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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-257-3
»Sind Sie Dr. Winter?« fragte der dunkelhaarige junge Mann schüchtern und blieb vor dem Behandlungsraum stehen, in dem Dr. Adrian Winter gerade einen weinenden kleinen Jungen beruhigte, der sich an einer Glasscherbe die Hand aufgeschnitten hatte. Die Mutter des Jungen war so aufgeregt, daß sie ebenfalls weinte.
Adrian sah auf. »Ja, der bin ich. Und Sie sind unser neuer Arzt im Praktikum, nehme ich an? Herr Brehmburg?«
Olaf Brehmburg nickte. »Ja. Kann ich gleich mit der Arbeit anfangen?«
»Eine solche Frage höre ich gern«, erwiderte Adrian lächelnd. »Bitte, gedulden Sie sich noch einen Augenblick.« Er verband die Hand des Jungen, wobei er ihn mit einer kleinen Geschichte von der schmerzhaften Prozedur abzulenken versuchte. Dann gab er der Mutter ein paar Ratschläge mit auf den Weg und entließ die beiden.
»So, jetzt stehe ich Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Willkommen in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Wir sind immer froh, wenn sich ein neuer Kollege bei uns einfindet, um uns zu unterstützen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Olaf und sah sich beeindruckt um. »Das ist ja riesig hier, ich hatte es mir nicht so groß vorgestellt. Und obwohl es noch so früh ist, haben Sie hier schon ganz schön Betrieb.«
Adrians Lächeln vertiefte sich. »Im Augenblick ist es extrem ruhig, Herr Brehmburg, das versichere ich Ihnen. Wenn hier wirklich Betrieb ist, dann sieht das ganz anders aus. Aber ich will Ihnen keine Angst machen. Kommen Sie, ich stelle Sie den anderen Kollegen vor, die im Augenblick Dienst haben – Frau Dr. Martensen ist Internistin, Dr. Schäfer ist chirurgischer Assistenzarzt. Außerdem sind Oberschwester Walli und Schwester Monika noch da.«
Während sie sich auf die Suche nach den Genannten machten, erklärte Adrian dem jungen Kollegen, wie auf der Station gearbeitet wurde.
Die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg war eine der größten des Landes, und jeder, der sie das erste Mal betrat, war nicht nur beeindruckt, sondern auch eingeschüchtert. Aber Adrian Winter war nicht umsonst ein besonders beliebter und landesweit renommierter Mediziner. Er schaffte es immer, neuen Kollegen in kurzer Zeit ihre Befangenheit zu nehmen.
Zuerst trafen sie Julia Martensen, die Adrian nicht nur wegen ihres großen Fachwissens, sondern auch wegen ihrer zupackenden und geradlinigen Art schätzte.
Julia war Ende vierzig, also rund fünfzehn Jahre älter als Adrian, doch weder sah man es ihr an, noch machte sich dieser Altersunterschied in ihrem Umgang miteinander irgendwie bemerkbar.
»Julia, das ist Herr Brehmburg, der ab heute hier arbeitet. Er steht noch unter Schock, seit er begriffen hat, was bei uns auf ihn zukommt.«
Julia lachte vergnügt und reichte Olaf die Hand. »Lassen Sie sich keine Angst einjagen, Herr Brehmburg«, sagte sie. »Ich zum Beispiel arbeite hier mindestens so gern wie auf der Inneren Station, zu der ich eigentlich gehöre. Die Notaufnahme ist spannend, hier gibt es keine Routine.«
»Aber viele Überstunden«, sagte Bernd Schäfer, der in diesem Augenblick zu ihnen trat. Er trug schwer an seinen zahlreichen Kilos, hatte sich jedoch seit einiger Zeit damit abgefunden. Seitdem versuchte er nicht mehr, sie durch immer neue Diäten, die er dann doch nicht durchhielt, loszuwerden. Bernd war nur wenig jünger als Adrian, aber immer noch Assistenzarzt, was ihn nur wenig störte.
»Sie sind also der neue Arzt im Praktikum, den man zur Arbeit in der Notaufnahme verdammt hat? Lassen Sie sich nicht einlullen von den schönen Worten meiner Kollegen, Sie werden hier arbeiten müssen bis zum Umfallen. Ich bin übrigens Bernd Schäfer.«
»Gegen viel Arbeit habe ich nichts«, versicherte Olaf ernsthaft.
Die drei anderen lachten. »Dann erfüllen Sie schon einmal eine wichtige Voraussetzung«, bemerkte Julia Martensen.
