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1. Auflage 2017
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-032089-5
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Die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems hat zum Ziel, allen Schülern die Teilnahme am gemeinsamen Unterricht und gleichzeitig eine an individuellen Bedürfnissen orientierte schulische Förderung zu ermöglichen. Durch die damit einhergehende zunehmende biographische, soziale, familiäre, ethnische und religiöse Vielfalt an Schulen verändern sich die Anforderungen an Lehrkräfte. Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Förderbedarfen, Belastungen und Auffälligkeiten beeinflussen das künftige Aufgaben- und notwendige Qualifikationsspektrum von Lehrkräften im Schulsystem. Lehrkräfte benötigen fundierte Kompetenzen für einen Unterricht mit Klassenverbänden, die hinsichtlich ihrer Sozialisationsbedingungen sehr unterschiedliche Voraussetzungen für den Unterricht mitbringen.
Die quantitativ größte Gruppe mit besonderem Förderbedarf sind Schüler mit psychischen Auffälligkeiten: Etwa jedes 5. Kind zeigte in der KiGGS Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Der Anteil dieser Schüler, die ohne die vielfach nötige psychotherapeutische Versorgung bleiben, ist erheblich. Ohne professionelle Unterstützung entwickeln aber viele Betroffene Lern- und Verhaltensschwierigkeiten, deren Auswirkungen im Schulalltag von Pädagogen, Mitschülern und Eltern als Belastung erlebt werden. Hierzu gehören neben dem subjektiv erlebten Leiden vielfach auch Unterrichtsstörungen, aggressives Sozialverhalten, Rückzugsverhalten, soziale Ansteckungseffekte oder langfristig auch Schulabsentismus.
Pädagogische Arbeit an Schulen kann und darf zwar kein Ersatz für eine solide psychotherapeutische Versorgung sein, allerdings können Lehrkräfte, Mitarbeiter der Schulsozialarbeit und andere pädagogische Fachkräfte eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um die individuelle Entwicklung von Schülern mit psychischen Auffälligkeiten zu fördern und Ressourcen zu aktivieren.
Einige Beispiele hierfür sind:
• Die Gestaltung des schulischen Alltags, dessen Wirksamkeit für die psychische Gesundheit im Positiven unbestritten ist; hierzu gehören neben der täglichen Unterrichtspraxis auch die pädagogische Beziehungsgestaltung und die Durchführung evidenzbasierter Präventionsprogramme.
• Die Unterstützung, Information und Beratung von Eltern, um hierüber ihrer Elternverantwortung angemessen gerecht werden zu können.
• Professionelle Kooperation innerhalb des Kollegiums und mit externen Institutionen wie z. B. Psychotherapeuten.
Obwohl die pädagogische Qualifikation von Lehrkräften für einen professionellen Umgang mit psychischen Auffälligkeiten essentiell wichtig wäre und durch Eltern und Schüler sowohl erwartet als auch zugeschrieben wird, bringen nur wenige das nötige Rüstzeug mit, da in der Lehrkräfteausbildung in der Regel andere Schwerpunkte gesetzt werden. Viele Pädagogen fühlen sich aus diesen Gründen auf die genannten Herausforderungen nicht hinreichend vorbereitet.
Dieses Buch Schulische Inklusion bei psychischen Auffälligkeiten stellt vor diesem Hintergrund pädagogisches Handlungswissen für den schulischen Alltag zur Verfügung. Dabei wird besonderer Wert auf die wissenschaftliche, d. h. sowohl theoretische als auch empirische Fundiertheit der dargestellten pädagogischen Methoden gelegt.
Es werden im Schulkontext besonders belastende und häufig auftretende psychischen Auffälligkeiten vertiefend behandelt:
• Sozial ängstliches Verhalten
• Niedergeschlagenheit und depressive Episode
• Selbstverletzendes Verhalten
• Posttraumatische Belastungsreaktionen
• Auffälligkeiten im Sozialverhalten
• Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität.
