Ein Thron aus Knochen und Schatten

Ein Thron aus Knochen und Schatten

Laura Labas

Inhalt

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Namensglossar

Danksagung

Über den Autor

Für uns Cool Kids

Schädel

Kapitel Eins

Header

2005 – In den Rayons nahe der neu gegründeten Stadt Billings

Tante Lucy hielt inne, hob ihr wettergegerbtes Gesicht gen Nachthimmel und wartete auf etwas, das mir noch verborgen blieb. Die Dunkelheit lag wie ein samtener Mantel um unsere Schultern und schien durch nichts durchbrochen werden zu können – doch da, einen Moment später schob sich der volle, satte Mond an den Wolken vorbei und tauchte die Stadt in silbriges Licht. Niemand außer uns war hier. Der Tod bewachte die Nacht. Die Häuser, in denen bis vor Kurzem noch Menschen gelebt, gelacht und gefeiert hatten, glichen leeren Höhlen. Leichen gar. Mich überzog eine Gänsehaut. Skelette eines vergangenen Zeitalters, das einst voller Licht und Leben gewesen war.

»Trödel nicht rum, Alison!«, wies mich Lucy streng zurecht. Sie hatte sich bereits zur nächsten Hausecke aufgemacht, während ich noch gedankenverloren ins Nichts gestarrt hatte.

Wir befanden uns in einer verlassenen Kleinstadt mit einladenden Holzhäusern und überwucherten Gärten. Es gab eine einzige Einkaufsstraße und der näherten wir uns.

Ich schüttelte den Kopf, um ihn von diesen trostlosen Gedanken zu befreien, verspürte aber nur einen geringen Erfolg. Seit meinem Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag vor einer Woche war nichts mehr, wie es einmal war. Lucy hatte mich, wie so oft vorher, zu einer Jagd mitgenommen und ich hatte das allererste Mal einen Schattendämon getötet. Natürlich nicht allein. Lucy hatte ihn zuerst niedergestreckt, damit ich ihm gefahrlos den Todesstoß versetzen konnte. Im ersten Augenblick hatte ich gezögert. Es war so viel Blut geflossen und dieses Mal hatte ich es nicht nur aus der Ferne gesehen. Noch immer spürte ich den warmen Lebenssaft an meinen Händen.

»Alison!«, keifte Lucy ungehalten, die viel mehr Kraft in ihrer Stimme besaß, als man ihr bei der ersten Begegnung zutrauen würde. Körperlich glichen wir uns sehr, nachdem ich in den letzten Jahren meiner Ausbildung deutlich an Gewicht verloren hatte. Ich aber besaß gewisse Rundungen, die auch nach Monaten des Trainings nicht verschwinden würden. Sie waren vielleicht noch nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie entwickelten sich zu Lucys deutlichem Leidwesen. Sie lag mir ständig damit in den Ohren, dass ich beten sollte, keinen großen Busen zu kriegen, der mich im Kampf behindern würde. In ihren Augen waren meine breiten Hüften schon ein Todesurteil.

»Ich komme ja schon«, zischte ich und schloss zu ihr auf, bevor sie einen prüfenden Blick auf die breite, asphaltierte Straße warf. Sie hatte mir mehrmals befohlen, auf Zeichen von Zivilisation zu achten, doch was ich auch tat, ich erreichte niemals ihr Level der Spurensuche. Sie hatte eine unheimliche Begabung dafür entwickelt. Manchmal fragte ich mich, ob sie in dieser Gegenwart mehr zu Hause war, als sie es in der Vergangenheit ohne Dämonen je gewesen war.

Meine Erinnerungen an die Zeit waren verschwommen, doch den abfälligen Ton meiner Mutter, mit dem sie damals über ihre verrückte Schwester gesprochen hatte, hatte ich nie vergessen. Eine Schwester, die niemals still sitzen konnte. Eine Schwester, die paranoid war und in allem eine Bedrohung sah. Es stellte sich heraus, dass Lucy die Einzige von uns gewesen war, die mit dem Einmarsch der Dämonen halbwegs zurechtgekommen war. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte sich ein Leben lang darauf und auf jede andere Art von Bedrohung vorbereitet.

»Da vorne.« Sie deutete mit einer Hand nach links, wo ein zerbrochenes Schaufenster einen ungehinderten Blick auf den Laden dahinter bot. Das unbeleuchtete Schild verriet, dass es sich einst um einen Sportbekleidungsladen gehandelt haben musste.

»Was ist denn?«, murmelte ich unruhig auf der Stelle tretend. Mir war trotz der milden Temperaturen, die in Kalifornien herrschten, kalt, da ich nur einen dünnen Pullover trug. Zuvor hatte ich meine Lederjacke vergessen und ich war zu stolz gewesen, Lucy zur Umkehr zu bewegen. Sie hätte mich nur wieder getadelt, da sie schließlich nie etwas vergaß. Auch heute war sie bis an die Zähne bewaffnet und trug ihre übliche Kleidung. Eng anliegende Jeans, feste robuste Stiefel, einen Rollkragenpullover und ihre widerstandsfähige Synthetikjacke. Alles natürlich in einem dunklen Grau, um so gut wie möglich mit der Dunkelheit verschmelzen zu können.

»Sieh genau hin«, befahl sie mir, während sie an der Hauswand lehnte, um deren Ecke wir schauten, anstatt mir normal zu antworten. Ihr dickes rotbraunes Haar hatte sie zu einem festen Zopf in ihrem Nacken gebunden, sodass keine einzige Strähne in ihr faltenfreies Gesicht fiel. Sie wirkte zeitlos. Körperlich sah sie kaum aus wie die vierzig Jahre, die sie zählte, doch in meinen Augen wirkte sie oftmals wie ein Kind, das sich inmitten seines liebsten Spiels befand und vorhatte zu gewinnen.

Ich unterdrückte ein Seufzen, da ich dieses Verhalten bereits gewohnt war. Keine Reaktion meinerseits würde dies ändern. Also kniff ich die Augen zusammen und starrte tiefer in die Finsternis, bis ich den Schatten im Laden erkannte. Er bewegte sich langsam, behäbig gar, als würde er eine Last mit sich schleppen.

