Das Copyright © der Übersetzung des Werkes samt seiner Vorwörter, Nachwörter und des Glossars liegt bei Rui von Angern.
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Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 978-3-7357-3167-8
Nach längerem Überlegen und Abwägen habe ich mich zuletzt doch entschlossen, die kritischen Anmerkungen des Professors Vitorino Nemésio mit dem eigentlichen Text mitzuübersetzen; dies geschah einerseits um Lesern in Deutschland, die meist mit der Portugiesischen Literatur kaum vertraut sind (von der Literatur des 19. Jahrhunderts einmal ganz zu schweigen), eine Einordnung des Werkes von Herculano zu ermöglichen und sie mit einer historischen und zeitgenössischen Kritik des Werkes bekannt zu machen, das zur Zeit seiner ersten Erscheinung (1843) von Begeisterungsstürmen seiner Liebhaber bis zu Verrissen durch die ebenfalls vorhandenen Kritiker die ganze Breite der literarischen Bewertungen erfahren mußte. Kein anderer als Herr Professor Nemésio, der in Portugal eine Art von Literaturpapst ist wie in Deutschland Herr Marcel Reich-Ranicki, wäre für diese Aufgabe besser geeignet, und ich könnte in Anlehnung an Alexandre Herculano ausrufen: „Gott bewahre mich davor, ein Thema, über das bereits so oft disputiert wurde, das von denjenigen, die das Wissen von und über die Literatur mit Löffeln gefressen haben, nochmals zu debattieren“. Dazu fühle ich mich durch meinen Werdegang auch nicht berufen. Andererseits gestattet mir diese Vorgehensweise, ohne jegliche eigene Verantwortung für ein Gebiet, das mich nie besonders interessiert hat, einige zusätzliche Gedanken beizusteuern und mich auf die Entstehungsgeschichte dieser Übersetzung zu beschränken.
Ich las dieses Buch zum ersten Male im Alter von etwa 14 oder 15 Jahren, also vor nun schon über 40 Jahren; ich las es natürlich im Original, so wie ich viele andere Werke der Portugiesischen, Spanischen und Französischen Literatur gelesen habe. Die Sprache machte mir keine Schwierigkeiten, denn ich las und „verstand“ ohne übersetzen zu müssen. Es fiel mir nicht auf, daß der Stil etwas gedrechselt war (heute würde man in Deutschland vielleicht sogar: manieriert dazu sagen); aber in der Literatur der romanischen Sprachen zeigt der Autor immer gern, daß – und was – er weiß. Da ich mit Vorliebe Walter Scott, J. Eichendorff, E.T.A. Hoffmann, Victor Hugo und F. Dostojewski aber natürlich auch Almeida Garrett und Alexandre Herculano las, fiel mir diese Besonderheit gar nicht auf. Ich erfreute mich einfach der schönen Sprache und der mächtigen Bilder, und auch der Zwang, unter dem die Menschen früherer Generationen sicherlich gestanden haben, leuchtete mir ein, ohne daß ich ihn hinterfragt hätte.
Damals, an der Deutschen Schule in Lissabon, hatte ich einen Lehrer, Herrn Dr. Rudolf Lind, der sich bereits damals einen guten Namen als Romanist und Übersetzer zu machen begann, bevor er später zum Professor ernannt wurde. Diesem Mann verdanke ich nicht nur sehr schöne Erinnerungen an die unter seiner Ägide stattfindenden Fächer (Geschichte, Französisch und Latein), sondern letztlich auch den Ansporn zu der vorliegenden Übersetzung; denn er „empfahl“ mir damals, doch einmal ein Werk eines Autors (er dachte damals sicher an einen französischen Autor) zu übersetzen, weil mein Sprachempfinden gut entwickelt sei.
Doch es kam anders; ich studierte zunächst naturwissenschaftliche Fächer, wurde als Dozent für Sport und terrestrische und astronomische Navigation tätig, bevor ich mich mit Informatik beschäftigte und einige Jahre als Dozent für Netzwerktechnologien wirkte.
Dann kamen ein Herzinfarkt und ein Umzug, bei dem mir die alten Bücher wieder in die Hände fielen, die ich damals noch auf einem Basar der Schule billig von meinem knappen Taschengeld als Schüler erstehen konnte, weil sie wegen einer Rechtschreibereform (sic!) obsolet geworden waren, die unserer zwar viele Jahre voran ging, aber genau so überflüssig war, weil sie als Erleichterung für diejenigen vorgesehen war, die ohnehin kaum je zu einem Buche greifen. Auch aus diesem Grunde ignoriere ich bei dieser Übersetzung die neue Orthographie, die die Wurzeln vieler Wörter oft nicht nur verschleiert, sondern sogar verfälscht und antihistorisch ist.
Diese Umstände führten dazu, daß ich mich jener „Empfehlung“ erneut erinnerte. Auch gewann gerade die „arabisch–moslemische Frage“ seit den Ereignissen des 11.9.2001 eine erneute Aktualität. Nachdem die Türken im 17. Jahrhundert vor Wien gestanden hatten und nun vor Brüssel wieder anklopften, fand ich, daß das Thema der ersten Besetzung Europas vom Südwesten her, die im frühen achten Jahrhundert stattfand und in Mitteleuropa kaum wahrgenommen wurde, weil die Pyrenäen eine Art von Abkapselung des übrigen Europa von der iberischen Halbinsel nahelegten, eine gebührende Beachtung verdiente. Warum allerdings der Historiker und Dichter Alexandre Herculano die Datierung der Ereignisse, die um 711 mit der Besetzung des „Calpe“ begannen auf das Jahr 749 verlegt, ist mir ein Rätsel und wird nur angemerkt, weil keiner der Literaturkritiker bisher offenbar an dieser historischen Genauigkeit interessiert zu sein schien. In Texten, die wie das 1842 erschienene Fragment „A Batalha do Chryssus 711“ („Die Schlacht von 711 am Chrissus“) vor der Veröffentlichung des „EURICO“ entstanden, war das historische Datum allerdings korrekt angegeben.
Bei der Übersetzung merkte ich erst, wie schwer die Übersetzung eigentlich war; denn ich war gezwungen, nicht nur mit einer ganz anderen Syntax zu kämpfen, sondern auch mit der speziellen Sprache Herculanos, die in vielem vom Standard-Portugiesisch abweicht. Ich hoffe, nicht nur die sprachliche „Wucht“ seines Ausdrucks mitsamt seinem Inhalt getreulich übertragen zu haben, sondern auch noch einen deutschen Text dabei hergestellt zu haben, den ein nicht von „PISA“ geschädigter Leser flüssig und genußvoll lesen kann. Dies jedoch zu beurteilen, kann ich nur dem „geneigten“ Leser überlassen, besonders, wenn er der Portugiesischen Sprache ebenfalls mächtig ist und sich das Vergnügen leisten möchte, die Übersetzung mit dem Original zu vergleichen.
