Finleys Reise nach Delar

Finleys Reise nach Delar

Lillith Korn

Für die Erdnuss <3

Karte Andaria

Inhalt

1. Ashul

2. Der Informant

3. Letzte Anweisungen

4. Unverhofft kommt oft

5. Freiheit

6. Agathe und Agnes

7. Schwarzes Blut

8. Sabotage

9. Einen Schritt voraus

10. Delar

11. Alte Feinde, neue Freunde

12. Wettkampf

13. Ein Ende, ein Anfang?

14. Verhandlung und Zwietracht

15. Verbannung

16. Home, sweet Home

17. Heilung

18. Frau in Not

19. Wahrheit

20. Schlimmer Verdacht

21. Der erste Sieg

22. Folge den Zeichen

23. Wahrheit oder Lüge

24. Schock

25. Willkommen in Andaria

26. Überzeugungsarbeit

27. Elladur

28. Gut oder böse

29. Ungeahnte Unterstützung

30. Aufwachen!

31. Tagebucheintrag

Danksagung

Bücher von Lillith Korn

Über den Autor

Ashul

Indigo

Wie durch Watte registriere ich, dass mich jemand an den Armen über den Boden schleift. Vielleicht ein wildes Tier, für das ich leichte Beute bin? Ein Ruck durchfährt mich und Schmerz reißt an meinen Eingeweiden. Ich kann nicht atmen, bin kaum bei Verstand. Bringe nur ein winselndes Geräusch hervor.

Dumpf dringt ein Ächzen und Stöhnen in meine Ohren. »Ich brauche deine Hilfe«, murmelt jemand. »Nicht sterben, noch nicht.«

Irgendwie schaffe ich es, die Augen für einen winzigen Moment zu öffnen. Das Ding, das mich hinter sich her zieht, sieht beinahe menschlich aus. Schwarze, strähnige Haare hängen ihm ins Gesicht. Es ist dürr und erstaunlich kräftig.

Meine Lider flattern erst und fallen dann zu, weil der Lebenssaft mir entrinnt. Ich spüre die Nässe meines eigenen Blutes auf der Kleidung, spüre, wie mir Kraft entweicht. Wie die verbliebene Zeit zwischen meinen Fingern zerrinnt. Jeder Atemzug könnte mein letzter sein.

Erinnerungen prasseln auf mich ein. Die Königin von Andaria und der Auserwählte. Sie sind wie die Pest!

Statt mir ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Land zu geben, hat Andarias Königin einen Teil meiner Macht bekommen. Ich will sie zurück.

Lodros

Die Energie, die von den beiden zu mir herüberfließt, ist eine Wohltat. Alles an ihnen sinnt nach Rache. Nur wenig Menschlichkeit ist übrig. Die Energie der einen schwindet bereits, bald ist sie tot.

Ich koste jeden verbliebenen Moment aus. Die Sterbende spürt keine Reue, kein Mitgefühl – nur den tiefen Wunsch nach Vergeltung. Genau, wie ich es mag.

Ich selbst wünsche mir nichts sehnlicher, als meine Schwestern und Brüder für das zu bestrafen, was sie mir vor Hunderten von Jahren angetan haben. Selbst aus den Büchern der Gelehrten wurde ich verbannt, nicht einmal meinen Namen kennt man mehr in der Welt.

Mit einer beiläufigen Handbewegung lasse ich das Tor aufgleiten und die beiden betreten das Schloss. Das heißt, die Gesunde schleift die Sterbende hinter sich her.

Blitz und Donner ertönen, als ich mich vor ihnen erhebe, und ich ergötze mich daran, wie die beiden zusammenzucken.

Das dürre Menschlein verbeugt sich tief, kriecht beinahe vor mir im Dreck.

»Lodros, Gott der Unterwelt«, krächzt es und deutet auf die Hexe, die eher tot als lebendig vor ihm auf dem Boden liegt. »Ich bitte um Eure Hilfe. Ich möchte Rache und sie kann mir helfen. Aber sie stirbt. Ich brauche sie lebend. Ich werde alles dafür tun, wenn Ihr mir diesen einen Wunsch gewährt.«

Ich lege den Kopf schief und lächle. Ein verdorbener und ins Ashul verbannter Mensch bittet mich um Hilfe, damit ich das Leben einer sterbenden Hexe rette, die vor Hass nur so trieft. Das gefällt mir.

