Ich freue mich, dem deutschsprachigen Publikum abermals einen Roman Alexandre Herculanos in einer, wie ich hoffe, gelungenen Übersetzung vorstellen zu können. Bei diesem Werk ergab sich jedoch das Problem, daß ein langes, von Herculano leider nicht fertiggestelltes Kapitel, das allerdings viel zum zeitlichen Kolorit beizutragen vermag und durchaus auch noch das Potential gehabt hätte, der Rolle des Narren – immerhin der Titel des Romans – etwas mehr an Breite zu verleihen, nur als Addendum am Ende der Geschichte angefügt wurde, aus Gründen, die der Herausgeber der portugiesischen Ausgabe des Buches so formulierte: „Das Kapitel des Romans „Der Narr“, das als Addendum in der Ausgabe von 1878 veröffentlicht wurde, weil es wegen des Fehlens der abschließenden Szenen, die notwendig gewesen wären, um es mit dem folgenden Kapitel zu verbinden, nicht am passenden Ort eingefügt werden konnte, trug den damaligen Editoren zufolge die Überschrift „Das Fest des Heiligen Johannes“ .
Dem offensichtlichen Übel, das durch den hierdurch bedingten zeitlichen Sprung entsteht (inhaltlich früher angesiedelte Szenen erscheinen dadurch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt, genau genommen: am Ende des Romans), und der unschönen Situation, daß nach dem Ende der Geschichte die Thematik in einem recht langen Anhang erneut aufgegriffen wird, wenn man als Leser mit dem Stoff bereits „fertig“ zu sein glaubt, habe ich durch die Vervollständigung des Kapitels und seine Einordnung an seinen plausiblen Platz im Gefüge des Romans „abzuhelfen“ versucht. Viele Jahre der Beschäftigung mit dem Autor gaben mir die Courage, mir für die „Vollendung“ einen Ablauf vorzustellen, von dem ich glaube, er könnte in seinem Sinne erfolgt sein. Falls ein Purist gegen eine derartige Ergänzung durch Dritte Einwände erheben zu müssen glaubt, kann er dieses Kapitel, für dessen Ergänzung ich natürlich auch die volle Verantwortung übernehme, selbstverständlich überblättern und sich (unter Umgehung von Kapitel VI) nach der Lektüre von Kapitel V direkt zu Kapitel VII begeben, wie es im Original vorgesehen ist. Für alle Fälle ist die Ergänzung auch durch eine unterschiedliche Schriftart gekennzeichnet. Außerdem kann ich an dieser Stelle versichern, daß ich meiner eigenen „Fabulierlust“ enge Grenzen gesetzt habe, so daß mein Zutun sich im Wesentlichen auf die Schaffung eines sanften Übergangs beschränkt.
Mein Schwiegervater, Herr Bernhard Hoffmann, steuerte wie bei den vorherigen Büchern auch dieses Mal die Illustrationen bei, die den Text an zahlreichen Passagen bereichern. Ihm danke ich an dieser Stelle genau so herzlich wie meiner Frau, Anita, für den oft stundenlangen Verzicht auf ihren Mann, wenn dieser sich am Computer um die vermeintlich beste Art bemühte, den nicht immer ganz eindeutigen Stil des portugiesischen Autors zu deuten und zu übersetzen.
Für die Leser, die die Werke Herculanos im Original lesen können, habe ich am Ende des Buches ein Glossar vorgesehen, das speziell auf den Wortschatz Herculanos abgestimmt ist; es erhebt jedoch keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit wie ein Fachwörterbuch, sondern wurde von mir im Verlaufe der Übersetzungen mit Wörtern angereichert, von denen ich mir vorstellen kann, daß sie nicht jedem geläufig sein könnten, oder, wie so oft bei Herculano, im speziellen Kontext eine besondere, weniger übliche Bedeutung annehmen.
Den Lesern wünsche ich viel Vergnügen bei der Beschäftigung mit diesem Buche, dem bisher die Übersetzungen von „Eurico, der Presbyter“, und „Sagen und Erzählungen“ (in zwei Bänden) vorangegangen sind, und dem der „Zisterziensermönch“ (ebenfalls in zwei Bänden) noch folgen soll, hoffentlich noch rechtzeitig zu Herculanos 200. Geburtstag im Jahre 2010.
Berlin, im April 2008
Das Copyright © der Übersetzung des Werkes samt seines Vorworts, des Glossars und der Illustrationen liegt bei Rui von Angern.
Bei Interesse kann man mich unter:
Rui.von-Angern@Arcor.de erreichen.
Als Übersetzungen sind folgende Werke Alexandre Herculanos inzwischen erhältlich:
Eurico, der Presbyter
Sagen und Erzählungen, Band I.
Sagen und Erzählungen, Band II.
Der Narr.
In Vorbereitung ist der zweite Teil des Monasticons, der aus zwei Büchern sich zusammensetzende „Zisterziensermönch“.
Der Tod König Afonsos VI. von León und Kastilien, der sich fast am Ende der ersten Dekade des 12. Jahrhunderts ereignete, gab Anstoß zu noch schwerwiegenderen Geschehnissen als denen, die sich der Monarch in dem Augenblick vorzustellen vermochte, in dem er sich bereitmachte, die Brünne des Ritters und das königliche Szepter gegen das Totenhemd auszutauschen, in dem man ihn in seine Grabstätte im Kloster von Sahagún hinabsenkte. Das ruhelose Wesen der leonesischen, galizischen und kastilischen Adligen fand inmitten einer die Gewaltanwendung begünstigenden politischen Lage, in die der verstorbene König das Land hatte versinken lassen, mit Leichtigkeit die Vorwände, um dem Ehrgeiz und den gegenseitigen Feindseligkeiten freie Entfaltung zu gestatten. Da er daran gewöhnt war, die Kühnheit, den kriegerischen Mut und die Leidenschaft für den Kampf als die wesentlichsten Eigenschaften eines Prinzen zu betrachten, hatte Afonso VI. nach dem Verlust des einzigen männlichen Erben, der ihm geboren worden war, des Infanten D. Sancho, der im zarten Jünglingsalter in der Schlacht von Uclés gefallen war, seine Augen durch die Provinzen des Reiches schweifen lassen, um einen im Kampf gefürchteten Mann zu finden, der auch die nötige Kraft aufwiese, daß seine Stirn der Last der eisernen Krone des christlichen Spanien standhielte. Es war daher eine dringliche Aufgabe, einen Gemahl für D. Urraca zu finden, seine älteste Tochter und Witwe Raimunds, des Grafen von Galizien; denn ihr gehörte, einem Brauch zufolge, der sich nach und nach gefestigt hatte, der Thron – trotz der entgegenstehenden gotischen Gesetze, die den Granden und, bis zu einem gewissen Grade, auch dem hohen Klerus, das Recht der Königswahl zusprachen. Unter den herausragendsten Granden seiner weitreichenden Ländereien hatte der alte König keinen gefunden, den er einer so hochkarätigen Vermählung für würdig befunden hätte. Afonso I. von Aragón wies jedoch alle Merkmale auf, die der hochfahrende Monarch für den maßgeblichen Beschützer des Kreuzes als unerläßlich erachtete. Als er den Tod nahen fühlte, ordnete er deshalb an, daß D. Urraca, gleich nachdem sie die Krone geerbt hätte, jenem die Hand als Gemahlin reichen sollte. Einerseits erhoffte er sich hiervon, daß die Kraft und die Strenge des neuen Prinzen die internen Zwistigkeiten im Zaume halten würden und andererseits, daß dieser, der sich durch seine Waffen bereits ausgezeichnet hatte, bei den Ismaeliten keine Freude über die Nachricht vom Tode desjenigen aufkommen lassen würde, der für sie viele Jahre lang die Ursache von Leid und Zerstörung gewesen war. Die späteren Ereignisse bewiesen jedoch, wieder einmal, wie sehr alle menschliche Vorsorge fehlschlagen kann.
