Die Autorin

Isa Schikorsky studierte Literatur- und Sprachwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit zur Sprachgeschichte. Seit 1995 ist sie als Dozentin für kreatives und literarisches Schreiben in der Erwachsenenbildung tätig. 2005 gründete sie »Stilistico Schreibkultur«, ein Programm für Schreibreisen, Schreibseminare, Lektorat, Schreibcoaching und Textberatung. Sie lebt als freie Autorin, Lektorin und Dozentin in Köln.

Isa Schikorsky hat unter anderem eine Biografie über Erich Kästner (dtv 1998), die Schreibratgeber Aus dem Lektorat (2009) und Kreativ unterwegs (2013), mehrere Kurzgeschichten und Kriminalromane publiziert und zwei Anthologien herausgegeben.

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Inhalt

Vorwort

Wie viele literarische Figuren lernt man wohl im Laufe eines Leselebens kennen? Bei mir begann es mit Aschenputtel und Emil Tischbein, es folgten die Helden aus Unterhaltungsschmökern von Johannes Mario Simmel und Arthur Hailey, im Studium gesellten sich Werther, Effi Briest und Tony Buddenbrook dazu, später Miss Marple, Tom Ripley, Gesine Cresspahl, Jean-Baptiste Grenouille und viele andere mehr. Als Jurorin des Deutschen Jugendliteraturpreises und des Short-Story-Wettbewerbs der Volkshochschule Leverkusen begegneten mir Figuren aus Hunderten von Kinder- und Jugendromanen sowie aus einigen Tausend Kurzgeschichten. Aktuelle Gestalten kommen dazu, wenn ich Neuerscheinungen für ein Literaturmagazin bespreche. Und schließlich werfe ich als Lektorin, Gutachterin und Dozentin seit 1995 kritische Blicke auf die Figuren und Figurenentwürfe aus der Werkstatt von Autoren und Autorinnen. Ausreichend Zeit und Gelegenheit also, um festzustellen: Wenn Geschichten mich wirklich begeistern, liegt das immer an starken, eigenwilligen Charakteren, die faszinieren oder verzaubern, die Staunen, Erschrecken, Neugier oder Sympathie erzeugen – kurz gesagt: die mich emotional tief beeindrucken.

Beobachtet habe ich aber auch, dass Autoren und Autorinnen manchmal wenig Geduld mit ihren Figuren haben und kaum Zeit aufwenden, sie kennenzulernen und zu gestalten. So wichtig Thema und Handlung, Struktur, Sprache und Stil sind, ohne überzeugendes Personal zieht ein Roman oder eine Kurzgeschichte die Leser selten in den Bann. Ich möchte Ihnen deutlich machen, wie entscheidend Figuren die Qualität eines jeden Erzähltextes bestimmen. Und ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie unverwechselbare Helden und Heldinnen schaffen, die für Leser unvergesslich und möglicherweise zu lebenslangen Begleitern werden.

Im Zentrum des Ratgebers stehen die Bedingungen des handlungsorientierten Unterhaltungsromans, aber auch wer für speziellere Zielgruppen schreibt, kann viele Aussagen auf sein Tun übertragen. Die Themen und Fragen stammen überwiegend aus meinen Erfahrungen als Lektorin, Dozentin und kritische Leserin.

Grundsätzlich gilt: Ich vermittle Methoden und Tipps, von denen ich überzeugt bin, dass sie für die Figurengestaltung hilfreich sind. Aber ich formuliere keine Gesetze, denen Sie blind folgen sollten. Sie allein entscheiden, was von den vorgestellten Möglichkeiten für Ihr Schreiben nützlich ist. Wie alle Regeln, so sind auch diese dazu da, gebrochen zu werden. Das funktioniert allerdings nur, wenn man ihre Wirkung einschätzen kann. Und das gelingt wiederum nur, wenn man sie kennt. Die Regeln kennenzulernen, damit Sie anschließend kreativ mit ihnen umgehen können – dazu lädt dieses Buch Sie ein.

Köln, im September 2014
Isa Schikorsky

1. Figurenrollen und Grundtypen

Ohne Figuren geht es nicht. Sie werden für jeden Erzähltext benötigt. Manchmal in großer, unüberschaubarer Menge wie in den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts, manchmal nur in Gestalt einer einzigen Person. Figuren haben nicht alle den gleichen Stellenwert, sie unterscheiden sich in ihrer Bedeutung, ihrem Status und den Aufgaben, die sie in der Geschichte übernehmen. In diesem Kapitel werden die einzelnen Rollen vorgestellt, die Figuren ausfüllen können. Sie erfahren, was Sie beachten sollten, wenn Sie das Personal für Ihre Erzählung oder Ihren Roman zusammenstellen. Außerdem wird danach gefragt, wie sich reale und nicht menschliche Figuren von fiktionalen Figuren abgrenzen lassen.

Protagonist, Antagonist & Co.

Protagonist

Womit fangen wir an? Natürlich mit dem unverzichtbaren Protagonisten oder der Protagonistin. Der Begriff stammt aus dem Griechischen. In der antiken Tragödie war der Protagonist der erste Schauspieler. Man spricht auch von der Hauptfigur oder vom Helden, ein Ausdruck, der leicht missverstanden werden kann. Der Held eines Romans oder einer Erzählung muss kein glorreicher Kämpfer im eigentlichen Sinn sein, betont wird damit aber seine zentrale Aufgabe, die Geschichte durch sein Handeln voranzutreiben. Eine Hauptfigur, die sich weigert, diese Rolle anzunehmen, wird auch als Antiheld bezeichnet.