»Welchen Preis bist du bereit zu zahlen? Wirklich jeden?«

Nicht, dass es etwas ändern würde. Wenn ich will, dass dieser erbärmliche Mensch zahlt, dann zahlt er auch. Ich höre es lediglich gern.

»Der Auserwählte hat meinen Lieblingsbruder getötet! Wenn ich mich dafür rächen kann, zahle ich jeden Preis.«

Indigo

Lodros? Ein Gott, dessen Name ich nicht kenne? Ein wahrhaftiger Gott steht vor mir?

Wenn das wahr ist, bekomme ich meine Rache vielleicht doch noch. Der Gedanke gibt mir die Kraft, die Augen ein weiteres Mal zu öffnen.

Vor mir erhebt sich ein Schatten, dessen Form nur ansatzweise der eines Menschen ähnelt. Das, was ich mit Haut gleichsetzen würde, strahlt rein wie Porzellan. Ein Gesicht formt sich. Nach und nach wird es von einigen gewellten, weißen Haarsträhnen umrahmt. Auch Augen kann ich nun erkennen. Sie sind klar wie Kristalle und mustern mich berechnend.

Ich will mich hochstemmen, ihm die Ehre erweisen, die er verdient. Seine Präsenz ist mächtig und zwingt mich beinahe dazu, mich unterwerfen zu wollen, stelle ich anerkennend fest.

Doch ich bin so schwach, dass ich es nicht kann.

»Mhmmm …« Lodros schließt die Augen und zieht die Luft tief ein, als würde er die Note eines besonderen Parfüms in sich aufsaugen. »Eure Energie ist einzigartig. Sie gefällt mir.«

Dann öffnet er sie wieder und lächelt mich an. Das freudlose Lächeln reicht nicht bis zu seinen Augen.

»Ich werde dir helfen«, sagt er an mich gewandt. »Doch du musst mir ebenfalls helfen.«

Unter Anstrengung bringe ich ein Nicken zustande. Selbst diese Bewegung ist zu viel für meinen Körper und ich huste Blut. Es fühlt sich an, als ob meine Lunge zerreißt. Der Schmerz ist unbeschreiblich und erstickt jeden Gedanken an einen weiteren Versuch, mich zu bewegen, im Keim.

Plötzlich durchfährt mich eine angenehme Kälte und lindert die Schmerzen. Etwas hebt mich hoch, sodass ich in der Luft schwebe. Deutlich spüre ich den kühlen Stoff des Kleides um meine Beine flattern.

Das angenehme Gefühl ist schnell vorbei. Meine Wunden heilen im Eiltempo und ich schreie vor Pein auf, als sich Fasern, Nerven, Organe neu verbinden. Ich will mich winden, um mich schlagen, doch ich schwebe starr in der Luft, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.

Wenigstens dauert es nicht lange, dann ist es vorbei.

Und ich fühle es ganz deutlich, als die Qual endlich verebbt: Meine Kraft kommt zurück. Stärker, als sie jemals war. Mein Herz schlägt kräftig und gesund gegen meine Brust und ich kann mit einem Mal wieder frei atmen. Alles um mich herum ist klar, ich kann ohne Probleme meine Umgebung wahrnehmen.

Langsam sinke ich mit den Füßen voran zu Boden, bis ich schließlich aus eigener Kraft stehe. Um meinen Hals hängt ein mit Schnörkeln verziertes Amulett an einer goldenen Kette. Der Stein in der Mitte leuchtet moosgrün. Wie von selbst wandern meine Finger zu dem Schmuckstück, befühlen seine glatte Oberfläche. Ich bewundere die Stärke, die von ihm ausgeht.

»Ich danke Euch.« Ehrfürchtig verbeuge ich mich. Ihm noch einmal in die Augen zu sehen, wage ich nicht.

Doch er legt einen seiner Schattenfinger unter mein Kinn und hebt es sachte an, sodass ich keine andere Wahl habe.