»Alles andere bringen wir Ihnen schnell bei«, fügte Bernd Schäfer hinzu.
Olafs Augen flogen hin und her, er konnte noch nicht recht einschätzen, welche der Bemerkungen nun ernst gemeint war und welche eher scherzhaft. Sein Lächeln war unsicher.
Adrian bemerkte es und sagte ruhig: »An unseren lockeren Umgangston werden Sie sich schnell gewöhnen. Wir brauchen das, um gelegentlich Streß abzubauen. Und hier sind Oberschwester Walli und Schwester Monika – damit sind Sie, wie man so schön sagt, in die Gesellschaft eingeführt.«
Er stellte den beiden Schwestern, der rundlichen Oberschwester Walli mit dem hübschen Pagenkopf und der temperamentvollen Schwester Monika, den neuen jungen Kollegen vor. Das hatte er jedoch kaum getan, als diese ruhigen Minuten des Vormittags ein jähes Ende fanden. Olaf wurde schneller mit der Realität der Notaufnahme vertraut gemacht, als er sich das hätte träumen lassen: Ein Lastwagen hatte in unmittelbarer Nähe einen schweren Verkehrsunfall verursacht. Dabei hatte es mehrere Verletzte gegeben, die alle in die Kurfürsten-Klinik gebracht wurden.
In Windeseile verwandelten sich die eben noch locker scherzenden Ärzte und Schwestern in hochprofessionell und konzentriert arbeitende Menschen, und Olaf fand sich plötzlich neben Julia Martensen wieder, die sagte: »Wir müssen intubieren. Haben Sie das schon gemacht?«, während vor ihnen ein blutüberströmter Patient auf dem Tisch lag.
Olaf nickte, sein Herz flatterte. Ja, er hatte das schon einmal gemacht, aber unter anderen Bedingungen, nicht im Streß, nicht, wenn es wirklich auf jede Sekunde ankam. Er atmete tief durch und merkte, wie er langsam ruhig wurde. Er hatte das alles gelernt, er konnte das. Er mußte sich nur konzentrieren, wie es die anderen auch taten.
Behutsam schob er den Tubus in die Kehle des Verletzten und hörte sich selbst sagen: »Ich bin drin.«
Wie aus weiter Ferne vernahm er die Antwort: »Gut, dann können wir weitermachen…«
Sein erster Arbeitstag in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik hatte begonnen. Er wußte es noch nicht, aber in den nächsten Stunden würde er nicht einmal eine Minute Zeit zum Nachdenken haben.
*
»Frau Brehmburg, Frau Brehmburg, der Andy hat sein Kaugummi in mein Heft geklebt«, jammerte die achtjährige Jennifer. »Mitten in meinen Aufsatz!« Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen, denn Jenny war ein sehr ordentliches Mädchen, dessen Hefte Seite um Seite mit gestochener Schönschrift bedeckt waren.
»Stimmt das, Andy?« fragte Karen Brehmburg streng.
Der Junge grinste sie verschmitzt an. »Sie hat mich getreten«, behauptete er. »Und wenn ich sie wieder getreten hätte, dann hätten Sie geschimpft.«
Niemals hatte Jenny ihn getreten, das wußte er genau so gut wie sie. Sie antwortete nicht einmal darauf. Jenny allerdings schrie empört: »Ich habe ihn nicht getreten!«
»Schon gut, Jenny«, sagte Karen beruhigend und wandte sich wieder an Andy. »Und du meinst, wenn du ihr einen Kaugummi ins Heft klebst, schimpfe ich nicht?«
»Nicht so schlimm«, meinte Andy hoffnungsvoll. »Oder?«
Karen mußte sich ein Lachen verkneifen. Sie unterrichtete die Klasse seit drei Jahren als Klassenlehrerin, und in dieser Zeit hatte sie gelernt, ihre Schülerinnen und Schüler einzuschätzen. Andy war der Klassenclown, der schon seit Jahren versuchte, Jennifers Aufmerksamkeit zu erringen, doch sie übersah ihn hochmütig. Sie war die Beste der Klasse, ihr Vater war Zahnarzt, und Jenny war durchaus standesbewußt: Andys Vater arbeitete bei der städtischen Abfallentsorgung, und darüber konnte das hübsche Mädchen nur das kleine Näschen rümpfen.