»Dämon?«, flüsterte ich leise. Mit der Erkenntnis begann mein Herz plötzlich so schnell zu pochen, dass ich kaum atmen konnte. Mir brach der Schweiß auf der Stirn aus, mein Herz pumpte Adrenalin durch meine Adern und die leicht abfällige Gleichgültigkeit, die mich zuvor noch beherrscht hatte, war wie weggewischt. So war es immer.

Während der Zeit zwischen der Jagd fühlte ich mich meist wie ein normaler Teenager, zumindest bezeichnete mich Lucy als einen. Ich nörgelte. Ich war unausstehlich. Ich wollte ein anderes Leben. Sobald wir uns aber in der Nähe von Gefahr, von Dämonen befanden, spürte ich die Veränderung in meinem Körper. Der Anflug von Gefahr rückte alles Unwichtige in den Hintergrund, sodass ich mich allein auf meine Umgebung konzentrieren konnte. Für mich existierte nichts mehr außer den Dämonen. Denn dafür war ich noch hier. Dafür lebte ich noch. Um ihn zu finden und zu töten. Den Mörder meiner Familie. Ja, ich wusste, dass es zwei Königsdämonen gewesen waren, aber in meinem Kopf existierte nur einer. Derjenige, der die Strippen gezogen hatte. Derjenige, der mein Leben allein deshalb verschont hatte, damit ich in Schmerz und Verzweiflung untergehen würde. Das war sein Versprechen an mich gewesen und ich hatte es nicht vergessen. Es war das, was mich antrieb.

»Bist du bereit?«, fragte mich Lucy, die nichts von meinem inneren Aufruhr mitbekommen hatte. Sie war so ruhig wie eh und je. Ich bewunderte sie für ihre mentale und körperliche Stärke, obwohl ich ihr das niemals sagen würde. Sie würde ein Kompliment nicht zu schätzen wissen und als verschwendeten Gebrauch von Luft und Stimmbänder abstempeln.

»Nimm die Armbrust. Du weißt, was du zu tun hast.«

Ich nickte ernst. Eisern. Die Armbrust, die bis gerade noch an einer Halterung an meinem Rücken befestigt gewesen war, wog schwer in meinen Händen, obwohl ich mittlerweile einige Muskeln aufgebaut hatte. Vielleicht lag es auch an der Schwere der Situation.

Ich überprüfte, ob der Bolzen richtig eingeklemmt war, ehe ich mich neben Lucy positionierte und den Lauf auf den Laden richtete, darauf wartend, dass sich der Schatten nach draußen bewegte.

Es geschah viel schneller, als ich angenommen hatte. Der Schatten kletterte aus dem zerbrochenen Schaufenster, anstatt die Tür zu benutzen.

Eine Schweißperle blieb in meinen Wimpern hängen. Ich blinzelte nicht. Dann sah ich das Gesicht des Mannes, weiße Pupillen blickten in unsere Richtung. Das reichte für mich aus, den Abzug zu drücken und den Bolzen fliegen zu lassen. Der Schatten hatte keine Chance, da sich die Spitze der Waffe erbarmungslos in seine Brust bohrte. Sein Herz hatte ich allerdings verfehlt, das war mir trotz der Entfernung bewusst. Der Bolzen war zu weit rechts eingeschlagen.

»Seine Lunge«, schnaubte Lucy missbilligend und ich wusste, ich würde mir später noch mehr anhören müssen. »Los.«

Der Schatten war auf seine Knie gefallen, konnte sich aber nicht lange aufrecht halten und kippte seitlich auf den harten Boden. Seine Hände umklammerten den Schaft, als würde er versuchen wollen, den Bolzen herauszuziehen.

Lucy und ich pirschten uns vorsichtig heran, immer in Erwartung, dass sich noch weitere Dämonen in der Nähe befanden und uns angriffen. Dieses Mal sollten wir Glück haben. Niemand anderes schloss sich unserer Gesellschaft an, als wir den sterbenden Dämon erreichten, der doch keiner war.

»Lucy?«, hauchte ich überwältigt von der Wahrheit, die sich erst allmählich an mich heranschlich. »Lucy …«

»Du konntest es nicht wissen …«

Jedes Mal, wenn Lucy einen Schattendämon getötet hatte, war er in seiner gewandelten Form geblieben. Niemand hatte sich bisher in seine normale menschliche Form zurückgewandelt. Das passierte einfach nicht. Es konnte also nur Eines bedeuten …

»Er hatte … Seine Pupillen, sie waren doch weiß!«, stammelte ich und versuchte die Schuld von mir zu schieben, während der Mann unter mir gurgelnd die Augen öffnete, die blau waren. Leuchtend blaue Iriden und schwarze Pupillen. Keine Spur von Weiß.

»Es muss der Mond gewesen sein. Seine Augen sind so hell, da passiert so eine Verwechslung schon mal«, antwortete mir Lucy rational, ehe sie sich auf einem Knie abstützte und eine Hand um den Schaft legte.

»Was tust du da?«, rief ich mit Schrecken und viel zu laut. »Er ist ein Mensch! Wir müssen ihm helfen!« Ich wich dem Blick des Mannes aus. Er schien in dem Alter meiner Tante zu sein, doch sie war unberührt von der Tatsache, dass er in einem anderen Leben ihr Freund hätte sein können.

»Ihm ist nicht mehr zu helfen. Sieh nur, seine Lungen sind bereits voller Blut. Er ertrinkt.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf seinen Mund, aus dem in Wellen Blut hervorquoll. Der Mann zuckte unkontrolliert. »Willst du, dass er weiter leidet?«

Tränen hatten sich in meinen Augen gesammelt. Was ich wollte? Ich wollte das hier ungeschehen machen. Ich wollte in mein Bett. Ich wollte …

»Wir haben keine Zeit für deine Heulepisoden, Alison«, sagte sie barsch. »Also?«

Ich schüttelte den Kopf, unfähig etwas zu sagen. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.

»Was? Drücke dich aus, Alison, wir sind nicht in einem Stummfilm.« Ich wusste zwar nicht, was ein Stummfilm war, aber ich erkannte den Sinn ihrer Forderung.

»Ich will nicht, dass er leidet«, sagte ich leise.