Seine Augen funkeln amüsiert. »So begegnen wir uns endlich einmal, Nordhexe. Der Duft von Hass und Rache klebt an dir. Er riecht verlockend.« Noch einmal atmet er tief ein und aus, dann leckt er sich lüstern über die Lippen. »Ich habe etwas für dich getan, nun wirst du etwas für mich tun.«

»Alles, Herr.« Meine Stimme zittert. Macht bin ich gewohnt, ich habe viele Gestalten gehabt, habe zahlreiche mächtige Lebewesen bekämpft und besiegt. Einem Gott stand ich jedoch nie gegenüber.

»Die Quelle deiner Macht ist Gaara. Du wirst mir helfen, diese Quelle für meine Zwecke zu nutzen. Ich werde dir ein Portal öffnen. Bring mir den Auserwählten, damit ich endlich Rache an meinen Brüdern und Schwestern nehmen kann. Nur die Macht Kiaras fehlt mir noch und sie ist tief in ihm verankert. Stärker als in anderen Menschen. Ohne den Auserwählten ist es mir unmöglich, das Ashul zu verlassen. Ich gebe dir nur wenige Tage Zeit, dann wird die Energie des Amuletts verbraucht sein und du wirst sterben. Außer, du bringst mir den Auserwählten. Bis dahin kannst du jegliche Zauber wirken, die du benötigst. Nimm niemals das Amulett ab. Solltest du es doch tun, ist dein Leben ebenfalls beendet.«

Ich verneige mich abermals. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Lodros. Gestattet Ihr mir eine Frage?«

Er nickt vage, sieht mich abwartend an.

»Darf ich, wenn ich Euch den Auserwählten bringe, Andarias Königin haben? Sie hat einen Teil meiner Macht, ich hätte ihn gern zurück. Außerdem ist mir ihre Gestalt schon lange versprochen.«

»Sie ist nur ein Mensch, sie interessiert mich nicht. Wenn du mir den Auserwählten bringst, kannst du so viele andere Menschen töten, wie es dir beliebt.«

Vor Freude und Tatendrang schlägt mein Herz höher. Zwar hätte ich diesen Burschen gerne eigenhändig um sein Leben gebracht, doch so bleibt mir immerhin die Königin und wenn ich ihre Gestalt habe, ein ganzes Land.

Die Frau mit dem strähnigen Haar räuspert sich neben mir. In meiner Aufregung habe ich sie ganz vergessen.

»Auch deine Rachegelüste spüre ich deutlich«, sagt Lodros. »Du hast mir die Hexe gebracht, also sprich. Wen willst du?«

»Ich möchte den Jungen mit dem Drachen, den Hüter des Portalwächters. Er hat meinen Bruder Shuddel getötet. Das erzählte man mir jedenfalls … Bitte, lasst mich mit der Hexe gehen.«

»Nun.« Lodros verschränkt die Arme hinter dem Rücken, sieht zwischen uns hin und her. »So sei es. Zusammen seid ihr stärker. Bringt mir, was ich verlange. Doch denkt an die Zeit, die ich euch gegeben habe.«

Der Informant

Finley

»Das wird super«, freut sich Victor.

Seit der letzten kurzen Pause sitzen wir bereits wieder gefühlte zwei Stunden am Tisch und besprechen die magischen Wettkämpfe in Delar. Es wird langsam Zeit, den anderen zu beichten, dass ich nicht mitkommen kann. Ich würde schon gern, so ist es nicht – aber ich habe Hinweise bekommen, was es mit Maras neuer Augenfarbe auf sich haben könnte, und denen will ich nachgehen. So gern ich auch zu den Wettkämpfen möchte, Mara ist wichtiger. Von den Hinweisen werde ich ihr erst einmal nichts verraten, um sie nicht zu beunruhigen. Und damit sie nicht enttäuscht ist, wenn ich nichts herausfinde. Nur habe ich leider keine Ahnung, was ich als Vorwand nutzen könnte, um hierzubleiben.

Ich räuspere mich und sofort rucken alle Köpfe zu mir herum.