Als vielleicht anregenden Gedanken bei der Lektüre dieses Buches möchte ich dem Leser empfehlen, die folgenden unterschiedlichen Ansatzpunkte im Auge zu behalten:
„Am Anfang war das Wort“, so tradiert es die Bibel der Christen.
„Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß Deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh´ ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“,
so spinnt der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe als Mensch des rationalen Zeitalters diesen Gedanken weiter.
Und als Dichter der Romantik kann Herculano eigentlich gar nicht anders, als den Schwerpunkt von dem Logos über die Tat zum Gefühl hin zu verschieben:
„Prüfe das Gewissen wohl und sage mir, welcher für reine und edle Herzen der stärkste Antrieb ist, dem weder das Verlangen nach Macht, nach Reichtum oder Ruhm widerstehen kann. Es gibt nur einen – die Frau: sie ist das Endglied aller unserer Träume, aller unserer Hoffnungen, aller unserer Wünsche. Für den, der auf der Erde diejenige getroffen hat, die er immerwährend lieben soll, diejenige, die die Realität des Idealtypus verkörpert, den er seit der Wiege in seiner Seele eingegraben mit sich trägt, ist das Ziel seiner höchsten Leidenschaften die himmlische Aureole, die die Stirn der Jungfrau umkränzt, die das Idol seiner Anbetung ist. Für den, der sozusagen in den Einsamkeiten der Welt verloren herumirrt, weil er den Polarstern seiner Existenz noch nicht gefunden hat, den Stern, der ihm die Nacht des Herzens erleuchten wird wie die Sonne mit ihren ersten Strahlen die Dunkelheit eines Tempels erhellt, für den ist die Frau eine verschwommene und verwirrte aber auch schöne und liebevolle Vorstellung. Er kennt sie nicht, weiß nicht, wo das sichtbare Bild der Tochter seiner Vorstellungskraft zu finden sei, und dennoch begehrt er den Ruhm, die Macht und den Reichtum nur, um in ihr zu Füßen legen zu können. Nehmt die Frau aus der Welt heraus, und der Ehrgeiz wird aus allen edelmütigen Seelen verschwinden.
Wirklichkeit oder unsichere Begierde, die Liebe ist das ursprüngliche Element der inneren Tatkraft, sie ist die Ursache, das Ende und die Zusammenfassung aller menschlichen Affekte.“
Ich wünsche zum Schluß allen viel Lesespaß, denen dieses sicher nicht in großer Auflage erscheinende Buch in die Finger gerät und bedanke mich sehr herzlich bei meiner Frau, die während der zahlreichen Stunden der Arbeit am Eurico sehr viel Verständnis und Verzicht aufbringen mußte.
Die Kritik Vitorino Nemésios befindet sich – um dem Leser zunächst ein unbefangenes Herangehen an den eigentlichen Text zu ermöglichen – im Anhang.
Berlin, im März 2005
EURICO
DER PRESBYTER
von
ALEXANDRE HERCULANO
Aus dem Portugiesischen übersetzt von
Rui Freiherr von Angern
Meinem Sohn, Julian, meinen Neffen, Christian
und Hendrik, gewidmet und den vielen anderen,
deren Kenntnisse der Portugiesischen Sprache
zur Lektüre des Originaltextes leider nicht
ausreichen.
Mit Illustrationen von B.Th. Hoffmann
Für die Gemüter, von denen ich nicht weiß, ob ich sie als übertrieben selbstsicher oder als übertrieben plump bezeichnen soll, gilt der Zölibat des Priesteramtes als nicht mehr als ein Umstand, als eine soziale Vorschrift, die auf eine gewisse Klasse von Individuen angewandt wird, deren Existenz sie auf der einen Seite vorteilhaft verändert und nachteilig auf der anderen. Das Nachdenken der gewöhnlichen Geister über den Zölibat endet an dieser Stelle. In den Augen derer, die die Dinge und die Menschen nur nach ihrer sozialen Nützlichkeit bewerten, wird diese Art häuslicher Vereinsamung des Priesters, dieser indirekte Verzicht auf die reinsten und heiligsten Gefühle, die für die Familie, von einigen als dem Interesse der Nationen entgegengesetzt verurteilt und als schädlich für die Sittlichkeit und die Politik erachtet, während sie von anderen als nützlich und moralisch verteidigt wird. Gott bewahre mich davor, ein Thema, über das bereits so oft disputiert wurde, das von denjenigen erschöpfend behandelt wurde, die das Wissen von der Welt und das himmlische Wissen besitzen, nochmals zu debattieren. Ich, für meinen Teil, habe als unbegabter Redner immer nur unter dem Aspekt der Empfindungen an den Zölibat gedacht und stand dabei unter dem Einfluß des sonderbaren Eindrucks, den von frühester Kindheit an der Gedanke an die unabänderliche Einsamkeit der Seele in mir hervorrief, zu der die Kirche ihre Amtsträger verurteilt hat, eine Art von geistiger Amputation, durch die für den Priester die Hoffnung erstirbt, seine Existenz auf der Erde zu ihrem Ende hinzuführen. Stellen Sie sich alle Freuden, alle Tröstungen vor, die die himmlischen Bilder und der lebendige Glaube erzeugen können – Sie werden herausfinden, daß sie keinen Ersatz für die traurige Leere der Einsamkeit des Herzens darstellen. Geben Sie den Leidenschaften alle Glut, zu der Sie fähig sind, den Freuden eine tausendfache Intensität, den Sinnen ein Maximum an Energie und verwandeln Sie die Erde in ein Paradies; entfernen Sie nun die Frau von ihr, und die Welt wird zu einer schwermütigen Einöde, alle Wonnen nur ein Vorspiel zur Langeweile sein. Oftmals – es ist wahr – sinkt sie, von uns herabgezerrt, in den schmutzigen Morast der äußersten moralischen Verdorbenheit; viel öfter jedoch rettet sie uns vor uns selbst und drängt uns durch ihre Liebe und Ermutigung zu allem, was es an Gutem und Edelmütigem gibt. Wer hat nicht wenigstens ein einziges Mal an die Existenz von Engeln geglaubt, die sich in den unauslotbaren Überbleibseln offenbart, die in einem Frauenherzen ganz tief eingeprägt sind? Und warum sollte sie auf der Stufenleiter der erschaffenen Wesen nicht ein Glied einer Kette sein, das einerseits dem Menschengeschlecht durch die Schwäche und den Tod verbunden ist und auf der anderen durch die Liebe und das Mysterium den reinen Wesen? Warum sollte die Frau nicht die Mittlerin sein zwischen dem Himmel und der Erde?