Diese Kapitel fokussieren jeweils die Entstehungsbedingungen, das Erleben und Verhalten von Betroffenen, besondere pädagogische Situationen, pädagogisches Handeln im individuellen Kontakt und im Unterrichtsumfeld und Besonderheiten der Elternarbeit. Zusätzlich werden ausgewählte, evidenzbasierte Präventionsprogramme und die Grundlagen außerschulischer Interventionen z. B. psychotherapeutischer Verfahren erläutert.
In einem abschließenden Kapitel wird diagnostisches Basiswissen vermittelt. Hierbei werden fachliche Grundlagen, ausgewählte Screeningverfahren, spezifische Verfahren und Informationen zur pädagogischen Verhaltensbeobachtung dargestellt.
Innerhalb der Kapitel finden sich zahlreiche Literaturhinweise, auch weil angesichts der Fülle der Befunde und pädagogischer Konzepte immer wieder eine Auswahl stattfindet. Ziel ist eine kompakte und verständliche Synopse zu schulischen Handlungsoptionen bei psychischen Auffälligkeiten von Schülern zu realisieren.
Für die Unterstützung bei der Realisierung dieses Projekts möchte ich mich bei Lena Janssen, Theresa Steinhäuser, Dr. Simone Pülschen und Anja Maria Castello recht herzlich bedanken.
Anmerkung zum Sprachgebrauch: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten sowohl für Angehörige des weiblichen als auch für Angehörige des männlichen Geschlechts.
Schleswig, Mai 2017
Armin Castello
In der Entwicklung unserer Zivilisation hat es sich als Erfolgsfaktor herausgestellt, dass wir in Sippen, Dorfgemeinschaften und anderen sozialen Verbänden kooperieren, da auf diese Weise die meisten profitieren. Kooperation fördert die Gemeinschaft und schützt die gesamte Gruppe, erfordert aber von ihren Mitgliedern soziale Sensibilität, die sich auch in einer aufmerksamen Wahrnehmung der Bewertung der eigenen Person durch das soziale Gegenüber zeigt. Um diese wichtige Fertigkeit zu verfeinern sind Gruppen ein unentbehrliches Übungsterrain – Gleichaltrige sind für Kinder und Jugendliche wichtige Partner in der Entwicklung ihrer sozialen Kompetenzen, Schulen sind Orte, an denen dies stattfinden kann. Ein Mangel an Gelegenheiten zur Übung dieser sozialen Fertigkeiten mit Gleichaltrigen kann durch die Familie nicht angemessen kompensiert werden (vgl. Beck, Cäsar und Leonhardt, 2008).
Manche Schüler reagieren aber besonders intensiv auf soziale Situationen, empfinden sie als bedrohlich und versuchen sie daher zu vermeiden, manche sogar, indem sie der Schule und ihren sozialen Anforderungen und Bewertungen im Unterricht und in den Pausen fernbleiben. In Augenblicken mit hoher sozialer Aufmerksamkeit agieren sie häufiger unsicher als andere, vermeiden bspw. den Blickkontakt oder sprechen sehr leise und zurückhaltend. Zu ihren Gedanken befragt äußern sie, dass ihnen soziale Situationen unangenehm sind oder Befürchtungen darüber, einen Fehler zu begehen, der dazu führt, von anderen negativ bewertet zu werden. Das subjektive Erleben dieser Kinder und Jugendlichen besteht in vermehrten Angstgefühlen, die sich auch körperlich in vielerlei Hinsicht zeigen können wie beispielsweise Herzklopfen, weichen Knie, Zittern usf. (Melfsen, 2002, S. 265). Manchmal reagieren sie mit einem subjektiven Schwächegefühl, erröten, weinen oder schweigen in solchen Situationen.
