Silvia Götschi
Engelfinger
Kramers erster Fall – Kriminalroman
CAMEO
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Lektorat: Elisabeth Pfurtscheller, Innsbruck
Korrektorat: Susanne Schulten, Duisburg
Umschlaggestaltung: André De Carvalho, Cameo Verlag GmbH, Bern
Layout und Satz: Rafael Schlegel, Cameo Verlag GmbH, Bern
ISBN: 978-3-906287-60-7
E-Book: CPI books GmbH, Leck
«Wenn ihr aber nicht auf den Herrn, euren Gott, hört und seine Gebote und Weisungen, die ich euch heute verkünde, nicht befolgt, wird nicht sein Segen, sondern sein Fluch über euch kommen.»
– 5. Mose, 28,15, Fluch des Ungehorsams
Wie alles begann
Seit Tagen hatte er sie beobachtet. Auch abends, als sie aus dem Lebensmittelgeschäft gekommen war. Mittlerweile kannte er sie beim Namen und wusste, wie sie roch, sich bewegte, wie sie lachte, wie sie weinte. Er hatte sie tagelang studiert, jede ihrer Eigenarten verinnerlicht. Mehr als es jemals ein Liebender hätte tun können.
Sie wohnte allein im Stadthaus gegenüber einem Friseur, der für Haarverlängerungen warb. Wenn sie von der Arbeit zurückkehrte, dauerte es eine Weile, bis im zweiten Stockwerk das Licht anging und er ihre Silhouette am Fenster sah, ihre geschmeidigen Bewegungen, den immer gleichen Griff, wenn sie die Vorhänge zuzog. Dann wartete er jedes Mal eine Weile und stellte sich vor, was sie dahinter tat. Stellte es sich so lange vor, bis er es wusste. Ja, sie stand vor ihrer Kommode und sah in die offene Schublade. Und ihre Hände streichelten über die Dinge, die in ihr einen Schauer auslösten. Und sie lächelte und fühlte sich ganz sicher.
Heute war sein Tag.
Nach Feierabend stand er mit seinem kleinen Koffer da, bereit, ihrem Weg zu folgen, ihrem Duft, den er manchmal, wenn der Wind zu ihm hinwehte, wahrnehmen konnte. Ein Duft aus Blumen, Sträuchern, Sommerwiesen.
Lenja war Schönheit und Sünde in einem, Apfel und Schlange zugleich. Ihr Haar von jenem Schimmer durchwoben, den er selten bei einer Frau gesehen hatte. Schwarz und seidig. Und wenn sie ging, flatterte es nach hinten, fiel über den Nacken, umschmeichelte die schmalen Schultern bis zum Po, der so wohlgeformt war, als hätte ihn ein Künstler mit der Innigkeit des Perfektionisten gemeißelt. Lenja sah aus wie ein Engel.
Ein gefallener Engel!
Dieser Tag gehörte ihm. Ihm allein. Und Haima. Ab heute würde Haima ihn begleiten.
Er wartete auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 18 Uhr, 33 Minuten, 27 Sekunden. Lenja erschien immer zur selben Zeit auf dem Platz, an dem die Heruntergekommenen und Drogenabhängigen die Straße bevölkerten. Sie schaute sich um, mit der immer gleichen Kopfbewegung. Eine Eigenart von ihr. Sie bemerkte ihn nicht. Lenja überquerte beschwingt die Straße, mit der Unbeschwertheit der Jugend, sich niemals einer Gefahr bewusst, so, wie sie das immer tat. Trotz allem, was ihr widerfahren war. Vom Coop in der Winkelriedstraße bis zum Haus, in dem sie wohnte, waren es 1.439 Schritte.
Er folgte ihr in sicherem Abstand, an den grauen Stadtbauten entlang, die in akkurater Eintönigkeit die Straße säumten. Umging Tische und Stühle, die ein Wirt auf den Gehsteig gestellt hatte. Einer der letzten milden Herbsttage musste ihn dazu bewogen haben.
An der nächsten Ecke zögerte sie, ohne einen Blick nach hinten zu werfen. Sie öffnete ihre Handtasche und zog den Schlüsselbund heraus. 18 Uhr, 39 Minuten, 12 Sekunden. Dabei fiel ihr die Tasche auf den Boden. Rasch bückte sie sich und drehte den Kopf. 1.432!
Ein Zeichen von oben?
Sieben Schritte, und er war bei ihr. Ihre Blicke trafen sich. Sie hatte schöne Augen, eigentlich zu schön, um ihren Glanz zu löschen. Die dunklen Iriden wie schwarze Sterne in einer lichtlosen Nacht. Er half ihr, die Tasche aufzuheben. Kurz berührten sich ihre Gesichter. Wie oft hatte er ihr Gesicht berührt, nachts, wenn er nicht hatte schlafen können.
Ein Zeichen von oben! Jetzt wusste er es. Und Haima?
Lenja bedankte sich scheu. Er sagte, dass er hier wohne, seinen Schlüssel aber vergessen habe; etwas anderes fiel ihm nicht ein. Lenjas Anspannung wich einem Lächeln. Sie schloss auf. «Ja, das ist mir auch schon einmal passiert.» Sie lehnte sich an die Tür und drückte sie nach innen auf. «Ich hatte nicht so viel Glück wie du. Ich musste eine halbe Stunde warten, bis jemand kam.»
Der Geruch des Treppenhauses erinnerte ihn an seinen Vater. Er musste sich beherrschen, um ruhig zu bleiben. Haima machte ihm Mut. Es würde ihm bald besser gehen. Bald würde er erlöst sein. Genauso frei wie in seinen Träumen, die ihn durch den Tag begleiteten. Oder nachts, wenn er an die Decke starrte und es nicht schaffte einzuschlafen. Lenja ging an ihm vorbei und stieg die Treppe bis zum zweiten Geschoss hoch. Er folgte ihr. Sie stieß die Tür zu ihrer Wohnung auf. Er konnte direkt in den Flur sehen. Da stand ein Garderobenständer. Daran hing ein dunkler Mantel, bereit für den Winter, den es nicht mehr geben würde. Nicht für sie.
Er konnte ihren Duft riechen, so nahe war er. Er drückte sie in den Flur. Sie kicherte vergnügt, wie nur Mädchen kichern, dachte wohl an einen Scherz. «Was willst du? Hey, du wohnst nicht hier. Geh’ nach oben!»
Eins, zwei … seine Kraft war groß. Er packte sie am Arm und drehte ihn nach hinten. Ihre Stimme brach plötzlich, das Helle, das Mädchenhafte – vor Angst. «Hey, was soll das?» Die reine Angst, er wusste es. So klang die reine Angst.