Antagonist

Der Protagonist steht im Mittelpunkt jedes Erzähltextes. Er agiert nicht willkürlich, sondern will etwas erreichen. Darauf wird später noch ausführlich eingegangen. Aus dramaturgischen Gründen ist es nötig, dass er weder schnell noch einfach an sein Ziel kommt. Dafür sorgt der Antagonist, im Wortsinn: der Gegenhandelnde, wie er nach seiner Rolle in der griechischen Tragödie auch genannt wird. Er ist häufig schon dem Äußeren nach, vor allem aber vom Charakter her der Widersacher des Helden, legt ihm Steine in den Weg und will ihn mit allen Mitteln am Erreichen seines Ziels hindern.1

Bekannte Paare

Bekannte Paare von Protagonist und Antagonist aus der Literaturgeschichte sind zum Beispiel Siegfried und der Drache, der alte Fischer Santiago und der große Fisch, Harry Potter und Lord Voldemort oder Kain und Abel. Der Gegner kann der nette Kollege sein, der dieselbe höhere Position anstrebt wie der Protagonist; die junge Frau, die eine Intrige gegen den Liebhaber der Freundin anzettelt; die Mutter, die ihr inzwischen erwachsenes Kind nicht loslässt.

Rollen im Detektivroman

Klassisch ist die Rollenverteilung im Detektivroman, in dem sich Ermittler und Täter gegenüberstehen. Interessanterweise gibt hier der Antagonist dem Protagonisten überhaupt erst das Ziel vor. Oft gleicht der Ermittler auch einem Antihelden, der vom Bösen in der Welt immer wieder daran gehindert wird, einfach in Ruhe vor sich hinzuleben. Häufig reißt die Nachricht vom Verbrechen den Detektiv aus einem Freizeitvergnügen oder dem Tiefschlaf. Er wird zum Handeln gezwungen, sein Ziel ist die Wiederherstellung von gesellschaftlicher Ordnung und Gerechtigkeit. Der Täter will genau das verhindern, indem er flüchtet, sich versteckt hält, lügt, schweigt und täuscht. Der Kampf ist für den Täter existenziell, denn wenn er ihn verliert, wird er zur Rechenschaft gezogen und bestraft.

Protagonist und Antagonist treffen aufeinander

Eine Auseinandersetzung zwischen Protagonist und Antagonist gerät umso packender, je mehr auf dem Spiel steht. Im Idealfall geht es ums Überleben im tatsächlichen oder übertragenen Sinne – der klassische Kampf auf Leben und Tod. Versuchen Sie, das Konfliktpotenzial so weit wie möglich auszureizen. Entweder streben beide aus unterschiedlichen Motiven nach demselben Ziel (dieselbe Frau, derselbe Schatz, dieselbe Position), oder aber der Antagonist will verhindern, dass der Protagonist seines erreicht (einen Mord aufklärt, ein Geheimnis entdeckt, die Liebe einer Frau erringt). Die Kontrahenten sollten ungefähr gleich stark sein und prinzipiell beide die Chance haben, den Kampf zu gewinnen.2 Auch bei sportlichen Wettkämpfen tritt kein Schwergewicht gegen ein Leichtgewicht an. Mal sollte der eine, mal der andere im Vorteil sein. Noch ein weiterer Aspekt ist zu berücksichtigen: Je schwerer der Kampf und je größer die Kraft, die der Held aufwenden muss, desto glanzvoller sein Sieg und desto größer sein Gewinn an Ruhm, Ehre und Ansehen.

Schmelztiegel-Effekt

Erhöhen können Sie den Grad der Spannung außerdem durch den »Schmelztiegel-Effekt«3. In der Realität versucht man meist, Menschen zu meiden, die einem schaden wollen. In der Fiktion müssen Sie dafür sorgen, dass Ihr Protagonist den Schwierigkeiten nicht aus dem Weg gehen kann. Das funktioniert am besten, wenn Sie die Gegner zusammenzwingen. In »Herr der Fliegen« lässt William Golding eine Gruppe von Kindern nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel stranden. Der Ort, den niemand verlassen kann, ist entscheidend dafür, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden Cliquen um den vernünftigen Ralph und den Draufgänger Jack eskaliert. Bringen Sie also Ihre Kontrahenten in eine Situation, aus der es kein Entrinnen gibt. Die verfeindeten Kollegen sollten sich ein Büro teilen oder als Team gemeinsam ein Projekt erarbeiten müssen oder zu zweit im Fahrstuhl stecken bleiben.

Nicht immer hat der Held eine wirkliche Person zum Gegner. Während für den Fantasy-, Abenteuer- und Kriminalroman diese Konstellation üblich ist, sind es in anderen Gattungen eher abstrakte Gewalten, die ihn in die Knie zwingen wollen. Deshalb spricht man oft allgemeiner von der antagonistischen Kraft. In Gesellschaftsromanen kämpfen die Hauptfiguren gegen Traditionen, Konventionen und überholte Ehrbegriffe, die ihr Glück vereiteln. Im psychologischen Roman sind es innere Widerstände, Ängste, Zweifel und Skrupel, die der Protagonist überwinden muss. Antagonistische Kräfte können auch Naturgewalten, Umweltkatastrophen oder Schicksalsschläge sein.

Es empfiehlt sich, dass Sie sich vor dem eigentlichen Schreibprozess darüber klar werden, wer Ihr Protagonist ist und wer der Antagonist bzw. die antagonistische Kraft. Wenn Sie diese Rollen verteilt haben, lässt sich wesentlich leichter eine stringente und tragfähige Handlung aufbauen. Generell sollte die Figur, die das entfernteste Ziel, die intensivste Leidenschaft, den stärksten Antrieb und die größten Probleme hat, die Hauptrolle übernehmen. Der Antagonist sollte mit derselben Sorgfalt entwickelt werden wie der Protagonist, und das Handeln der beiden ist stets wechselseitig aufeinander zu beziehen.