Zu diesen erlebten und objektiv sichtbaren Merkmalen sozialer Ängstlichkeit kommt häufig die Befürchtung hinzu, dass diese Ängstlichkeit durch andere registriert und negativ bewertet werden könnte. Betroffene wirken selten unbefangen im Umgang, insbesondere mit unbekannten Personen und sie werden sehr schnell verlegen, wenn sie im sozialen Mittelpunkt stehen. Öfter empfinden sie große Sorge vor solchen Szenen und einen erheblichen Leidensdruck. Jugendliche, die von sozialer Ängstlichkeit betroffen sind, machen sich besonders viele Gedanken um korrektes soziales Verhalten, um ihren eigenen Wert im Vergleich zu anderen oder um die eigene Unzulänglichkeit. Soziale Erlebnisse werden von ihnen sorgenvoll gedanklich und emotional vorbereitet, was sich in Grübeln oder in Ein- und Durchschlafschwierigkeiten zeigen kann. Wichtige Ereignisse werden danach häufig durchdacht und nachbereitet, gerade wenn schamvoll über manche, als demütigend empfundene soziale Ereignisse gegrübelt wird (Melfsen, 2002).
Betroffene Schüler fallen in Unterrichtssituationen meist eher durch zurückhaltendes Agieren auf, so dass sie in aller Regel gerade nicht als auffällig identifiziert werden (Büch, Döpfner und Petermann, 2015, S. 44). Der Unterrichtsablauf wird durch sozial ängstliche Kinder erfahrungsgemäß kaum gestört, da bspw. das Lernen der anderen nicht besonders beeinträchtigt wird. Die Unterrichtsteilnahme kann aber für sozial ängstliche Kinder zu einer unerträglichen Tortur werden.
Eine Reihe anderer Belastungen, die mit sozialer Ängstlichkeit einhergehen können, sind bekannt: Belastete Schüler haben größere Probleme in der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen, weniger soziale Kontakte, sie neigen zur Entwicklung von Depressionen und zur »Selbstmedikation« in Form von Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen (Petermann und Suhr-Dachs, 2008).
Die Körpersprache bei betroffenen Kindern signalisiert seltener Interesse am Kontakt mit Gleichaltrigen (vgl. Helbig und Petermann, 2008). Die Scheu vor möglichen sozialen Anforderungen überwiegt meist das durchaus vorhandene Interesse am Teilen sozialer Erfahrungen, gerade wenn sich ein Kind darin als weniger kompetent erlebt, in eine gelingende und befriedigende Interaktion zu treten. Durch offensichtliche oder subtile Signale der Ablehnung eines Kontakts (z. B. Blick abwenden, Wegdrehen, Nicht-Reagieren) im schulischen und privaten Alltag werden Sozialkontakte vermieden, um die subjektiv beängstigende Hilflosigkeit bei befürchteter sozialer Bewertung nicht erleben zu müssen (Melfsen und Wallitza, 2012, S. 13).
In der Entwicklung von sozialer Ängstlichkeit spielen in unterschiedlichen Anteilen biologische, psychologische und soziale Risikofaktoren und deren Wechselwirkungen eine Rolle. In vielen Fällen liegt eine Kumulation verschiedener Risiken vor, die im Verlauf und abhängig vom sozialen Umfeld zur Belastung durch eine ausgeprägte soziale Ängstlichkeit führen.
Biologische Ausgangsbedingungen sozialer Ängstlichkeit können in einer genetisch mitbedingten Verhaltenshemmung liegen, die sich als meist schüchterne und irritierte Reaktion auf neue Situationen zeigt. Im Schulumfeld wird sie in stillem und tendenziell passivem Schülerverhalten deutlich, und einer leichten Irritierbarkeit und Erregbarkeit bei sozialer Aufmerksamkeit (Kagan, Snidman, Kahn und Towsley, 2007). Nach Fox, Calkins und Bell (1994) spielt die Wechselwirkung mit sozialen Faktoren eine bedeutende Rolle: Menschen, die zu einer leichten Irritierbarkeit neigen, benötigen besondere Unterstützung im Erwerb geeigneter Strategien zur Regulation ihrer Emotionen.