Mara kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Was ist los?«, fragt sie ohne Umschweife. »Ich kenne den Blick und ich kenne den Ton …«

»Na ja, ich wollte noch was sagen …«, druckse ich herum und räuspere mich erneut. Mara zieht die Augenbrauen hoch und macht eine rotierende Handbewegung, um mich zum Weitersprechen zu motivieren.

»Also …«

Taylan verdreht die Augen. »Nun rück schon damit raus, um was gehts? So schlimm kanns ja nicht sein.«

Victor ist der Einzige, der mich nicht drängt, sondern nur abwartend ansieht.

»Ich komme nicht mit«, platze ich heraus. Kurz und schmerzlos, wie das Abreißen eines Pflasters, so ist es vielleicht am besten.

Mara reißt die Augen auf – so viel zu schmerzlos – und starrt mich an. »Was?«

Um möglichst lässig zu wirken, als wäre quasi nichts dabei, zucke ich mit den Schultern. Sofort merke ich, dass ich wie ein verschüchterter Schuljunge wirke, der etwas ausgefressen hat, also eher das Gegenteil von lässig. So schnell kann ein Vorhaben durch eine schlecht angewandte Geste den Bach runtergehen. »Ich kann nicht mitkommen«, wiederhole ich deshalb die nackte Wahrheit.

»Akustisch habe ich dich verstanden.« Mara blinzelt und sieht die anderen an, ehe sie sich wieder mir zuwendet. »Aber wieso?«

»Weil …« Fieberhaft überlege ich. »… ich eine Magen-Darm-Grippe habe.« Kaum habe ich das ausgesprochen, beiße ich mir fest auf die Unterlippe. Was für eine Scheißausrede. Und das sogar im wahrsten Sinne des Wortes.

»Ha! Jetzt hab ich dich erwischt!« Sie grinst.

Was meint sie?

»Du machst Scherze, richtig? Oder du willst mein kleiner Waschlappen sein.« Sie kneift mir in die Wange und setzt den Gesichtsausdruck auf, den Menschen bekommen, wenn sie ein kleines Baby verhätscheln.

Ich drehe den Kopf weg und schiebe gleichzeitig ihre Hand beiseite. Trotz meiner abweisenden Geste muss ich lachen.

Nun kichert Victor ebenfalls und Taylans Mundwinkel zucken verräterisch.

Wieder will Mara mich ärgern, das erkenne ich an ihrem schelmischen Blick, doch diesmal halte ich sie vorher zurück. »Nein, ich meine es ernst. Ich kann wirklich nicht mitkommen, tut mir leid, Leute. Und ich kann euch jetzt noch nicht sagen, wieso. Erst später. Aber es ist etwas wirklich Wichtiges.«

Drei enttäuschte Gesichter starren mich an.

»Aber … hat das denn keine Zeit bis nach den Wettkämpfen?«

Täusche ich mich oder bebt Victors Unterlippe, während er das fragt? O nein! Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weiß aber, dass ich hart bleiben muss. Der Tipp ist für Mara vielleicht Gold wert. Unter keinen Umständen werde ich ihn über Bord werfen, um den anderen einen Gefallen zu tun. Verzweifelt massiere ich mir die Schläfen. »Es geht wirklich nicht. Tut mir sehr leid. Aber du machst das schon, ich glaube fest an dich!«

»Dauert das, was du vorhast, denn die ganze Zeit? Oder kannst du vielleicht nachkommen? Ich meine, die erste Zeit ist ja nur die Vorbereitung …«

»Hmmm …« Ich gehe im Kopf meinen Zeitplan durch. Es hängt davon ab, was der Informant weiß. Unter Umständen muss ich irgendwelche Zutaten für ein Gebräu oder Augentropfen besorgen. Dann kann ich von Glück sagen, wenn ich vor den anderen zurück bin. »Vielleicht, aber nur vielleicht – ich kann nichts versprechen.«

Victors Augen leuchten, als er nickt. Mist, jetzt habe ich ihm Hoffnung gemacht, dabei kann es gut sein, dass mein Vorhaben länger dauert.