Er schlug schnell. Ein gezielter Handkantenschlag auf den Hinterkopf reichte aus. Zumindest bei ihr. Machte sie willenlos, bevor sie den Schmerz realisierte. Sie fiel rückwärts in seine Arme. Er roch noch den letzten sich verflüchtigenden Geruch von Sommer. Wie betörend. Behutsam, als könnte er sie zerbrechen, trug er sie ins Schlafzimmer. Ihr Bett stand mit dem Kopfende zur Wand, ein dunkelbraunes, einfaches Holzgestell. Er war dankbar. Alles schien bereit zu sein. An seinem Tag. Nicht, Haima? Er setzte sie so auf den Boden, dass er ihre Arme am Fußende über den Balken legen konnte. Tausendmal hatte er dies in seinen Gedanken vollzogen. Ein Gedanke mehr in seinem Kopf. Er öffnete den kleinen Koffer, indem er die Arretierung löste. Sachte kippte er den Deckel nach hinten. Vor ihm breitete sich Werkzeug aus, exakt nebeneinander auf roten Samt gebettet. Er entnahm zwei Nägel aus dem Schächtelchen, den Hammer, eine Lanze mit abgebrochenem Stiel. Das Skalpell. Ein Blick auf Lenja: Sie hatte ihr Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Langsam schraubte er den Deckel eines Fläschchens auf, ließ ein wenig von dessen Inhalt auf eine Mullbinde tröpfeln, die er ihr auf die Lippen drückte. Er musste Lenjas Kopf halten, weil er immer wieder nach vorne fiel. Dann zog er die Mullbinde bis nach hinten um ihren Schädel, verknotete die beiden Enden. Sie würde Lenjas Schrei unterdrücken, jetzt, wo sie langsam wieder zu Sinnen kam. Es geschah schnell. Er arbeitete routiniert.
«Sein Wille geschehe.» Er musste das jetzt sagen. Es war sein Auftrag. Ihre Augen bettelten. Ihr Kopf schien nicht zu begreifen, was der Körper erfuhr.
Der erste Hammerschlag trieb den Nagel in Lenjas linke Handfläche. Der zweite Schlag grub ihn tiefer ins weiche Fleisch. Der dritte traf den Holzpfosten. Der vierte fixierte die Hand. Beim fünften Schlag war das Wesentliche vollbracht. Lenja wand sich und schlug mit der freien Hand um sich, strampelte mit den Beinen. Er hatte damit gerechnet, dass sie kämpfen würde. Gefallene Seelen kämpfen immer. Das wusste auch Haima. Er kauerte in der Ecke und flüsterte ihm zu.
Rittlings setzte er sich auf ihre Beine, um sie ruhig zu halten. Sie wimmerte und schniefte. Der Mullverband unterdrückte ihre Stimme. Ihre Augen waren weit aufgerissen, schienen beinahe die Höhlen zu sprengen, in denen sie lagen. Als würden sie ein Warum in die Luft hineinzeichnen. Er schmeckte ihre Angst, wenn ihre Schweißtropfen auf seine Zunge fielen. Den Salzgeschmack der Angst. Er kannte ihn genau.
Es kostete Kraft, auch Lenjas rechte Hand an den Bettpfosten zu nageln. Ein paarmal traf er daneben. «Verzeihung!», was in ihr weiteres, noch größeres Entsetzen auslöste. Ein Entsetzen, das sie in ihren Bewegungen lähmte. Er duldete ihre Regung. Die Wärme an seinen Lenden. Körper an Körper. Seine Schmach löste sich auf und transformierte sich. Er spürte ein Stück seiner Seele in ihren Körper übergehen. Er hatte viele Seelen, für jeden Schmerz eine.
Und er hatte Haima.
Er öffnete Lenjas Jacke, die Bluse darunter. Ihre Brüste schimmerten weiß, die Knospen zart, als hätte man soeben Blüten darum herum gepflückt. Alles an ihr schien Unschuld zu sein, rein wie die Jungfrau – welch großer Betrug!
Er würde die Angst des Mädchens nicht besiegen können. Lindern aber würde er sie. Er sah es an. Ließ diesen einen Augenblick auf sich wirken, der niemals mehr zurückkommen würde. Haima liebkoste ihn.
Lenja. Mit einer schnellen Bewegung sprang er von ihr. Und kauerte sich ebenso schnell nieder. «Du wirst nicht lange leiden müssen. Bald wird es vorbei sein. Bete mit uns. Bete mit uns das Vaterunser.»
Ruckartig schüttelte sie den Kopf, ihre Augen schienen noch entsetzter.
«Ach ja, du kennst unsere Gebete nicht? Dann wird es Zeit, dass du sie lernst!»
Die Lanzenspitze glänzte im Licht, das aus dem Korridor fiel. Er griff nach ihr und hielt sie an ihre linke Brust. Fuhr über die untere Wölbung. Schön war sie anzusehen. Ebenmäßig, wie gezeichnet. Zu schön, um sie weiterem Ungemach auszusetzen. Zu perfekt, um in dieser Welt beglotzt zu werden.
«Oh Herr, vergib ihr.»
Er stieß zu. So unaufhaltsam schnell, als schösse ein Barrakuda nach vorn. Unter die Brust. Er hörte die Rippen knacken. Ein Geräusch, das ihn bestärkte. Ein Vulkan aus Blut. Ein Laut, der nachhaltig in seinen Ohren dröhnte. Ein Laut, zugleich befreiend.
Lenja sah ihn mit wildem Blick an. Ihre Seele war zäh. Einmal noch ein tiefes Atmen. Ein Seufzer, welcher aus ihrer Nase entwich. Es hörte sich wie ein Pfeifen an. Ihr Gesicht war verzerrt. Aufgerissene Augen, aus denen der Glanz verschwand. Ein letzter stummer Schrei. Ihr Körper zitterte. Bebte, schüttelte sich, bis der Lebenshauch aus ihm entfloh.
«Was getan werden musste, ist getan. Der Herr nehme ihre kranke Seele zu sich.» Er meinte, ihr Blut riechen zu können, das warm aus ihrer Wunde floss. Eine Weile schaute er dem Strom zu. Es war ruhig in der Wohnung in der Dornacherstraße. Draußen das Dunkel. Sie hatten Zeit. Viel Zeit. Niemand würde herkommen, um nach Lenja zu sehen. Nicht in dieser Nacht.
Behutsam streckte er ihre Beine. Oberschenkel, Knie und Füße bettete er parallel zueinander. Ihr Kopf war auf die Brust gekippt.
Er nahm das Skalpell, drehte es in seinen Händen. Im Spiegel der Klinge erkannte er sein Gesicht, das keines war. Augen wie seltsame Löcher. An diesem Tag, der zur Nacht geworden war.
Er griff nach der schlaffen linken Hand. Erst jetzt sah er, dass ihr Zeigefinger ein wenig krumm war. Wie hatte er das nur übersehen können? Er tastete ihn ab, berührte kurz den Nagel und war stolz auf seine Treffsicherheit, während er das Skalpell ansetzte. Er schnitt in der Furche, als wäre der Schnitt vorgegeben in der Beuge des Fingers. Haut klaffte auf. Schnell und sauber, bis ein wenig Blut erschien. Er zertrennte die Sehnen. Ein paarmal musste er das Messer bewegen, weil er auf Knochen stieß. Den letzten Rest riss er weg. Das Blut vermischte sich mit dem Blut, das aus ihrem Herzen floss. Was für ein beglückender Anblick.
Er legte den Finger neben die Tote. Und Haima küsste ihn auf die Stirn.