Soziale Ängstlichkeit tritt bei weiblichen Schülern vergleichsweise häufiger auf. Diese Geschlechtsspezifität wird mitbedingt und/oder verstärkt durch soziale Faktoren, wie bspw. den offeneren Umgang mit Emotionen durch Schülerinnen, während männliche Schüler unangenehme Emotionen stärker zu verbergen suchen.
Eine psychologische Ausgangsbedingung sozialer Ängstlichkeit liegt zusätzlich in der Tendenz, potentiell bedrohlichen sozialen Reizen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zu schenken, sich diesen Reizen also hinzuwenden und sie intensiv wahrzunehmen (Heinrichs und Reinhold, 2010). Hintergrund dieses Verhaltens ist, dass hierdurch ein subjektiv höheres Maß an Kontrolle der Reize erlebt wird. Solche Kinder und Jugendlichen bewerten den Stimulus auch als bedrohlicher als ihre Altersgenossen. Eine intensive Beschäftigung mit sozialen Reizen wird auch damit in Zusammenhang gebracht, dass sozial ängstliche Kinder und Jugendliche nachfolgend geringere Aufmerksamkeitsleistungen im Schulumfeld und dadurch geringere schulische Leistungen zeigen können (Eysenck, Derakshan, Santos und Calvo, 2007).
Manche von sozialen Ängsten Betroffene berichten über konkrete belastende Erfahrungen, die als Auslöser wirksam geworden sein könnten. Ursprünglich neutrale Reize (bspw. Schulumfeld, Klassensituation) können dabei den Prinzipien einer klassischen Konditionierung folgend z. B. durch eine Beleidigung, Verletzung oder schamvolle Erfahrung zu angstauslösenden Reizen werden. Der danach als angstauslösend empfundene Reiz (Schule) wird nachfolgend immer häufiger gemieden, weil hierdurch die subjektiv als sehr belastend empfundene Angst nachlässt (operante Konditionierung). Dieses Muster kann sich individuell stabilisieren, da positive Erfahrungen durch das Vermeidungsverhalten auf diesem Weg immer seltener gemacht werden können. Diese sehr einflussreiche so genannte Zwei-Faktoren-Theorie (Mowrer, 1960) kann die Stabilisierung sozialen Vermeidungsverhaltens schlüssig erklären.
Pädagogisch von besonderer Relevanz für sozial ängstliches Handeln ist das Konzept der automatischen Gedanken, die sich als Folge früherer Erfahrungen aus sozialen Interaktionen entwickeln können (Clark und Wells, 1995). Sie betreffen Befürchtungen, durch andere negativ bewertet zu werden, unattraktiv zu sein oder Fehler zu begehen, die diese negativen Bewertungen auslösen könnten. So entwickeln manche Schüler
• besonders hohe Standards für ihr eigenes soziales Auftreten (Beispielgedanke: Ich muss mich in jedem Fall so verhalten, dass ich gut ankomme)
• einen festen Glauben an die negativen Folgen ihres Verhaltens oder Aussehens (Beispielgedanke: Meistens reagieren andere ablehnend und desinteressiert auf mich)
• ein zunehmend negatives Selbstbild (Beispielgedanke: Mir fehlen offenbar wichtige Eigenschaften, um von anderen gut gefunden zu werden).
Auch eine Reihe sozialer Faktoren können in der Entstehung sozialer Ängstlichkeit involviert sein. Kinder, die aufgrund ihrer Disposition zurückhaltend und verhaltensgehemmt agieren, empfinden, wenn soziale Aufmerksamkeit »droht« oder bereits vorhanden ist, ein hohes Maß an subjektiver Erregung und erleben deswegen ein Bedürfnis nach Beruhigung ihres inneren Erregungszustands (vgl. Tuschen-Caffier, Kühl und Bender, S. 26). Die Fähigkeit zur effektiven Regulation dieser Emotionen erlernen Kinder allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Ein bedeutsamer Faktor ist hier die Qualität der frühen Eltern-Kind-Interaktion und individuellen Bindungserfahrungen.