Seufzend lehne ich mich zurück, was der Stuhl mit einem Knarren quittiert. Ich höre den anderen nicht mehr richtig zu, als sie weiterdiskutieren. Stattdessen denke ich darüber nach, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe.

Ein Händler, mit dem ich mich auf dem Markt im Burghof unterhalten habe, meinte, dass er vor Jahren schon einmal jemanden gesehen hätte, der zwei Augenfarben zugleich hatte. So wie Mara, seit sie Indigo entkommen ist. Bei dem Gedanken an die Hexe höre ich immer wieder, wie der Dolch mit einem schmatzenden Geräusch in ihr Fleisch gleitet, und ich erschaudere. Noch immer erinnert mich eine kleine Narbe am Finger regelmäßig daran. Mir wird übel. Mit aller Macht verscheuche ich die Gedanken an Indigo aus meinem Kopf. Es ist vorbei.

Ich denke lieber wieder an die Worte des Händlers. Er meinte, Mara sei kein einzigartiger Fall. Das mit der Augenfarbe käme zwar selten vor, aber er hat mir versichert, dass er jemanden kennt, der jemanden kennt, der …

»Fiiinley!« Mara schnipst vor meinen Augen herum und ich zucke zusammen.

»Erschreck mich doch nicht so! Was ist denn lo–« Jetzt erst bemerke ich, dass alle außer Mara und mir gegangen sind. »Oh.«

Lächelnd setzt sie sich auf meinen Schoß und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »›Oh‹, sagt mein Träumerwaschlappen da einfach.«

»Wo sind denn alle hin?«

»Victor und Salanth fliegen noch eine Runde und üben für Delar. Taylan ist bestimmt wieder zum Krankenflügel gegangen, da arbeitet seit Neustem ein Heiler, der es ihm offenbar angetan hat.« Sie wackelt mit den Augenbrauen und sieht mich vielsagend an. Inzwischen habe ich mich an das Blau in ihren ursprünglich grünen Augen gewöhnt, an die kleinen Wirbel, die um ihre Pupillen kreisen.

Genau das war es, was ich auch den Händler gefragt habe – ob er sich sicher ist, dass es sich um dieselbe Sache handelt. Und nicht um einen Menschen mit einem blauen und einem braunen Auge wie bei einem Husky oder so etwas. Falls es hier überhaupt Huskys gibt.

Er hat es mir glaubwürdig versichert. Aber natürlich wollte er Geld beziehungsweise Unkraut, denn das ist hier wertvoller als irgendwelche Metallstücke. Ja, ich weiß, wie das klingt. Wie jemand, der mich abzocken will. Doch irgendwas hat mich ihm glauben lassen. Zumindest kann ich mir ja anhören, was sein Informant zu sagen hat. Sollte er einen guten Tipp für mich haben, werde ich die Spur weiterverfolgen. Wenn nicht, habe ich außer ein wenig Unkraut auch nichts verloren und kann den anderen nach Delar folgen.

»Haaaallo!«

Abermals zucke ich zusammen. Mist, ich habe schon wieder geträumt! Wie muss das für Mara aussehen? Sie weiß ja nicht, dass ich plane, ihr zu helfen.

»Oh …«, wiederhole ich mich. Wie lange habe ich vor mich hingestarrt? »Ich habe mich in deinen wunderschönen Augen verloren.« Wie von selbst streichen meine Finger eine Strähne ihres Haares hinter ihr Ohr.

Mara seufzt und gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn. Diesmal funkt es zwischen uns, im wahrsten Sinne des Wortes. »Au«, rufen wir beide und Mara rutscht eilig von meinem Schoß herunter.

Verwundert reibe ich mir die Stirn. »Dass wir seit deinem … Unfall zwischendurch Schläge bekommen, wenn wir uns berühren, ist das eine. Aber der war echt heftig, oder?«

»Kannscht du laut schagen«, nuschelt Mara, während sie vorsichtig ihre Lippen befühlt. Es scheint noch alles dran zu sein. Das muss echt wehgetan haben, wenn es an meinem Dickschädel schon so schmerzt.

»Dann werde ich mich mal an die Vorbereitungen machen«, sagt sie abrupt.