BEISPIEL Zwei Männer werden Freunde

Sie möchten eine Geschichte schreiben über zwei Männer, die Freunde werden. Dann sollten Sie überlegen: Haben beide dasselbe Interesse an einer Freundschaft? Bemühen sie sich in gleicher Intensität umeinander? Wenn dem so ist, lässt sich kaum ein Konflikt entwickeln, die Spannung bleibt gering. Dramaturgisch sinnvoller wäre es, wenn sie zunächst Gegner sind, wenn zumindest einer von ihnen jeden Gedanken an Gemeinsamkeit vehement ablehnt. Und wenn sie sich schnell und problemlos annähern, muss das Ziel ein anderes sein. Dann kämpfen beide vielleicht als Freunde gemeinsam gegen eine andere Macht oder ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt, weil sie sich in dieselbe Frau verlieben.

TIPP Figurenpaare entwickeln

Auf einfache Weise lassen sich kontrastierende Figurenpaare entwickeln. Nehmen Sie als Ausgangspunkt die »Charaktere«, die der griechische Schriftsteller Theophrast in dem gleichnamigen Büchlein schildert. Es sind insgesamt dreißig Typen mit negativen Grundeigenschaften, zum Beispiel »Der Knausigre«, »Der Eitle« oder »Der Miesmacher«. Wählen Sie einen davon aus, bestimmen Sie einige Eigenschaften und entwerfen Sie dann dazu ein positives Gegenstück.4 »Der Zerstreute« ist nach Theophrast unter anderem zu faul zum Denken und Rechnen, vergisst Verabredungen und verlegt Dinge so, dass er sie nicht wiederfindet, tritt aus Schusseligkeit in alle möglichen Fettnäpfchen und würzt das Essen zweimal.

BEISPIEL Chaos-Caro und Ordnungs-Anna

Nehmen wir an, Caro ist so eine Frau, chaotisch und vergesslich, aber zugleich auch flexibel und spontan. Die Protagonistin wäre dann die ordentliche, zuverlässige und diskrete Anna, die allerdings weniger wendig als Caro ist. Wo lassen sich beide am besten zusammenbringen? Natürlich dort, wo diese Eigenschaften wichtig sind: im Beruf. Vielleicht arbeiten beide in der Marketingabteilung eines großen Unternehmens Schreibtisch an Schreibtisch. Was passiert, wenn sie erfahren, dass eine der beiden Stellen gestrichen wird, eine von ihnen also demnächst ihren Job verliert? Wer die überzeugendste Kampagne für die Einführung eines neuen Produkts entwickelt, darf bleiben. Natürlich ist Anna sicher, dass sie den Wettkampf gewinnen wird. Zunächst kann sie mit Sachwissen, Marktanalysen und der Auswertung von Statistiken punkten, während Caro zwar viele wilde Ideen hat, aber keine Struktur. Was passiert, wenn Annas Laptop mit allen Unterlagen plötzlich verschwindet? Oder wenn der Zeitplan umgestoßen wird und das Konzept viel eher fertiggestellt sein muss? Caro improvisiert, Anna ist wie gelähmt, dann mobilisiert sie ihre letzten Reserven. Sie arbeitet die Nacht durch, schläft am frühen Morgen vor Erschöpfung ein – und verschläft den Präsentationstermin. Caro stellt ein originelles, aber völlig unzureichendes Konzept vor. Beide werden entlassen, treffen sich zufällig und beschließen, ihre Fähigkeiten optimal zu vernetzen, indem sie sich gemeinsam selbstständig machen. Das wäre ein möglicher Ansatz, aber auch zahllose andere Geschichten lassen sich aus diesen unterschiedlichen Charakteren entwickeln.

Wichtige Mitspieler

Um den Protagonisten oder das Hauptfigurenpaar herum gruppieren sich weitere für die Erzählhandlung wichtige Mitspieler in mehr oder weniger großem Abstand. Manchmal stehen zwei Hauptfiguren nebeneinander auf der obersten Stufe, in der Regel nimmt aber eine von ihnen eine herausragende Position ein. Das gilt meist selbst dann, wenn die Lebenswege mehrerer Figuren parallel verfolgt werden, zum Beispiel die von drei gleichaltrigen Freundinnen oder von mehreren Geschwistern. So hat Tolstoi in »Anna Karenina« der unglücklichen Anna mit Konstantin Lewin einen auf seine Weise ebenfalls starken Protagonisten an die Seite gestellt, dessen Geschichte über weite Strecken des Romans ganz eigenständig erzählt wird. In den »Buddenbrooks« folgt Thomas Mann den Entwicklungen der Geschwister Tony, Christian und Thomas, wobei Thomas als dem Ältesten aber doch eine Sonderrolle zukommt. Wenn Sie mehrere Hauptrollen besetzen, ist es unumgänglich, zu jeder einen eigenen Handlungsstrang mit Zielsetzung und Konflikten auszuarbeiten.

Rangmäßig dicht unter den Protagonisten und – wenn vorhanden – den Gegenspielern stehen Figuren, die als Impulsgeber die Handlung überhaupt erst ins Rollen bringen, Katastrophen oder Kurswechsel auslösen, Probleme verstärken oder neue Situationen schaffen. Dazu gehören Freunde, Mitbewohner, Partner, Kollegen und Verwandte, die dem Helden so nahe stehen, dass sie sein Verhalten mit Ratschlägen, Hilfsaktionen oder Intrigen maßgeblich beeinflussen können. Zu erwähnen sind des Weiteren Gestalten, die die Folgen des Handelns der Hauptakteure direkt zu spüren bekommen wie beispielsweise das Mordopfer, der verlassene Freund oder die geheime Geliebte. Ein prägnantes Exempel ist die Figurenkonstellation in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, die dem Kräftespiel chemischer Elemente entspricht. Hauptfiguren sind zunächst Eduard und Charlotte, ein älteres Ehepaar, das ruhig und glücklich auf seinem Landgut lebt. Als Eduards Freund und Charlottes Nichte zu Besuch kommen, lösen sich bestehende Verbindungen auf und neue entstehen. Wichtige Gestalten in der Nähe der Hauptfigur sind auch Wronski, Crampas und Charlotte Buff als Objekte der Liebesbegierde von Anna Karenina, Effi Briest und Werther. Als treue Begleiter und Vertraute des Helden verbinden sich Adson von Melk mit William von Baskerville in »Der Name der Rose«, Sancho Pansa mit Don Quichotte und Mister Stringer mit Miss Marple.