Die Geschichte der Herrschaft D. Urracas war, wenn man für die Periode Ihrer Machtausübung überhaupt einen solchen Namen verwenden kann, nichts anderes als ein Geflecht von Verrat, Racheakten, Revolutionen und Bürgerkriegen, von Raub und Gewalt. Die Ausschweifungen der Königin, die finstere Grausamkeit ihres Ehemanns, die Habgier und der Stolz der Mächtigen1 des Reiches ließen alles im Chaos versinken, und der Bürgerkrieg, der den Moslems eine Atempause verschaffte, zerriß die Kette der Siege der christlichen Gesellschaft, deren Einigkeit der geschickte Afonso VI. sich so sehr zu erreichen abgemüht hatte.
Die bis zu diesem Zeitpunkt schon vom Joch der Ismaeliten befreiten Provinzen ließen, so wollen wir es vorsichtig formulieren, noch nicht viel mehr als die Grundzüge eines Nationalgefühls erkennen. Ihnen fehlte, oder sie waren erst äußerst schwach ausgeprägt, der Großteil der moralischen und rechtlichen Bande, die eine Nation, eine Gesellschaft ausmachen. Die Teilhabe des aragonesischen Königs am Thron von León war den leonesischen Baronen nicht etwa deswegen zuwider, weil er ein Ausländer war, sondern weil vorzugsweise den früheren Untertanen des neuen Königs die Statthaltereien und Burgvogteien des Reiches anvertraut wurden. Die Animositäten waren daher persönlich motiviert, zusammenhanglos, und zeitigten deshalb auch keine bleibenden Resultate; sie waren die natürlichen Begleitumstände korrumpierter oder unzulänglicher öffentlicher Einrichtungen. Der Graf oder Grande aus Oviedo oder León, Estremadura oder Galizien, aus Kastilien oder Portugal bezog die wahrscheinlichen Ausgänge eines jeden politischen Ereignisses immer auf seine eigene Person, setzte sie in Relation zu seinen Ambitionen, seinen Hoffnungen oder Befürchtungen; und da er alles nach dieser Richtschnur beurteilte, handelte er auch in Übereinstimmung mit diesen Maßstäben. Es konnte ja auch nicht anders sein. Die Idee der Nation oder des Vaterlands war für die damaligen Menschen noch nicht auf die gleiche Weise vorhanden wie für uns heutige. Das eifrige Verlangen nach der eigenen Selbstbestimmung, das von einer starken, klaren und bewußten Vorstellung des in der Gemeinschaft wurzelnden Individuums herrührt, war für die Menschen des XI. und XII. Jahrhunderts nur ein schwaches und undeutliches Empfinden, wenn es denn überhaupt vorhanden war. Weder in den Chroniken noch in den Legenden oder Diplomen läßt sich eine Vokabel aufspüren, die den Spanier bezeichnet, das Individuum römisch-gotischer Abstammung, das ihn von dem Sarazenen oder Mauren abhöbe. Man findet den Asturier, den Kantabrer, den Galizier, den Portugalenser, den Kastilier, das heißt den Menschen dieser Provinz oder jener großen Grafschaft; und auch noch den Toledaner, den Bewohner von Barcelona, Compostela oder Legio, das heißt, den Menschen aus einer gewissen Stadt. Was vermißt wird, ist die einfache und präzise Bezeichnung als Untertan der Kronen von Oviedo, León und Kastilien. Und warum fehlt sie? Strenggenommen, weil dieses Unterscheidungsmerkmal im damaligen sozialen Leben gar nicht vorkam. Es gab es zwar, aber unter einem ganz anderen Aspekt: nämlich im Hinblick auf die religiösen Institutionen. Hier tritt es allerdings klar und deutlich hervor. Die christliche Gesellschaft war in sich einheitlich, und daher gelang es ihr, bis zu einem gewissen Punkt auch die Unvollkommenheit der weltlichen Institutionen auszufüllen. Wenn es notwendig wurde, eine Bezeichnung anzuwenden, die den Bewohner jenes Teils der Pyrenäenhalbinsel bezeichnete, der frei war vom islamischen Joch, dann gab es hierfür nur einen einzigen Begriff: christianus. Der Beiname, der den Glauben anzeigte, bezeichnete daher auch die Nationalität. Auf diese Weise war jede Kathedrale, jede Pfarrgemeinde, jedes Kloster und auch jede primitive Einsiedelei ein Glied der moralischen Kette, die trotz des Fehlens einer starken politischen Bindung alles miteinander verband.
So waren die markantesten Eigenheiten des äußerlichen Lebens der neogotischen Monarchie. Ihr internes gesellschaftliches Leben, die öffentlichen Beziehungen der Menschen untereinander und die dieser mit dem Staat wiesen vor allen Dingen eine markante Charaktereigenschaft auf. Sie bestand im großen Abstand, der die stolzen, beherrschenden Klassen, die das Leben genossen, von den die Arbeit verrichtenden Klassen trennte, die teilweise, und bis zu einem gewissen Grade, in Leibeigenschaft lebten, teilweise aber auch aus Freien bestanden. Die Aristokratie setzte sich zusammen aus dem Erbadel und der priesterlichen Hierarchie, dem Schwert und dem Buch, der Kraft von Herz und Arm und der vergleichsweisen Überlegenheit der Intelligenz. Zwei Gruppen machten das niedere Volk aus, die hinsichtlich der ihnen zuzuzählenden Menschen und ihrer Lebensverhältnisse bemerkenswert ungleich waren. Die eine bestand aus den städtischen Grundbesitzern mit voller Verfügungsgewalt über ihr Eigentum (Alloden), den Bewohnern einiger umfangreicherer Ansiedlungen, den Kaufleuten, den Handwerkern und Künstlern, das heißt, aus denen, die später bei uns homens de rua2 genannt wurden, reicheren und umtriebigeren Menschen, die an einigen Orten über die Machtbefugnisse der Stadtverwaltungen, durch Konzessionen des Königs oder der Grafen der Bezirke, die in seinem Namen handelten, Respekt für sich erheischten oder auch Furcht verbreiteten, an anderen Orten aber auch durch die Bruderschaften (conjurationes, germanitates), verschworenen Vereinigungen zum Widerstand gegen die Übermächtigen, deren verborgene Ursprünge sich vielleicht mit der nicht weniger obskuren Herkunft der Behetrien3 vermischt. Die andere Gruppe, die unvergleichlich zahlreicher war, bestand aus den in dörflichen Gemeinden lebenden Bauern (Dorfern). In jener Zeit waren die alfozes4 oder Grenzmarken der Gemeinden genannten Oasen der Freiheit noch sehr rar. Die Landbevölkerung, die verstreut siedelte und das Land mit Titeln unterschiedlichster Art innehatte, die allesamt mehr oder weniger oppressiv oder rechtlich unsicher waren, und in Abhängigkeit steuerbefreiter Mächtiger oder unerbittlicher Steuereintreiber zum Teil auch noch in Leibeigenschaft lebte, unterschied sich bisweilen kaum von den Sarazenen, Mauren oder Mossarabern, die bei den häufigen Einfällen der Leonesen in arabisches Gebiet in Knechtschaft gerieten, und deren Lebensumstände denen der schwarzen Sklaven Amerikas ähnelten oder gar noch übler waren wegen der Derbheit und Wildheit der Männer der damaligen Zeit.