»Gut, dann tu was dagegen.« Ohne Vorwarnung zog sie den Bolzen heraus, als würde sie mir keine Zeit mehr geben, meine Entscheidung zu überdenken. Der Mann schrie auf, doch der Schrei endete in einem Gurgeln. Sein ganzer Körper zitterte, als würde er unvorstellbare Schmerzen erleiden. Panik durchfuhr mich, doch anstatt mich umzudrehen und fortzulaufen, kniete ich nieder, zog mein Waidblatt, eine Art großes Jagdmesser mit abgeschrägter Spitze, aus der Scheide und stieß ihm die Spitze zielsicher ins Herz. Sein Körper erschlaffte. Die Augen wurden glasig.

Manchmal hasste ich meine Tante mit jeder Faser meines Herzens. Doch jedes Mal, wenn sie in der Vergangenheit diesen Hass in meinen Augen gesehen hatte, hatte sich eine verwirrende Zufriedenheit in ihr Gesicht geschlichen. Als ob meine Ausbildung allein darauf ausgerichtet war, sie zu verabscheuen.

»Sehr gut. Nun …«, setzte sie an, bevor wir gestört wurden. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, stürzte aus dem Nichts hervor, schubste mich nach hinten und beugte sich über den nunmehr leblosen Körper.

»Dad!«, schluchzte er so laut und herzzerreißend, dass es mir einen Schauder über den Rücken jagte.

Ich saß auf dem sandigen Asphalt und beobachtete mit Entsetzen die Szene, die sich vor mir abspielte. Die kleinen Steinchen auf dem Boden schrammten meine Ellbogen, mit denen ich mich nach seiner halbherzigen Attacke aufgestützt hatte, bei jeder noch so kleinen Bewegung weiter auf, doch ich spürte keinen Schmerz.

Ich hatte jemandes Vater getötet. Ich war eine Mörderin.

»Alison!«, rief mich Lucy zur Besinnung. Sie packte mich grob an meinem Oberarm und zerrte mich hoch, um mich wegzubringen.

Es vergingen mehrere Sekunden, in denen ich nur den Jungen sah, der die Leiche seines Vaters umklammerte, als würde er dessen Seele zwingen wollen, im Körper zu verbleiben. Es zerriss mich innerlich.

»Wir können ihn nicht zurücklassen! Er ist doch ganz allein.«

»Glaub mir, das Letzte, was er will, ist, mit der Mörderin seines Vaters zusammen zu sein«, erwiderte Lucy kühl. Daraufhin bedurfte es nicht mehr ihrer Gewalt, um mich fortzuzerren. Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt, doch Lucy war noch nicht fertig. »Sollte mich jemand töten, warte nicht auf mich und kehre nicht zurück. Ich bin nicht deine Schwäche. Du hast keine Schwäche, Alison. Sei auf der Hut und lasse dich nie von deinen Emotionen beherrschen. Du brauchst weder Freunde noch Familie, du brauchst nur …« Sie stockte und bevor ich mir einen Reim auf ihre Worte machen konnte, wechselte sie das Thema und ihre Stimme wurde eine Nuance sanfter. Wir ließen die Hauptstraße hinter uns und bogen in eine enger geschnittene Gasse ein. »Fehler passieren nun mal. In dieser Welt sind sie auf der einen Seite schwerwiegender und auf der anderen Seite einfacher.«

»Was meinst du damit?« Ich zitterte am ganzen Leib. Es fiel mir leichter, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, als an das Geschehene zu denken. Es würde mich zerstören. Endgültig.

»Die Fehler, die wir nun begehen, wären früher ein Kapitalverbrechen gewesen. Heute aber sind es Fehler, die uns unser Überleben ermöglichen«, weihte sie mich in ihre Weisheit ein, von der ich nicht wusste, was ich von ihr halten sollte. »Du musst lernen loszulassen, Alison.«

»Was soll ich loslassen?« Stirnrunzelnd blieb ich neben ihr stehen. Wir hatten den Stadtrand erreicht und blickten nun die Straße entlang, die sich in die Dunkelheit davonschlängelte. Links und rechts schlossen sich weite vernachlässigte Felder an.

»Deine Menschlichkeit. Deine Gefühle. Dich selbst.« Sie sah mich genau an. »Du bist nicht mehr Alison Talbot.«

»Wer bin ich dann?« Meine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Ich spürte, dass dies die Antwort war, auf die ich die letzten zwei Jahre so sehnlichst gewartet hatte.

»Du bist Rache.«

»Ich bin …« – Rache. Es war eine unbegreifliche Offenbarung. Ich konnte sie nicht aussprechen. Zu groß die Überraschung. Zu frisch die Erkenntnis.

»Es gibt etwas, das ich dir zeigen muss, und ich glaube, ich habe kein Recht, es dir länger vorzuenthalten. Es ist deine Bestimmung.« Sie presste ihre Lippen einen Moment zusammen, als würde sie mit sich ringen. »Komm mit. Wir sollten hier nicht derart angreifbar stehen bleiben.«

Wir betraten das nächstgelegene Einfamilienhaus, sicherten es ab, damit wir von niemandem überrascht werden würden, und fanden uns dann in dem verstaubten Wohnzimmer wieder. Keine zerstörten Möbel.

In einem der Sessel sitzend rubbelte ich mit einem Tuch vergeblich das Blut von meinen Händen, bis ich es aufgab und die Verfärbung meiner Haut stattdessen nüchtern betrachtete. Wenn ich Rache war, dann war es doch nur rechtens, Blut an meinen Händen zu haben. Das war meine Bestimmung.

»Sieh her«, bat mich Lucy mit einer so sanften Stimme, wie ich sie nur einmal, kurz nach meinem Auftauchen bei ihr, gehört hatte. Die meiste Zeit hatte sie mich mit ihrer schroffen Stimme angesprochen, die sie präzise zu nutzen wusste. Als wäre sie früher einmal in der Armee gewesen.

Ich tat wie geheißen, hob meinen Blick und betrachtete ihren flachen, nackten Bauch. Sie hatte sich offensichtlich ihrer Jacke und des Pullovers entledigt, um sich lediglich in ihrem BH bekleidet vor mich hinzustellen. Tante Lucy deutete mit ihrem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle. Eine kleine Erhebung war zu sehen, als wäre dort ein Knochen falsch zusammengewachsen.

»Das ist der Schlüssel, Alison«, flüsterte Lucy voller Ehrfurcht. »Der Schlüssel, um das Portal zur Welt der Dämonen zu öffnen.«

Verblüfft öffnete ich den Mund und versuchte unter der Wölbung die Form eines Schlüssels auszumachen. Unmöglich. Hatte Lucy nun vollends den Verstand verloren? Mir war schon immer klar gewesen, dass sie sehr speziell war, aber das hier? Das überstieg alles bei Weitem.