Doch Andy war mit bemerkenswertem Selbstbewußtsein ausgestattet, er ließ sich nicht so leicht entmutigen. In letzter Zeit jedenfalls nahm Karen wahr, daß seine Aktien bei Jennifer stiegen – seine Beharrlichkeit schien sie endlich zu beeindrucken.
Und nun also das: Er hatte eins ihrer Hefte mit einem Makel versehen. Karen hielt das für einen taktischen Fehler in seinem Bemühen um Jennys Gunst – aber das behielt sie natürlich für sich. Sie war die Lehrerin der beiden und mußte nur Andys Vergehen ahnden. Seine Flirtversuche gingen sie nichts an.
»Komm mal nach vorn, Andy«, sagte sie.
Er schob sich aus der Bank und schlurfte nach vorn. Alle warteten gespannt auf das, was nun passierte, doch Karen enttäuschte sie. Sie sprach so leise mit dem Jungen, daß niemand sonst etwas verstehen konnte. »Du wirst diesen Kaugummi aus ihrem Heft entfernen – und alles, was du dabei zerstörst oder verunstaltest, wirst du neu schreiben. Und zwar genauso schön, wie Jenny es zuvor getan hat. Verstanden?«
Er war aufrichtig entsetzt. »So schön wie sie? Das kann ich nicht, Frau Brehmburg! Das kann niemand!«
»Das wird dich lehren, ihre Hefte in Zukunft nicht noch einmal anzurühren. Du machst es genauso schön wie sie – oder du wirst mich kennenlernen! Und jetzt setz dich wieder hin!« Sie wandte sich an Jenny. »Gib ihm bitte heute nach Schulschluß dein Heft«, sagte sie. »Er wird es mit nach Hause nehmen und in Ordnung bringen. Bis morgen. Und wenn du nicht zufrieden bist, macht er die Arbeit noch einmal – so lange, bis du sagst, daß es gut ist.«
Leises Gemurmel setzte in der Klasse ein, doch Karen erstickte es sofort. »Schluß damit!« sagte sie energisch. »Wir schreiben jetzt ein kleines Diktat, damit ihr in Schwung bleibt.«
Das Gemurmel verwandelte sich in lautes Stöhnen. »Schon wieder ein Diktat. Warum müssen wir denn dauernd Diktate schreiben?«
»Weil das letzte so schlecht ausgefallen ist!« antwortete Karen freundlich und begann zu diktieren.
Es wurde still in der Klasse. Vierunddreißig Jungen und Mädchen beugten sich über ihre Hefte und schrieben lauter Wörter, die sie unglaublich schwierig fanden.
*
Milena Loosten ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Was für ein anstrengender Vormittag! Sie arbeitete in einem Kinderheim des Landes Berlin, und sie tat es gern, normalerweise. Aber heute schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Beim Frühstück hatte sie sich bereits Kaffee auf die frisch gewaschene Bluse geschüttet, ihr Auto war nicht angesprungen, ein Hund hatte sie angeknurrt, und die Kinder waren unruhig und aggressiv wie selten. Nein, solche Tage machten keinen Spaß. Und ausgerechnet heute war sie an der Reihe, um mit ihrer Kollegin Sabine Holl und zehn der kleineren Kinder zu einem der nahegelegenen Spielplätze zu gehen.
Sie stöhnte innerlich. Zehn Kinder, die jetzt schon unruhig und quengelig waren! Manchmal tat es ihnen gut, wenn sie draußen herumtoben konnten – aber manchmal steigerte sich ihre Angriffslust dadurch nur. Sie hatte noch nicht herausbekommen, wann das eine und wann das andere eintrat, aber sie hätte wetten können, daß der heutige Tag nichts Gutes für sie bereithielt.
Milena war eine kleine, etwas mollige Blondine, die alle Kinder aufrichtig liebte, selbst wenn sie ihr gelegentlich auf die Nerven gingen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und wollte irgendwann eigene Kinder haben – aber noch nicht so bald. Im Augenblick, fand sie, war sie mit den ihr anvertrauten Mädchen und Jungen mehr als ausgelastet.
»Kommst du, Milena?« Das war ihre Kollegin Sabine, die wartend in der Tür stand. Sabine war in jeder Situation die Ruhe selbst. Niemand hatte sie jemals aufgeregt oder nervös erlebt. Selbst im größten Chaos blieb sie gelassen. Es war immerhin ein Trost, daß Sabine bei ihr sein würde auf dem bevorstehenden Gang zum Spielplatz. Denn sie selbst war in den vergangenen Stunden schon mehrfach nahe daran gewesen, die Beherrschung zu verlieren.