Freitag, 16. November
Die Eingangstür war nur angelehnt. Aus dem Innern drangen gedämpft Stimmen. Thomas Kramer schaute zurück auf die Einfahrt des Betonbaus, der am Rand der Stadt lag, abseits der Innenstadt, die um diese Zeit, kurz nach zweiundzwanzig Uhr, noch so pulsierte wie am Tag – eigentlich wie an einem warmen Sommertag während der Hochsaison, und das verwunderte ihn, denn es war November, mitten in der Nacht und ungemütlich kalt. Das Gittertor in der Lorbeerhecke stand offen. Auf dem Platz vor dem Haus parkten drei Wagen: ein Streifenwagen der Stadtpolizei mit rotierendem Blaulicht und der weiße Camion des Technischen Dienstes. In dem dritten Auto erkannte Kramer den Kombi seiner Mitarbeiterin. Zwei uniformierte Beamte der Stadtpolizei riegelten den Platz weiträumig ab.
Es würde auch heute Schaulustige geben, die sich in diese Gegend verirrten, trotz der kalten Novembernacht. Ins Quartier, wo die Walmdachbauten lagen, von denen einige an die Bausünden der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erinnerten, die introvertierten Kuben mit ihren gedeckten Balkonen, auf denen im Sommer Geranien blühten, Margeriten und Studentenblumen und im Herbst Erikastauden, die dann im Dezember austrockneten, verblassten, unansehnlich wurden und zerbröselten. Dann wusste man, dass der Winter bald hereinbrechen würde. Die Häuser befanden sich unterhalb von Flachdachreihen in der Nähe der Klinik Sankt Anna, am Hang über dem Verkehrshaus, wo man das Ruder einer ausgedienten Swissair-Maschine gerade noch erkennen konnte, und dem Lido am Vierwaldstättersee. Bei schönem Wetter sah man auf das Luzerner Seebecken und die schneebedeckten Berge der Zentralschweizer Alpen.
Der Buddha fiel Kramer als Erstes auf. Er saß auf einem Sockel neben dem Eingang. Eine bronzefarbene Statue, nicht größer als dreißig Zentimeter, mit einem Kugelbauch, in dessen Falten der Nabel verschwand – der deshalb nicht wie ein Nabel, sondern wie ein Schlitz aussah –, einem runden Kopf und Ohren, deren Läppchen Lappen glichen und bis hinunter auf den Kragen reichten.
Kramer betrat den Korridor. Bis dahin war ihm niemand begegnet, den er kannte. Er drückte die Tür zum Wohnzimmer auf, von wo er Stimmen vernommen hatte. Ein Scheinwerfer blendete ihn. Einen Moment hielt er schützend die Hand vors Gesicht. Er sah blinzelnd, wie sich der Arzt, Dr. Karl Lohmeyer, über ein cognacfarbenes Sofa beugte. Kramer wünschte einen Guten Abend, worauf sich Dr. Lohmeyer umdrehte und den Gruß erwiderte. Wie sehr er in den letzten Tagen gealtert war – seine Wangen eingefallen, über der Nase Falten, die Kramer so nicht in Erinnerung hatte. Dr. Lohmeyer war ein paar Jahre jünger als Kramer, Anfang vierzig, großgewachsen und sehr athletisch. Er stammte ursprünglich aus München, hatte eine Schweizerin geheiratet und lebte seit fünf Jahren in Luzern. «Ich bin gleich so weit.» Er widmete sich erneut seiner Arbeit. «Ich bin auch gerade erst eingetroffen.»
Auf dem Boden unweit des Sofas, zwischen einem Fauteuil und einem Nierentisch, auf einem verblassten Perserteppich mit orientalischem Muster, lag ein Mann in einer unnatürlichen Stellung in einer Blutlache und wie dorthin drapiert. Die Leuchten ließen kein Detail aus. Der obere Teil des Torsos war voll von Blutspritzern, ebenso das ein wenig zur Seite gedrehte Gesicht. Das Blut um die Wunde im Oberkörper war eingetrocknet. Die Spritzer rund um den Einstich bildeten eine Art Kreis. Kramer dachte an ein Mandala. Kopf, Rumpf und Beine lagen flach auf dem Boden, die Arme zu je neunzig Grad nach außen abgewinkelt. Es sah ganz so aus, als hätte jemand den Toten nach dem Exitus so hingebettet. Es war ein bizarres Bild, das sich hier Kramer bot. Und es erinnerte ihn an die Fotogalerie in seinem Büro, an die Bilder, die seit einiger Zeit die Wände in den Räumen der Kriminalpolizei bedeckten und ihn und die Kollegen auf die Scheußlichkeiten in dieser Welt aufmerksam machten. Und da war, wie ein leises Aufblitzen, dieses Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen, die den Todeskampf erahnen liessen. Das Gesicht des Mädchens, das sich ihm eingeprägt hatte, damals im Haus in der Dornacherstraße, und aus seinen Erinnerungen nicht wieder verschwand.
«Kommt Ihnen das auch bekannt vor?» Dr. Lohmeyer blickte auf. Über sein sonst gutmütiges Gesicht huschte ein Schatten tiefster Besorgnis.
Kramer seufzte. Wieder machte ihm dieser Geruch zu schaffen.
«Auch er wurde gekreuzigt. Ich glaube, es ist … sehen Sie die Handfläche?» Der Arzt hob die Finger der linken Hand der Leiche an. «Mindestens ein Hunderternagel, der da eingeschlagen worden ist. Mehr als zehn Zentimeter durchs Fleisch und durch das Holz. Er hat genau zwischen die Mittelhandknochen getroffen. Der versteht etwas davon, zumindest, was die Anatomie des Opfers betrifft. Kein Absplittern, nichts. Ich erinnere mich …»
Aus der Küche kam Armando Bartolini und nahm Kramer gleich in Beschlag. Vor seiner Brust baumelte eine analoge Kamera älteren Modells. «Es wird Ärger geben. Wo hast du auch so lange gesteckt? Sidler hat schon zweimal angerufen.»
«Reg dich doch nicht künstlich auf.» Kramer winkte ab. Kritik konnte er gerade in diesem Moment nicht ertragen. Er sah Bartolini mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Ist Benno nicht da?»
Sein Gegenüber zuckte schuldbewusst die Achseln. «Er arbeitet auch auf Abruf, soweit mir bekannt ist.»
Bartolini war Südländer, der seit der zweiten Generation in der Schweiz lebte. Seine Eltern stammten aus Lerici, einem Urlaubsort am Ligurischen Meer. Unverkennbar waren seine Wurzeln und nur schwer zu leugnen. Die schwarzen Haare und ebenso schwarzen Augen, die vor Leidenschaft glühten, ergänzten seine Angewohnheit, auf Italienisch zu fluchen. Trotz seines heißblütigen, manchmal auch etwas zu heftigen Temperaments mochte ihn Kramer, auch wenn er dies nur ungern zugab. In der Regel war auf Bartolini Verlass. Doch in letzter Zeit litt er unter Vergesslichkeit. Den Grund hatte Kramer noch nicht herausgefunden. Seine Mitarbeiter über deren Befindlichkeiten auszufragen, lag ihm nun mal nicht.