Die Bürgerschaft (die Bewohner der Städte) als Keimzelle der modernen Mittelklasse, ausreichend stark zwar, um sich zur Wehr zu setzen oder doch zumindest der Unterdrückung die aufrührerische Rache entgegenzusetzen, war jedoch unfähig, wirksame Handlungen in der allgemeinen Gesellschaft auszuüben. Diese Fähigkeit erwarb sie sich erst später. Aus diesem Grund bestand die einzige Gewalt, die den politischen Zusammenhalt garantierte, in der Macht des Königs. Die oviedanisch-leonesische Monarchie war gleichsam eine Restauration der westgotischen Monarchie, die von allen barbarischen Staatengebilden dem römischen Cäsarentum in Wesen und Handlungsweise am nächsten stand. Eine Folge von Fürsten, die zwar talentmäßig nicht so hervorstachen wie Karl-der-Große, aber dennoch mit nicht gewöhnlichen Verdiensten und Energien aufwarteten, hatte es vermocht, die königliche Vorherrschaft aufrecht zu erhalten, die sich jenseits der Pyrenäen allerdings nach und nach auflöste durch die aufeinanderfolgenden Verwandlungen von öffentlichen Ämtern in Pfründen und dieser wiederum in erbliche Lehen. Der Zentralgewalt mangelte es indessen an einer verläßlichen Stütze, die ihr Halt geboten hätte; es fehlte ihr eine Mittelklasse, die zahlreich, wohlhabend und intelligent wäre, die dem Klerus durch ihre Bildung nacheiferte. Diese Klasse befand sich, wie wir bereits erwähnten, noch im Embryonalstadium und entwickelte sich erst im XIII. Jahrhundert zu einer schwachen politischen Kraft, die sich von da an allerdings rasch entfaltete und kräftigte. Von dieser Zeit an nutzte das Königtum in unterschiedlichem Ausmaß diese Allianz, um die säkularen und ekklesiastischen Aristokratien zu zähmen; auf diese Weise haben auch die Monarchien jenseits der Pyrenäen dem Feudalismus die Vorherrschaft und fast vollständig auch den politischen Charakter entzogen.
Heute ist es leicht, der irrigen Ansicht anheimzufallen, die in den Revolutionen und Kampfhandlungen im Westen der Halbinsel im Verlauf des VIII. bis hin zum XII. Jahrhundert die feudale Anarchie zu erkennen glaubt, weil man diese mit der aristokratischen Anarchie verwechseln kann. Denn es war nicht die Hierarchie, die sich aus einer Art von militärischen Familien zusammensetzte, aus Clans oder künstlichen Stammesgruppen, deren Mitglieder durch wechselseitige Rechte und Pflichten untereinander gebunden waren, die von der spezifischen Art und Weise bestimmt wurden, in der die territorialen Eigentumsrechte ausgeübt wurden, in der die Souveränität unter Ausschluß der öffentlichen Macht inkorporiert war. Stattdessen sehen wir einen Individualismus, der sich gegen diese Macht auflehnt, gegen die Einheit, gegen das Recht. Wenn die Hände, die das Szepter hielten, schwächlich oder gar auf ungeschickte Weise gewalttätig waren, wurden Aufstände nicht nur möglich, sondern sogar leichtgemacht. Das Fieber der Anarchie konnte heiß brennen; was es aber nicht gab, das war die chronische Anarchie, die organisierte Anarchie.
Dies waren die Umstände, die, vom Wahnwitz der Tochter Afonsos VI. noch unterstützt, ihre Herrschaft in eine der unheilvollsten Perioden der Unordnung, der Rebellionen und des Bürgerkriegs verwandelten. Die Unordnung war um so größer, weil der feudale Zusammenhang fehlte. Die Bande zwischen den Grafen untereinander [den Stellvertretern des Monarchen], dem [vom König eingesetzten] Bezirksrichter und dem Richter eines anderen Bezirks, dem Alkalden und dem Alkalden, dem Bezieher königlicher Stipendien und den übrigen Begünstigten, dem Lehnsmann und dem Lehnsmann, und dann auch über die Grenzen dieser unterschiedlichen Kategorien hinweg, waren so unmerklich dünn, daß die Parteilichkeiten sich mühelos fügten, trennten oder anpaßten, der Willkür der ersten leidenschaftlichen Überstürzung oder einem ehrgeizigen Kalkül folgend. Aus diesem Zustand des Aufruhrs leitete sich die endgültige Abtrennung Portugals und die Konsolidierung der portugiesischen Autonomie ab. Die anfangs als Ergebnis von Ehrgeiz und Stolz erreichte Abtrennung der beiden Grafschaften von Porto und Coimbra führte durch ein Wunder an Umsicht und Energie zur Gründung der zwar nicht stärksten, aber sicherlich wagemutigsten Nation Europas am Ende des XV. Jahrhunderts. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, ein Volk mit einer Vorbestimmung sei entstanden. In der Tat, wie wären heute die Beziehungen des Orients und der Neuen Welt mit dem Westen [Europas], wenn der Tod Portugal bereits in der Wiege ereilt hätte? Wer würde es wagen zu behaupten, daß die gegenwärtige menschliche Zivilisation ohne die Existenz Portugals die gleiche wäre?