Wenn das aber so ist, wurde es dem Priester nicht gegeben, es zu begreifen; es wurde ihm nicht gestattet, es aus den tausend Beweisen zu beurteilen, die uns davon erzählen, die wir nicht auf den Stufen des Altars geschworen haben, die Hälfte unserer Seele zurückzustoßen, wenn die Vorsehung es uns gestattet, sie im Leben zu finden. Dem Priester obliegt es, dieses als wirkliche Verbannung anzunehmen: für ihn muß die Welt in Trostlosigkeit und Traurigkeit vergehen, so wie sie uns erschiene, wenn wir sie von denjenigen entvölkerten, durch die und für die wir leben.
Die Geschichte der durch den Kampf der beispiellosen Lebenssituation des Klerus mit den natürlichen Neigungen des Menschen verursachten Agonien würde sehr schmerzhaft und abwechselungsreich ausfallen, wenn die Entwicklungsstufen des Herzens ihre Annalen hätten, so wie sie die Generationen und die Völker besitzen. Das Werk der mächtigen Logik der Vorstellungskraft, die den Roman erschafft, fiele recht ungeschliffen und kalt aus verglichen mit der furchterregenden historischen Realität einer von der Einsamkeit des Priesteramtes verzehrten Seele.
Dieser Chronik der Bitterkeit habe ich bereits in den Klöstern nachgespürt als sie inmitten unserer politischen Veränderungen zusammenstürzten. Es war eine unvernünftige Suche. Weder in den illuminierten Handschriften des Mittelalters noch in den verblichenen Pergamenten der klösterlichen Archive befanden sie sich. Unter den Steinplatten, die die Grabstätten in den Kreuzgängen bedeckten, gab es mit Sicherheit Viele, die sie kannten; aber ich fand die Gräber der Mönche schweigsam vor. Einige losgerissene Fragmente, die ich während meiner Nachforschungen auffand, waren nicht mehr als unzusammenhängende Passagen der Geschichte, die ich vergeblich suchte; vergeblich, weil es dem armseligen Opfer, gleichgültig ob es sich freiwillig oder gezwungenermaßen dem Verzicht unterworfen hatte, nicht gestattet war, zu stöhnen oder den Nachkommenden zu sagen: - „Wisset, wie sehr ich gelitten habe!“.
Und genau deshalb, weil auf ihr das Geheimnis lastete, kam die Vorstellungskraft daher, um der Geschichte auszuhelfen. Aus den Ideen des religiösen Zölibates, aus ihren zwingenden Folgerungen und den vereinzelten Spuren, die ich hiervon in den klösterlichen Überlieferungen fand, entstand das vorliegende Buch.
Vom Palast bis zur Taverne und dem Bordell: vom glänzendsten Leben bis zum Dahinvegetieren des ungehobeltesten Tölpels haben alle Orte und alle Situationen ihren Romanschriftsteller gefunden. Gestattet, daß der verborgenste von allen der des Klerus sein dürfe. Ihr werdet wenig dadurch verlieren.
Das MONASTICON ist ein fast prophetisches Erfassen der Vergangenheit, eine Erfassung, die zuweilen schwerer fällt, als die der Zukunft.
Wißt Ihr, welche Begriffswerte dem Wort „Mönch“ in seiner längst enteilten Vergangenheit zugewiesen waren, in seiner ursprünglichen Form? Es waren – Einsamkeit und Traurigkeit.
Deswegen habe ich in meinem komplexen Konzept, dessen Begrenzungen ich nicht von vornherein zu beschreiben vermag, ein Chronik-Gedicht vorgesehen, eine Sage oder „Was-auch-immer-es-sein-möge“ über den gotischen Presbyter: ich habe es ihm auch gewidmet, weil der Gedanke daran durch die Lektüre einer Erzählung eines gewissen gotischen Manuskripts geweckt wurde, das angeräuchert und vom Zahn der Zeit angenagt war und vormals einem alten Kloster im Minho gehört hatte.
Der Zisterziensermönch (Monge de Cister), der im Anschluß an Eurico vorgesehen ist, hatte in ungefähr den gleichen Ursprung.
Ajuda – November 1843
Zu einem gewissen Zeitpunkt begann das gesamte gotische Geschlecht – nachdem die Zügel der Regierung entglitten waren - das Gemüt auf Laszivität und Hochmut hin auszurichten.
MÖNCH von SILOS, Chronicon, c.a.
Das Volk der Westgoten, Eroberer der hispanischen Ländereien, hatte sich vor mehr als einem Jahrhundert die ganze Halbinsel unterworfen. Keiner der germanischen Stämme, die nach der Aufteilung der Provinzen des Reiches der Cäsaren unter sich versucht hatten, ihre barbarische Blöße mit den zerfetzten aber prächtigen Gewändern zu umhüllen, hatte es wie die Goten verstanden, die Fragmente von Purpur und Gold zusammenzufügen, um sich wie ein zivilisiertes Volk zu präsentieren. Leovigildo hatte praktisch die allerletzten Soldaten der griechischen Kaiser aus Spanien vertrieben, hatte der Verwegenheit der Franken Einhalt geboten, die mit ihren Raubzügen die westgotischen Provinzen jenseits der Pyrenäen verheerten, hatte das monarchie-ähnliche Gebilde beendet, das die Sweben in Galizien errichtet hatten, und war in Toletum verschieden, nachdem er eine politische und zivile Gesetzgebung eingeführt und Frieden und öffentliche Ordnung in seinem weitläufigen Herrschaftsbereich begründet hatte, der sich von Meer zu Meer erstreckte und darüber hinaus, die Gebirge des Baskenlandes übersteigend, auch einen großen Teil der antiken Provinz Gallia Narbonnensis umfaßte.
Seit jener Zeit waren die Unterschiede zwischen den beiden Völkern, dem der Eroberer oder Goten und dem der Römer oder Besiegten, fast verschwunden, und die Menschen aus dem Norden hatten sich rechtlich gesehen mit denen des Südens zu einer einzigen Nation vermischt, zu deren Größe jene mit den rauhen Tugenden Germaniens und diese mit den Traditionen der romanischen Kultur und öffentlicher Ordnung beitrugen. Die Gesetze der Cäsaren, die die Besiegten leiteten, durchdrangen die schlichten und ungeschliffenen westgotischen Institutionen, und ein einheitliches, in lateinischer Sprache abgefaßtes Gesetzbuch, regelte bereits die allgemeinen Rechte und Pflichten, als der Arianismus, zu dem die Goten bei der Annahme des Evangeliums konvertiert waren, sich dem Katholizismus beugen mußte, zu dem die romanische Bevölkerung sich bekannte. Dieser Übertritt der Sieger zu dem Glauben der Bezwungenen stellte die Vervollständigung der sozialen Verschmelzung beider Völker her. Die Zivilisation jedoch, die die Derbheit der Barbaren abmilderte, war eine alte und verdorbene Zivilisation. Im Tausch für einiges Gute, das sie jenen einfachen Menschen brachte, bürdete sie ihnen das schlimmste aller Übel auf, die moralische Entartung. Das westgotische Königtum versuchte, dem Luxus des zugrunde gegangenen Imperiums nachzueifern, an dessen Stelle es getreten war. Toletum wollte das Spiegelbild von Rom oder von Konstantinopel sein. Diese Hauptursache, die Unterstützung fand durch viele andere, die großteils aus dem gleichen Ursprung herrührten, war auf dem Umweg über die moralische Auflösung auch der Keim für das politische Ende.