»Die Tore, das Portal … sie können nur mit dem Schlüssel und dem Schloss geöffnet werden. Beide zusammen haben die Macht dazu. 1986 wurden das letzte Mal die Tore geöffnet und seitdem galt der Schlüssel als verloren. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis er wiedergefunden wurde. Fünfzehn Jahre danach konnten die Portale endlich wieder geschlossen werden. Der Schlüssel wurde mir von der vorigen Trägerin anvertraut.« Ich hing an jedem einzelnen Wort, unabhängig davon, ob ich diese Geschichte glauben sollte oder nicht. Es war faszinierend und angsteinflößend zugleich. »Ich muss den Schlüssel beschützen, während er gleichzeitig mich beschützt.«

»Wie meinst du das?« Ich beschloss, vorerst mitzuspielen. Was hatte ich schon zu verlieren?

»Der Schlüssel darf niemals in die Hände von Dämonen gelangen. Die Tore dürfen nie wieder geöffnet werden. Es gibt bereits zu viele Monster hier. Wir können nicht noch mehr einlassen.« Ihre hellbraunen Augen bohrten sich eindringlich in meine. Ich erkannte, dass sie überzeugt war von dem, was sie da sagte. Aber wurde diese Geschichte dadurch wahr? Die Worte meiner Mutter kamen mir wieder in den Sinn. Lucy ist verrückt. Meine Schwester ist unfähig, Traum und Realität voneinander zu unterscheiden. Aber Lucy hatte recht gehabt. Im Gegensatz zum Rest der Welt hatte sie den Untergang der Welt, wie wir sie kannten, vorhergesehen.

»Wer hat diesen Schlüssel erschaffen? Woher stammt er?«

»Das konnte mir Minerva nicht sagen. Sie war die Trägerin vor mir und ihr war der Schlüssel von einer anderen Frau gegeben worden, die ihr ihre Identität nicht preisgegeben hatte.«

»Klingt alles sehr …«

»Es ist die Wahrheit, Alison. Solange der Schlüssel in mir existiert, kann er von niemandem gefunden werden. Ich beschütze ihn und er gibt mir Kraft und Stärke. Durch ihn bin ich zu einer besseren Kämpferin geworden. Und das Gleiche wird er für dich tun.«

»Was?«, stieß ich atemlos hervor. Ich sank tiefer in den Sessel, wollte mit ihm verschmelzen.

Lucy ließ sich auf keine unnötigen Erklärungen ein, sondern befahl mir, mich obenrum frei zu machen. Allein jahrelanges Training unter ihr ließ meinen Körper reagieren.

Ich erhob mich, zog Jacke und Pulli aus und fuhr mir frierend über die Oberarme. Eine Gänsehaut hatte sich auf meinem Körper ausgebreitet.

»Keine Angst«, versuchte mich meine Tante zu beschwichtigen, doch davon kam nichts bei mir an. Ich fühlte mich allein, hilflos, entblößt. »Gib mir deine Hand.« Es war mir unmöglich, mich ihr zu widersetzen und so streckte ich meine Hand aus, die sie über die Wölbung legte, die sich unnatürlich hart unter meinen Fingern anfühlte. »In naher Zukunft werde ich dir diesen Schlüssel überreichen, der dich genauso beschützen wird, wie er mich beschützt hat. Doch ich erlaube dir schon jetzt, ihn vorher einmal zu halten. Zu sehen. Ihn zu fühlen.«

Ich spürte die Wärme unter meiner Hand, die fast unerträglich heiß wurde, ehe meine Finger von etwas zurückgestoßen wurden und sich danach reflexartig um den hervorkommenden Gegenstand schlossen. Es war der Griff eines goldenen, blutbesudelten Schlüssels, den ich Stück für Stück hervorzog. Mir wurde schlecht.

»Weiter«, keuchte Lucy, als würde sie starke Schmerzen erleiden.

Nachdem ich den Schlüssel aus ihrem Körper gezogen hatte, schloss sich die Wunde so schnell, dass ich fast glaubte, sie wäre niemals da gewesen.

Ich wog ihn unsicher in meinen Händen, prägte mir seine Form ein und staunte darüber, dass Lucy doch nicht vollkommen wahnsinnig geworden war. Sie legte einen Finger unter meine Rippen.

»Dort wirst du ihn später fühlen können. Glaub mir, es ist ein fantastisches Gefühl.«

Damit war der Augenblick der Untersuchung abgeschlossen. Lucy führte meine Hände, während wir den groben Schlüssel, der fast so lang war wie meine Handfläche, gemeinsam zurück durch ihre Haut schoben.

Zwei Jahre später würde es die meine sein. Es würde ein wenig ziehen, aber alles in allem nicht sonderlich wehtun, anders offenbar, als wenn man ihn herauszog. Ich würde spüren, wie sich etwas in meinem Körper veränderte, aber das Adrenalin, das durch meine Adern schoss, würde alles taub und verschwommen wirken lassen. Schließlich würde auch das Ende des Schlüssels verschwinden und die Wunde sich schließen. Etwas Blut würde zurückbleiben, zusammen mit der Wölbung, die ich Jahre zuvor das erste Mal bei Lucy gesehen hatte.

»Du bist nun die Hüterin, Alison. Der Schlüssel wird dir die Kraft geben, deine Rolle als Rache einzunehmen. Wenn du dein Ziel erreicht hast, gib den Schlüssel weiter«, würde sie sagen, als wüsste sie bereits, dass sie mit der Weitergabe ihren eigenen Tod besiegelte. Ein paar Monate später würde sie im Kampf gegen einen Schattendämon, den ich daraufhin für sie tötete, sterben.

Mein Ziel. Ich durfte mein Ziel nie aus den Augen verlieren. Meine Rache würde über allem stehen.

Nun legte sie die Hände auf meine Schultern und wartete, bis ich ihren durchdringenden, fast schon fanatischen Blick erwiderte. »Aber was auch immer du tust, öffne niemals das Portal.«

»Niemals«, wiederholte ich leise.

Rache.

Ich bin Rache, hallte es in mir nach und das erste Mal spürte ich bei dem Gedanken so etwas wie Angst in mir aufflackern.

