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Impressum
DIE SITZHASENGRÄBER DES MIRKO S.
Erzählung
Geschrieben 1998 - 2002
und in Druck gelegt am 1. Juli 2014
2. Auflage Dezember 2014
Band 5 der Reihe
PrivatEdition
Copyright © 2014 by fantart publishing & dem Autor
Alle Rechte vorbehalten
fantart@gmx.at
Cover: © Andreas Nikolaus Franz
Datenaufbereitung:
Wolfgang Hentschel / w.hentschel@aon.at
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt, Deutschland
ISBN: 978-3-7357-6807-0
DIE SITZHASENGRÄBER und andere Entdeckungen und Erfahrungen des Mirko Segal M.A. Dr.phil. sind skurrile Episodenerzählungen.
Die Geschichten und Abenteuer des Archäologen Mirko Segal und seiner künftigen Frau Arthura greifen die Themen in der Art der Unsolved Mysteries auf.
Dabei werden reale und belegte Fakten über die Geheimnisse der Pyramiden, die Historie der Tempelritter oder etruskische Ausgrabungen, so lange gedreht und gewendet, bis unfassbarer Blödsinn sehr vernünftig erscheint. Irgendwann ist nicht mehr durchschaubar, was gesichertes Wissen ist und was Fiktion.
So erscheint es wahrscheinlich, dass die Tempelritter Kaffeehäuser in Wien errichteten und das auch noch nach den geheimen Maßen der Kathedrale von Chartres. Oder über die unbekannten Konsequenzen der Tatsache, dass Sigmund Freud lieber Archäologe geworden wäre. Und von Goebbels wird glaubhaft gemacht, dass er die Methoden der Nazis nach den Schriften Darwins, aber des anderen, und nach Anmerkungen Napoléons konzipierte.
Abgesehen davon, dass als unbestreitbare Tatsache nachgewiesen wird, dass der Mensch wahlweise von den Hasen, den Vögeln oder den Maulwürfen abstammt.
Es sind nur 8 Episoden der phantastischen Art. Hätten Mirko und Arthura nicht in der letzten Geschichte in einer Wiener Pension Quartier genommen, wären es sicher noch mehr geworden.
Aber es kann durchaus sein, wenn die beiden dort ausziehen – falls sie dort ausziehen – dass es doch noch mehr werden.
Er saß an seinem schmalen Arbeitstisch in der Ecke des Depotraums, wo durch ein kleines Fenster knapp unter der Decke Tageslicht in den nur sehr mangelhaft beleuchteten Raum sickerte. Dieser war vollgestellt mit hölzernen Regalen, deren Bretter sich je nach der Schwere der gelagerten Gegenstände, in der Mitte durchbogen. Manche so sehr, dass sie mehr auf den wiederum darunter liegenden Gegenständen lagerten, als auf den Fachträgern.
Mirko Segal, M.A.Dr.phil. arbeitete an einem Katalog der Ausgrabungen des Jahres 18**, des Afrikareisenden und Ägyptologen Wilhelm A. v. W., der in der Folge der Ägyptomanie des ausgehenden 19. Jahrhunderts unzählige Artefakte von Grabräubern in den dunklen Basaren Ägyptens gekauft, nach Europa verschifft und in seinen Kellern verstaut hatte. Ohne dass die Ballen je geöffnet worden waren, kam die Hinterlassenschaft an das hiesige Museum und wurde hier wieder, zur späteren sorgfältigen wissenschaftlichen Bearbeitung, eingelagert. Krieg und Inflation, ein häufiger Wechsel von Regierungssystemen und ein neuerlicher Krieg hatten verhindert, dass das angehäufte Material je gesichtet worden war.
Und letztlich war Wilhelm A v. W. ja auch nicht Schliemann gewesen und der vermutete historische Wert des Gerümpels, nicht der Goldschatz von Troja.