Graf Heinrich5 überlebte seinen Schwiegervater nur geringfügig: knappe fünf Jahre; aber während dieser fünf Jahre beweisen alle seine Taten, deren Andenken bis zu uns überkommen ist, die ausschließliche Absicht, die Feuersbrunst der zivilen Zwietracht weiter anzufachen, die das christliche Spanien aufzehrte. Für welche Partei trat der Graf in den Kämpfen zwischen D. Urraca, den Anhängern von Afonso Raimundes und dem König von Aragón ein? Für alle, nacheinander; denn keine Partei war seine eigene. Seine stand für die Errichtung eines unabhängigen Staates in den Gebieten, die er regierte. Und inmitten des Aufruhrs und der Kriege, die das Reich in Flammen aufgehen ließen, hätte er womöglich seine Bemühungen von Erfolg gekrönt gesehen, wenn ihm der Tod unter den Mauern von Astorga seine Pläne nicht durchkreuzt hätte.
Aber seine Witwe, die uneheliche Tochter Afonsos VI., war durch ihre Verschlagenheit und mannhaften Willen eine würdige Gefährtin des verwegenen und wagemutigen Burgunders. Diese Löwin verteidigte den Bau, in dem schon nicht mehr das Gebrüll seines mächtigen Herrn zu vernehmen war, mit der gleichen Energie und dem selben Mut, von dem jener ihr wiederholte Beispiele vorgelebt hatte. Fünfzehn Jahre lang kämpfte sie um den Erhalt der Unabhängigkeit des Landes, das sie als Königin titulierte; und als ihr Sohn ihr sein väterliches Erbe aus den Händen riß, war noch kaum ein Jahr verstrichen, seitdem die hochfahrende Herrin ihren Nacken vor ihrem Neffen, Afonso Raimundes, dem jungen Kaiser von León und Kastilien, beugen gemußt hatte. Doch es war bereits zu spät. Portugal würde nicht noch einmal den Status einer leonesischen Provinz einnehmen.
Wenn sich D. Teresa in ihrer Witwenschaft politisch als ihres Mannes würdig zeigte, so erwies sich der Sohn in dieser Hinsicht gar als seiner beiden Eltern würdig. Der Zeitverlauf bewies darüber hinaus, daß er sie, was Beharrlichkeit und Verwegenheit anging, sogar noch übertraf. Die Natur hatte ihn mit der athletischen Gestalt und dem unbeugsamen Mut eines jener Helden der antiken Ritterromane ausgestattet, deren außergewöhnliche Begabungen die Troubadoure in ihren Legenden und Gedichten mehr oder weniger übertrieben besangen, die aber dennoch oft der realen Existenz entlehnt waren. So verhielt es sich [beispielsweise] auch mit dem Cid. Die ehebrecherische Liebe D. Teresas für den Grafen von Trava, Fernando Peres, ließ den Ehrgeiz des jugendlichen Afonso Henriques frühzeitig zum Vorschein kommen. Die Barone der Provinz, die dazu neigte, sich zu einem neuen Staate zu formieren, fanden in ihm auf natürliche Weise das Epizentrum des Widerstands gegen die Vorherrschaft eines Mannes, den sie sicherlich als einen Eindringling betrachteten, und dem die Infantin-Königin in ihrer Liebesblindheit all die Macht übertrug, die sie vormals so energisch selbst ausgeübt hatte. Der Erbitterung und dem Neid, den die Erhebung dieses Fremden im Herzen eines jeden von ihnen hervorgerufen haben dürfte, gesellte sich mit Gewißheit die Erwägung der unabwendbaren Folgen einer uneingeschränkten Vormachtstellung des Grafen hinzu. Fernando Peres gehörte einer der mächtigsten Familien Galiziens an, die dazu auch noch dem jugendlichen Herrscher von León und Kastilien am treuesten ergeben war. Sein Vater war nämlich der Vormund und Lehrer des Prinzen gewesen, als die sinnlichen Leidenschaften D. Urracas ihn ernsthaften Gefahren ausgesetzt hatten. Es war also nur allzu verständlich, wenn man zu der Schlußfolgerung gelangte, die Vormachtstellung [des Grafen Trava] könnte die sich abzeichnende Unabhängigkeit des neuen Staates zum Scheitern verurteilen.
Was sich in Portugal ereignete, war eine Wiederholung dessen, auf kleinerer Bühne, was sich zuvor in León abgespielt hatte. Dort hatte die Liebschaft D. Urracas mit dem Grafen Pedro de Lara die ehrgeizigen Ansprüche Afonso Raimundes´ begünstigt und dabei auch zugleich den Haß der leonesischen und kastilischen Barone gegen sie aufgestachelt. Hier entzündete die Liebschaft D. Teresas die Gemüter in noch größerem Ausmaße und führte eine regelrechte Revolution herbei.
Wenn bei der Schlacht auf dem Felde von S. Mamede, bei der Afonso Henriques die Macht endgültig den Händen seiner Mutter, oder vielmehr den Händen des Grafen von Trava entriß, ihm das Glück der Waffen abhold gewesen wäre, dann wären wir heute wahrscheinlich nur eine Provinz des spanischen Reichs. Aber beim Voranschreiten der menschlichen Zivilisation hatten wir eine Aufgabe zu erfüllen. Er war unabdingbar, daß am äußersten Rand von Europas Westen ein Volk auftauchte, das voller Tatendrang und Kraft wäre und für dessen Handlungen der Rahmen der vaterländischen Erde zu gering bemessen war6, ein Volk von Männern mit glühender Vorstellungskraft, mit Liebe für das Unbekannte, das Geheimnisvolle; Männern, die es liebten, sich auf dem Rücken der Wellen schaukeln zu lassen oder inmitten eines Unwetters über sie hinwegzugleiten, und deren Bestimmung es war, für das Christentum und die Zivilisation drei Teile der Welt zu erobern, wofür sie als Belohnung einzig den Ruhm erstrebten. Und der Ruhm dieser Nation ist als umso größer zu erachten, weil ihr Name über den gesamten Globus erscholl, auch wenn sie in der Beschränktheit enger Grenzen eingeschlossen und zwischen den großen Reichen der Erde versteckt lag.
Nachdem wir nun arm und schwach geworden sind und auch noch gedemütigt wurden, was bleibt uns nach so herrlichen Tagen der Macht und der Berühmtheit jetzt noch übrig als die Vergangenheit? Dort befinden sich die Schätze unserer Leidenschaften und Freuden. Mögen die Erinnerungen an das Vaterland, das wir einst hatten, der Engel Gottes sein, der uns zu gesellschaftlicher Kraft zurückberuft und zu den heiligen Gefühlen der Vaterlandsliebe. Laßt alle, deren Begabung und Bemühungen sie für die ernsten und tiefschürfenden Arbeiten an der Geschichte befähigen, sich ihr widmen. In einer dekadenten Nation, die jedoch reich an Traditionen ist, ist das Werk der Aufarbeitung der Vergangenheit eine Art moralischen Lehramtes, eine Art von Priestertum. Mögen es diejenigen ausüben, die es können und handzuhaben verstehen; denn es nicht zu tun, kommt einem Verbrechen gleich.