Nebenfiguren

Eine gesonderte Kategorie bilden Nebenfiguren, die nur in einer spezifischen Funktion oder für eine bestimmte Aufgabe gebraucht werden. Als Diener oder Werkzeug haben sie an Schicksal und Entwicklung des Protagonisten allenfalls mittelbaren Anteil, ein Rollenwechsel ist allerdings möglich. Der Mann vom Schlüsseldienst ist eine Nebenfigur, wenn er der Hauptfigur die Tür öffnet, die Rechnung kassiert und wieder verschwindet. Wenn sich die Heldin aber sofort in ihn verliebt oder wenn er in ihr seine Exfrau erkennt, die ihm bei der Scheidung so übel mitgespielt hat, rutscht er in die Klasse der Mitspieler oder steigt sogar in die Rolle des Antagonisten auf.

Modell der »Archetypen«

Ein Modell der verschiedenen Figurenrollen orientiert sich an den »Archetypen« des Schweizer Psychiaters C. G. Jung. Das »Selbst« (der Protagonist) strebt nach Vervollkommnung, auf dem Weg dahin trifft es auf Widersacher, die als äußere oder innere Hindernisse, Schwierigkeiten, Kräfte oder Zustände auftreten können, aber auch als konkrete Personen. Dieser »Schatten«, also der Antagonist, kann die dunkle Seite des Helden sein, wie etwa bei Jekyll und Hyde, oder ein wirklicher Gegner, wie etwa Kain, der aus Neid zum Mörder seines Bruders Abel wird. »Anima« bzw. »Animus« verkörpern jeweils den gegengeschlechtlichen Anteil des Selbst. Dahinter kann sich zum Beispiel eine Hure, ein Heiratsschwindler oder Liebhaber verbergen, auf jeden Fall ein verführerischer Charakter, der für den Protagonisten gefährlich werden kann, wenn es ihm nicht gelingt, diesen Anteil an Sinnlichkeit und Sexualität in seine Persönlichkeit zu integrieren. Schließlich gibt es noch den »alten Weisen«, einen Freund oder Vertrauten wie Gandalf oder Merlin, der dem Helden mit Rat und Hilfe zur Seite steht, damit er den richtigen Weg zum Ziel findet.5

Zusammenspiel der Figuren

Wie werden die Figuren im Erzähltext kombiniert und wie spielen sie optimal zusammen? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, denn für jede Geschichte gibt es eine ganz spezifische Mischung. Wichtig sind Aspekte wie Gegensatz, Variation, Farbigkeit und Vielstimmigkeit, das heißt, die Figuren müssen in Rang, Bedeutung, Funktion und Charakter deutlich unterscheidbar sein. Stehen mehrere Gestalten im Zentrum, sollten es kontrastreiche Typen sein, also zum Beispiel die Schüchterne, die Pragmatische, die Schrille, und nicht etwa die Schüchterne, die Stille, die Zögerliche. Sie sollten aus unterschiedlichen Milieus stammen, unterschiedliche Ansichten von der Welt und unterschiedliche Ziele haben oder aber diese auf unterschiedlichen Wegen erreichen wollen. Bei den »Buddenbrooks« wird jede der vier Generationen von einem Mitglied der Kaufmannsfamilie verkörpert und repräsentiert zugleich eine historische Epoche: angefangen vom alten Johann Buddenbrook, der mit seinem Faible für Flötenspiel und Gelegenheitslyrik die Phase der Aufklärung vertritt, über Jean (Pietismus) und Thomas (Idealismus) bis hin zu Hanno Buddenbrook (Romantik).6 Auch innerhalb einer Generation gilt das Prinzip der Variation. Thomas und seine drei Geschwister sind als Charaktere ebenfalls deutlich differenziert. Während der konservative Älteste die Familientraditionen unter größten Anstrengungen erhalten will, führt Christian das unstete Leben eines Exzentrikers mit Hang zur Boheme, Tony weigert sich, wirklich erwachsen zu werden, und die stille, zurückhaltende Clara bleibt ganz im Schatten der Geschwister und stirbt früh.

Reale und fiktionale Figuren

Auf der Suche nach einem Helden für ihren Roman werden viele Autoren schnell fündig: bei sich selbst. Auf den ersten Blick eine verlockende Vorstellung, denn schließlich kennt man sich selbst am längsten und am besten. Hat nicht eine Freundin neulich voller Bewunderung gesagt: »Was du schon alles erlebt hast, da könntest du glatt einen Roman draus machen«? Und gibt es nicht das Familiengeheimnis, das man aufdecken, oder das traumatische Erlebnis, das man sich endlich von der Seele schreiben möchte? Gute Gründe genug, so mag es scheinen, sich selbst in den Mittelpunkt eines Erzähltextes zu stellen. Doch bei näherer Betrachtung werden die Fallstricke der realen Figuren sichtbar.