Wilhelm A. v. W. war als Haudegen bekannt, als einer, der sein Leben genoss, mit Weibern allerlei Geschlechts poussierte und nicht davor zurückschreckte, während der geheimdienstlichen Aufträge im belagerten Paris 1870, statt patriotisch tätig zu sein, Schinkenspeck aus Brandenburg für irgendwelche Miezen zu schmuggeln. Und der unter Gefahr für das eigene Leben Papier für einen verhungerten Schreiberling, der sich Lautreamont nannte, in dessen choleraverseuchtes Kellerloch schaffte. Einfaches Schreibpapier im Kanzleiformat und von ebensolcher Qualität, aber aus kaiserlich deutschkaiserlichem, ärarischem Besitz entwendet und dann auch noch um eine Branntweinflasche gewickelt.
Man hatte, als er bei einem verrückten akrobatischen Akt mit Dame am Kronleuchter seines Schlafzimmers seinen Tod fand, das gesamte Inventar des berühmten Bürgers der Stadt übernommen. Den drei in seinem Haus wohnenden Frauen übergab man neben einem ansehnlichen Reisegeld, einen mit amtlichem Stempel gesiegelten Freibrief, der jedem kundtat, dass Madame Fatima, Madame Zubaida und Madame Uhlelah frei seien, da weiland Wilhelm A. v. W. nunmehr das Zeitliche gesegnet habe und sie rechtmäßig auf dem Sklavenmarkt von Alexandria bzw. in Khartoum als sein Eigentum erworben hatte.
Der damalige Kaufpreis für weibliches Personal wurde bei der Bemessung des Gesamterbes nicht berücksichtigt, da Sklaven, und Schwarze allemal, im damaligen Preußen wie im übrigen Deutschland, ja keinen Handelswert besaßen. Das andere Inventar, soweit es sich um orientalische Gegenstände oder sogenannte Kunstwerke handelte, wurde dem Museum übergeben. Die Lebensmittelvorräte und Gebrauchsgegenstände von geringem Wert wurden unter Beifall an Bedürftige verteilt. Der Weinkeller ging für einen Anerkennungsbetrag an den Nachlaßverwalter, der wie man sich erzählte, mit mehreren Fuhren die Kisten und Fässchen zu seiner Adresse schaffen ließ. Das weitläufige Haus mit dem weitläufigen Park in Falkensee nahe Spandau selbst erwarb der Notar, der alle Formalitäten abwickelte und es mit seinen Spesensätzen verrechnete, so dass der Allgemeinheit keine Kosten entstanden.
Mirko Segal hatte nun die Aufgabe übernommen, das durch fast hundert Jahre unberührt gebliebene Depot aufzulisten, zu erfassen und dank seiner gediegenen Ausbildung so zu beschreiben, dass qualifiziertere Wissenschafter es beurteilen konnten. Sensationen waren keine zu erwarten, da man schon in den ersten Ballen nur Dinge von geringem Wert eingehüllt in Kamelhäute, Gazellenfelle, die auch streng rochen, oder in den Balg eines Löwen, gefunden hatte.
Mirko Segal hatte zwar mehrere Studien abgeschlossen, war aber teils wegen seiner Jugend, andererseits wegen seiner ständigen Redensart, dass er nur wegen seiner frühen Lektüre von Karl May und zahlreichen Kinobesuchen im Delphi-Palast, diese Studienrichtung ergriffen habe, stets als unwissenschaftlich ignoriert worden.
So war er froh, wenigstens in diesem, für eine wissenschaftliche Karriere unergiebigen Bereich, arbeiten zu können. Er war froh, den temporären Posten bekommen zu haben, da es ihm besser ging, als seinen Freunden, die als Disc Jockeys sich die Ohren voll plärren lassen mussten, oder als Nachtfahrer im Taxi, die Schrecken der Großstadt erleben durften.
Er hatte es sich wohnlich gemacht.
Nicht wirklich, aber doch.