Umsonst haben viele talentierte Männer, die mit der höchsten Autorität ausgestattet waren, versucht, den Zerfall zu verhindern, den sie in der Zukunft voraussahen: umsonst hat der spanische Klerus – unzweifelhaft der erleuchteteste in ganz Europa in jener düsteren Zeit -, dessen Einfluß auf die öffentlichen Geschäfte größer war als der aller anderen Klassen zusammengenommen, mittels der strengen Gesetze der Konzile, die gleichzeitig auch echte politische Parlamente darstellten, versucht, die Nation vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Die Fäule hatte das Innerste des Baumes erreicht, und er mußte verdorren. Selbst der Klerus verfiel zuletzt der Korruption. Das Laster und die Degeneration waren nach dem Durchbruch der letzten Barriere frei im Umlauf.
Zu diesem Zeitpunkt bemächtigte sich der berühmte Roderico der Krone. Die Söhne seines Vorgängers, Vítiza, die Jünglinge Sisebuto und Ebas, haben sie ihm lange Zeit streitig gemacht; aber, soweit man es den nur vereinzelten historischen Denkmälern dieser finsteren Zeit entnehmen kann, haben sie zuletzt nachgegeben, nicht der Usurpierung, denn der gotische Thron war dem Gesetze nach nicht erblich, sondern dem Glück und dem Wagemut des ehrgeizigen Soldaten, der es ihnen gestattete, am Hofe selbst in Frieden zu leben, und sie mit militärischen Würden ausstattete. Daraus ergab sich für ihn, wenn man alten Historikern Glauben schenken mag, der letztendliche Zusammenbruch bei der Schlacht am Fluß Críssus oder Guadalete, bei der das gotische Reich ausgelöscht wurde.
Inmitten der Dekadenz der Goten erhielten sich einige dennoch die Charakterstrenge der Vorfahren aus Germanien. Von der römischen Zivilisation hatten sie nichts als die geistige Kultur und die erhabenen moralischen Leitsätze des Christentums angenommen. Die zivilen Tugenden und, vor allem, die Liebe zum Vaterland waren in den Goten entstanden, als sie gleich nach der Begründung ihrer Herrschaft in Hispanien die Vererbung des Besitzes von landwirtschaftlich genutzten Feldern vom Vater auf den Sohn einführten und eigene Haushalte, Gebetshäuser und Friedhöfe für die Ruhe und das Angedenken. In diesen Herzen, in denen Gefühle herrschten, die zugleich glühend und tiefgehend waren, weil sich in ihnen die natürliche Eigenart des Südens mit dem standfesten Charakter der Nordvölker vermischte, umhüllte die Lehre des Evangeliums diese Gefühle mit einer göttlichen Poesie, und die Zivilisation schmückte sie mit einem milden Ausdruck, der diese Poesie noch stärker hervortreten ließ. Aber am Ende des siebenten Jahrhunderts waren diejenigen schon sehr rar gesät, bei denen die Überlieferungen der römischen Kultur die edelmütigen Züge der germanischen Barbarei noch nicht bezwungen hatten, und bei denen das Christentum es noch vermochte, sie auf den eigentlichen Inhalt hören zu lassen, der inmitten der profanen Prachtentfaltung des Klerus und dem unvernünftigen Pomp des äußerlichen Kultes in Vergessenheit geriet. Ein langwährender Frieden mit den anderen Nationen hatte die anfängliche Energie der Goten zu Futter für interne Zwistigkeiten werden lassen, und der Bürgerkrieg hatte, indem er diese Energie verzehrte, an ihre Stelle die Gepflogenheit von feigem Verrat, armseligen Racheakten, infamen Intrigen und ehrgeizigen Schändlichkeiten gesetzt. Das von der Last der auferlegten Abgaben erdrückte Volk, das von den Kämpfen der Bürgerkriegsparteien zerrissen und den Leidenschaften der Mächtigen schutzlos ausgesetzt war, hatte die kriegerischen Tugenden seiner Ahnen vollständig vergessen. Die Gesetze von Vamba und die Anmerkungen von Ervigio beim zwölften Konzil von Toletum zeigen auf, wie tief in dieser Partei das Krebsgeschwür des moralischen Zerfalles in Hispanien bereits fortgeschritten war. Inmitten so vieler und so grausamer Plagen und Leiden bestand das kostspieligste und ärgerlichste unter ihnen für die verweichlichten Nachfahren der Soldaten von Teodorico, von Torismundo, von Teudes und von Leovigildo darin, die Waffen für die Verteidigung ebenjenes Vaterlandes aufzunehmen, das die westgotischen Helden erobert hatten, um es ihren Kindern zu hinterlassen; und die Mehrheit des Volkes zog die Ehrlosigkeit, die das Gesetz denen auferlegte, die sich weigerten, den heimatlichen Boden zu verteidigen, den ruhmreichen Gefahren der Kämpfe und dem beschwerlichen Kriegshandwerk vor.
So war, im Überblick, der politische und moralische Zustand Spaniens in dem Zeitabschnitt, in dem die Ereignisse stattfanden, über die wir nun berichten werden.
Zur Würde des Priesteramtes erhoben…
die Liebe der Anderen veranschaulichte, wieviel Sanftmut, welche Nächstenliebe ihm innewohnten.
ÁLVARO VON CÓRDOVA, Leben des heiligen Eulógio, c.t.
Von der Einbuchtung der Anse, die sich im Westen von Calpe erstreckt, schaut Carteia, die Tochter der Phönizier, von weitem auf die schnellen Strömungen, die Europa von Afrika trennen. Einstmals eine üppige Stadt, waren ihre Werften, von denen jetzt nur noch geringfügige Spuren übriggeblieben waren, vor der römischen Eroberung berühmt gewesen; ihre Mauern, einst weitausladend und wuchtig, waren seit langem dem Verfall preisgegeben; ihre Bewohner, damals zahlreich und fleißig waren nun dünn gesät und abgestumpft. Die Revolutionen waren über sie hinweggegangen und die Eroberungen, alle Schicksalsschläge Iberiens während zwölf Jahrhunderten, und jeder einzelne Schicksalsschlag hat seinen Fußabdruck des Verfalls dort hinterlassen. Die wenigen Jahre des Glanzes der westgotischen Monarchie waren für die Stadt wie ein herrlicher Wintertag gewesen, an dem die Sonnenstrahlen am Antlitz der Erde abgleiten, ohne sie zu erwärmen, um danach wieder der Nacht Platz zu machen, die feucht und kalt ist wie alle, die ihr vorangegangen sind. Unter der Herrschaft von Vítiza und von Roderico ist das alte Carteia eine verfallende und ärmliche Ansiedlung, um die herum die Fragmente vergangenen Reichtums verstreut liegen und die, vielleicht, in ihrem Elend nur in der Erinnerung, die die Fetzen des jugendlichen Ornates in ihr hervorrufen, ein wenig Trost vor der Bitterkeit des nichts Gutes verheißenden Alters zu finden vermag.