Zunächst einmal: Es fällt verdammt schwer, sich selbst und die Motive des eigenen Handelns wirklich zu erkennen, die blinden Flecken in der Biografie aufzuspüren, ehrlich zu sich selbst und den Lesern zu sein. Außerdem ist das eigene Erleben vielleicht manchmal romanhaft, aber nicht unbedingt auch romantauglich. Krieg, Vergewaltigung, Missbrauch und weitere schreckliche Erfahrungen können das Leben des Einzelnen prägen, erschüttern und zerstören. Therapeutisches Schreiben kann in solchen Fällen ausgesprochen hilfreich sein. Aber aus einem emotional stark belastenden Stoff einen Roman zu gestalten, führt leicht zu einer Überforderung. Oft fehlt es an der Distanz, manchmal auch an den sprachlich-stilistischen Mitteln, die nötig sind, um dem eigenen Erleben eine unverwechselbare literarische Form zu geben.

Wie schwer der Schritt weg von der Realität und hin zur Fiktion fällt, lässt sich zuweilen in Seminaren zum literarischen Erzählen beobachten. In der Diskussion eines Textes werden Einwände gegen die Glaubwürdigkeit erhoben, und die Autorin antwortet: »Aber genauso ist es doch gewesen.« Und manchmal wird der Schreiber gefragt: »Haben Sie das wirklich alles selbst erlebt?« oder bedauert: »Schrecklich, was Sie alles erleiden mussten.« In einem Seminar zum autobiografischen Schreiben wären sowohl die Verteidigung der Autorin als auch die Neugier und das Mitgefühl der Zuhörer zulässig, aber eben nicht im Gespräch über fiktionale Texte und damit über fiktive Figuren.

Romanfiguren sind fiktional

Die Figuren einer Erzählung oder eines Romans sind grundsätzlich als erfundene zu betrachten. Ihr Handeln muss glaubwürdig, überzeugend und wahrhaftig sein, es muss nicht wahr im Sinne von wirklich geschehen sein. Das gilt übrigens selbst dann, wenn die Hauptfigur denselben Namen trägt wie die Autorin. Ein solches Verwirrspiel hat zuletzt Felicitas Hoppe mit den Lesern getrieben. Ihr Roman »Hoppe« kommt als fingierte Biografie daher: Die Autorin Felicitas Hoppe schildert das Leben einer Frau namens Felicitas Hoppe.

Das schließt keineswegs aus, Elemente der eigenen Biografie zu verwenden. Oft geben Autoren selbst Auskunft über Bezugspunkte zum eigenen Leben oder man kann solche Hinweise in biografischen Quellen entdecken. Doch wenn ein Text als Roman oder Erzählung ausgewiesen ist, hat der Leser keinen Anspruch darauf, zu erfahren, wie und in welcher Weise wirkliches Leben literarisch verwendet, verwandelt und verfremdet worden ist. Das ist der entscheidende Unterschied zu einem autobiografischen Text, in dem die Authentizität des Dargestellten vorausgesetzt wird. Als zum Beispiel publik wurde, dass die Reisejournalistin Ulla Ackermann entscheidende Passagen ihrer Autobiografie frei erfunden hatte, nahm der Verlag das Buch sofort vom Markt.7 Autobiografien und Erfahrungsberichte, alle Texte also, die eine Identität von Autor und erzählendem Ich aufweisen, haben einen dokumentarischen Wert, sie überzeugen den Leser in erster Linie durch die Echtheit des Erlebten. Die Anforderungen an die ästhetische und dramaturgische Gestaltung sind dagegen weniger hoch als in der Belletristik, denn solche Texte gehören zur Sachliteratur.

Trotzdem gilt natürlich: Fiktionale Texte sind immer mehr oder weniger stark von der Persönlichkeit ihres Schöpfers geprägt. Das beginnt bei der Wahl des Stoffes und der Figuren, setzt sich bei deren psychologischer Ausstattung fort und zeigt sich schließlich auch in der Sprache. Entscheidend ist, dass man sich von der Wirklichkeit zu lösen vermag, dass man es versteht, eigene Erlebnisse und Erfahrungen für das künstlerische Werk dienstbar zu machen.

Ebenfalls nicht unproblematisch ist es, Personen aus der Familie, dem Freundes- oder Kollegenkreis als Grundlage literarischer Figuren zu nehmen. Parteilichkeit und Befangenheit können zur Folge haben, dass sie unglaubwürdig wirken. Eugen Ruge erklärte in einem Interview, dass er seinen Familienroman »In Zeiten des abnehmenden Lichts« erst schreiben konnte, nachdem wichtige Personen gestorben waren: »Aber selbst wenn man Menschen umerfindet, wenn man literarische Figuren aus ihnen macht (und das ist übrigens notwendig, um überhaupt schreiben zu können) – selbst das ist viel leichter in dem Augenblick, in dem sie als lebendige Vorbilder nicht mehr da sind.«8

Befangenheit und daraus resultierende Unehrlichkeit sind ein großes Problem bei der Umwandlung realer Personen in literarische Figuren, denn leicht drängen sich beim Schreiben Fragen in den Vordergrund wie: Wird sie sich wiedererkennen? Wie wird er reagieren, wenn er liest, was ich von ihm halte? Wird sie verstehen, dass ich einige ihrer Eigenschaften erfunden habe? Was darf ich schreiben, welche Details sind zu intim? Habe ich die Person ausreichend verfremdet?

Noch problematischer wird es, wenn der Autor gerade erreichen möchte, dass sich die reale Person in der Figur wiedererkennt. Mir sind vereinzelt Autoren begegnet, die sich mit Mitteln der Literatur rächen wollten. Sie hofften, wenn sie in ihrem Roman schildern, dass der Vater sich nie um sie gekümmert, die Kollegin sie gemobbt oder die beste Freundin sie hintergangen hat, würden die Betroffenen selbst ihr Unrecht erkennen und alle anderen Leser diese Person verachten. Ein solcher Plan wird nicht aufgehen, weil ein Roman eben üblicherweise nicht biografisch gelesen wird. Figuren, die an den Pranger gestellt werden sollen, erzeugen oft keine Ablehnung, sondern Mitleid.