Als erstes hatte er sich eine kleine Palme organisiert. Eine echte Palme, fast 1,5 m hoch in Hongkong plastifiziert, sodass sie kein Tageslicht benötigte und auch dort als Palme stehen konnte, wo es keine Pflanze aushielt und nur Akademiker arbeiten durften, weil auf sie die Arbeitnehmerschutzvorschriften keine Anwendung fanden.
Dann hatte er den Arbeitstisch unter das kleine Fenster geschoben, darauf einen wackeligen Tisch und auf diesen einen noch wackeligeren Stuhl gestellt. Darauf stehend, hatte er auf das Fensterchen, das sich etwa auf Straßenniveau befand, eine Sonne gemalt, in die linke obere Ecke, die so etwa ein Drittel der von Metallsprossen unterbrochenen Scheibe einnahm.
Und dann hatte er seiner Phantasie den Auftrag gegeben, ihm zu suggerieren, dass er in der kühlen Grabkammer einer Pyramide arbeite, die einen Pharao oder dessen Söhnen oder seinem Schreiber - oder wer halt die Grabkammer der Pyramide im Tod belebte - beherbergt. Das war falsch formuliert. Er gab seiner Phantasie den Auftrag, ihm die richtigen Worte zu suggerieren um die Illusion nicht zu stören. Also: der in der Kammer beigesetzt worden war.
Das half.
Entdeckerlust trieb ihn so früh am Morgen, wie es nur möglich war, an seinen Arbeitsplatz und er blieb, bis er Hunger nach einer warmen Mahlzeit verspürte.
Er kam zügig voran, speicherte Information um Information auf seinen privaten Laptop, katalogisierte und etikettierte.
Er entpackte die Ballen, beschrieb, wie ein Protokollbeamter bei der Gerichtsmedizin, jedes Detail und stellte bald fest, dass der gute Wilhelm A. v. W. ein Anhäufer von hundertjährigem Flohmarktramsch gewesen war, dem man die unglaublichsten und bizarrsten Schöpfungen von Basarhändlern, als ägyptische Ausgrabungen angedreht hatte.
Er war jetzt am Anfang des dritten Monats seiner Tätigkeit hier und also in der Mitte seiner Vertragszeit. Und erst ein ganz geringer Teil der Arbeit war getan.
Er hoffte, wie jeder Archäologe, dass er ungeheure Schätze finden werde. Vielleicht nur von materiellem Interesse, vielleicht aber auch von wissenschaftlichem. Sodass - vielleicht - sein Name entweder in der Reportage eines lokalen Kabelsenders genannt würde, vielleicht aber auch in einem bemerkenswerten Aufsatz der Zeitschrift für Altertümer, die jetzt im 86. Jahrgang erschien.
Er überlegte, wo wohl die Schätze des W. verborgen sein mochten. Er sah prüfend die Regale entlang und versuchte in der Form der Ballen und Kisten eine Systematik zu erkennen. Er ließ die Fragen durch seinen Computer rieseln, aber es ließ sich kein Schema erkennen. Keine zeitliche Abfolge, keine sachliche, keine nach der Art der Gegenstände.
Die wenigen echten Artefakte früher ägyptischer Herkunft, kleine Uschebtis und Shawabtis, Skarabäen, Totenlisten und andere Papyri oder Täfelchen mit Inschriften, hatten keine Sensationen enthüllt.
Als er seine Festplatte nach diesen Texten durchstreifte, fand er 1.) klar zuzuordnende, dann 2.) eine Gruppe von ihm nicht eindeutig zu identifizierende Texte und letztlich 3.) völlig sinnlose.
Eindeutige Fälschungen also, die von der Ungelenkheit der Schriftzeichen, aber auch vom absurden Inhalt her nicht echt sein konnten.
Mirko hatte sich selbst ein Grafikprogramm für Hieroglyphen und Keilschriften der unterschiedlichen Zeiten und Dynastien geschrieben, alle Hieroglyphen eingescannt und parallel dazu ein Transkriptprogramm.