Er schätzte die Lage mit einem Rundumblick ein. Schwere Luft drang zu ihm vor. Ein Gemisch aus Urin und etwas Saurem. Er kannte diesen Geruch, der ihn auf seinen unzähligen Gängen in die Nähe von Menschen begleitet hatte, die auf brutalste Weise verletzt worden oder zu Tode gekommen waren, sei es bei Unfällen mit Schwerverletzten oder bei Gewaltverbrechen. Der erste Schritt war immer der schlimmste, weil Kramer nie wusste, was ihn genau erwartete. An den Anblick eines Toten hatte er sich noch immer nicht gewöhnt.
Die Männer vom Kriminaltechnischen Dienst – es waren derer drei – erledigten schweigend und präzise ihre Arbeit. Jeder Handgriff war Routine. Halogenlampen leuchteten den Raum aus, die Wände mit dem Streifenmuster, auf die schwere Möbel Schatten warfen.
Kramer wandte sich erneut an Dr. Lohmeyer. «Was denken Sie, ist die Todesursache?», fragte er, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte. Er zog ein Brillenfutteral aus der Jackentasche, aus dem schwarzen Kittel, der sein Hochzeitskittel war, der einzige Kittel, den er für besondere Anlässe aufgehoben hatte, seit mehr als zwanzig Jahren, obwohl der schon ziemlich aus der Mode gekommen und von Isabelle bereits zweimal ausgelassen worden war, nahm die Gläser heraus und setzte sie sich auf die Nase. Dann holte er Block und Schreibstift hervor.
«Ein Stich ins Herz.» Dr. Lohmeyer und ließ die Finger los. «Eine gezielte Verletzung. Genau wie bei den letzten drei Opfern.»
«Und wann wurde er umgebracht?» Kramer machte Notizen.
Dr. Lohmeyer wischte sich schniefend mit dem Ärmel über die Nase. «Wenn ich von der beginnenden Totenstarre ausgehe, die im Unterkiefer ihren Anfang genommen und sich über das Brustbein ausgebreitet hat, würde ich sagen: zwischen zwei und vier Stunden.» Er deutete auf die Arme des Opfers. «Die Flecken hier bestätigen meine Annahme.» Er drehte sachte den kahlen Schädel der Leiche. «Abrasiert.» Er suchte nach einer Verletzung, nach einer Beule oder Einbuchtung auf dem Hinterkopf. Er entdeckte ein paar alte Narben, Unebenheiten, eingewachsene Haarstoppeln. «Keine Kopfverletzungen. Aber eine Einstichstelle am rechten Unterarm. Das könnte aber auch eine alte Verletzung sein, von einer Infusion vielleicht.»
«Was noch?»
Draußen schlug eine Tür heftig ins Schloss. Kramer zuckte zusammen, wandte sich aber gleich wieder an Dr. Lohmeyer. «Was noch?»
«Die Mullbinde wurde wieder zuerst in Essig getränkt.»
«Was hat das zu bedeuten?», fragte Kramer mehr sich selbst. «Was geht hier ab? Was geschieht überhaupt in dieser Stadt?»
Ein süßes Parfüm streifte seine Nase. Lucille Mathieu trat auf ihn zu und fuchtelte mit den Händen, als müsste sie Unsichtbares wegwischen. Sie stotterte etwas, das Kramer nicht verstand. Dann strich sie sich nervös über den engen Rock. Kramer ließ sich einen kurzen Moment von Lucilles Anblick ablenken. Er starrte auf das Kleidungsstück und fragte sich, ob er ihr demnächst raten sollte, im Dienst Hosen zu tragen. Dabei fiel sein Blick auf seinen eigenen Anzug, auf die schwarze Hose, das weiße Hemd mit der Krawatte, auf den Kittel, und er änderte seine Meinung. Wahrscheinlich war Lucille wie er direkt von einem Anlass hierher gekommen. Schnell entledigte er sich seiner Krawatte und steckte sie in die Außentasche des Kittels, bevor er ihn auszog.
Ein schwaches Lächeln erschien jetzt auf Lucilles Gesicht. «Ein abgebrochenes Rendezvous?»
Kramer fand ihren Scherz unangebracht. Aber er liebte ihren Akzent. Den schönen Basler Dialekt. Die gedehnte erste Vokabel zwischen den in der Kehle rollenden Rs, die sich beinahe wie Ks anhörten. Lucille war zur einen Hälfte Baslerin, zur anderen Pariserin. Eine feingliedrige Frau mit wachen Augen und dunklem Pagenschnitt.
«Als Polizist muss man immer mit Unvorhergesehenem rechnen.» Sein Blick fiel auf den Toten. Eine Weile stand er wie erstarrt. «Was passiert hier?»
Er war mitten aus einem Konzert im Kultur- und Kongresshaus gerissen worden. Das Finale aus Gustav Mahlers sechster Sinfonie in a-Moll hatte er nicht mehr mitbekommen, denn als sein Mobiltelefon vibriert hatte, war er schnurstracks aufgestanden, hatte sich bei Isabelle und nach allen Seiten hin entschuldigt und war froh gewesen, endlich auf den Flur zu gelangen, wo ihn eine Türsteherin verdattert angesehen und nicht verstanden hatte, dass man die sechste Sinfonie von Gustav Mahler einfach so verlassen konnte. Wenn er Bereitschaftsdienst hatte, kaufte Kramer, zu Isabelles Leidwesen, nur Sitze auf der Galerie in der vierten Kategorie, wo er im Notfall ohne großes Aufsehen verschwinden konnte. Seit sie es sich zur Angewohnheit gemacht hatten, mindestens einmal im Monat etwas für ihr Seelenwohl zu tun, war der Platz in der Galerie immer sehr willkommen, und Parkett oder Balkon hätte er sich bei seinem Monatsgehalt nicht leisten können. In Anbetracht ihres Alters, sie waren beide bald fünfzig, lief es nun mal auf Klassik hinaus. Kramer glaubte, Isabelles Interesse stünde dabei im Vordergrund, denn eigentlich hätte er diesem Vergnügen schon der immensen Arbeit wegen nicht frönen können. Wie auch immer: Sein Vorgesetzter Jörg Sidler hatte ihn ziemlich aufgebracht an die Schlösslihalde beordert. «Es wird dir keine sehr große Freude bereiten, aber ich glaube, du wirst da allzu Bekanntes antreffen.»
Es war nicht das erste Mal, dass sich Kramer in einer solchen Situation befand. Er sah die Gräueltaten vor sich, die ihm schlaflose Nächte bescherten. Drei Morde in Luzern innerhalb eines Monats. Drei Opfer, die als unbescholtene Bürger gegolten hatten. Die Tat eines Psychopathen. Das Werk des Teufels. Das jedenfalls schien das Einzige, was sie wussten. Und jetzt das hier: wieder ein Mord, der noch mehr Rätsel aufwarf.
Kramer blickte auf die Brust der Leiche, über deren linkem Rippenbogen eine längliche Wunde klaffte. «Das ist ja grauenvoll.»
Bei den letzten Einsätzen hatte er sich die bange Frage gestellt, ob er der richtige Mann an der Front war. Immer wieder haderte er. Er musste sich regelrecht überwinden.