Persönlichkeitsschutz kontra Kunstfreiheit

Wenn sich reale Personen in literarischen Figuren wiedererkennen, kann das schwerwiegende juristische Folgen haben. Es besteht die Möglichkeit, gegen den Verlag zu klagen, um zu erreichen, dass die entsprechenden Passagen geschwärzt werden oder das Buch vom Markt genommen wird. Die Gerichte müssen zwischen Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit abwägen. Ein bekanntes Beispiel ist der Streit um den Roman »Esra« von Maxim Biller. Eine ehemalige Geliebte und deren Mutter waren der Meinung, sie seien trotz geänderter Namen identifizierbar, und nach einer mehr als sechs Jahre dauernden Auseinandersetzung, die bis vor das Bundesverfassungsgericht führte, konnten sie ihre Position durchsetzen. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.9 Dass der Schutz der Persönlichkeit selbst mit dem Tod des Dargestellten nicht endet, zeigte die Kontroverse um Klaus Manns Schlüsselroman »Mephisto«, der zeitweise verboten wurde, weil ein Erbe von Gustaf Gründgens seine Auffassung durchsetzen konnte, der Schauspieler und Regisseur sei darin verleumdet worden.

Wenn Sie – aus welchem Grund auch immer – aus realen Menschen literarische Figuren machen wollen, sollten Sie darauf achten, keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Allein der Hinweis »Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre reiner Zufall« reicht als Absicherung nicht aus. Insbesondere, wenn Menschen kritisch oder negativ dargestellt werden, sollte das Vorbild unkenntlich sein. Ändern Sie Namen, Geschlecht, Beruf, Wohnort und Alter, erwähnen Sie keine exklusiven Positionen, Ämter, Auszeichnungen oder Ähnliches, die eine Identifizierung erlauben. Am klügsten ist es, Charaktere zu entwickeln, in denen sich die Eigenschaften verschiedener realer Menschen mit erfundenen vermischen. Je weiter Sie sich von biografischen Grenzen entfernen, desto mehr Vergnügen werden Sie an der Freiheit finden, Figuren zu kreieren, die nur Ihnen und Ihrem Erzählzweck verpflichtet sind, sonst niemandem.

Nicht menschliche Figuren

Dinge als Helden

Es war einmal ein feiner Kavalier, dessen ganzer Hausrat aus einem Stiefelknecht und einer Haarbürste bestand. Aber er hatte den schönsten Halskragen der Welt und von diesem Kragen werden wir eine Geschichte hören. Er war jetzt so alt, dass er daran dachte, sich zu verheiraten, und da traf es sich, dass er mit einem Strumpfband in die Wäsche kam.

»Nein!«, sagte der Kragen. »Etwas so Schlankes und so Feines, so Weiches und so Allerliebstes habe ich wahrhaftig noch nie gesehen! Darf ich mich nach Ihrem Namen erkundigen?«10

Zum Handlungsträger eines Erzähltextes kann nahezu alles werden. Hans Christian Andersen erzählt in seinem Märchen »Der Kragen« aus dem Leben eines ziemlich prahlsüchtigen Vertreters dieser Art. Weder das schüchterne Strumpfband, noch Plätteisen, Schere oder Haarbürste haben Lust, den aufdringlichen Verehrer zu erhören. Das hält den Kragen allerdings nicht davon ab, sich später – als er unter die Lumpen gerät – mit seinen angeblichen Liebschaften zu brüsten. Andersen ist ein Meister des Dingmärchens und hat auch Teekanne, Feuerzeug, Schneemann und Zinnsoldat zum Leben erweckt. In Geschichten von Franz Hohler11 spielen Tiefkühltruhe und Briefkasten tragende Rollen. Und dass sogar Militär- und Müllroboter oder Autos das Zeug zu Helden haben, zeigen Trickfilme über Nummer 5, WALL•E oder den »tollen Käfer« Herbie.

Tiere als Helden im Märchen

Tiere treten besonders häufig in der Kinderliteratur, in Märchen und Fabel auf. Im Märchen löst es weder Erstaunen noch Verwirrung aus, wenn sie über menschliche Fähigkeiten wie Sprache und Bewusstsein oder über Zauberkräfte verfügen. Manchmal agieren ausschließlich Tiere, sehr häufig steht ein Konflikt zwischen zwei von ihnen im Mittelpunkt. Dabei erringt der von Natur aus Unterlegene durch List und Klugheit den Sieg über den eigentlich Stärkeren. Ein Beispiel dafür ist das Grimmsche Märchen »Hase und Igel«, in dem der Igel mithilfe seiner Frau den hochnäsigen Hasen beim Wettrennen schlägt. In einer zweiten Variante zeigen sich Tiere als Helfer und Begleiter von Menschen. Zumeist sind es die vermeintlich Dummen, Missachteten oder Zurückgesetzten, denen sie sich besonders verbunden fühlen: In »Der gestiefelte Kater« gelingt es der pfiffigen Samtpfote, den um sein Erbe betrogenen jungen Mann der Gunst des Königs zu empfehlen und ihm eine Prinzessin als Braut zu gewinnen. Typisch sind auch Verwandlungen vom Menschen zum Tier oder umgekehrt. Ein bekanntes Beispiel solcher Metamorphose ist »Der Froschkönig«.

Tiere in der Fabel

In der Fabel dagegen spiegeln die tierischen Protagonisten menschliche Verhaltensweisen wider. Abstrakte moralische Botschaften oder einzelne (meist negative) Eigenschaften wie Hass, Neid oder Eitelkeit werden versinnbildlicht. Sowohl im Märchen wie in der Fabel sind die Charaktere typisiert und eindimensional: der böse Wolf, der listige Fuchs oder das naive Lamm.

