schlafen«.

1.2.2     Wie ist der Entwicklungsstand und die Intelligenz?

Betroffene mit ASS zeigen ein sehr heterogenes Intelligenzprofil. Zwischen 25 und 45 % haben nach Fombone et al. (2011) eine normale Intelligenz. Eine Erhebung des Entwicklungsstandes oder des Intelligenzprofils mit seinen Stärken und Schwächen sollte in jedem Therapieplan berücksichtigt werden. Der sog. »frühkindliche Autismus« steht im Allgemeinen am äußersten Ende der Skala von Autismus-Spektrum-Störungen, da er in 75 bis 80 % der Fälle durch eine deutliche Intelligenzminderung gekennzeichnet ist (Goldberg Edelson, 2006). Demgegenüber weisen Kinder und Jugendliche mit sog. »Asperger-Syndrom« meist eine normale bis überdurchschnittliche Intelligenz auf (APA, 1994). Wie bereits betont, werden Kinder mit frühkindlichem Autismus oft als Gruppe mit niedrigem Funktionsniveau (»low functioning«) von der Gruppe mit hohem Funktionsniveau (Englisch: »high functioning«) abgegrenzt (CMHO, 2002). Therapieprogramme für beide Gruppen sind im Allgemeinen deutlich verschieden. Während für Kinder eines niedrigen Entwicklungsniveaus der Aufbau von Blickbezug, Nachahmung, Sortieren, einfacher Kommunikation, Sozialverhalten und Spiel vorrangig ist, steht bei Personen mit hohem Funktionsniveau die Entwicklung von komplexerem Sozialverhalten, emotionaler Intelligenz, Selbständigkeit, Selbstkontrolle und die Kompensation von etwaigen Lernschwächen im Vordergrund.

Bei der Erhebung des Entwicklungs- und Intelligenzstandes sollte sichergestellt werden, dass Testaufgaben motivierend sind und in dem Lernkanal angeboten werden, der für das Individuum geeignet ist. So konnten Kinder, die zunächst als »untestbar« vorgestellt wurden, durch Auswahl geeigneter Tests oder Abwandlung herkömmlicher Tests zum Teil altersangemessene nicht-verbale Intelligenzwerte erreichen.

Notwendige Kriterien der Intelligenztestung von Kindern und Jugendlichen mit ASS

Images  Motivierend

Images  Visuell

Images  Kurze Testabschnitte

Die Testung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen ist nicht einfach, da der Tester zum Teil mit mangelnder Motivation, Verweigerung und Verhaltensproblemen konfrontiert wird. Daneben muss er mit einem breiten Spektrum von Testverfahren für sehr niedrige bis sehr hohe Intelligenz vertraut sein und Aufgaben so standardisiert wie möglich, aber auch so flexibel wie nötig an das betroffene Kind anpassen. Daneben ist es unabdingbar, angemessene Testverfahren für das jeweilige Individuum und die Fragestellung zu wählen (Bölte & Bormann-Kischkel, 2009). So ist es bei jungen bzw nicht-sprechenden Kindern sinnvoll, Entwicklungstests (z. B. Bayley Scales of Infant Development, Reuner et al., 2007; Entwicklungstest 6–6 Revised, Macha & Petermann, 2013) oder sprachfreie, visuelle Testverfahren wie z. B. die Leiter International Performance Scale (Roid & Miller, 1997) oder die Colored Progressiven Matrizen (Raven, 2003) einzusetzen. Hierbei muss das Kind Bausteine bzw. Karten mit verschiedenen Farben, Formen, Symbolen oder Abbildungen in zugehörige Aussparungen einfügen bzw. einpassen.

Auch bei Betroffenen ohne intellektuelle Beinträchtigung müssen traditionelle Intelligenztests zum Teil abgewandelt werden, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. So zeigten bei der verbreiteten Wechsler-Testserie einige Kinder erst dann angemessene Leistungen, wenn die Testabschnitte kurzgehalten wurden, Kinder für ihr Bemühen (nicht für richtige Antworten!) sozial oder materiell verstärkt wurden, kurze Pausen ermöglicht wurden und wenn Aufgaben visuell statt rein akustisch dargeboten wurden. Falls eine Testung unter Standardbedingungen nicht möglich ist, sollten obige Anpassungen toleriert werden. Es ist sinnvoller, Ergebnisse unter »testing the limit«-Bedingungen zu erzielen, als keine Angaben machen zu können (Bölte & Bormann-Kischkel, 2009).

Screening-Verfahren zu bestimmten Bereichen können ebenfalls sinnvoll sein. So gibt eine Erfassung des Sprachentwicklungsstands oft wichtige Einblicke in das Sprachverständnis, den Wortschatz oder das auditive Gedächtnis (Heidelberger Sprachentwicklungstest, SETK 3–5, Grimm & Schöler, 2010, Tipp mal App (https://tippmal.com/)). Bei Auffälligkeiten in der Artikulation, Semantik und Syntax ist eine enge Zusammenarbeit mit Logopäden und Sprachheiltherapeuten sinnvoll.

Skalen zur Erfassung der Selbständigkeit wie die Vineland Social Maturity Scale (Sparrow et al., 1984) und ihre deutschsprachigen Versionen (Bondy et al., 1977; Duhm & Huss, 2002) sollten ebenfalls herangezogen werden. Sie sind speziell bei Kindern mit Asperger-Syndrom oder Kindern mit frühkindlichem Autismus und guter Intelligenz sinnvoll, um etwaige Defizite in der Selbständigkeit realistisch einzuschätzen.

Eine ausführliche Darstellung der neuropsychologischen Testverfahren übersteigt den Rahmen dieses Buchs. Um Bereiche der emotionalen Intelligenz, exekutiver Funktionen und der zentralen Kohärenz abzuklären, wird auf die ausgezeichnete Zusammenfassung von Bölte & Bormann-Kischkel (2009) hingewiesen.