«Ich tippe auf denselben Täter», ereiferte sich Bartolini, der immer noch hinter Kramer stand. «Die gleiche Vorgehensweise. Die gleiche Handschrift.» Er hielt kurz inne. Räusperte sich. «Nur die Nachricht scheint eine andere zu sein.»
«Inwiefern?», fragte Kramer, obwohl er wusste, dass dies nicht von Belang war. Eine brauchbare Nachricht hatten sie bis heute nicht gefunden.
«Der fehlende Finger. Es ist der Daumen der rechten Hand.»
«Das ergibt keinen Sinn.» Kramer suchte nach dem abgetrennten Körperteil.
«Den hat die Spurensicherung schon entfernt», sagte Dr. Lohmeyer.
«Erinnern Sie sich an die Finger damals?» Kramer verschränkte die Arme und tippte mit der linken Hand an seine Wange. Sein Gedächtnis schien sich in Auflösung zu befinden.
«Ich glaube, das waren der Zeigefinger und der Ringfinger der linken und der Zeigefinger der rechten Hand», entsann sich Lucille. Sie guckte verstohlen hinter dem Sofa hervor, ohne ihren Blick auf die Leiche zu richten. Ihr Humor hatte sich verflüchtigt.
Lucille arbeitete noch nicht lange bei der Polizei. Sie war erst vor einem halben Jahr dazugekommen. Vorher hatte sie sich ihren Lebensunterhalt als Primarlehrerin verdient. Als ihr dann die Kinder über den Kopf wuchsen und sie auch verbal ins Abseits stellten – und Lucille sich vergebens bemühte, mit einem soliden Deutschunterricht gegen einen abartigen Sprachgebrauch anzukommen, entschloss sie sich, den Beruf zu wechseln. Im Alter von einunddreißig Jahren absolvierte sie die Zentralschweizerische Polizeischule in Hitzkirch und trat nach knapp einem Jahr in den Ermittlungsdienst bei der Kantonspolizei Luzern ein. Dass sie sogleich der Abteilung für Leib und Leben zugeteilt worden war, hatte daran gelegen, dass sie die Lücke schließen musste, die ein ausgeschiedener Kollege hinterlassen hatte. Anders als Kramer war sie noch nicht fähig, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten, wenn sie zu solchen Einsätzen gerufen wurde, und sie traute sich noch keinen Alleingang zu. So sah man sie nach wie vor als Kramers Schatten; Kramer selbst bezeichnete sie als seinen verlängerten Arm.
«Dein Gedächtnis möchte ich haben.» Kramer ließ sich von Dr. Lohmeyer ein paar Vinylhandschuhe reichen, die er sich überstreifte. «Schluck es einfach runter», ermunterte er Lucille, als er sah, wie blass sie wurde. «Meinst du, es fällt mir immer leicht?» Er kniete jetzt neben Dr. Lohmeyer auf dem Boden und besah sich den Toten. Als sich in seinem Mund verdächtig viel Speichel ansammelte, zwang er sich zur Beherrschung. Eine Blöße konnte er sich jetzt nicht geben. Er widmete sich dem Einstich auf dem nackten Oberkörper. Durch die aufklaffende Wunde meinte er, ein paar Muskelstränge und einen Teil der Herzkammer zu sehen. Glänzende, feuchte, rotweinfarbene Innereien. Er schluckte schwer. «Hat man diesmal eine Tatwaffe gefunden?»
Bartolini verneinte. «Sieht aber aus, als hätte der Täter mit einem Dolch … auf jeden Fall muss es eine Stichwaffe gewesen sein.»
Kramer schüttelte ungläubig den Kopf. Auch bei den anderen drei Fällen war keine Tatwaffe zu finden gewesen.
«Eine Lanze vielleicht», spekulierte Bartolini weiter. Im Gegensatz zu Lucille führte er sich oft wie eine kalte Hundeschnauze auf, von Feingefühl keine Spur, was wohl seiner Ausbildung zu verdanken war. Er hatte vier Semester Medizin studiert und war über den menschlichen Körper in jeder Beziehung im Bilde. Er hatte im ersten Halbjahr nichts anderes getan als Leichen zu sezieren. Danach hatte er sich zum Sanitäter ausbilden lassen und war erst auf Umwegen zur Polizei gelangt. Es war eine Angewohnheit von ihm, Dr. Lohmeyer zu beobachten und seine persönlichen Kommentare beizusteuern, auch dann, wenn dies nicht erwünscht war.
Kramer zog seine Brille ein Stück herunter. Seit er die Fünfundvierzig überschritten hatte, sah er in der Nähe ohne Brille besser. Die Weitsichtigkeit behinderte ihn. Noch aber konnte er sich nicht zu einer Doppelkorrektur durchringen. Die hätte ihn zu sehr daran erinnert, dass er alt wurde, obwohl Isabelle meinte, dass mit dem Alter auch die Fähigkeit komme, die Dinge aus einem großzügigeren Blickwinkel zu betrachten – und dies auch im übertragenen Sinne.
Kramer wunderte sich, dass das Opfer nicht mehr trug als eine orangefarbene Hose, die trotz der Fülle des Stoffes über den Bauch spannte.
«Es sieht ganz danach aus, als hätte sich der Mann einen entspannten Abend gönnen oder eine Lektion Yoga absolvieren wollen», sagte er an Dr. Lohmeyer gewandt.
«Er muss vor dem tödlichen Stich betäubt oder K.o. geschlagen worden sein», sagte dieser. «Er muss bereits auf dem Boden gelegen haben, als ihm die tödliche Verletzung zugefügt wurde.»
Kramer richtete sich auf. «Wo bleibt eigentlich Benno?», fragte er, nachdem er festgestellt hatte, dass der Fotograph noch nicht anwesend war.
«Der ist sicher im Stau stecken geblieben», äußerte sich Bartolini. «Das Fußballmatch auf der Allmend ist zu Ende.»
«Wobei, wie ich annehme, dies kein Grund ist, sich nicht zu beeilen», regte sich Kramer auf und verdrängte seine eigene Verspätung.
«Du kennst ihn ja», sagte Lucille eine Spur zu laut. «Benno ist ein fanatischer Fußballfan. Ich habe ihn mal mit Kappe und Schal gesehen, in blau-weißer Fan-Montur. Man traut ihm das eigentlich gar nicht zu.» Lucille hatte sich in der Zwischenzeit gefasst und versuchte offensichtlich krampfhaft, mit belanglosem Geschwätz ihre Nerven unter Kontrolle zu halten. «Der wird eher Mühe gehabt haben, sich von dem Spiel zu entfernen, als sich auf seine berufliche Aufgabe zu konzentrieren.»
«Wie auch immer», sagte Kramer, dem eine Unterhaltung dieser Art zuwider war, «es ist statistisch belegt, dass die meisten Morde übers Wochenende verübt werden.»
In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass Benno Fischer oft zu spät zum Einsatz erschien. Er wandte sich an Bartolini. «Hast du die Angehörigen des Opfers schon benachrichtigt?»
«Wann denn?», brauste Bartolini auf. «Ich war die ganze Zeit hier!» Er fuchtelte mit den Händen, um seine Einsatzbereitschaft zu demonstrieren, was Kramer übertrieben fand.
«Weisst du, wer uns gerufen hat?»