Und die Kunst? Möge auch die Kunst in all ihren äußerlichen Erscheinungsformen diesen edlen Gedanken darstellen; möge das Drama, das Gedicht, der Roman immer ein Echo jener poetischen Ären unseres Landes sein. Denn das Volk soll in allem und überall die großen Schatten seiner Vorfahren erkennen können. Der Vergleich [zu der Gegenwart] wird ihm bitter schmecken. Aber, ihr Männer der Kunst, so wie für das unschuldige Kindchen aus dem Jerusalém Libertada7 reibt auch hier den Rand der Schale mit süßem Likör ein, in der sich die [bittere] Arznei befindet, die es retten kann.
Solange jedoch die Tage noch nicht gekommen sind, an denen die reinen und edlen Begabungen der dann zu Männern Herangewachsenen die Feierlichkeit der Kunst ausschließlich auf dem Altar der Liebe zum Vaterland zelebrieren, laßt uns einen der zahlreichen Steine aufrichten, die von den Tempeln und Palästen herabstürzten, damit die kraftvollen Handwerker, die nicht auf sich warten lassen werden, bei seinem Anblick ausrufen können: „Die Hände, die dich hierhergestellt haben, waren kraftlos, aber das Herz, das sie lenkte, hatte bereits eine Vorahnung von dem Lichtstrahl, der uns erleuchtet“.
1 siehe zur Erklärung des Begriffs „prócere“ meine Übersetzung von Eurico, der Presbyter. Siehe auch: W. Meyer und E. Lessing, Deutsche Ritter, Deutsche Burgen, S. 20: „Die höheren Schichten der Gesellschaft, die Mächtigen und Großen, in Urkunden als optimates bzw. proceres bezeichnet, standen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum König, sie hatten ihrerseits Gefolgsleute, die, besonders wenn sie Wehrdienst leisteten, gasindus genannt wurden...“.
2 wörtlich: Menschen (Männer) der Straße.
3 Unter behetria verstanden die Kastilier im Mittelalter Ortschaften und Dörfer, die das Recht besaßen, ihre Herren nach Gutdünken und opportunistischen Kriterien wählen zu dürfen, beispielsweise danach, ob sie ihnen Schutz und Nutzen bringen könnten, sich also im Sinne des mittelalterlichen Ritters „ehrlos“ verhielten.
4 Aus dem Arabischen al-huz: autonomer Bezirk, Umgebung einer Ortschaft.
5 Gemeint ist hier Heinrich von Burgund, der eine weitere (illegitime) Tochter Afonsos VI. (Tareja = Teresa) geheiratet hatte und mit den genannten Grafschaften belehnt worden war.
6 Herculano schrieb dies, nachdem Portugal einen großen Teil seines Imperiums verloren hatte, eine Weile lang (1580-1640) seiner Unabhängigkeit verlustig gegangen und danach – vor allem durch die Engländer – zu sehr ungleichen Verträgen gezwungen worden war. In einer vermeintlich „gloriosen“ Vergangenheit suchte er idealisierend einen Quell für ein neues Aufblühen seines Landes. Doch der Jesuit Padre António Vieira (geb. 1608 in Lissabon), der dieser Vergangenheit viel nähergestanden hatte, hatte hierzu eine viel kritischere Meinung, wenn er sagte: „Gott gab den Portugiesen ein kleines Land zum Leben und die ganze Welt zum Sterben“.
7 Befreites Jerusalem.
Die Burg von Guimarães, so wie sie sich zu Beginn des XII. Jahrhunderts den Blicken des Betrachters darbot, unterschied sich von allen übrigen Festen, die fast alle Anhöhen der Lehens- und Krongüter in Portugal und in Galizien bedeckten, durch die Stärke ihrer Anlagen, ihre Weitläufigkeit und Eleganz. Der größte Teil der Gebäude dieser Art bestand damals aus nichts anderem als aus einer Anhäufung schwerer Holzbalken, die gegeneinander verschränkt wurden; sie wiesen eine Reihe unregelmäßiger Türme auf, deren Mauerwerk oftmals mörtellos aus Steinen zusammengefügt war, wodurch sie kaum dem Ansturm der Rammböcke und dem Beschuß durch die Katapulte zu widerstehen vermochten, während die Holzbalken, die diese schwachen Mauern miteinander verbanden und ihnen gewissermaßen den Anschein einer dauerhaften Festigkeit gaben, den gravierenden Nachteil aufwiesen, leicht in Brand zu geraten. Daher gab es keine Burg, in der zwischen den Waffen und den Vorräten für den Kriegsfall nicht auch die geräumigen Essigbottiche an den wichtigsten Plätzen anzutreffen waren, deren Flüssigkeit sich erfahrungsgemäß am besten eignete, das entzündete Pech wieder zu löschen, das an solchen befestigten Orten gern als Mittel der Zerstörung Verwendung fand. Wenn der auch als Schildkröte oder Katze bekannte Wandelturm, eine Art von fahrbarem Pult, das von ungegerbten Lederhäuten schützend überdacht war, sich rumpelnd, schwerfällig und langsam wie ein Gespenst den Mauern irgendeiner Burg näherte, transportierten die gemeinen Soldaten eine große Menge dieser Rettung bringenden Flüssigkeit, die die von stinkenden Rauchwalzen umhüllten Flammen niederzuschlagen fähig war, die erwartungsgemäß in absehbarer Zeit aus den kantigen Balken des kriegerischen Gebäudes züngeln würden, zu dem Abschnitt der Mauer oder dem Turm, zu dem jener gelenkt wurde, während die kräftigsten Ritter mit riesigen Steinen rangen, die sie zu den Lücken zwischen den Zinnen schleppten, um sie von dort aus oder durch die Maschikulis8 auf das Schutzdach der Angriffsmaschine hinabzuschleudern. Oftmals waren diese Vorsorgemaßnahmen jedoch nutzlos, vornehmlich gegen die Sarazenen.
Bei diesen hatte eine fortschrittlichere Zivilisation nämlich dazu beigetragen, den früheren Fanatismus abzumildern, den barbarischen Mut zu brechen und die physische Stärke der waffentragenden Männer zu reduzieren: ihre Meisterschaft in der Kunst der Kriegsführung glich diesen Mangel jedoch aus und stellte den moslemischen Soldaten mit dem christlichen, der zwar robuster und fanatischer war und aus diesen Gründen auch ungestümer kämpfte als jener, auf eine gleichwertige Ebene. Es war vor allem bei den Belagerungen, nicht nur, wenn sie sich zu verteidigen hatten, sondern auch bei ihren Angriffen, daß den Arabern der Wert ihrer intellektuellen Überlegenheit bewußt wurde. Ihre Kriegsmaschinen, die nicht nur wegen der besseren Abstimmung der mechanischen Kräfte sondern auch wegen der größeren Vielzahl von Gerätschaften und Erfindungen vollkommener waren als die der Nazarener, verschafften ihnen beachtenswerte Vorteile über die derbe Taktik ihrer Gegner. Ohne Zuhilfenahme des Wandelturms wußten die Araber mit Skorpionen, die aus feuerspeienden Rohren [Mangen und Matafunden] herausgeschossen wurden, die Burgen aus der Ferne in Brand zu stecken. Aus Schwefel, Salpeter und Naphtha setzten sie eine fürchterliche Mixtur an, mit der sie aus den Rohren hohle Eisenkugeln abfeuerten, die mit dem selben Gemisch gefüllt waren, die, durch die Luft sich schlängelnd und sirrend, innerhalb der belagerten Mauern explodierten und eine Art von unlöschbarer und infernalischer Lava ausspieen, gegen deren Heftigkeit alle Vorsorgemaßnahmen fast immer ebenso vergeblich waren wie der Mut und die Kraft der zähesten Ritter und Waffenknechte.