Bereits im Säuglingsalter entwickeln Kinder Erwartungen an die Qualität sozialer Beziehungen aus ihren regelmäßigen Interaktionserfahrungen mit den Eltern als primären Bindungspersonen. Diese Erfahrungen unterscheiden sich je nachdem, ob auf kindliche Bedürfnisse sensitiv, konsistent, prompt, angemessen und damit beruhigend reagiert wurde (Van Ijzendoorn, 1995) oder ob die Bedürfnisse uneinheitlich oder ablehnend beantwortet wurden.
Diese Bedürfnisse und damit verbundene Emotionen werden von Kindern entwicklungsabhängig unterschiedlich artikuliert, die elterliche Reaktion führt bei gelingender Interaktion zur Bedürfnisbefriedigung und emotionaler Beruhigung. Manche Kinder haben bspw. entwicklungsbedingte Schwierigkeiten ihre Bedürfnisse adäquat zu artikulieren, manche Eltern können aufgrund eigener Bindungserfahrungen oder ihrer aktuellen Lebenssituation die Bedürfnisse ihres Kindes nicht adäquat erkennen oder angemessen beantworten. Kinder unterscheiden sich aufgrund dieser frühen Erfahrungen bezüglich ihres auf diesem Weg entstandenen Bindungsmusters. Eine Beobachtung innerhalb eines standardisierten Untersuchungssettings (Fremde Situationstest, Ainsworth et al., 1978) ermöglicht Rückschlüsse auf bisherige Bindungserfahrungen der untersuchten Kinder. Frühe Interaktionserfahrungen führen also zu einem Arbeitsmodell für spätere Beziehungen, das sich mit den Lebensjahren weiter anreichert und verändern kann. Erleben Kinder, dass ihre Bindungssignale konsistent sensitiv, prompt und angemessen beantwortet werden, entwickeln sie eine sichere Bindungsrepräsentation. Sie zeigen später einen kompetenteren Umgang mit Konflikten (Suess, Grossmann, und Sroufe, 1992), engere Freundschaften und können ihre eigenen Emotionen effektiver regulieren.
Die frühe Bindungsqualität ist ein mächtiger sozialer Faktor, der insbesondere in Krisenzeiten bei Krankheit, Trennung und anderen Belastungen vor einer Entwicklung psychischer Störungen schützt. Eine Unterstützung insbesondere von Familien in Risikokonstellationen kann hohe präventive Wirksamkeit entfalten (z. B. Brisch, 2007). Kinder, die eine unsichere oder ambivalente Bindungsrepräsentation entwickelt haben, zeigen geringere soziale Wahrnehmungsfähigkeit und neigen eher dazu, Gleichaltrigen feindselige Absichten im Handeln zu unterstellen. Die Bindungsforschung zeigt, dass Bindungserfahrungen in verschiedenen Altersstufen die Kompetenz in der Gestaltung von Beziehungen, in der Emotionsregulation und die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts mitbedingt (Scheuerer-Englisch und Zimmermann, 1997).