«Eine Nachbarin. Ich habe den Namen irgendwo notiert. Ich musste sie wegschicken, weil sie einfach ins Wohnzimmer kam und uns bei der Arbeit störte.» Bartolini suchte nach der Notiz und fluchte, als er sie nicht fand. Er machte eine ungeschickte Bewegung, die er mit einem Rückschritt abzufangen versuchte. Dabei stolperte er über den Toten und landete schlussendlich neben ihm. Einen Moment sah es danach aus, als würde Bartolini mit dem Toten rangeln. «Maledetto, sieh dir das an», rief er. «Das kriegt keiner mehr aus der Wäsche. Das sind meine Sonntagshosen.»
«Du verwischst ja alle Spuren!», entsetzte sich Lucille und half Bartolini auf die Beine. «Sind das nicht die Samstaghosen? Halt dich fest …» Die Polizistin zog ihren Kollegen hoch.
Kramer ärgerte sich über Bartolinis Ungeschicklichkeit und schwieg kopfschüttelnd. Dr. Lohmeyer verdrehte die Augen und fuhr mit der Untersuchung der Leiche fort. Bartolini stand jetzt daneben und versuchte, das Blut auf seiner Hose mit einem Papiertaschentuch zu beseitigen.
«Wissen wir wenigstens, wer er ist?» Kramer konnte eine Grimasse nicht unterdrücken. «Am besten, du gehst damit zur chemischen Reinigung. Die können die Hose vielleicht noch retten.»
«Heinrich Baumann. Fünfundsechzig. Verwitwet. Vor vier Jahren in Frühpension getreten.» Bartolini schnappte nach Luft. Er stand etwas unbeholfen da und schaute noch immer auf seine Hose herab. «Hat einen Sohn, der ebenfalls in der Stadt lebt.»
«Vermögend?», fragte Kramer, und als Bartolini nichts erwiderte: «Hast du die Bilder an den Wänden gesehen? Hans Erni. Pferdebilder. Ich wette, das sind Originale.»
«Er war in der Pharmaindustrie tätig», entgegnete endlich Bartolini. Er folgte Kramers Blick. «Könnten auch Reproduktionen sein.» Und nach einer Pause: «Baumann war Chemiker, der durch einen Betriebsunfall ein Auge verloren hat.»
«Du kennst ihn?» Kramer wischte sich mit dem Ellenbogen kalten Schweiß von der Stirn.
Dr. Lohmeyer hob mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand erst das linke, dann das rechte Augenlid des Opfers an. «Glasauge», bestätigte er. Nur die linke Pupille hatte sich nach innen gedreht. «Nicht sehr gut instand gestellt. Bei der Ausbildung der heutigen Chirurgen eher eine Ausnahme.»
«Der Unfall geschah in der Slowakei», informierte sie Bartolini. «Irgend so ein Lazarettarzt hatte ihm die Glasprothese verpasst. Ich kenne ihn aus der Zeitung.»
«Den Arzt?»
«Heinrich Baumann.»
«Da ist mir ja etwas entgangen.» Kramer erhob sich. Er musste die Arbeit hier beenden. Zu bedrückend fand er den Anblick, das viele Blut. «Ich sehe mich im Haus um.» Er wandte sich an Dr. Lohmeyer. «Haben Sie die Leute von der Rechtsmedizin schon informiert?»
«Die sind bereits unterwegs», bekundete der Arzt.
«Und du, Bartolini, knöpfst dir fürs erste die Nachbarin vor. Egal, wie spät es ist. Ich will alles von ihr wissen. Wenn ich hier fertig bin, komme ich nach.»
Einen Augenblick blieb Kramer mitten im Wohnzimmer stehen. Trotz der Ausleuchtung durch die Scheinwerfer erahnte er das Düstere der Einrichtung. An der Seite neben der Tür gab es eine dunkelbraune Wohnwand, die in den siebziger Jahren einmal sehr modern gewesen war. Kramer besah sich die Ablage, die als Bücherregal diente. Hier stapelten sich ein paar Taschenromane, alte Zeitungen und Illustrierte. In einer Glasvase welkten drei Chrysanthemen, das Brackwasser stank. Um die Vase herum lagen verdorrte Blätter. Zwei unverkennbare Kunstwerke von Hans Erni, einem Luzerner Künstler und passionierten Maler, hingen an der Wand und passten nicht richtig zur Einrichtung: filigrane Technik, die Körper von galoppierenden Pferden mit wallender Mähne und Schweif angedeutet mit kunstvoll geführten Pinselstrichen, in blauen Farbtönen ausgemalt, aufgefüllt, gehaltvoll inszeniert. In der Ecke befanden sich eine orangefarbene Stehlampe, ein Fernseher, unmittelbar darunter ein DVD-Player neueren Modells. Kramer drückte alle Tasten durch, bis sich eine farbige Scheibe aus dem Gerät presste. Er las den Titel, den er nicht kannte.
Benno Fischer traf endlich ein. Groß, blond und jungenhaft, trotz seiner fünfzig Jahre. Die sonst gepflegten Haare fielen in sein erhitztes Gesicht, verdeckten halb die Augen. Er sah aus, als wäre er aus dem Bett und nicht von einem Fussballmatch hierhergekommen. Er bat um Entschuldigung und fing mit seiner Arbeit an. Er stellte seinen Aluminiumkoffer auf den Boden und packte seine Digitalkamera und die dazugehörenden Utensilien aus. Er nummerierte fortlaufend schwarze Schildchen und stellte sie um die Leiche herum auf.
Jedermann wusste, dass es mit seiner Ehe nicht zum Besten stand. Seine Frau wollte sich von ihm trennen, weil sie es satt hatte, die unregelmäßigen Arbeitszeiten zu akzeptieren.
Kramer wandte sich Lucille zu: «Dein Rock …»
«Sag jetzt nichts, was du später bereust», murmelte sie und schritt Kramer voraus, schwenkte dabei absichtlich die Hüften und strich mit den Händen den Stoff über dem Po glatt. «Ich kann auch nichts dafür, dass ich von einem Date abkommandiert wurde.»
«War er es das wenigstens wert?»
«Ich wette, du kennst ihn.» Sie blickte schelmisch über ihre Schultern. «Er hat viel Ähnlichkeit mit dir.»
Kramer ging nicht darauf ein. «Ich finde, du hast abgenommen.»
Das sei der Stress. Sie verwies auf die letzten Einsätze. «Vergeht dir der Appetit nie?»
«Das lernt man wegzustecken.» Kramer knipste die Lampe im Korridor an, schaute an die Decke, wo die Leuchte hing, und bemerkte, dass sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gereinigt worden war. Zwischen den Birnen hingen Spinnweben und Staubknäuel, die sich darin verfangen hatten.
Er war ein Mensch, der trotz Tiefschlägen gerne ass. Oder gerade deswegen. Er trat linksseitig in die Küche, wo er ebenfalls das Licht anmachte. Auf dem Tisch standen noch die Reste des Abendessens. Der Geruch eines exotischen Gewürzes hing in der Luft, es konnte Ingwer sein.