Kapitel Zwei

Header

Der Rebell

Jetzt – Plowth, in den Rayons

Colin hob seine Hand auffordernd zum Barkeeper und deutete, nachdem er den Blickkontakt hergestellt hatte, auf sein leer gewordenes Glas. Es war nicht sonderlich klug, noch mehr Alkohol zu trinken, aber das hatte er auch nicht vor. Es galt lediglich, seine Beobachter in dem Glauben zu lassen, er würde sich wohl genug fühlen, sich zu betrinken. Colin erwartete keine direkte Bedrohung, aber wenn er fern von Zuhause einen Auftrag erledigte, galt für ihn stets höchste Wachsamkeit. In dieser Bar, die mit rund einem Dutzend Tunichtguten gefüllt war, rechnete er allerdings nicht mit Ärger.

»Und Matthew Teagan hat dich hergesandt, um uns zu rekrutieren?«, wiederholte ein bärtiger Mann mit langen braunen Zöpfen zum gefühlt hundertsten Mal. Colin sollte besser nicht die Geduld verlieren, aber beim Herrn im Himmel, dieser Kerl stellte ihn eindeutig auf die Probe.

»Ganz genau. Wir müssen unsere Reihen weiter aufstocken. Es gibt keinen Grund für euch, euch hier hinter den Röcken eurer Frauen zu verstecken«, stieß Colin gereizt hervor. Er war der Vertreter von Matthew Teagan, dem Anführer der Rebellen. Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, ahnte er jedoch, dass es die falschen gewesen waren. Warum lief heute nur alles schief?

Vor seiner Abreise hatte er sich bestens vorbereitet und Plowth für seinen ersten Stopp ausgewählt, da sie in dieser Menschenstadt im südlichen Teil der Rayons bisher gute Erfahrungen gemacht hatten. Schon vier Rekruten hatte Keera bei ihren zwei Besuchen nach Hause gebracht. Vier!

Kopfschüttelnd überlegte er sich einen Weg aus der Misere. Vielleicht wäre sein Vorhaben besser verlaufen, wenn er Brüste und ein charmantes Lächeln gehabt hätte. Was für eine Ironie! Er wollte Kämpfer und willensstarke Männer und Frauen, wieso sollte er sich dafür verstellen müssen? Reichte es ihnen nicht, dass er muskulös, gut ausgebildet und gesund aussah? Zudem besaß er die besten Waffen weit und breit und er hatte gesehen, wie diese bei seinem Eintritt von den Barbesuchern bewundert worden waren. Nein, anscheinend hatte er einen falschen Tag und die falsche Meute an Leuten erwischt. Möglicherweise war es das Beste, den Tag – oder eher die Nacht – auf sich beruhen zu lassen und morgen einen neuen Versuch zu starten.

»Was hast du da gerade gesagt?«, schnaufte ein Glatzkopf, der neben dem Bärtigen saß, und ballte bereits die Fäuste.

Colin bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. Wem machte er eigentlich etwas vor? Natürlich wollte er diese griesgrämigen Männer nicht in seinem Trupp haben.

»Tut mir leid, war nicht so gemeint«, entschuldigte er sich möglichst aufrichtig und hob dann mit einer Hand sein neu gefülltes Glas an. »Zu viel getrunken, wisst ihr?«

Das schien die Runde für den Moment zu beruhigen, doch die unterschwellige Anspannung blieb. Colin wusste, dass er schnellstmöglich abhauen musste, um keine unwiderrufliche Katastrophe herbeizuführen. So war er manchmal. Der Hitzkopf ging mit ihm durch und verschlang seinen kompletten Menschenverstand, um ihn zwei Stunden später auszukotzen. Darauf konnte er heute getrost verzichten.

»So, ich …«, begann er, kam aber nicht weiter, da er von einem ohrenbetäubenden Knall unterbrochen wurde. Die Erde erzitterte unter ihm.

Schreie und Hilferufe durchbrachen das Klingeln in seinen Ohren. Leichte Orientierungslosigkeit erfasste ihn. War das eine Explosion gewesen? Er hatte eine vor vielen Jahren hautnah miterlebt, doch die Erinnerungen daran waren verschwommen. So oder so, er hatte nicht wirklich Lust, eine Antwort auf seine Frage zu erhalten, während er sich noch mitten in der Gefahrenzone befand.

Von der Decke rieselte Putz und Staub, ein paar Gläser zerschellten, ansonsten schien das Haus nicht betroffen zu sein. Die Detonation musste weiter entfernt stattgefunden haben. Plowth war eine der größten menschlichen Niederlassungen, die heute noch existierten. Was in früheren Zeiten einem Dorf geglichen hätte, war heute eine Großstadt. Colin schätzte die Einwohnerzahl auf eintausendfünfhundert.

Er stürzte nach draußen und fand sich beinahe sofort in den Armen eines Milizsoldaten wieder. Billings’ Miliz. Zumindest ließen ihn die blauen Schulterklappen an der Uniform zu dem Schluss kommen, obwohl das übliche Abzeichen auf der Brust fehlte. Seiner schnellen Musterung entging allerdings nicht, dass ein Schatten an dieser Stelle zu sehen war, als hätte man das Abzeichen in aller Eile entfernt.

Seine Instinkte nahmen Überhand. Hände griffen nach ihm und er duckte sich unter ihnen weg, wich zur Seite aus und zog seine beiden Kurzschwerter, die er in einer ledernen Halterung an seinem Rücken trug, hervor. Sobald er die Schwerter in den Händen hielt, stand er bereits wieder sicher mit beiden Beinen auf dem Asphalt, atmete tief durch und griff dann den Soldaten an.

Es dauerte nicht lange, da hatte Colin ihn zwar mit einem gut gezielten Schlag gegen den Kopf mit einem Schwertknauf abgelenkt – das Beste, was er bei einem Königsdämon zu tun imstande war -, als ihm klar wurde, dass er einen längst verlorenen Kampf bestritt. Es wimmelte von Soldaten. Sie arbeiteten sich wie Ameisen in jede noch so kleinste Ecke vor, doch anstatt Menschen abzuschlachten, wie Colin es im ersten Moment erwartet hatte, schlugen sie diese bei Gegenwehr nieder oder fesselten sie, wenn sie aufgaben.

Es widerstrebte ihm zutiefst, seinen Rückzug anzutreten, aber seine Befehle waren eindeutig: Kehre unter allen Umständen zur Basis zurück.