Dabei fiel ihm zum ersten Mal auf, dass in den eindeutig nicht originalen Texten, sich die Glyphe für ¶HASE ¶ häufte und dazu Texte über Hasen.
Dabei so kindische, wie der ins Ägyptische der III. Dynastie übertragene Reim „Häschen in der Grube saß“ mit den Zeichen ¶HASE ~ GRUBE ~ SITZEN¶
Mirko stellte fest, dass diese Texte immer in bestimmte Ballen verpackt waren. Sie befanden sich auf emaillierten metallenen Urnen, die aussahen, als hätte sie ein dem Kitsch-Wahnsinn verfallener Dekorateur der Goldscheider-Manufaktur für den französischen Nippes-Markt der Jahrhundertwende gefertigt. Eine Art von übergroßen, grob in Metall getriebenen Fabergé Eiern. Diese waren dann in eine Masse gepackt, von der er annahm, dass es getrockneter, zementharter Kamelmist sei. Die fest ineinandergepassten Teile waren Elemente einer Schutzverpackung, die letztlich in das eher räudige, zerfressene Fell von Wüstenhyänen geschnürt waren.
Die Zeichnungen auf den Kanopen-Urnen waren von Zierleisten in Form von Abdrücken im Zickzack flitzender Hasenpfoten im Sand, besser noch im Schnee eingefasst, die fast wie ein Schriftbild wirkten.
Auf den Zeichnungen, in einem kindlichen Imitat ägyptischer Wandmalereien, sah man riesige Hasen, vor denen Pharaonen und Nubische Herrscher sich in den Staub warfen und Gastgeschenke überbrachten. Oder man sah die Schwestern des Pharaos, die gleichzeitig als seine Frauen ausgewiesen waren, sich riesigen Rammlern hingeben.
Dann sah man, wie die Hasen den im Staub liegenden Würdenträgern lange Rüben oder Karotten überreichten, die diese als Insignien und Zeichen der übernommenen Machtwürde, den viel kleiner dargestellten Massen des Volkes präsentierten.
Mirkos Neugierde war geweckt.
In dem Schund lag Methode. Er ging prüfend die Regale entlang und suchte nach Ballen, die denen mit dem Hasenkitsch entsprachen und er wurde fündig.
Es gab noch 6 weitere ähnliche Pakete und er trug sie zusammen, räumte Regale um, was wertvolle Zeit kostete, und zog und zerrte an den Paletten in schwindelnder Höhe auf schwankender Leiter, bis er endlich alle, wie er glaubte, beisammen hatte.
Er hatte feuchtkalte Hände.
Die Entdeckerwut hatte ihn gepackt. Er öffnete die Pakete eiliger, als es sein wissenschaftliches Gewissen zuließ. Er schälte aus Häuten und Kamelmistbrocken Kanope um Kanope. Er wagte es nicht die Eier zu öffnen, aus Angst der Inhalt könne zu Staub zerfallen. Aber er horchte in sie hinein.
Manche der Urnen blieben stumm. Aus manchen drang ein sanftes Rascheln. In manchen klapperte es trocken wie Holzstücke oder auch Knochen, in anderen war ein dumpfes Schlagen gegen die Metallwand, die dünn schien wie eine Coladose, aber nicht auf vorsichtigen Druck, soweit er zu drücken wagte, reagierte. In manchen rieselte es wie Sand oder auch wie Erbsen oder kleine Steine. Zwei der Urnen, die mit Pech gesiegelt waren, gaben einen klingenden Ton, wie wenn Metall auf Metall schlägt.
Im vorletzten Ballen fand er Aufzeichnungen von Wilhelm A. v. W. Er legte sie sorgfältig zur Seite und bearbeitete erst das letzte Bündel, das schwerer als die anderen war und einige Bücher enthielt, zumeist frühe Drucke, Inkunabeln und handgeschriebene Folianten und einen dünnen, kleinen Atlas, dessen Karten mehr an Schiffskarten erinnerten als an eine Wanderkarte, als die das Buch bezeichnet war.