Nicht doch! - Es bleibt ihr noch ein anderes: die Religion Christi.
Das Presbyterium, inmitten der Ansiedlung gelegen, war ein ärmliches Bauwerk, so wie alle noch bestehenden, von den Goten auf spanischem Boden errichteten Gebäude. Ohne Zement verfugte riesige Quader erheben sich zu Mauern; ein abgeplattetes Dach, von groben Eichenbalken durchwirkt, die dem schütteren Schilfgras unterlegt wurden, bedeckt den ganzen Bereich: sein dunkles und schmales Portal nimmt in gewisser Weise den geheimnisvollen Eingang der mittelalterlichen Kathedrale voraus: seine Fenster, durch die die Helligkeit beim Hineintreten ins Innere in ein trübseliges Dämmerlicht verwandelt wird, sind wie ein noch unschlüssiger und rudimentärer Prototyp der Spitzbogenfenster, die später die im vierzehnten Jahrhundert errichteten Tempel erhellen und durch die das Licht, durch Fensterscheiben in tausend Farben gebrochen, schwermütig auf die bleichen Bahnen der riesigen Wände geworfen wurde, auf denen es die Schatten der Säulen und der verzierten Bögen des Kirchenschiffes abbildete. Aber auch wenn sich das westgotische Presbyterium durch den Mangel an Helligkeit dem Typus christlicher Architektur annähert, zeigt es beim Übrigen, daß die groben Ideen des Kultes von Odin noch nicht zur Gänze in den Söhnen und Enkeln der Barbaren erloschen waren, die vor drei oder vier Jahrhunderten zum Glauben des Gekreuzigten bekehrt wurden.
Der Presbyter Eurico war der Hirte der armen Pfarrgemeinde von Carteia. Er war ein Abkömmling einer alten barbarischen Familie, Gardigg am Hofe Vítizas nachdem er thiudfath oder Anführer einer Tausendschaft des westgotischen Heeres gewesen war; seine leichtfertigen Jugendjahre hatte er inmitten der Freuden des prächtigen Toletum verlebt. Obwohl reich, mächtig und liebenswürdig hatte die Liebe die glitzernde Abfolge seines Glückes zerbrochen. Er hatte sich in Hermengarda, die Tochter Fávilas, des Herzogs von Kantabrien verliebt, die Schwester des mutigen und nachmalig berühmten Pelágio, aber seine Liebe war unglücklich gewesen. Der stolze Fávila hatte nicht geduldet, daß der weniger edle Gardigg das Ziel seiner Begierde so hoch gesteckt hatte. Nach tausend Beweisen einer unendlichen Liebe und einer glühenden Leidenschaft hatte der jugendliche Krieger alle seine Hoffnungen untergehen sehen. Eurico war einer dieser an erhabener Poesie reichen Seelen, denen die Welt eine maßlose Phantasie zuschreibt, weil es der Welt nicht gegeben ist, sie zu begreifen. Vom Unglück getroffen, verbrannte sein glühendes Herz die Fülle seines Seins als er aus den Liebesträumen aufschreckte, die ihn mitgerissen hatten. Die Undankbarkeit Hermengardas, die sich dem Willen ihres Vaters ohne erkennbaren Widerstand gebeugt hatte, und der beleidigende Hochmut des alten Fürsten warfen jene Seele zu Boden, die der Anblick des Todes nicht niederzuwerfen vermocht hätte. Die Melancholie, die ihn verzehrte und seine Kräfte aufrieb, ließ ihn in eine lange und gefährliche Krankheit verfallen, und als die Energie einer kraftvollen Natur ihn dennoch der Schwelle des Grabes entriß, einem widerspenstigen Engel gleich, konnten die schönen und reinen Züge seines edlen und männlichen Gesichts nur mit Mühe den Schleier schweigsamer Trauer durchdringen, der seine Stirn verfinsterte. Die Zeder verdorrte, vom Himmelsfeuer niedergeschmettert.
Eine jener moralischen Umwälzungen, die die großen Krisen im menschlichen Geist erzeugen, hat sich dann im jugendlichen Eurico vollzogen. Da er im lebendigen Glauben jener Zeiten erzogen und – weil ein Dichter – auf natürliche Weise religiös war, hatte er Zuflucht und Trost zu den Füßen Desjenigen gesucht, dessen Arme immer geöffnet sind, um den Unglücklichen zu empfangen, der in ihnen die allerletzte Zuflucht sucht. Nach dem Ende der Herrlichkeiten am Hofe fand der arme Gardigg den Tod seines Geistes, die Enttäuschung über die Welt. Würde er am Ende des schmalen Pfades des Kreuzes möglicherweise das innere Leben und die Seelenruhe finden? Dies war die Fragestellung, in der sich seine gesamte Zukunft zusammenfassen ließ, für die der Hirte der armen Pfarrei der alten Stadt am Calpe eine Antwort zu finden trachtete.
Nachdem er die verschiedenen Stufen des Priesteramtes durchlaufen hatte, bekam Eurico noch von Sisberto, dem Vorgänger von Opas an der Bischofskirche von Híspalis, die Aufgabe übertragen, jene kleine Herde der phönizischen Ansiedlung seelsorgerisch zu betreuen. Der jugendliche Presbyter hatte, nachdem er der Kathedrale einen Anteil seines Besitzes vermacht hatte, den er mitsamt des kampferprobten Schwertes seiner Vorfahren ererbt hatte, nur einen Teil seines Besitzes für sich zurückbehalten. Das war das Erbe der Elenden, von denen er wußte, daß es davon in der weitgehend abgeschiedenen und wirtschaftlich verfallenden Stadt Carteia eine nicht zu knapp bemessene Anzahl gab.