Aber die Burg von Guimarães konnte von den schroffen Felsen, auf denen sie errichtet worden war, mit ruhiger Verachtung auf die schrecklichen und vielfältigen militärischen Gerätschaften von Christen und Sarazenen hinabblicken. Die beste Festung Galiziens, das Castro Honesto9, die der sehr mächtige und verehrungswürdige Herr Diogo Gelmires, der erste Erzbischof von Compostella, erst kürzlich mit all der Sorgfalt des Bauherrn hatte umbauen lassen, dem bewußt war, daß jene Zwingburg eine Art von Schlüssel zu jenem weitläufigen compostellanischen Lehen und Herrensitz darstellte, war im Umkreis von dreißig Meilen vielleicht die einzige, die es wagen könnte, sich mit Guimarães um den Vorrang zu streiten. Wie bei jener war der Burggraben dieser Feste breit und tief: ihre Zugänge waren geräumig und durch gute Außenwerke geschützt, und ihre Mauern, in kurzen Abständen mit Bastionen versehen, hoch, zinnenbewehrt und ungeheuerlich dick, wovon auch die Breite der Wehrplatten Zeugnis ablegte, die über die Mauerkrone verliefen. Der Bezirk, der von so furchteinflößenden Schutzanlagen eingefriedet wurde, umfaßte auch einen trutzigen Wohnturm, der ebenfalls zinnenbewehrt war und sich beherrschend bei den Mauerfluchten zwischen den Flankierungstürmen empordrängte und diese – mit Ausnahme des Hauptturms oder Bergfrieds - auch noch stolz überragte, welcher sich massiv und viereckig und mit schlanken Echauguetten (Scharwachttürmchen) versehen, die an seinen beiden Außenecken hervortraten, über dem dunklen Portal des Zugangs erhob, einem Riesen gleich, der sich aufrecht emporreckte und die Hände in den Hüften abstützte und die demütige und bescheidene Ortschaft bedrohte, die dort unten, am Fuße des sanften Hanges, schüchtern und bedrückt wie ein Gemeiner vor einem hochgestellten Herren kauerte.
Aber seht Ihr es denn nicht, dort in der Ferne, zwischen den Häuserreihen der Ortschaft, dem Grün der von Steinmauerchen eingegrenzten Gemüsegärtlein, die eingestreut zwischen den Häusern der Bürger einen weitläufigen Teppich bilden, auf dem sich die Wände weißgetünchter Mauern aufrichten, und den roten, sauber ausgerichteten Dächern der bescheidenen Behausungen der Tagelöhner? Seht Ihr dort nicht, ich frage Euch nochmals, den Säulengang einer Kirche, das Eingangsportal eines Asketenklosters, die Wetterfahne auf einem Glokkenturm? Dort liegt die Abtei von D. Mumadona, ein Kloster schwarzer Mönche; sie war der Ausgangspunkt dieser Ortschaft, dieser Felsenburg und ihrer königlichen Pfalz. Zweihundert Jahre lang hatten in diesem Tal nur einige Leibeigene gelebt, die die villa oder das Krongut von Vimaranes10 beackerten. Aber die Abtei wurde errichtet, und die Ortschaft wuchs. Der anmutige und angenehme Platz lockte die Mächtigen herbei: Graf Heinrich wollte dort eine Zeitlang leben, und auf den Ruinen einer kleinen und schwächlichen Burg, in der die Mönche Zuflucht zu suchen pflegten vor dem verheerenden Sturm der feindlichen Einfälle der Mauren, ließ er jenes Wunderwerk errichten. Die häufigen Aufenthalte des Hofes und der Handel bereicherten die Bürger; viele Franken, die in Begleitung des Grafen [nach Portugal] gekommen waren, hatten sich dort niedergelassen, und die homens de rua oder Bewohner der Ortschaft begründeten eine zivile Gesellschaft. Es entstand nun eine Kreisstadt, und diese anscheinend so bescheidenen Häuser verbargen bereits damals eine Portion jenes Ferments antitheokratischen und antiaristokratischen Widerstands, das, nach und nach sich über das gesamte Land verteilend, im Verlauf von drei Jahrhunderten die Aristokratie und die Theokratie mit gebundenen Händen zu Füßen der Könige ablegte. Die Elite der Herrschenden, die bereits mit Leidenschaft der Jagd nachging, die auch in Zukunft bei Festanlässen die Tafeln ihrer Nachfolger bereichern würde, band ihre Jagdhunde gern in deren Nähe an; sie verlegte die Ratsversammlungen in die Nachbarschaft der Burg, des Klosters und der Kathedrale. Guimarães erhielt vom Grafen rasch einen Freibrief, eine das Stadtrecht bestätigende Urkunde, alles pro bono pacis11, wie das entsprechende Dokument wissen läßt.
In diesem Palas, der von Befestigungsanlagen umgürtet wurde, die glanzvoll, gediegen, elegant und dennoch furchterweckend waren, beginnt nun unsere Erzählung. In ihm wohnten zu dieser Zeit seine tugendhafte Herrin, die verehrte Königin, D. Teresa, die Infantin der Portugiesen, und der hochedle und ehrenwerte Herr Fernando Peres, Graf von Trava, Konsul des portugalensischen Landes und des von Coimbra, in Galizien Burgherr der Burg von Faro und in Portugal der Burgen von Santa Ovaia und Soure. Er war die bedeutendste Person am Hof von Guimarães nach D. Teresa, der bildschönen Infantin, um uns eines Epithetons zu bedienen, das Graf Heinrich selbst ihr in seinen Urkunden zukommen ließ, der doch am besten wissen mußte, ob diese Bezeichnung auf sie zutraf. Obwohl sie in die Jahre gekommen war, glauben wir nicht, daß dieses schmückende Beiwort in der Zeit, auf die sich unsere Geschichte bezieht, zu einem völligen Anachronismus geworden wäre; denn weder war die Bastardin Afonsos VI. wirklich alt, noch sollten wir uns vorstellen, daß die Liebe Fernando Peres´ schlicht und einfach einem ehrgeizigen Kalkül entsprochen habe.