Naturalistische und vermenschlichte Darstellung

In Romanen und Erzählungen ist zwischen naturalistischer und vermenschlichter (anthropomorphisierter) Darstellung zu unterscheiden. Tiere wie Lassie, Fury, Flipper oder Moby Dick werden verhaltensbiologisch artgemäß in ihrer natürlichen Lebensumwelt gezeigt und fungieren als Helfer oder Gegenspieler des menschlichen Protagonisten. Häufig fühlen sich die Autoren ganz ausdrücklich dem Tierschutzgedanken verpflichtet. Das gilt beispielsweise für Jack London, dessen Mischlingshund Buck aus »Ruf der Wildnis« sich allein vom Instinkt geleitet zum Anführer eines Wolfsrudels entwickelt.

Vermenschlichte Tiere und Gegenstände sind menschlichen Figuren grundsätzlich gleichgestellt, denn sie können Erzählhandlungen initiieren und vorantreiben. Der Grad der Anthropomorphisierung kann verschieden sein. Es gibt Tiere, die sich biologisch artgerecht verhalten, aber über menschliches Bewusstsein und Sprache verfügen, und andere, die selbst in Haltung, Kleidung, Nahrung und Wohnung menschliche Gepflogenheiten übernommen haben. So verbleibt der Kragen in Andersens Märchen in seinem Umfeld, er wird gewaschen und gebügelt, im Alter zu den Lumpen geworfen und schließlich zu Papier verarbeitet. Weitgehend in die menschliche Gesellschaft integriert erscheinen dagegen die Protagonisten in Erich Kästners »Konferenz der Tiere«. Der Löwe Alois, der Elefant Oskar und das Giraffenmännchen Leopold führen das Leben ganz normaler Kleinbürger. Sie treffen sich zum Abendschoppen, telefonieren, lassen sich frisieren und maniküren, packen die Koffer und reisen mit Flugzeug und Bahn. Aus dieser Übertragung resultieren Witz und Charme des Buches. Ein weiteres Beispiel ist der Roman »Ich bin hier nur die Katze« von Hanna Johansen, in dem die Komik aus dem mit dem Rollentausch verbundenen Perspektivwechsel entsteht: Der Mensch wird mit den Augen des Tieres wahrgenommen. Viele originelle Ideen finden sich auch in dem Entwicklungsroman »Das Tao des Hamsters« von Heike Hoyer, der einen Goldhamster auf der Sinnsuche begleitet.

Wirkung der Vermenschlichung

Der humoristische Effekt, der sich ergibt, wenn Tiere oder Dinge vermenschlicht werden, ist ein wesentlicher Grund dafür, dieses Verfahren zu nutzen. Funktionieren kann es jedoch nur, wenn die Protagonisten die ursprüngliche Gestalt und einige typische Eigenheiten beibehalten. So benutzt der Elefant bei Kästner ein Taschentuch, das »vier Meter lang und vier Meter breit« ist. Für die Katze bleibt der Hund weiterhin gefährlich, und der Hamster, der sich dem Fluss des Lebens anvertraut, schätzt wie eh und je Möhren und Haferflocken.

Speziell in der Kinderliteratur haben Tiere als Handelnde eine weitere wichtige Aufgabe: Kinder fühlen sich zu ihnen hingezogen, entwickeln Vertrauen und sehen sich auf Augenhöhe mit ihnen. Vereinfachte, auf einzelne Eigenschaften hin konzipierte Tiercharaktere bieten leicht eingängige Modelle für die individuelle Entwicklung und soziales Handeln. Es gilt jedoch auch: Mit Tieren werden sich Leser nie vollständig identifizieren. Die Verfremdung führt zu einer Distanz, aus der heraus das gezeigte Verhalten reflektiert werden kann. Das kann manchmal durchaus gewünscht sein. Der »böse« Wolf im Märchen wirkt weit weniger bedrohlich als ein gewalttätiger Erwachsener in der realistischen Literatur.

Mischwesen

Nicht Mensch, nicht Tier oder sowohl als auch sind Geist-, Misch-, Zauber- und Naturwesen wie Elfen, Nixen, Drachen, Chimären, Zyklopen, Wolpertinger und zahllose andere Gestalten,12 die vor allem die Fantasy bevölkern. Viele sind mythologischer Herkunft, sodass Sie auf überlieferte Eigenschaften und Fähigkeiten zurückgreifen können. Zwerge gelten oft als listig und tückisch, Elfen haben gewöhnlich spitze Ohren, sind zart und anmutig. Solche Zuschreibungen sind auch ein guter Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen, Variationen und Kontrastbildungen. Warum nicht mal einen freundlichen Drachen oder eine hinterhältige Fee erfinden? Ansonsten sind dieselben Aspekte wie bei der Gestaltung von Tieren oder Gegenständen zu beachten. Um als Protagonist zu überzeugen, muss auch das fantastische Wesen menschliche Züge tragen. In Nebenrollen können skurrile, fremdartige Gestalten mit speziellen Kräften für Chaos, Entsetzen und Verwirrung in wohlgeordneten Welten sorgen.