«Wenn wir vom Essen reden …»
Mehrere Teller und Platten in verschiedenen Grössen waren über den ganzen Tisch verteilt. Ein Glas Orangensaft oder zumindest ein exotischer Fruchtcocktail stand erstarrt, halbausgetrunken neben einem Plattenwärmer.
«Er hat sich ein thailändisches Mahl zubereitet», stellte Lucille fest. «Seine Henkersmahlzeit. Hier liegt noch das aufgeschlagene Kochbuch. Scharf-saure Kokossuppe mit Shrimps, eine echte Tom Yam Gung.» Sie erzählte von ihren eigenen exotischen Kochkünsten und dem Besuch im «Thai Lotus», im thailändischen Restaurant in der Haldenstraße, das sie mindestens einmal im Monat aufsuche, zusammen mit ihrem Freund, worauf Kramer nichts zu erwidern wusste, weil er Lucilles Freund nicht kannte und sich deshalb auch kein Gesicht vorstellen konnte, nur exotische Speisen flimmerten vor seinen Augen und die Teller und Platten auf dem Tisch mit dem in Streifen geschnittenen Gemüse. Er beäugte die kleine Statue am Ende des Tisches, die der Statue beim Hauseingang wie aus dem Gesicht geschnitten war. Wieder dieser kugelrunde Bauch, in dem der Nabel versank, das lachende Gesicht und die Ohrenlappen. «Er hat wohl kopierte Buddha-Statuen gesammelt.»
«Ich nehme an, dass er sich mit dem Buddhismus befasst hat.» Lucille zeigte auf ein zweites Buch, das neben dem Kochbuch lag: «Die Lehre des Buddha.»
«Ein Hobby-Buddhist», bemerkte Kramer. «War mir schon immer schleierhaft, wie sich ein Europäer in eine abertausend Jahre alte Kultur hineindenken kann. Die glauben doch an eine Wiedergeburt, nicht? Mörder zum Beispiel kommen in einem nächsten Leben als Regenwurm zur Welt …»
«Du verwechselst das mit dem Hinduismus.» Lucille glitt mit ihrer Hand über den Buchrücken, ohne ihn zu berühren. Und nach einer Weile: «Irgendwie passt Hans Erni nicht so recht zu Baumanns fernöstlicher Gesinnung.»
Kramer räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. «Zugegeben, dieser Buddha hier ist ein ganz gemütlicher. Hast du seine Ohren gesehen?»
Diesmal blieb Lucille ernst. «Bartolini hat gesagt, dass sich Baumann bei der tibetischen Bevölkerung in den letzten Jahren als sehr großzügig erwiesen habe. Er habe mehrere Patenkinder unterhalten, die er jährlich mit einer hohen Summe Geldes unterstützte. Kürzlich stand ein Artikel über diese solidarische Tat in der Boulevardpresse.»
«Ach», murmelte Kramer, «das zeugt wirklich von einem selbstlosen Charakter.» Er liess seinen Blick über die Küchenkombination schweifen, über die Herdplatten, auf denen die Spuren von eingebrannter Milch zu sehen waren, und auf ein Waschbecken, in dessen Abflusssieb sich Reste von Gemüseabfall befanden. Er entdeckte auch in der Küche nichts, was auf einen annähernd luxuriösen Lebenswandel hingewiesen hätte. Die Schränke waren mit einem dunklen Klebpapier überzogen. Beim Kasten neben dem Kühlschrank fehlte der Griff. Über dem Tisch hing eine rote Stoffleuchte mit einem braunen Paisley-Muster, das sich auf den Vorhängen fortsetzte. Die Stuhlbeine waren verchromt, die Sitze aus braunem Plastik.
«Die Invalidenrente wird ihn am Leben erhalten haben», vermutete er. «Aber ich glaube wohl eher, dass er mit wenig zufrieden war.»
«Er hat vielleicht eine Abfindung von der Firma bekommen, in der er gearbeitet hat», bemerkte Lucille zögernd. «Das mit dem Auge war ja ein Betriebsunfall.»
«Was auch immer», sagte Kramer, «es sieht nicht danach aus, als hätte man ihn ausgeraubt. Aber das ist auch bei den anderen Opfern schon der Fall gewesen. Der Täter hat schon damals kein Interesse materieller Art gezeigt.»
«Wir sollten uns vielleicht noch im oberen Stock umsehen», schlug Lucille vor.
«Das kann warten», sagte Kramer, dem sein unterdrücktes Gähnen das Wasser in die Augen trieb. Er beschloss, sich dort zu einem späteren Zeitpunkt umzusehen. «Die Männer des Kriminaltechnischen Dienstes wissen bereits, was zu tun ist. Ich muss noch zur Nachbarin gehen.»
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, dorthin, wo die Techniker noch immer nach fremden Spuren suchten. Jedes Möbelstück, jeder Türrahmen, jeder Winkel, und war er noch so klein, wurde akribisch bearbeitet. Mit Pinseln, Klebeband und Pinzetten. Sie holten Fasern aus dem Teppich, Partikel vom Holzboden, streiften Hautschüppchen und Haare ab. Nichts wurde ausgelassen. Benno balancierte zwischen der Leiche und den sie umgebenden Gegenständen und fotografierte aus allen Perspektiven.
In diesem Augenblick hörte Kramer Saties «Gymnopédie», leise erst, eine anschwellende Melodie, die lauter wurde. Er suchte verzweifelt nach seinem Kittel und fand ihn auf dem Sofa, wo er von der Lehne auf die Sitzfläche gerutscht war. Er hätte sich für seine Unachtsamkeit rügen mögen. Er entnahm das Mobiltelefon aus der Innentasche und verwünschte die moderne Elektronik. Und er ärgerte sich über Isabelle, die ihm diese Melodie unlängst auf seinem Mobiltelefon gespeichert hatte. Er drückte auf den grünen Leuchtknopf und meldete sich.
«Hier Jörg Sidler», vernahm er dicht an seinem Ohr. «Guten Abend, Thomas. Wie weit bist du mit der Arbeit?»
Kramer unterrichtete den Chef des Ermittlungsdienstes über den Einsatz seines Teams. Und er beschwerte sich, dass er zu wenige Leute vor Ort hatte.
«Es ist Wochenende», beschwichtigte ihn Sidler. Aber er werde versuchen, ihm noch ein paar Männer hinterherzuschicken. «Wozu brauchst du sie noch?»
«Wir müssen die Nachbarn befragen, aber dazu fehlen mir im Moment die Mitarbeiter. Du weißt, dass ich Lucille noch nicht allein losschicken kann.»
«Es ist bald Mitternacht», sagte Sidler. «Ich werde das in die Hand nehmen. Übrigens lässt sich der Amtstadthalter entschuldigen. Er ist unterwegs und wird vor fünf Uhr nicht da sein. Er erwartet uns aber mit dem Team morgen um halb acht zum Rapport.»
«Das ist ziemlich früh.» Kramer kamen die letzten Nächte in den Sinn. «Bis dahin haben wir nicht annähernd das Material zusammen, das wir für die Besprechung brauchen. Es wird knapp.»
Das sei eine Anordnung von oben, so Sidler, und Kramer musste sich geschlagen geben. «Glanzmann?»
«Ja, Glanzmann!» Sidler zögerte. «Ich werde heute nicht mehr vorbeikommen. Ich nehme an, dass du das allein bewältigst.»