Die neue Existenz Euricos hatte seine funkelnde Wesensart zwar verändert aber nicht zerstört. Das größte der menschlichen Unglücke, die Einsamkeit des Geistes, hatte durch die Schwermut die stürmischen Leidenschaften des Jünglings gemildert und auf seinen Lippen das Lachen der Zufriedenheit ausgelöscht, aber es konnte im Herzen des Priesters weder die edelmütigen Impulse des Kriegers noch die Eingebungen des Dichters zunichte machen. Die Kirche hatte jene geheiligt, indem sie sie nach dem Evangelium formte, und diese feierlicher gestaltet, indem sie sie mit den erhabenen Bildern und Gefühlen aus den hochheiligen Seiten der Bibel speiste. Die Begeisterung und die Liebe waren in jenem Herzen, das gestorben zu sein schien, wieder auferstanden, wenn auch in veränderter Weise: die Begeisterung wurde zur Begeisterung für die Tugend, die Liebe zur Liebe für die Menschheit. Und die Hoffnung? Oh, die Hoffnung; diese wurde nicht wiedergeboren!
Keiner von Euch möge es wagen, die zu Ehren Gottes verfaßten Hymnen zu tadeln.
KONZIL VON TOLEDO, IV, Cân. 13
Oft war des abends, wenn die Sonne die Bucht von Carteia überschritten hatte und sich nun feuerrot in Richtung auf Melária senkte, wobei sie die Gipfel des massigen Gebirgsstockes von Calpe mit den letzten Schimmern vergoldete, der Presbyter Eurico zu sehen, wie er von einem wallenden Umhang1 umhüllt, seine Schritte entlang des Strandes den am Meeresufer aufgereihten Felsabhängen zuwandte. Die Hirten, die ihm begegneten, erzählten bei ihrer Rückkehr in die Dörfer, daß er sie nicht einmal wahrnahm, wenn sie an ihm vorbeigingen und ihn grüßten, daß seinen halbgeöffneten und zitternden Lippen ein Murmeln unartikulierter Wörter entströmte, ähnlich dem Raunen des Lufthauches durch das Laubwerk des Waldes. Diejenigen, die ihm bei seinen weitreichenden Abendspaziergängen auflauerten, sahen, wie er am Fuße des Calpe ankam, die Abhänge hinaufkletterte, zwischen den Felsbrocken verschwand und zuletzt, ganz weit entfernt, unbeweglich auf einem der von der Sommersonne verbrannten und von den Winterstürmen angenagten Gipfeln wieder auftauchte. Im Abenddämmerlicht waren die unter den Launen des Windes in einem unbeständigen Weiß schimmernden weiten Falten von Euricos Umhang das Zeichen, daß er dort war; und wenn der Mond zu den Höhen des Himmels stieg, hielt das helle Schimmern der wallenden Kleidung fast immer an, bis der Planet der Sehnsucht in den Wassern der Meeresenge eintauchte. Wenige Stunden später sahen die Bewohner Carteias, die vor dem Morgengrauen aufstanden um ihrer Landarbeit nachzugehen, wenn sie zum Presbyterium blickten durch die gefärbten Glasscheiben der einsam stehenden Behausung Euricos das verblassende Licht der Nachtlampe, das von der morgendlichen Helle überstrahlt wurde. Jeder einzelne wob nun seine eigene Erzählung, vom volkstümlichen Aberglauben angefacht: verbrecherische Künste, Umgang mit dem bösen Geist, Sühne für ein verabscheuungswürdiges Vorleben und sogar der Wahnsinn, alles hatte nacheinander dazu hergehalten, das geheimnisvolle Vorgehen des Presbyters zu erklären. Das einfache Volk von Carteia konnte dieses Ausnahmeleben nicht verstehen, weil es nicht begreifen konnte, daß der Verstand des Dichters in einer weitläufigeren Welt leben mußte als der, für die die Gesellschaft so kleinliche Begrenzungen gezogen hatte.
Aber Eurico war wie ein Schutzengel der Bedrückten. Niemals unterließ es seine wohltätige Hand, sich dorthin auszustrecken, wo die Not sich niedergelassen hatte; niemals verweigerten seine Augen Tränen, die sich den Tränen fremder Mißgeschicke beimengten. Leibeigener oder Freier, Freigelassener oder Beschützer, für ihn waren alle seine Kinder. Alle Standesunterschiede glichen sich aus, wo er erschien; denn als gemeinsamer Vater derjenigen, die die Vorsehung ihm anvertraut hatte, waren alle für ihn Brüder. Als Priester Christi, der durch die langen Stunden innerer Agonie belehrt wurde, hatte Eurico nachdem sein Herz durch den Hochmut der Menschen zermalmt wurde, zuletzt klar erkannt, daß das Christentum sich in einem Wort zusammenfassen ließ – Brüderlichkeit. Er wußte, daß das Evangelium ein Protest war, von Gott für die Jahrhunderte diktiert, gegen die hohlen Unterscheidungen gerichtet, die die Macht und der Stolz in dieser Welt aus Schmutz errichtet hatten, der Unterdrückung und des Blutes; er wußte, daß der einzige Adel der der Herzen und der Einsicht war, die sich zur Höhe des Himmels aufzurichten versucht, und daß diese wirkliche Überlegenheit äußerlich demütig und schlicht aussah. Nach und nach hatten die Strenge der Sitten des Pastors von Carteia und seine Wohltätigkeit, die so liebevoll und so entblößt von den Respektlosigkeiten war, die die heuchlerische Frömmigkeit der Glücklichen dieser Erde zu begleiten pflegen und die Elenden mit Bitterkeit erfüllen, diese Wohltätigkeit, die die Religion Nächstenliebe genannt hat, weil die Sprache der Menschen kein Wort kannte, das den Affekt, den das Opfer des Kalvarienberges der Erde enthüllt hatte, genau auszudrücken vermocht hätte, diese Wohltätigkeit, die die allgemeine Dankbarkeit mit echter Liebe erwiderte, allmählich den abscheulichen Verdacht entkräftet, den das außergewöhnliche Verhalten des Presbyters zu Beginn hervorgerufen hatte. Schließlich, an einem gewissen Sonntag, als der Küster bereits die Türen des Tempels geöffnet, und der Psalmist schon die morgendlichen Gesänge angestimmt hatte, und jener besorgt den Priester suchte, der die Stunde vergessen zu haben schien, zu der er die Hostie des Lammes opfern und das Volk segnen sollte, da fand er ihn neben seiner immer noch brennenden Lampe schlafend vor, den Arm aufgestützt auf einem von ungleichmäßigen Zeilen bedeckten Pergament. Bevor er Eurico weckte, ließ der Küster seine Augen über den Teil des Geschriebenen schweifen, den der Arm des Presbyters nicht verdeckte. Es handelte sich um einen neuen Hymnus, in der Art derer, die Isidoro, der berühmte Bischof von Híspalis, für die Feierlichkeiten der gotischen Kirche eingeführt hatte. Jetzt begriff der Küster das Geheimnis des unsteten Lebens des Pastors von Carteia und seine nächtlichen Wachen. Bald hatte es sich in der Ansiedlung und den benachbarten Orten verbreitet, daß Eurico der Urheber von einigen religiösen Gesängen war, die in die Gesangbüchern der Diozöse Eingang gefunden hatten und von denen ein Teil bald sogar an der Kathedrale von Híspalis angenommen wurde. Seine Eigenschaft als Dichter machte ihn noch achtbarer. Die Poesie, bei den Westgoten fast ausschließlich den Feierlichkeiten der Kirche gewidmet, heiligte die Kunst und steigerte die öffentliche Verehrung derjenigen, die sie ausübten. Der Name des Presbyters fing an in ganz Spanien als ein Nachfolger von Dracôncio, von Merobaude und von Orêncio genannt zu werden.