Kapitel 1: Das Wichtigste in Kürze

2. Figuren im Erzählprozess

Figuren und Plot

Manchem fällt es schwer, gewissermaßen aus dem Stand heraus Figuren zu erfinden. Insbesondere Autoren, die ihren ersten längeren Prosatext planen, konzentrieren sich oft ganz auf die Entwicklung des Themas. Das ist verständlich, kann aber im Schreibprozess später zu Problemen führen, denn eines ohne das andere zu tun, führt nicht sehr weit. Handlung und Figuren sind immer ganz eng aufeinander bezogen und beeinflussen sich wechselseitig. »Plotten« bedeutet nichts anderes, als die Abfolge der Handlungen der Figuren und deren Motive festzulegen. »Im Wesentlichen ist der Plot das, was die fiktiven Figuren tun, um mit einer neuen und überraschenden Situation fertig zu werden.«13 Womit man beginnt, ist im Grunde egal. Manchmal steht am Anfang eine Figur, die unbedingt zum Helden taugt, dann folgen die Überlegungen, welche Abenteuer sie zu bestehen und welche Krisen sie zu meistern hat, an zweiter Stelle. Manchmal ist es umgekehrt: Eine Idee oder ein Thema drängt sich in den Vordergrund, die Figuren werden passend dazu entworfen. In jedem Fall aber gilt: Überzeugende Figuren können eine schlichte Handlung beträchtlich aufwerten, sodass am Ende ein lesenswerter Roman entsteht. Sind die Charaktere dagegen blass und schwammig, können sie selbst einen sorgsam ausgetüftelten Plot ruinieren. Denn es sind immer die Figuren, die einen Leser in die Geschichte ziehen – oder eben nicht.

BEISPIEL Eine erste Idee

Am Beginn der Planung meines historischen Kriminalromans »Abt Jerusalem und die Hohe Schule des Todes« standen ein Schauplatz und ein Ereignis: Das Collegium Carolinum in Braunschweig, eine Hochschule, in der 1750 angeblich ein Gespenst sein Unwesen trieb. Selbst Professoren wollten es gesehen haben und fertigten ausführliche Berichte darüber, die ich nutzen wollte. Meine Überlegungen waren zunächst: Wie lässt sich die Gespenstererscheinung mit einem Mordfall verbinden? Wer sollte der Täter sein? Wer sollte den Fall aufklären?

Von der ersten Idee aus führt der Weg also schnell weiter zu den Figuren, deren Verhältnis zur Handlung zwiespältig ist. Einerseits sind sie Diener der Geschichte, sie sollten immer mit Blick auf die Erfordernisse der Erzählhandlung entwickelt werden. Welche Eigenschaften einer Figur bedeutsam und welche überflüssig sind, ergibt sich aus den Anforderungen des Plots. So kann die körperliche Erscheinung eines Mörders unwichtig sein. Soll er aber die Leiche über eine größere Strecke tragen, muss er kräftig und durchtrainiert sein, das Opfer dagegen eher zierlich. Andererseits bedingt der Charakter einer Figur deren Handeln. Eine Figur kann nur im Rahmen der ihr zugewiesenen Fähigkeiten agieren.

BEISPIEL Die Figur bestimmt die Handlung

Ich habe mit dem Studenten Friedrich Bosse einen ängstlichen, introvertierten jungen Mann als Ermittler entworfen, der Gedichte und Schauspiele schreibt und als Dichter Erfolg haben möchte. Er würde sich nicht, wie etwa Agatha Christies Heldin Miss Marple, aus purer Neugier auf Mördersuche begeben. Deshalb musste ich ein starkes persönliches Motiv finden. Bosse beginnt nur deshalb mit Nachforschungen, weil der Tote sein bester Freund gewesen ist und er selbst verdächtigt wird, ihn umgebracht zu haben. Hätte ich den jungen Mann mit anderen Charakterzügen ausgestattet, hätte er ganz anders agieren können. Wie hätte sich wohl die Geschichte der Effi Briest entwickelt, wenn sie nicht als stille und duldsame Frau, sondern als leidenschaftlich Liebende gestaltet worden wäre?

Dass die ersten Schritte, die man in ein neues Schreibprojekt wagt, tastend und noch etwas wacklig sind, ist völlig normal. Plot und Figuren wachsen langsam heran, werden ständig verfeinert und weiter differenziert, wobei Sie sich auch für längere Zeit ganz auf das eine, dann auf das andere konzentrieren können. Doch wer bisher auf das Thema fixiert war und die Figurenentwicklung vernachlässigt hat, dem empfehle ich, ganz bewusst von der Figur aus zu denken, denn deren Erleben, Empfinden und Handeln ist der Dreh- und Angelpunkt eines jeden Erzähltextes. Stellen Sie also nicht das abstrakte Thema in den Vordergrund: Der Roman handelt von der zerstörerischen Kraft überholter Ehrbegriffe, sondern die Hauptfigur: Der Roman handelt von einer jungen Frau, die versucht, ihrem eintönigen Alltag in Hinterpommern durch eine Affäre etwas Glanz zu verleihen.

Wann überzeugen Figuren?

Sicher haben auch Sie schon die Erfahrung gemacht, dass es literarische Figuren gibt, die sehr lange im Kopf präsent bleiben. Figuren, die tief beeindrucken und uns manchmal das ganze weitere Leben begleiten. Für mich gehören Harry Potter und Pippi Langstrumpf ebenso dazu wie Anna Karenina und Effi Briest, Werther und Josef K. Warum ist das so? Warum faszinieren uns manche Figuren mehr als andere?

Kollektive Vorstellungen

Eine mögliche Erklärung greift auf Kategorien der Analytischen Psychologie zurück, die C. G. Jung entwickelt hat, und von denen bereits die Rede war (Kapitel 1). Jung stellte fest, dass in den Träumen von Menschen immer wieder die gleichen Urbilder erscheinen, und zwar ganz unabhängig vom jeweiligen kulturellen Kontext. Diese »Archetypen« verkörpern »kollektive Wunsch- und Angstvorstellungen« des Unbewussten. Dieses Modell lässt sich auf die Wirkung literarischer Figuren übertragen. Protagonisten überzeugen demnach, wenn sie so handeln, »dass es den Leser in seinem Unterbewusstsein an diese Erfahrungen erinnert, die Tausende seiner Vorfahren vor ihm gemacht haben«.14