Der elterliche Einfluss in der Förderung sozial-emotionaler Grundlagen ist also sehr weitreichend. Zusätzlich werden sie im Entwicklungsverlauf immer wieder als soziale Modelle wirksam, was die Bewertung, Pflege und Kompetenz bezüglich sozialer Kontakte und den Umgang mit sozialen Anforderungen anbelangt. Findet in Familien eine negative Fokussierung auf soziale Situationen statt, bei denen Bewertungen erfolgen könnten, und wird dies in einer dramatisierenden Art und Weise getan, bspw. indem sie reflexhaft als belastend oder bedrohlich konnotiert werden, bleibt dies nicht ohne Einfluss (vgl. Petermann und Suhr-Dachs, 2008). Ungünstiges Modellverhalten von Eltern kann sowohl in einer Überdramatisierung als auch in einer Vermeidung sozialer Aufmerksamkeit bestehen: Eltern, die ihrerseits sozialen Situationen entfliehen, da sie sich als nicht kompetent erleben, werden auf diese Weise ihrem Kind nicht als erfolgreiches soziales Modell dienen. Der Erwerb von Alltagsstrategien im Umgang mit potentiellen sozialen Bewertungssituationen oder das Erlernen positiver Bewältigungsformen bei sozialen Anforderungen wird so erschwert (Castello, 2013). Dieser Mangel an wichtigen Orientierungshilfen und Modellen begünstigt langfristig Vermeidungsverhalten der eigenen Kinder. Solche Familien, die diese Verhaltens- und Bewertungsmuster aufweisen, zeigen häufiger überaus großes Verständnis für das kindliche Bedürfnis nach Schutz vor sozialer Bewertung. Mit zunehmender sozialer Isolation, die in manchen Familien unterstützt bzw. nicht verhindert wird, verlieren Kinder die Zuversicht und auch die Kompetenz, sich im sozialen Umfeld zurecht zu finden.
Ungünstige soziale Erfahrungen mit Gleichaltrigen kommen nicht selten verstärkend hinzu, da sozial unerfahrenes, vielleicht auch ungeschicktes und unsicheres Agieren von Kindern und Jugendlichen komplementär dominantes Sozialverhalten von Gleichaltrigen auch begünstigen kann.
Spence et al. (2003) beschreiben die Entstehung und das Aufrechterhalten sozialer Ängstlichkeit als einen zirkulären Prozess, in dem geringe soziale Kompetenzen negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen begünstigen. Häufige negative soziale Rückmeldungen beeinträchtigen langfristig das Selbstvertrauen und lösen Vermeidungsverhalten aus, da soziale Kontakte zunehmend als belastend empfunden werden. Den Kindern und Jugendlichen fehlen nachfolgend Übungs- und Entwicklungsmöglichkeiten und ihre ohnehin weniger ausgeprägten sozialen Fertigkeiten werden seltener beansprucht und trainiert. Sie entwickeln sich nicht so, dass dieser Teufelskreis durchbrochen werden würde.
Abb. 1: Zirkuläres Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Ängste (vgl. Stopa und Clark, 1993)
Kinder mit intellektuellen Beeinträchtigungen verfügen oft gleichzeitig über geringere sozial-kognitive Kompetenzen und nachfolgend über weniger elaborierte Fähigkeiten zur differenzierten Problemlösung in sozialen Situationen. Sie erleben diese seltener als befriedigend und häufiger als Stressor (Sarimski, 2005, S. 28). Die Gefahr eines zunehmend negativen Selbstkonzepts, das mit einer stärkeren Neigung zur sozialen Ängstlichkeit verbunden ist, steigt für diese Gruppe besonders. Manche entwickeln daher nicht selten größere Probleme, befriedigende soziale Beziehungen zu erfahren (Dykens, 2000). Mit intellektueller Beeinträchtigung sind ein größeres Risiko zur sozialen Ablehnung und reduzierte Möglichkeiten einer sozialen Teilhabe verbunden.
Schulen sind soziale Orte, an denen Begegnungen mit Gleichaltrigen geübt werden. Hier finden besonders auch authentische Rückmeldungen und Bewertungen statt, wie z. B. zu schulischen Leistungen, zur eigenen sozialen Attraktivität oder Kooperationsfähigkeit. Diese Bewertungen erfolgen manchmal offen in Form von Noten oder geäußerter Kritik, teilweise verdeckt, in Form von subtilen Anmerkungen oder Gesten, manchmal auch verbal aggressiv. Vielfach werden die positiven oder negativen Feedbacks als selbstwertrelevant erlebt, häufig mit der Folge, dass bei der bewerteten Person ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt wird. Schulische Feedbacks durch Gleichaltrige und Lehrkräfte sind gleichzeitig eine wertvolle pädagogische Ressource, deren Einsatz pädagogisch und didaktisch gesteuert werden sollte.