Von da an folgte keiner mehr seinen Schritten. Auf den Klippen des Calpe sitzend, über die Felder und Flure vagabundierend oder von den Wäldern des Landesinneren verborgen, man ließ ihn seinen Gedanken in Ruhe nachhängen. In der Betrachtungsweise der Menschenmenge galt er als von Gott inspiriert, fast schon als Prophet. Verwendete er denn nicht die Stunden, die ihm nach der Ausübung seines arbeitsamen Amtes verblieben, im Dienste des Herren? Waren diese Hymnen der Einsamkeit und der Nacht nicht dafür vorgesehen, sich am Fuße der Altäre wie ein Wohlgeruch zu verbreiten? Vollendete Eurico nicht seine priesterliche Aufgabe, indem er das Gebet mit den Harmonien des Himmels verschönte, die er in der Stille und Meditation studiert und in sich eingefangen hatte? Die jüngeren unter den zahlreichen Klerikern der benachbarten Pfarreien betrachteten ihn als den verehrungswürdigsten unter ihren Brüdern im Priesteramt, und die alten suchten auf seiner fast immer bedrückten und traurigen Stirn und in seinen kurzen aber gewandten Worten das Geheimnis der Inspiration und die Quelle des Wissens.
Wenn diejenigen, die ihn wie einen Auserwählten verehrten aber gewußt hätten, wie düster die Vorbestimmung des Dichters war, vielleicht hätte sich dann diese Art von Kult, mit dem sie ihn umgaben, in Erbarmen oder sogar in Schrecken verwandelt. Die so sanften Hymnen, so voller Salbung und Innerlichkeit, die die Psalmisten der Kathedralen von Spanien voller Begeisterung vortrugen, waren wie die ruhige Atmung des Schlafes bei Tagesanbruch, der dem Keuchen und Stöhnen während des nächtlichen Alptraumes nachfolgt. Selten – und nur für kurze Zeit – huschte ein Lächeln über die Wangen von Eurico; tief und unauslöschlich waren die Falten auf seiner Stirn. Im Lächeln klang der fromme, harmonische und heilige Hymnus dieser Seele nach, wenn sie sich – der Erde enthebend – in die Träume einer besseren Welt verirrte. Den Falten auf der Stirn des Presbyters, ähnlich den vor dem Nordwestwind herangepeitschten Wellen, entsprach jedoch ein düsterer Gesang von Zorn oder Mutlosigkeit, der in seinem Innersten tobte, wenn seine Phantasien wie ein verletzter Adler aus den Höhen der Sphären abstürzten und sich durch die Niederungen der Menschen wälzten. Solcher Art war der schmerzliche und finstere Gesang, der ihm in schlaflosen Nächten aus dem Herzen schwitzte, auf den Bergen oder im Walde, auf den Feldern oder in der beengten Kammer, und die er in Strömen von Verbitterung und Groll über Pergamente ausschüttete, die weder der Küster noch irgend jemand sonst jemals gesehen hatte. Diese Gedichte, in denen die Empörung und der Schmerz einer edelmütigen Seele aufzuckten, waren das Gethsemane des Dichters. Dennoch könnten sich die Tugendhaften dies nicht einmal vorstellen, da sie nicht begreifen könnten, wie sich bei einem ruhigen Gewissen und ausgeglichenen Leben ein Herz selbst verzehren kann; und die Bösartigen glaubten nicht, daß der Priester, der ganz allein in seine naiven Hoffnungen und sein Grübeln über Dinge jenseits des Grabes vertieft schien, sich um die Übel und Verbrechen sorgen mochte, die das sterbenskranke Reich der Westgoten zerfraßen; sie glaubten nicht, daß derjenige ein Wort des Zornes zur Verfluchung der Menschen übrig hätte, der die Vergebung und die Liebe predigte. Aus diesem Grunde verbarg der Dichter seine furchterregenden Eingebungen. Ungeheuerlich für die einen, Objekt der Verhöhnung für andere, in einer korrupten Gesellschaft, in der die Tugend selbstsüchtig und das Laster ungläubig waren, hätte ihm niemand zugehört, oder eher: es hätte ihn keiner verstanden.
Eurico war durch die Verzweiflung zur ruhigen Existenz des Priesteramtes gelangt und hatte anfangs eine sanfte Schwermut verspürt, die ihm die im Feuer des Unglücks versengte Seele abkühlte. Die Art von moralischer Betäubung, in die ihn ein rascher Übergang von Gewohnheiten und Gedanken gestürzt hatte, erschien ihm wie Friede und Ruhe. Die Wunde hatte sich an das Eisen in ihr gewöhnt, und Eurico wähnte sie geheilt. Als ein neues Gefühl sie erneut drückte, fühlte er erst, daß sie sich noch nicht geschlossen hatte und daß sie noch immer blutete, vielleicht sogar stärker als zuvor. Die nicht erwiderte Liebe zu einer Frau hatte sie geöffnet: die Liebe zum Vaterland, von den Ereignissen geweckt, die im von Bürgerkriegsparteien zerfetzten Spanien rasch aufeinander folgten, war das Werkzeug, das diese Wunde erneut aufbrechen ließ. Die frischen Schmerzen, die die alten neu aufleben ließen, begannen nach und nach die strengen Grundsätze des Christentums in ein Geißel- und Folterwerkzeug für jene Seele umzuwandeln, die gleichzeitig von der Welt abgestoßen und zu ihr hingezogen wurde, und die in den Augenblicken höchster Not, die mit dem Griffel des Schicksals in ihr Gewissen eingemeißelte grausame Verurteilung empfand: - nicht allen gewährt das Grab die Befriedung der Stürme des Geistes.