Mirko hatte nur mehr wenig Zeit, bis der Nachtwächter seinen letzten Rundgang machte. Zuerst verpackte er alles, was er aus den Häuten und Fellen geschält hatte und machte es für einen überraschenden Besucher wieder unsichtbar.
Dann prüfte er schnell die Aufzeichnungen Wilhelm A. v. Ws. und entschloss sich zu einem ungeheuren, gegen jede Museumsregel verstoßenden Schritt. Er packte das, was das Tagebuch Wilhelm A. v. Ws zu sein schien in die Alufolie, in der er sein Jausenbrot und seinen Apfel mitgebracht hatte, und steckte es ein. Er wollte und konnte nicht bis zum nächsten Morgen warten. Er musste es noch heute lesen.
Zwar hatte er vorgehabt, sich den Horrorschinken aus den Siebzigerjahren Blood from the Mummy‘s Tomb im Kabel anzusehen. Andrew Keir und Valerie Leon waren eher unbedeutend, aber der Regisseur nennt sich Seth Holt. Und das war ein schöner Zufall oder leicht zu durchschauende Absicht. Aber der Film würde sicher wiederholt, weil sich in dieser Welt der Medien alles zu wiederholen schien.
Der Blick in die Tagebücher Wilhelm A. v. Ws. aber war eine Premiere. Und die unmittelbare Nähe zu den Urnen versprach, dass sie Informationen dazu enthalten müssten.
Mirko konnte zwar Keiltafeln und Hieroglyphen fließend lesen, hatte aber echte Mühe beim Entziffern der Kurrentschrift. Aber er las sich stolpernd durch die Aufzeichnungen des Wilhelm A. v. W. Es waren klare, kurze Formulierungen. Die Ortsangaben waren nie ungefähr und bis auf wenige Namen die ihm nicht geläufig waren, sofort zu identifizieren. Kleine Zeichnungen, von Briefmarkengröße, waren wunderbar sorgfältig ausgeführte Miniaturen von großer topographischer Naturnähe.
Dazu kamen Grundrisse und Schnitte durch Gebäude, Tempelanlagen und Pyramiden.
Und alle Hinweise bezogen sich auf die Herkunft der goldenen Eier, wie der Schreiber sie nannte.
Wilhelm A. v. W. nannte alle Bezugspersonen, die die Artefakte an ihn verkauft hatten, von denen diese sie wiederum erworben hatten, die Namen der Grabräuber und deren Helfer und der osmanischen und englischen Beamten und Offiziere, denen man vertrauen konnte, weil ihre Familien an dem Geschäft assoziiert waren.
Diese Seiten waren zusammengeklebt und als besonders vertraulich gekennzeichnet.
In langen Listen waren die Inhalte der Metallurnen aufgelistet. Er, Wilhelm A. v. W. habe nur eine öffnen lassen und sei ansonsten dem Rat des Verkäufers gefolgt. Sie blieben versiegelt und einer späteren Bearbeitung vorbehalten, aus Angst, dass der jahrtausende alte Staub in den Gefäßen ein Fluch des Pharaos sei, der seit mehr als tausend Jahren jeden Grabräuber trifft. Eingeatmet, habe er den baldigen Tod zur Folge.
Vieles von dem, was Wilhelm A. v. W. geschrieben hatte, wurde erst Jahrzehnte später durch Ausgrabungen bekannt.
Es war phantastisch.
Noch phantastischer aber war, was alles in dem Tagebuch erwähnt wurde, was Mirko völlig unbekannt war und anderes, von dem man nur rätselhafte Fragmente kannte.
Zum Beispiel das, was eine Querschnittzeichnung der Großen Pyramide zeigte: Von einigen Kammern führten schmale Gänge aufwärts, waren dann abgeschottet und vereinigten sich und führten dann weiter nach unten.