Die Zähne zusammenbeißend wirbelte er herum und nahm den kürzesten Weg aus der Stadt hinaus in die Richtung, in der er am ehesten Deckung finden würde. Ein gutes Stück dahinter schloss sich ein Waldstück an, in dem er in der Dunkelheit würde verschwinden können, sollte er dieses rechtzeitig erreichen. Das einzig Gute daran, dass Billings in seiner Miliz lediglich auf Königsdämonen setzte, war, dass diese weniger gut in der Nacht sahen als Schattendämonen. Außerdem konnten sie Schatten nicht für sich nutzen. Mit ihnen hätte Colin es kämpferisch zwar eher aufnehmen können, aber wenn es darum ging zu fliehen, würde er diesen Vorteil brauchen.

Schon bald ließ er die größte Menschenmenge hinter sich, obwohl ihn weiterhin laute Schreie und flehende Rufe verfolgten. Dann hielt ihn mitten auf einer engen Asphaltstraße eine einzelne Königsdämonin auf.

Die Frau grinste ihn an, während sich ihre Fänge über ihre vollen Lippen schoben und ihre Krallen gefährliche Ausmaße annahmen. Die Pupillen in ihren Augen verschwanden. Es konnte aber auch sein, dass Colin dieses Detail lediglich in seinem Kopf ergänzte, da das Licht eigentlich zu schlecht war, um es wirklich sehen zu können.

»Du willst schon nach Hause?«, fragte sie mit diesem für Dämonen eigentümlichen Akzent, die in ihrer Welt geboren und aufgezogen worden waren, bevor sie die Erde betreten hatten.

»Die Party hat mir nicht gefallen«, lächelte Colin kühl zurück, darauf bedacht, sich nicht anmerken zu lassen, wie der Angstschweiß seine Kleidung durchtränkte. Er war nicht dumm. Vorhin hatte er Glück gehabt. Normalerweise gelang es ihm nur gerade so, einem Königsdämon zu entkommen. Aber zwei in einer Nacht? Colin wollte sein Glück ungern überstrapazieren, doch so wie es aussah, blieb ihm gar keine andere Wahl.

»Wie schade.« Sie zog eine Schnute, was durch die verlängerten Raubtierfänge seltsam verzerrt aussah. Nach einem kurzen Blick auf seine beiden Kurzschwerter fügte sie dem einen Dolch, den sie in der linken Hand hielt, noch einen zusätzlichen hinzu. »Wir wollen doch die Chancen ausgleichen.«

Colin schnaubte, musterte dabei jedoch genau die Umgebung. Sie befanden sich in einer kleinen Straße, die rundum von verwilderten Gärten eingerahmt wurde. Er würde keine Chance haben, rechtzeitig auf ein Dach zu klettern, um von dort aus zu flüchten. Der Boden war uneben, bestand aus einem Gemisch aus aufgebrochenem Asphalt und Kieselsteinen. Nachdenklich fuhr er mit seiner Sohle darüber und erzeugte ein knirschendes Geräusch. Er erblickte ein kleines Gartenhaus zu seiner Linken und wusste, was zu tun war. Die Dämonin schien keine Eile zu verspüren, wirkte neugierig und selbstsicher. Sie zweifelte keine Sekunde an das Ende dieses Gefechts. Sie würde siegen. Und wenn es schlechter für sie aussah, dann würde sie einfach auf ihre Fähigkeit, Menschen zu manipulieren, zurückgreifen.

Er selbst hatte bisher keine Erfahrungen damit gemacht, weshalb er nur aus zweiter Hand wusste, dass die weniger Begabten unter ihnen direkten Hautkontakt brauchten, um ihre Opfer zu steuern. Er würde ihrer Berührung also genauso entkommen müssen wie ihren Waffen.

Leider fühlte sich Colins Verstand wie leer gefegt an. Er roch Qualm, Feuer und Blut, während die Schreie hinter ihm noch immer andauerten. Schweiß rann ihm ins Auge. Er blinzelte und dann sah er es. Seine Rettung.

Es galt lediglich, sie in eine bestimmte Richtung zu treiben. Das war alles. Also stürmte er auf sie zu, schweigend, ohne Kampfgebrüll, das hatte er sich schon vor Jahren selbst ausgetrieben. Es half nicht ihm, sondern seinem Gegner, der dann erkannte, wann genau er angriff.

Die Dämonin wich nicht aus, duckte sich nicht und wirkte auch sonst in keiner Weise so, als würde sie klein beigeben, ganz so, womit Colin gerechnet hatte.

Als sie nur noch einen Meter voneinander entfernt waren, hob Colin seinen linken Arm, täuschte eine Bewegung nach rechts an und versuchte, so verängstigt wie möglich auszusehen. Sie kaufte ihm die Finte natürlich ab. Alle Dämonen waren der Überzeugung, dass sich Menschen bei einer Begegnung mit ihnen in die Hosen machten und so falsch lagen sie damit nicht.

Da sie ihren Körper nach rechts schob, um ihn aufzuhalten, konnte er fast schon lächerlich einfach mit seiner Klinge in ihren ungeschützten Oberkörper eindringen. Blut spritzte hervor, als er das Schwert quer über ihre Seite zog, bevor er selbst einen stechenden Schmerz verspürte.

Er war so auf seinen eigenen Täuschungsversuch bedacht gewesen, dass er die Schnelligkeit der Dämonin außer Acht gelassen hatte.

Ja, sie war auf seine Finte hereingefallen. Ja, er hatte sie verletzt. Leider hatte sie auch schneller reagiert, als er ihr zugetraut hatte. Das dunkelrote Haar wehte vor seinem Gesicht.

Sie beide stoben auseinander. Nur vage nahm Colin wahr, wie schwer seine Verletzung war, da er sein Opfer nun genau dort hatte, wo er es haben wollte. Bevor er reagieren konnte, spürte er ein Zupfen an seinem Bewusstsein und er wusste, dass sie versuchte, sich seiner zu bemächtigen. Der Wunsch, die Klinge in seinen eigenen Bauch zu stoßen, wurde beinahe überwältigend stark. Er beobachtete, wie seine Hände das Kurzschwert weiter anhoben und drehten, während sich noch immer ein kleiner Teil von ihm dagegen wehrte, aber er kam nicht dagegen an. Die Klinge kam seinem Brustkorb immer näher. Das Verlangen, sich selbst zu verletzen, übernahm jeden Gedanken, bis die Königsdämonin vor ihm stöhnte, als würde sie sich erst jetzt des Schmerzes in ihrem Bauch bewusst. Ihre Konzentration musste ihr kurzzeitig verloren gegangen sein, denn der Wunsch, sich selbst aufzuspießen, wurde wieder kleiner und Colin nutzte die einzige Chance, die sich ihm hier bot.