Es gab jedenfalls Zeiten, in denen diese Zuneigung, die allem Anschein nach heißblütig und gegenseitig war, die Lästerzungen außerordentlich angespitzt hatte. Nach und nach aber hatten sich viele Matronen mit moralischen Anwandlungen, bei denen die Zeit ihr Werk als Meisterin der Tugend verrichtet hatte, vom Hof entfernt und sich auf ihre Lehen und Herrensitze zurückgezogen. Mit diesem zusätzlichen Verzicht brachten die edlen Damen das eigene Leiden bei der Betrachtung dieses Skandals Gott als Opfergabe dar. Im übrigen lachte allen das höfische Leben mit seinen Gesellschaften, den Turnieren, den Banketten, den Feiern! – Wie sehr erheiterten es die Scharen jugendlicher Ritter, von denen viele im Krieg des vorangegangenen Jahres gegen den König von León zum ersten Male die Waffen ergriffen hatten! Darüber hinaus, welche Kirche gab es in der Umgebung, außer der Bischofskirche von Braga vielleicht, in der die religiösen Feierlichkeiten mit größerem Pomp zelebriert würden als im Kloster von D. Muma, das so bescheiden dort unten im Orte lag? Welche Kathedrale oder Kloster von Asketen verfügte über eine harmonischere Orgel als jenes? Wo konnte man Kleriker oder Mönche finden, die mit feiner aufeinander abgestimmten Stimmen ein gloria in excelsis oder ein exsurge domine12 erklingen lassen konnten? Kult, Liebe und Geselligkeit, dreifacher Zauber des Mittelalters, wie könnten Euch diese unschuldigen Herzen widerstehen? Auch wenn es ihnen schwerfiel, fuhren die Edelfräulein daher weiterhin fort, ihre schöne Infantin zu umgeben, die sie sehr liebten. Und was die Alten anbetraf, so spielte es kaum eine Rolle, daß sie verschwunden waren.
Mit solcherlei Gründen und noch anderen mehr rechtfertigten die Damen vor ihren natürlichen Gebietern die Fortführung ihres unbeschwerten Lebens am Hofe: den Eltern gegenüber führten sie ihre Ergebung, den Ehemännern die Ehrerbietung für die großzügige Königin an, deren Vögte und Alkalden sie waren; ihre stets nachsichtigen Brüder wiesen sie auf ihre Liebe zu Tanz und Turnieren hin, deren Verlockungen jene noch besser als sie einzuschätzen vermochten. Unter der Oberfläche dieser dringlichen Gründe gab es jedoch noch einen weiteren, der nicht weniger zwingend war, den aber keine bewußt beachtete, oder, wenn er denn doch erkannt wurde, keine von ihnen sich auszusprechen getraut hätte. Dieser Grund lag in einer Hexerei, einem unerklärlichen Zauber, einer unwiderstehlichen Faszination, die ein einzelner Mann in all diesen Köpfen erzeugte. Etwas Unglaubliches, fürwahr, aber so wahr wie die Wahrheit selbst. Ehrenwort eines Romanautors!
Tanzfest im Palast
Und es handelte sich dabei keineswegs um einen großen Mann: vom Habitus wies er nur wenig mehr als vier Fuß auf; er war häßlich wie ein Jude, wanstig wie ein Domherr aus Toledo, unrein wie das Gewissen des berüchtigten Erzbischofs Gelmires und unverschämt wie ein Gemeiner aus einer Behetrie. Genannt wurde er Dom Bibas. Als der Zögling der Abtei D. Mumas das Alter erreichte, das man gewöhnlich als das der Vernunft bezeichnet, wo es in Wahrheit doch das der großen Verrücktheiten ist, befand er, daß die Abgeschiedenheit mönchischen Lebens für ihn nicht angebracht wäre. Er entledigte sich daher seiner Kutte, zu deren Tragen sie ihn seit seiner Geburt verurteilt hatten; und als er die Schwelle des Asketenklosters überschritt, würgte er den Mönchen die Gesamtheit des Lateins vor die Füße, mit dem sie begonnen hatten, ihm den Geist zu vergiften. Darauf, als er sich den Staub von den derben Schuhen schüttelte, wandte er sich dem sehr verehrungswürdigen Bruder Türschließer zu, und in einem riesigen Kraftakt der Selbstverleugnung schleuderte er ihm die gesamte hebräische Wissenschaft ins Gesicht, die er sich bis dahin in diesem heiligen Hause angeeignet hatte, indem er ihn mit einem höhnischen Gesichtsausdruck anschrie: raca maranata, raca maranata; danach verschwand er, so wie auch der eifrig bejagte Hirsch in den Wäldern des Gerês in jener Zeit aus den Augen der Jäger zu verschwinden begann.
Wir lassen uns hier nicht aus über die ungezügelte Lebensweise unseres Zöglings in seiner Jugend. Über Monate hinweg führte er ein Leben, wie es in jener Zeit üblich war und auch heute noch ist, das Leben eines Mannes aus dem Volk, der, wenn er nicht im Kloster lebte, danach trachtete, die Zähne in den dem Armen verbotenen Apfel zu verbeißen – das aristokratische Nichtstun, ein unerklärliches und wundersames Leben, ein Leben, bei dem an einen Tag bequemen Überflusses und unvorbedachten Saufens sich viele der vollkommenen Enthaltsamkeit anreihten. Die Not jedoch erweckte bei ihm eine Kunstfertigkeit: Dom Bibas begann die Inspirationen eines Bänkelsängers und die Talente eines Possenreißers in sich zu entdecken. Nach und nach wurde seine Anwesenheit in den Schenken der Ortschaft so wünschenswert wie die Fässer mit gutem Bier, das in dieser Zeit ein weitverbreitetes und in seinen Auswirkungen ebenso angenehmes Getränk war wie der Wein, der damals in den Bechern der Landbevölkerung noch relativ selten anzutreffen war. Der Ruf D. Bibas hatte unermeßliche Höhen erklommen, als Graf Heinrich seinen Hof nach Guimarães verlegte. Zum Glück für den ehemaligen Klosterzögling hatte der Narr, den der französische Fürst in seinem Gefolge aus Burgund mit sich gebracht hatte, als er sich von Fremden umringt sah, die seine Späße kaum zu begreifen vermochten, erkannt, daß sie in solcher Umgebung keinerlei Sinn machten. Als er vor Kummer darüber starb, empfahl er seinem edlen Herrn zur Entlastung seines Gewissens, er möge unter den Männern der Grafschaft jemanden suchen, der diese wichtige Aufgabe ausüben könnte; denn ein dem seinen ähnliches Schicksal würde jeden zivilisierten Narren aus dem zivilisierten Burgund inmitten dieser dummen Wilden des Westens erwarten. In der Versammlung der Barone, Grundbesitzer und Prälaten, die sich gerade am Hofe aufhielten, stellte der Graf die Angelegenheit vor. Es gab Meinungen, daß man einen solchen Narren nicht suchen sollte. Die Anhänger dieser Meinung begründeten sie mit der Feststellung, daß weder in der Zivilgesetzgebung Portugals, Coimbras oder Galiziens (dem Buch der Richter) noch in den Dekreten des Heiligen Vaters noch auch unter den traditionellen Bräuchen der Söhne der Wohlgeborenen oder fidalgos von Portugal, Spuren oder Andenken an ein solches Hofamt aufzufinden seien. Es siegte jedoch der Fortschritt: die Bischöfe und ein großer Teil der Herren, die Franzosen waren, verteidigten die heimatlichen Institutionen, und die fröhliche Schalkhaftigkeit dieser Nation trug zuletzt den Sieg über die traurige portugiesische Ernsthaftigkeit am Hofe D. Henriques´ davon, so wie sich auch das gallisch-römische Brevier wenige Jahre zuvor unter D. Afonso VI. über sein gotisches Gegenstück siegreich hinweggesetzt hatte.