Das konnte der alte Wilhelm A. v. W. nicht gewusst und gekannt haben. Diese Gänge waren erst sehr viel später gefunden worden, und erst jetzt mit Roboterkameras, die durch die oft nur 30cm hohen Schliefe und Gänge geführt worden waren, für das menschliche Auge sichtbar gemacht worden.
Aber auch nur bis zu von innen verschlossenen steinernen Falltüren. Diese Zeichnungen aber zeigten wie die Gänge weiter führten, zeigten kleine Wächtergräber, auch diese zu klein für den kleinsten Menschen.
Und was das erstaunlichste war, sie führten unter die Große Pyramide. Das wahre Geheimnis - so schien es Mirko - lag nicht in der Metaphysik des Baus in seinen geheimnisvollen Verhältniszahlen, von denen man spekulierte, dass sie ausgerichtet sei auf das Sternbild des Orion, sondern lag in einer Höhle oder Kammer unter dem Zentrum des künstlichen steinernen Berges der Großen Pyramide.
Und die Lösung, so sagte Wilhelm A. v. W. liege in den Urnen, die er durch eine glückliche Fügung alle zusammentragen konnte.
Die nächsten Tage nutzte Mirko und konzentrierte sich auf die Bearbeitung der kitschigen Hasen-Eier, wie er sie nannte.
Er studierte die Zierbänder an den Urnen und vermutete mehr, als er es sah, einen Rhythmus in der Stellung der Hasenspur.
Er versuchte die Hasenspur in sein Hieroglyphen-Übersetzungsprogramm zu integrieren. Er fluchte über seine schwache Festplatte, konnte aber die einfache, aber doch differenzierte Form der Hasenpfotenabdrücke nur vor den Originalen anlegen. Und sehr bald zeigte sich ein System in der Form und der Anordnung, das, wenn er einen zum Verzweifeln langsamen Durchlauf startete, zu einem phantastischen Ergebnis führte. Es entsprach weitgehend der frühesten Form der Keilschrift: linksläufig, in Vertikalreihen, die im Zickzack dann wieder zurückführten. Sie war eindeutig vor den, dann von den Akkadern übernommenen, entstanden. Und es waren eindeutig weniger Zeichen, als die etwa tausend bekannten, in seinem Computer gespeicherten, assyrischen Zeichen.
Mirko wollte nicht glauben, was er sah und was sich in seinem Hirn zum deutlichen Bild formte.
Hier war der Ursprung einer Kultur.
Was wie Spuren von Hasenpfoten im Schnee aussah, das war eine Schrift. Es war nicht nur irgendeine Schrift, es war die Mutter aller Schriften.
Es war die unglaubliche, aber durch nichts wegzuleugnende, wegzudiskutierende, wegzuargumentierende Tatsache, dass hier die erste Schrift, der Vorläufer der Keilschrift gefunden wurde. Von ihm - Mirko Segal, M.A.Dr.phil. und Staubschlucker, Kellerbewohner und kleine Hilfskraft am großen Museum - gefunden worden war.
Was hatte Grotefend mit seinen sumerischen Keilschrifttafeln schon entziffert, doch nur die späte Nachfolge dieser ersten Schrift.
Und Champollion der Entzauberer der Hieroglyphen. Was hatte er schon getan? Comicbildchen hat er übersetzt, weil er den Stein von Rosette als Vokabelheft hatte.
Mirko schnappte seine Disketten und ließ sie zu Hause in den Speicher seines PC fließen. Er machte seine Festplatte frei, um den schwachen Rechner so schnell wie möglich zu machen. Er speicherte in einer endlosen Prozedur sein seit Jahren angelegtes Verzeichnis aller Filme, die auch nur in einer Sekundensequenz Bezug zu Ägypten hatte, auf dutzende und aberdutzende Disketten.
Dann stand die Festplatte nur mehr für das Hieroglyphenprogramm zur Verfügung.