Gerade dann, wenn explizit kein Unterricht stattfindet, finden sich besonders viele Momente, in denen soziale Herausforderungen, Kompetenzen und Bewertungen eine wichtige Rolle spielen. Hier exemplarisch eine Reihe von Fragen zu diesen Momenten aus Sicht eines betroffenen Schülers:
• Was mache ich, wenn sich einer am Schulkiosk vor mir hineindrängt?
• Finde ich jemanden, mit dem ich die Pause verbringen kann?
• Wie bekomme ich Kontakt zu anderen, die ich nett finde?
• Ich möchte auch Tischtennis spielen – nur wie fange ich es an?
• Was mache ich, wenn ich wieder auf der Schultoilette geärgert werde?
Es gehört zu den wichtigen Alltagsfertigkeiten, mit diesen Herausforderungen kompetent umzugehen.
Einen großen Teil ihrer schulischen Lernzeit verbringen Schüler im Klassensetting. Eine zentrale Anforderung, die an Schüler gestellt wird, ist die aktive Mitarbeit im Unterricht. Ein wichtiges Element dabei sind individuelle, verbale Beiträge, die im Klassenumfeld aber intensive soziale Aufmerksamkeit erfahren und häufig Feedbacks der Lehrkraft und ggf. der Klasse nach sich ziehen. Aus Sicht eines Kindes, das unter sozialer Ängstlichkeit leidet, beinhalten diese Situationen Merkmale der Unkontrollierbarkeit (Stein, 2012, S. 141):
• Ein geplanter Beitrag könnte nicht die nötige Qualität haben: Unsicherheit hinsichtlich des Lehrerfeedbacks
• Soziale Aufmerksamkeit im Moment des Beitrags: Unsicherheit hinsichtlich der sozialen Bewertung und des Feedbacks der Klasse
• Unkontrollierbare Momente dieses Settings bestehen außerdem darin, unverhofft aufgerufen zu werden mit analogen »Gefahren«.
Gruppenarbeiten sind durch individuelle Kontakte zwischen Schülern und Anforderungen an die Kooperations- und Koordinationskompetenzen geprägt. Sie können von sozial ängstlichen Schülern zu unterschiedlichen Phasen als bedrohlich erlebt werden:
• Kontaktaufnahme und Einigung hinsichtlich der Gruppenzusammensetzung: Unsicherheit hinsichtlich sozialer Ablehnung
• Planung, Vorbereitung und ggf. Rollenverteilung innerhalb der Gruppe: Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Kompetenz, adäquate Beiträge zu leisten
• Durchführung: Unsicherheit in der sozialen Kooperation
• Präsentation: Unsicherheit hinsichtlich der sozialen Bewertung und des Feedbacks.
Einige Unterrichtssituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass Schüler besonders sichtbar werden und ein überaus hohes Maß an sozialer Aufmerksamkeit entsteht. Werden dabei die subjektiv als bedeutsam erlebten Merkmale einer Person offenbar, kann soziales Feedback im positiven und negativen Sinn besonders wirksam werden. Einige Beispiele hierzu:
• Im Umfeld des Sportunterrichts werden körperliche Attraktivität, motorische Kompetenzen, physische Belastbarkeit und die soziale Integration besonders offenkundig.
• Bei der Teambildung im Mannschaftssport gewählt zu werden oder auf der Bank zu verbleiben vermittelt ein soziales Feedback, das für alle sichtbar wird und von manchen Kindern als besonders relevant erlebt wird.
• »Vorturnen«, Ausführen untrainierter Bewegungen, erschöpft sein nach Anstrengung, umkleiden oder einen Partner für eine Übung zu finden, empfinden manche Schüler als sehr belastend.
• Das Präsentieren der eigenen kreativen Produkte im Kunstunterricht, bei dem eine ästhetische Bewertung erfolgt, künstlerische Kompetenzen sichtbar werden und Aspekte des eigenen emotionalen Ausrucks eine Rolle spielen, können in ihrer Wirkung auf vorbelastete Kinder beängstigend und bedrohlich werden.