Die Männer beendeten das Gespräch. Es wunderte Kramer nicht, dass sich Sidler so unkooperativ zeigte. Wie üblich überliess er es Kramer, die ersten Eindrücke am Tatort zu sammeln, obwohl er als Leiter seiner Abteilung unbedingt hätte präsent sein müssen. Er habe genug Administratives am Hals, war immer seine Ausrede. Kramer hatte es sich längst abgewöhnt, sich darüber Gedanken zu machen.
Er trat auf die Straße hinaus. Die Herbstluft, kalt jetzt und feucht vom Nebel, der vom See her kam, befreite ihn einen Moment von störenden Gedanken, ließ ihn durchatmen. Er erblickte ein paar Gestalten, die schemenhaft hinter der Absperrung zu sehen waren. Frauen und Männer auf dem Heimweg oder auf dem Weg in die Tanzlokale und Bars.
Auch eine Pressevertretung war anwesend und gerade dabei, unter der Absperrung durchzuschlüpfen. Tanja Pitzer – Kramer kannte sie als «Tapi» – pirschte in Richtung Eingangstür. Im letzten Moment konnte die Türwache sie zurückhalten. Kramer sah, wie Tanja gestikulierte und versuchte, an dem Polizisten vorbeizukommen.
«Nichts da!» Kramer war mit ein paar Schritten an der Tür.
Tanja drehte sich abrupt um und sah Kramer so finster an, dass es ihm kalt über den Rücken lief. «Sieh an, der Herr Kramer.» Sie warf Lucille, die neben Kramer trat, einen so abschätzigen Blick zu, wie ihn nur Frauen einander zuwerfen können. «Ich darf Ihnen doch wohl ein paar Fragen stellen?»
Kramer versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl ihm das bei Tanja schwer fiel. Er kannte sie schon eine Weile. Vor allem ihre scharfzüngigen Artikel, die in der Boulevardzeitung erschienen. In der letzten Ausgabe hatte sie sich sehr negativ über die Polizei geäußert, die Ermittler als unfähig hingestellt und die Bevölkerung im Versteckten zur Solidarität aufgerufen. Trotz ihrer Jugend – sie war keine fünfundzwanzig Jahre alt – besaß Tanja das seltene Talent, die Leserschaft mit ihren Parolen zu begeistern. Sie nahm kein Blatt vor den Mund; Diplomatie schien ihr fremd, und sie sah es als ihr Recht an, überall dorthin zu gehen, wo ihr der Zutritt grundsätzlich verwehrt war.
Kramer streckte abwehrend die Arme von sich, was Tanja nicht davon abhielt, ihn mit der ersten heiklen Frage zu torpedieren. Ihr Diktiergerät hatte sie bereits eingeschaltet und hielt es Kramer unters Kinn. Er hätte es am liebsten weggefegt. «Sie können sich wie die anderen an die Pressekonferenz der Polizei halten.» Er zog Lucille am Arm mit sich.
«Ach, Sie weichen mir aus? Ist wohl zu delikat. Aber wenn ich in Ihrer Situation wäre, würde ich mich wahrscheinlich auch zurückziehen wollen. Kann es sein, dass Ihre Dienstkollegen ähnlich paralysiert sind?» Tanja lief jetzt neben ihm her. Ihr dunkles Haar, das sie nicht hinter, sondern auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wippte unablässig auf und ab. «Wie kommt es, dass ein Mörder, der die ganze Stadt terrorisiert, immer noch auf freiem Fuß ist? Wie können sich die Luzerner vor diesem Ungeheuer schützen? Was muss man tun, um weitere Taten zu verhindern, wenn die Polizei nicht in der Lage ist …? Wer hat versagt?» Ihr spitzes Gesicht tauchte einen kurzen Augenblick aus dem Nachtschatten auf, im Kegel der Straßenlampe, die wie ein Mensch mit gebeugtem Nacken über ihnen stand.
«Jetzt reicht es», rief Kramer, worauf Tanja ihr Diktiergerät in der Jackentasche verschwinden ließ. «Gut, wie Sie wollen, Herr Kramer.» Sie nahm die Kamera, die um ihren Hals hing, zur Hand, installierte sie in Sekundenschnelle und verwirrte Kramer, bevor er begriff, was vor sich ging, mit einem Blitzgewitter, das noch lange danach helle Flecken in seinem Blickfeld produzierte. Wütend wandte sich Kramer ab, schützend hielt er die Hand vor sein Gesicht.
«Schade, Herr Kramer», bluffte Tanja. «Vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn ich meine eigenen Interpretationen zum Besten gebe, oder was meinen Sie?»
«Tun Sie, was Sie nicht lassen können», rief er verärgert. Und beinahe hätte er noch hinzugefügt, dass sich die Zeitung, bei der sie angestellt war, gern mit Superlativen wichtig mache, ließ es dann aber sein.
Lucille kam an Kramers Seite und schirmte ihn gegen Tanja ab. «Soll ich mitkommen?»
Er ging nicht darauf ein. «Weißt du, wer die Presse gerufen hat?» Er war immer noch wütend.
«Keine Ahnung. Könnte Zufall sein.»
«Zufall? Es gibt keine Zufälle!» Kramer schnaubte und war sich nicht sicher, welchen Schritt er als nächstes tun würde. Er blieb abrupt stehen. «Ich denke, dass du für heute Feierabend hast.» Er musste sich anstrengen, um sich einen freundlicheren Ton abzuringen. «Morgen ist wieder ein Tag. Für heute hast du dein Soll erfüllt.» Im fahlen Licht der Straßenlampe sah er, wie sich Lucilles Gesicht ein wenig aufhellte. Sie schritt auf ihr Auto zu, das neben dem Camion des Technischen Dienstes stand. Ihr geschmeidiger Gang beeindruckte ihn immer wieder. Manchmal beneidete er sie um ihre Unbeschwertheit. Sie konnte vieles besser wegstecken als er, wenn sie dem Grauen denn mal den Rücken zugedreht hatte. Er hätte auch manchmal gern einfach abgeschaltet. Einen Knopf gedrückt und die Bilder verdrängt, die ihn auch nachts heimsuchten. In seinen Träumen, aus denen er manchmal schweißgebadet aufwachte und nach denen es immer eine ganze Weile dauerte, bis er wieder einschlafen konnte. Manchmal spürte er dann Isabelles Hand, die beruhigend seinen Rücken streichelte.
«Schlaf dich aus», sagte er, «oder regle das, was auch immer dich um den Verstand bringt.»
Lucille öffnete den Wagenschlag und setzte sich hinters Steuer. «Bis morgen dann.» Sie gähnte und hielt ertappt die Hand vor den Mund. Dann zog sie sich den Rock zurecht, was Kramer einen ungewollten Einblick gewährte. Auf schöne schlanke Frauenbeine, die er eigentlich nicht betrachten wollte.
Lucille warf die Tür ins Schloss und ließ den Motor an.
Beim Wegfahren sah ihr Kramer hinterher, bis er nur noch die Schlusslichter ihres Wagens sehen konnte, die plötzlich im Nichts verschwanden. In der Kurve. Oder im Nebel.