Und jetzt las er in seinem Transkript der Hasenpfotenabdrücke, die unwahrscheinliche Geschichte einer Kultur. Die alles Wissen der Welt hatte und durch ihre Fruchtbarkeit die Welt beherrschte. Die Frauen dieser Kultur hatten die Fähigkeit zur Superfötation, sie konnten noch während sie schwanger waren, erneut befruchtet werden. Bei jeder Entbindung kamen 2-3 Kinder zur Welt, die voll entwickelt waren, sahen und gehen konnten. Es war die Kultur, zu der der hERR sprach, „Laßt uns Menschen machen“ und sie erfüllten seinen Anspruch wie er geschrieben steht: „Seid fruchtbar und mehret euch und macht euch die Erde untertan“.
Und plötzlich verstand er warum der Gau XV Ägyptens mit Hermepolis zwischen Ober- und Unterägypten immer umkämpft war. Es war der „Hasen-Gau“ mit seiner Schutzgöttin, die auf ihrem Kopf eine Standarte mit einem liegenden weißen Hasen trägt. Es gibt da ein fast 5.000 Jahre alte Statuengruppe bei der die Hasengöttin neben der Hauptgöttin Hathor stehend den Pharao Men-kaw-Rê umarmt. Neben Pavianen und Ibis, Hunden und Katzen oder dem Falken ein harmloses und unbedeutendes Totem in der ägyptischen Mythologie. Plötzlich wuchs die Bedeutung dieses Tieres für Mirko über alle anderen hinaus.
Der Hase war das Tier der Göttin Unut und als Symbol an der Krone des Pharaos als sein Herrschaftszeichen angebracht.
In den ägyptischen Totenbüchern treten hasenköpfige, mit Messern bewehrte Dämonen als Wächter und Schutzgottheiten auf, gehört aber nicht zu den Tieren, die mumifiziert wurden.
Die Hasenkultur muss eine weltumspannende Kultur gewesen sein. Denn Mirko erinnerte sich, in allen Kulturen Spuren davon gefunden zu haben.
In der Bilderschrift der Mayas und im Kalender der Chinesen, wo der Hase Jahresregent ist. Er ist Begleiter der frühgermanischen Erdmutter Eostera. Noch immer ist die Hasenpfote wirksamstes Amulett. Und letztlich steht, als in unser Hirn eingebrannte bildhafte Erinnerung, im Zentrum von Dürers Adam und Eva Blatt ein weißer Hase.
Es war eine Kultur vor den frühen ägyptischen der Tasa und Negade. Eine Kultur, die nach den Thinten eine neue Dynastie schufen, die aber länger andauerte als die 8-10 Jahre der eigenen zyklischen Fluktuation der Leporidae. Schlichtweg: Es waren Hasen, die die Vorläufer der Menschheit waren. Sie waren die Bringer der großen Kulturen.
Und in der 3. Dynastie der Pharaonen, wie die Könige mit einem hebräischen Lehnwort genannt werden, begann das Hasenvolk auszusterben. Sie übergaben ihr Wissen an die Hohepriester und Könige und stellten nur wenige Bedingungen.
Zuerst mussten die Ägypter den Hauptfeind der Leporidae jagen und vernichten: den Falken. Er war der Feind der Hasen, der Feind der Menschen, der Feind der Kultur.
Und dann musste über der Palastkammer im Zentrum der unterirdischen Karnickelgänge ein Bauwerk groß wie ein Berg errichtet werden, ausgerichtet auf die Sterne Elameb und Ameb im Sternbild des Lepus, des Hasen, im Orionnebel.
Und das geschah.
Für Mirko war es klar. Seine Entdeckung, die eigentlich die Entdeckung des Wilhelm A. v. W. war, die Entdeckung der unbekannten Hasenschrift und die Aufzeichnung von deren Geschichte, würde die Geschichte der Welt verändern, wie es vorher nur Galileio Galilei gelungen war, der fand, dass sich die Erde um die Sonne dreht.