Allein von Wut und Adrenalin getrieben überbrückte er die geringe Distanz zwischen ihnen. Mit einem gezielten, wenn auch leicht wackligen Tritt beförderte er sie rücklings durch die offene Tür eines Gartenhauses.

Ohne weitere Zeit zu verlieren, kam er zum Stehen, griff nach der Tür und knallte sie zu. Anscheinend besaß er doch mehr Glück, als ihm bewusst gewesen war, denn es befand sich noch ein einfaches Schloss an dem Türeisen, das er mit einem endgültigen Klicken einrasten ließ.

Danach hob er sein zweites Kurzschwert auf, das er im Lauf hatte fallen lassen, und rannte davon. Der Schuppen würde nicht ewig der übernatürlichen Stärke einer Königsdämonin standhalten. Ihr Zorn würde sie dazu antreiben, ihn zu suchen und zu erledigen. Es lag an ihm, ihr nicht die Möglichkeit dazu zu geben.

Außerdem wollte er nicht riskieren, dass sie erneut in seinen Verstand eindringen konnte. Er würde kein zweites Mal entkommen können.

Also brachte er selbst in seinem miserablen Zustand möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen sich und ihr, achtete dabei jedoch weiterhin auf seine Umgebung, um sich nicht erneut in einer derartigen Situation wiederzufinden. Schließlich aber musste er in einer wie ausgestorben wirkenden Straße kurzzeitig innehalten, um seine Wunde zu versorgen. Das Blut tropfte bereits auf den Boden und würde die Dämonin direkt zu ihm führen.

Stöhnend schnitt er sein blutiges Unterhemd auseinander. Einen Teil knüllte er zusammen und presste ihn direkt auf die tiefe Stichwunde, die hoffentlich nicht seine Organe beschädigt hatte. Den anderen nutzte er, um diese zu verbinden. Es war provisorisch, aber es würde halten, bis er die Stadt hinter sich gelassen hatte. Hoffentlich. Eilig zog er sich wieder an, bevor er für lange Zeit nicht mehr zurücksah. Ignorierte die Schreie. Atmete den Rauch ein und dachte nicht über die Ursache nach. Schließlich trat er in den Wald, hielt sich sehr nahe am Rand und ging gen Osten, um die Stadt weiterhin im Auge zu behalten.

Als er sich sicher war, genug Distanz zwischen sich und den Ort seines Eintretens in den Wald gebracht zu haben, suchte er sich einen Baum mit dichter Baumkrone heraus. Es war schwieriger, als es sich anhörte. Auch hier im Süden hatte der Herbst eingesetzt, raubte den Bäumen aber erst allmählich ihre Blätter. Noch färbten sich die meisten lediglich bunt.

Colin fand schließlich den perfekten Baum und streckte seine Arme aus, ehe er vor Schmerz zusammenzuckte. Es würde die reinste Folter werden, mit seiner Verletzung den Baum zu erklimmen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Er war entkommen, ja, doch er wusste nicht, wem oder was er entkommen war und nur solche Informationen waren wichtig für Teagan.

Tief durchatmend nahm er die Schmerzen in Kauf und kletterte an den robusten Ästen nach oben bis in die dichte Baumkrone.

Eine Weile lang geschah nichts. Keine Geräusche drangen zu ihm vor und auch der Rauch über der Stadt schien sich zu lichten. Niemand war ihm gefolgt, was er als ein gutes Zeichen wertete.

Er saß auf einem dicken Ast, war mit dem Rücken an den Stamm gelehnt und hielt eine Hand auf seine Wunde gepresst. Es tat verflucht weh. Insbesondere, da allmählich das Adrenalin verebbte und der Müdigkeit Platz machte.

Schließlich, kurz bevor er einnickte, nahm er eine Bewegung am östlichen Rand der Stadt wahr. Eine Prozession machte sich auf den Weg in nördlicher Richtung. Die Karawane wanderte um die Stadt herum, als wüsste sie, dass die Straßen durch die Explosion unpassierbar geworden waren.

Am liebsten wäre er ihnen gefolgt, aber mit seiner Verletzung würde er es, wenn überhaupt, nur noch ins Basislager schaffen.

Er schätzte, dass man jeden Bewohner, den man hatte finden können, in Fesseln mitschleppte. Die Frage war nur, wieso? Was wollte Billings mit diesen Menschen? Jeder wusste, dass er sie als Abschaum, als Ungeziefer betrachtete und sie am liebsten tot sehen wollte, oder? Zumindest hatte Colin diese Art von Gerüchten bisher als wahr empfunden.

Vor sich hin grübelnd beobachtete er die Kolonne, bis sie hinter der Stadt aus seinem Sichtfeld verschwand. Daraufhin stieg er von seinem Baum und humpelte zurück nach Plowth. Er hoffte, wenn nicht seines, dann immerhin irgendein Pferd zu finden. In der Kolonne waren höchstens zwei Dutzend dabei gewesen und es war sicher anzunehmen, dass die Königsdämonen zumindest mit ein paar ihrer eigenen Tiere angereist waren.

Er strich sich sein längeres rostbraunes Haar zurück, das kaum noch von seinem Haargummi zusammengehalten wurde, bevor er merkte, dass er sich überall Blut hinschmierte.

»Hervorragend«, grummelte er wenig begeistert, verzog das Gesicht, als der Schmerz kurzzeitig an Intensität gewann, und schleppte sich dann weiter in Richtung Stall, den er zuvor benutzt hatte.

Plowth wirkte wie ausgestorben, was es vermutlich auch war. Colin konnte nicht mal Katzen oder Hunde sehen, die noch vor wenigen Stunden umhergestreunt waren. Dann nahm er den scharfen Geruch von verbranntem Fleisch wahr und er wusste, was ihn erwartete, noch bevor er die Hauptstraße erreichte.