Die Szenen sozialer Auflösung, die in jener Zeit auf der Halbinsel stattfanden, waren angebracht, die heftigste Entrüstung in allen Gemütern hervorzurufen, die sich auch nur die geringste Spur der alten gotischen Eigenart bewahrt hätten. Seit Eurico das Amt des Gardigg mit dem Priesteramt getauscht hatte, hatten die Auswüchse des Hasses unter den Bürgern, der Ehrgeiz, die Verwegenheit krimineller Banden und der Verfall der Sitten unglaubliche Fortschritte gemacht. In der Einsamkeit des Calpe war der Widerhall des unglücklichen Todes von Vítiza, der gewaltsamen Thronbesteigung von Roderico und der Verschwörungen zu hören gewesen, die überall auszubrechen drohten, und die der neue Herrscher nur mit äußerster Mühe in Strömen von Blut zu ertränken vermochte. Ebas und Sisebuto, die Söhne Vítizas, Opas, ihr Onkel und Nachfolger Sisbertos auf dem Bischofsstuhl von Híspalis, und Juliano, Graf der spanischen Besitzungen an den Küsten Afrikas, auf der gegenüberliegenden Seite der Meerenge, waren die Rädelsführer der Aufrührer. Nur das Volk hatte sich noch etwas Tugendhaftigkeit bewahrt, die ähnlich wie eine durch ein zartes und verbrauchtes Tuch geschüttete Flüssigkeit, gänzlich aus den oberen Klassen versickert war. Weil es jedoch durch viele Arten der Gewalt niedergedrückt und unter den Füßen der sich bekämpfenden Großen zertreten wurde, hatte es zuletzt den Glauben an das Vaterland verloren und wurde gleichgültig und feige, bereit dazu, die gemeinschaftliche Existenz dem individuellen und häuslichen Frieden zu opfern. Die moralische Kraft der Nation war folglich verschwunden, und die materielle Macht war nur noch ein Gespenst; denn unter den mit Metallringen versehenen Lederwesten der Reiter und den Waffenröcken der Fußsoldaten des Heeres gab es nichts als vereiste Seelen, die sich im Feuer der heiligen Liebe zum Vaterland nicht zu erwärmen vermochten.
Mit dem tiefgehenden Einfühlungsvermögen des Dichters betrachtete der Presbyter dieses entsetzliche Schauspiel einer leichenhaften Nation und, weit entfernt von den verpesteten Ausdünstungen jener degenerierten Generation, schüttete er entweder in Strömen von Galle, von Ironie und Zorn die Bitterkeit aus, die ihm das Herz zum Überlaufen brachte, oder er schrieb – wenn er sich der Zeiten erinnerte, in denen er glücklich war, weil er noch Hoffnung hatte – tränenüberströmt die Lieder der Liebe und der Sehnsucht. Einige bis heute erhaltene Fragmente der gewaltigen Elegien des Presbyters lauteten folgendermaßen:
1 Die „estringe“ ist eine Abart der römischen Tunika, die von den Goten in Spanien verwendet wurde.
Wo hat sich die alte Festigkeit nach der Schwächung versteckt?
Hl. Eulógio, Memorial dos Sant., L.° 3. °.
Presbyterium von Carteia. Um Mitternacht der Iden vom Dezember im Jahre 748 der Zeitrechnung.
1
Es war in einer dieser ereignisarmen Winternächte, in der der Widerschein des mondlosen Himmels kräftig flimmerte; in der das Seufzen der Wälder tief und langandauernd, und die Einsamkeit der Strände und der tosenden Meeresufer vollständig und furchteinflößend war.
Es war die Stunde, in der der Mensch sich in seine armselige Behausung zurückzieht, in der auf den Friedhöfen der Tau sich an die Spitzen der Kreuze anhängt und in einzelnen Tropfen von den Rändern der Gräber herabfällt, wo er einsam die Toten beweint. Das Wühlen der bösen Geister der Vorstellungskraft und der nächtliche Frost halten die Sehnsucht der Witwe und des Waisen vom Gottesacker fern und auch die Verzweiflung der Geliebten und das zerfetzte Herz des Freundes. Um sich zu trösten schliefen die Unglücklichen ruhig in ihren wiechen Pfühlen!….. Während die Würmer fortfuhren, die von den Fesseln des Todes angeketteten Leichen zu zernagen. Euch Heuchlern menschlicher Gefühle hat der Schlaf die Tränen ausgetrocknet!
Außerdem waren die Steinplatten der Gräber schon so kalt! Im Schoße der feuchten Erdklumpen war das Leichentuch mit dem Kadaver verfault.
Ist im Grabe Frieden zu finden? Gott kennt das Schicksal jedes einzelnen Menschen. Für den, der dort ruht, weiß ich, daß es auf Erden das Vergessen gibt!
Die Seen schienen sich zu jener Stunde noch an das wohlklingende Rauschen des Sommers zu erinnern, und die Woge bäumte sich auf, brach und warf, wenn sie faul am Strande auslief, zeitweise aussetzend, das in den ausgestoßenen Schaumfetzen widergespiegelte, unstete Licht des Himmels zurück.
Und das Tier, das lacht und weint, der König der Schöpfung, das Ebenbild der Gottheit, wo hatte es sich versteckt?
Es zitterte vor Kälte in einem geschlossenen Raum und empfand beängstigt die frische Brise aus dem Norden, die im Dunklen blies und fröhlich in den niedrigen Dornbüschen des verlassenen Ödlandes pfiff.
Ohne Zweifel, der Mensch ist stark und das vorzüglichste Werk der Schöpfung. Ruhm und Ehre dem König der Schöpfung, der schlotternd stöhnt!
Menschlicher Stolz, was bist du mehr – grausam, dumm oder lächerlich?
2
So waren die Goten des Westens nicht, als sie – hier die römischen Adler zu Boden reißend, dort mit ihrem eisernen Griff das zusammenstürzende Imperium festhaltend – in Italien, in den gallischen Provinzen und in Hispanien herrschten, Mittler und Schlichter zwischen den nördlichen und südländischen Regionen waren:
Sie waren nicht so, als der alte Teodorico2, dem wilden Bären des Gebirges ähnlich, im Kreise dreier Söhne auf den katalaunischen Feldern gegen den schrecklichen Attila kämpfte und an seinem letzten Tage seinen letzten Sieg errang:
Als das breite und kurze Schwert mit zwei Schneiden sich in den Händen der Goten zu einer Sichel des Todes verwandelte, vor der die Reiterei der Gepiden zurückwich und die Schwadronen der Hunnen erzitterten, wobei sie heisere Schreie des Schreckens und der Angst ausstießen.
Als die Dunkelheit noch dichter und finsterer war, sah man im Lichte der Sterne die Waffen der Hunnen aufblitzen, die ihre Wagen umkreisten, die ihnen als Schutzwälle dienten. Wie der Jäger den in der Fallgrube gefangenen Löwen belauert, beobachteten die Westgoten sie, den Tagesanbruch erwartend.
Damals ließ der eisige Atem der Nacht unsere Vorfahren unter ihren Rüstungen nicht erzittern. Damals war der Schnee ein ebenso gutes Ruhepolster wie irgend ein anderes, und das Tosen des Waldes, der sich gegen die Flügel des Sturmes sträubte, war wie ein Wiegenliedchen.
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