In dieser Situation nun sah sich D. Bibas ohne Protektion und Empfehlungen zu einer Stellung emporgehoben, die er in seinen ehrgeizigsten und angenehmsten Träumen vom Glück niemals zu erklimmen erhofft hätte. Eigenes Verdienst und eigener Ruhm hatten ihm das Narrenszepter seines Vorgängers, die Narrenkappe mit den Eselsohren, das aus Stoffen in tausend Farben bestehende Wams und den mit Schellen versehenen Rock in die Hände gespielt. Von einem zum anderen Tage lernte der ausgezeichnete Mann, wie ein Herr zu blicken und eine schützende Hand über jene zu halten, die ihn am Vortage noch ausgebuht hatten. Wir wollen zu Ehren D. Bibas aber auch wahrheitsgemäß hinzufügen: bis zu der Zeit, zu der sich die außergewöhnlichen Ereignisse zutrugen, die wir nun zu berichten beginnen, war er stets edelmütig, und es ist uns auch nicht bekannt, daß er jemals sein Ansehen und seinen politischen Einfluß zum Nachteil der Geringen und Niederen mißbraucht habe.
Den Leser, dem das Leben im Mittelalter nicht – wie man so zu sagen pflegt – in- und auswendig vertraut ist, wird die Hartnäckigkeit, mit der wir dem politischen Einfluß des Narren des Grafen von Portugal Gewicht beimessen, sicher zum Lachen reizen. Aber das Lachen wäre mit Bestimmtheit nicht angebracht. In jenen Zeiten entsprach das Amt des Narren bis zu einem gewissen Grade dem der Zensoren der römischen Republik. Viele Leidenschaften, die die Zivilisation nachträglich mit dem Makel der Niederträchtigkeit versah, waren damals noch nicht geheuchelt; denn die Heuchelei war erst das großartige Ergebnis, das die Zivilisation mit ihrer [negativen] Bewertung hervorbrachte. Die Haßgefühle und die Racheakte waren auf eine ehrliche Weise grimmig, die Ausschweifungen lagen offen zutage, die Tyrannei barg keine Geheimnisse. Im XVI. Jahrhundert vergiftete Philipp II. [von Spanien] seinen Sohn in der Finsternis eines Verlieses; doch noch zu Beginn des XIII. Jahrhunderts hatte Sancho I. von Portugal, als er den Klerikern von Coimbra, die sich weigerten, die heilige Messe in den vom Interdikt belegten Kirchen zu zelebrieren, die Augen in Anwesenheit all der Verwandten der Opfer herausreißen lassen, die er als Zeugen für diese Strafe geladen hatte. Philipp war ein in gesitteter Manier feiger Verwandtenmörder; Sancho ein auf grausame Weise rachsüchtiger Barbar. Zwischen den beiden Fürsten liegt zeitlich gesehen der Abstand von nur vier Jahrhunderten, aber eine Unendlichkeit, was den moralischen Unterschied anbetrifft.
In einer Gesellschaft, in der die menschlichen Schändlichkeiten sich solcherart unverhüllt den Blicken darboten, war deren Beurteilung ein Leichtes. Schwer fiel es hingegen, sie zu verurteilen. Wenn eine schändliche oder verbrecherische Tat begangen wurde, fiel bei der stark ausgeprägten Stufenleiter der Privilegien deren Auswirkung in der Regel auf diejenigen zurück, die auf niedrigeren Stufen standen als die, die den Anschlag tatsächlich verübt hatten. Das System der Hierarchien war nicht für Klagen eingerichtet: wie sollte da eine Verurteilung möglich sein? Die Zivilgesetze versuchten in der Tat, diese absurde Situation aufzuheben oder sie doch zumindest abzuändern; aber es war die Gesellschaft, die diese Institutionen zerstörte, die für die Gesellschaft ebensowenig Verständnis aufbrachten wie die Gesellschaft für sie. Warum beobachten wir sonst von einer Herrschaftsperiode zur nächsten, oftmals fast in jährlichem Abstand, eine Erneuerung jener Gesetze, die dazu führen sollten, die Ungleichheit der Zustände durch die Gleichheit vor dem Gesetz zu ersetzen? Es geschah, weil eine solche Gesetzgebung schon bei ihrer Verkündigung einer Totgeburt gleichkam, ein unnützer Protest einiger schöner und reiner Seelen, die es danach verlangte, daß schon gegenwärtig Bestand haben sollte, was erst der Zukunft vorbehalten sein konnte.
Aber inmitten des grauenvollen Schweigens eines unbeschreiblichen Erduldens und erzwungenen Leids gab es einen Mann, der, so leicht wie sein eigener Kopf, so frei wie die eigene Zunge, die steile und lange Treppe der Privilegien hinauf- und hinabzusteigen, auf jeder ihrer Stufen seine tadelnde Stimme zu erheben, jedes Verbrechen mit einer gallebitteren Beleidigung zu bestrafen und die Ehrlosigkeiten von Mächtigen aufzudecken vermochte und solcherart, oftmals ohne es selbst zu wissen, die einfachen Menschen angetane Schmach und Demütigung rächen konnte. Dieser Mann war unser Hofnarr. Das Amt des Narren war eine geheimnisvolle Einrichtung des Mittelalters. Heutzutage ist seine soziale Bedeutung verächtlich und ungreifbar: aber damals war es ein Spiegel, der, auf grausame Weise ehrlich, die scheußlichen Gesichtszüge einer aufgewühlten und unvollkommenen Gesellschaft wiedergab. Der Narr, der an den Höfen der Könige und Barone lebte, bekleidete ein schreckliches Amt. Er war gleichzeitig Richter und Henker; aber er richtete ohne Prozeß, vor seinem eigenen inneren Gerichtshof, und er streckte nicht den Körper, sondern den Geist des Verbrechers auf der immateriellen Folterbank der Verunglimpfung.
Und er lachte, lachte in einem fort! Ein teuflisches Lachen war dem Narren eigen: denn er unterließ es niemals, die Fasern irgendeines Herzens auf schmerzliche Weise in Schwingungen zu versetzen. Seine satirischen Aussprüche, die auch für die Belustigung der Höflinge sorgten, ließen stets ein Opfer zurück. Wie der Zyklop aus der Odyssee nahm sich im Waffen- oder im Bankettsaal, in den Logen der Tjost- oder Stierkampfarenen, während der glanzvollen und leidenschaftlichen Nächte der Geselligkeiten und sogar neben den Altären, während das Gotteshaus erdröhnte von den Harmonien der