• Gleiches gilt für den Musikunterricht, wo die eigene Stimme, deren Intonation, Lautstärke, Rhythmik und emotionale Beteiligung hör- und bewertbar werden.
Jenseits schulischer Unterrichtszeiten verbringen sozial ängstliche Kinder ihre Freizeit häufig mit Aktivitäten, die nur wenig zur Stärkung sozialer Kompetenzen beitragen (Albano et al., 1995a). Nicht selten sind es einsame Beschäftigungen, ein Großteil der Freizeit findet innerhalb der Familie statt, wobei die mediale Ausstattung (PC, TV, Handy) oft Ablenkungsmöglichkeiten bietet und der Leidensdruck mangelnder Sozialkontakte zunächst aufgefangen wird. Soziale Aktivitäten in Sportvereinen o. ä. üben betroffene Kinder weitaus seltener aus, gemeinsame soziale Ereignisse mit Gleichaltrigen, wie z. B. Kindergeburtstage, finden meist ohne sie statt.
Verschiedene Bestandteile einer wirksamen Psychotherapie bei Angststörungen bewähren sich auch in pädagogischen Handlungsfeldern. Empirisch konnte gezeigt werden, dass sich die Effekte eines Interventionsprogramms bei sozialer Ängstlichkeit, erhoben anhand der Reduktion vorhandener Ängste und Zunahme gezeigter Bewältigungsstrategien der Teilnehmer, nicht unterschieden, unabhängig davon, ob ein qualifizierter Lehrer oder ein Psychologe dieses Programm durchführte (Collins, Woolfson und Durkin, 2014). Es zeigte sich vielmehr, dass Lehrkräfte die verschiedenen Strategien des Vermeidens von Schülern aufgrund ihrer schulischen Erfahrungen bereits gut kannten, sodass Anwendungsübungen erleichtert wurden.
Klinisch-psychologisch fundierte, im Schulumfeld durchgeführte Interventionsprogramme zur Förderung des sozial-emotionalen Wohlbefindens wirken sich positiv auf die schulischen Leistungen aus. In einer Metaanalyse, bei der zahlreiche Studien gesichtet und analysiert werden, zeigte sich dieser Transfer in Form einer durchschnittlichen Verbesserung schulischer Leistungen, der u. a. auf die Förderung der sozial-emotionalen Kompetenzen von Schülern zurückzuführen war (Durlak et al., 2011).
Die Nutzung der weiter unten dargestellten, therapeutisch bewährten Konzepte für präventiv wirksame Programme hat sich seit längerer Zeit etabliert. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, auch im pädagogischen Alltag ausgewählte Methoden zu integrieren, besonders angesichts der gravierenden Unterversorgung in der psychotherapeutischen Betreuung. Ohne Intervention besteht bei sozialen Ängsten die Gefahr einer Chronifizierung (Collins, Woolfson und Durkin, 2014), die die individuelle Lebensqualität stark beeinträchtigen kann.
Hier werden nun einige wichtige Komponenten evidenzbasierter Interventionen bei sozialen Ängsten skizziert, die vielfach auch im Unterrichtsalltag eingesetzt werden könnten.
Als wichtiger Baustein findet der Einstieg, gerade bei manualgestützten Programmen, häufig mit einer psychoedukativen Einheit statt (Stein, 2012, S. 140). Dabei werden Informationen zur sozialen Angst gegeben, um einschlägiges Wissen zu vermitteln und die individuellen Vorstellungen Betroffener zur Häufigkeit, Ursache und zur Bedeutung verschiedener Symptome zu überprüfen. Dieses Wissen verschafft oft auch Erleichterung, wenn Betroffene und Eltern erfahren, dass durchaus nicht wenige Schüler unter Formen der ängstlichen Vermeidung sozialer Kontakte, dysfunktionalen Gedanken und körperlichen Reaktionen leiden.