Wenige Meter von dem Lokal entfernt, in dem er vorhin mehr oder weniger gemütlich getrunken hatte, war ein Scheiterhaufen errichtet worden. Er brannte noch an einigen Stellen, aber das Feuer schien an Kraft verloren zu haben. Verkohlte Leichen waren übereinandergestapelt worden. Colin drehte sich von Übelkeit übermannt weg. Anscheinend waren nicht alle bereit gewesen, widerstandslos abgeführt zu werden.

Eilig entfernte er sich von diesem grausamen Ort und vernahm schon bald das laute, unruhige Wiehern der Pferde. Vor Erleichterung wäre Colin beinahe hier und jetzt zusammengebrochen. Das konnte er sich allerdings nicht leisten, wenn er überleben wollte.

Er konnte kaum glauben, dass die Dämonen keine Verwendung für die Pferde gehabt hatten. Waren sie so auf ihre Aufgabe fokussiert gewesen, die Menschen fortzubringen? So wie es aussah, war ihnen daran gelegen, keine Zeugen zurückzulassen und so viele Menschen wie möglich zum Mitgehen zu bewegen. Wieso nur?

Darüber musste er sich später Gedanken machen. Es galt fürs Erste, von hier zu verschwinden, wenn er nicht riskieren wollte, erwischt zu werden. Vielleicht würden sie ein paar Königsdämonen zurückschicken, um zu überprüfen, ob hier auch wirklich niemand überlebt hatte.

Im Stall selbst öffnete er die Boxen der schnaubenden, unruhig tänzelnden Pferde, die kaum zögerten, diesen Ort zu verlassen. Auch sie hatten Tod und Verderben gerochen. Bei seinem Pferd machte er halt. Es würde ein Kraftakt werden, den großen Braunen zu satteln, aber mit dem Sattel würde Colin auch den Proviant zurücklassen müssen, der sich in den Taschen befand.

»Kurz und schmerzlos«, murmelte er immer wieder, ignorierte den schneidenden Schmerz und lobte Tessla, der sich trotz des Gestanks von verbranntem Fleisch benahm. Zur Belohnung hielt Colin dem Hengst ein paar Karottenstücke hin, die er immer in der Satteltasche dabeihatte.

Schließlich konnte er aufsteigen und dem Morgen entgegenreiten. Die Welt verschwamm immer wieder vor seinen Augen, während der Schmerz abnahm und durch Taubheit ersetzt wurde. Colin war in der Medizin ausreichend bewandert, um zu sagen, dass dies kein gutes Zeichen war. Das Blut, welches seine Jacke von innen tränkte, und seine fahrigen Bewegungen verstärkten seine Ahnung.

»Schneller, Tessla«, spornte er den Braunen an und beugte sich tiefer, bis er mit seinem Gesicht fast die wehende Mähne berührte. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten und näherte sich immer mehr dem Horizont zu seiner linken Seite, nun da er sich Richtung Norden bewegte. Er hielt sich stets nahe oder auf einer Straße, auf der das Pferd hin und wieder einem stehen gebliebenen Auto ausweichen musste.

Erst bei Einbruch der Nacht gönnte er sich und seinem Pferd in einer fremden Stadt eine Pause. An diesem Ort, der so verlassen war wie die meisten anderen, die er passiert hatte, führte er Tessla durch ein offen stehendes Tor in einen der grasbewachsenen Gärten. Er selbst taumelte benommen ins Haus und suchte verzweifelt nach etwas, mit dem er die Wunde neu verbinden konnte.

Er hatte Glück. Das Haus war recht unbeschadet. Schien vielleicht nur einmal von Räubern und Umherwandernden durchsucht worden zu sein, die ein oberflächliches Chaos zurückgelassen hatten, bevor man es sich selbst überlassen hatte. Im Badezimmer stellte er erleichtert fest, dass die Wasserleitungen intakt waren und kaltes, klares Wasser ausspuckten. Er fand außerdem ein paar Leinenbetttücher, die er in gleichmäßige Stücke zerschnitt und so als Verband nutzen konnte. Die Verletzung würde, sobald er das Camp erreichte, gesäubert und genäht werden. Er hoffte einfach, dass es bis dahin nicht schon zu spät sein würde.

Obwohl er unruhig war, fand er ein paar Stunden Schlaf, um sich dann nach Mitternacht wieder in den Sattel zu setzen. Tessla schien vollkommen ausgeruht und genoss den Trab über die Felder neben einem Highway, auf dem sich kilometerlang Autos aneinanderreihten.

Zwei Tage später erreichte er fiebrig und halluzinierend das Camp der Rebellen, das sich südlich von Ascia befand. Sie zogen alle paar Wochen in ein neues Quartier, um einer Entdeckung zuvorzukommen, doch es würde dauern, bis es das nächste Mal so weit war.

Das Lager war in einem ehemaligen Erziehungscamp inmitten von Wald errichtet worden. Schon als er die ersten Bäume passierte, wurde er von einer Patrouille erkannt und ins Innere begleitet.

»Colin!«, rief jemand, bevor er kraftlos vom Rücken des Pferds glitt und von jemandem aufgefangen wurde, ehe er auf dem Boden aufschlagen konnte. »Bringt ihn ins Krankenlager!« Das musste Keera sein. Sie sorgte sich stets um ihn und wurde zur Glucke, wenn er nur einen Kratzer aufwies.

Wie im Delirium nahm er wahr, dass man ihn in ein Bett legte, ehe seine von Schweiß und Blut getränkte Kleidung entfernt wurde. Seine Verletzung brannte wie Feuer, als jemand darin herumzupulen begann.

»Das sieht schlimm aus. Wir müssen operieren«, kommentierte Keera leise, aber bestimmt. Das war ihr Job als Ärztin. »Ich gebe dir ein Sedativum und ein fiebersenkendes Mittel.«

»Gnnh. Nicht!« Er wollte sich deutlicher weigern, da sie die kostbare Medizin, die sie noch besaßen, möglicherweise für andere brauchen könne, doch Keera wollte nichts davon wissen.

»Wir haben sie für genau diesen Zweck, Colin.« Eine Nadel wurde in seinen Arm gestochen, der für ihn zu schwer war, um ihn zu bewegen. Stille. »Schlaf gut.«

Er spürte, wie er immer weiter weggetragen wurde. Wasser schien sich um seine Sinne zu legen und begrub ihn unter sich.