Die Tür hinter ihr knallt zu und ich stehe alleine da.

Ist sie doch wütend auf mich oder habe ich schon wieder etwas verpasst?

Letzte Anweisungen

Indigo

»Danke, mein Herr!« Die dürre Frau verbeugt sich noch einmal.

Unterdessen befühle ich meinen Körper. Es ist wirklich wahr, ich bin komplett geheilt. Dankbar streiche ich über das Amulett. Magie kribbelt durch meine Fingerspitzen, als ich es berühre. Danach stelle ich meine Fähigkeiten auf die Probe und lasse eine kleine Flamme in der Hand tanzen. Es funktioniert. Zufrieden balle ich eine Faust und die Flamme erlischt.

Ich bin mächtiger als je zuvor. Und ich werde euer Untergang sein.

Lachen steigt in mir auf. Sie werden nicht ahnen, dass ich es bin. Sie denken, ich bin tot, und sie werden sich in Sicherheit wähnen!

»Erhebe dich«, sagt Lodros zu der Frau und sie tut, wie ihr befohlen.

Eigentlich ist es mir nicht recht, dass sie mitkommt. Hoffentlich wird sie nicht lästig. Wohl oder übel werde ich sie erdulden müssen, immerhin hat sie mein Leben gerettet und mir zu meiner baldigen Rache verholfen.

Der Gott bedeutet uns, ihm zu folgen. Seine Porzellanhaut glänzt bei jeder seiner geschmeidigen Bewegungen, als wäre sie mit Öl eingerieben worden. Die weißen Haare leuchten unnatürlich hell.

Gehorsam folgen wir ihm hinaus auf den Hof.

Er bleibt stehen und breitet die Arme aus. Der Donner und die Blitze werden stärker, Regentropfen prasseln so stark auf meine Haut, dass es schmerzt.

Dann beginnt es vor ihm zu leuchten. Das wird unser Weg aus dem Ashul sein, den er für uns öffnet.

Als er es vollendet hat, dreht er sich langsam zu uns herum. »Denkt daran. Nur wenige Tage. Über das Amulett verfolge ich, was ihr tut. Bringt mir den Auserwählten und ihr seid frei.«

Lächelnd gehe ich mit meiner Begleiterin durch das Portal.

Gleich hat Andaria mich wieder.

Unverhofft kommt oft

Finley

»Und, wächst und gedeiht das Orakel gut?«, frage ich.

»Ja, ziemlich«, antwortet Victor, während er seine Kleidung für die bevorstehende Reise in einem Rucksack verstaut. Argwöhnisch beobachte ich ihn dabei. Es ist noch zu früh zum Packen. Wahrscheinlich ist er so aufgeregt, dass er jetzt schon damit beginnt.

Eigentlich bin ich nur zu ihm gegangen, um herauszufinden, ob er sehr enttäuscht ist und ob er mir noch einmal verzeiht, dass ich vorerst nicht mitkomme.

Er spricht weiter, ohne dass ich ihn ermuntern muss.

»Bestimmt dauert es nicht mehr lange, bis es benutzt werden kann. Salanth und ich werden warten, bis das Orakel uns eine Botschaft gibt. Weißt du«, sagt er und klopft sich auf die Brust, während er mich ernst ansieht. »Ich spüre genau, dass wir wissen werden, wenn es so weit ist. Irgendwie weiß ich es eben einfach.«

»Das klingt gut. Ich bin stolz auf dich!« Statt mich länger zurückzuhalten, mache ich es so, wie man es von mir gewohnt ist. Ich frage Victor direkt. »Sag mal, bist du sehr enttäuscht, dass ich nicht nach Delar mitkommen kann?«

Seufzend steckt er die letzte Leinenhose in den Lederrucksack, verschnürt ihn und dreht sich zu mir herum. »Ja, schon. Aber ich glaube, du hast deine Gründe. Sonst würdest du sicher nicht freiwillig eine Reise mit Mara und auch noch meinen ersten Wettkampf in den Wind schlagen.«

Seine Worte versetzen meinem Herzen einen kleinen Stich. »Niemals würde ich das, wenn es sich nicht um etwas wirklich Dringendes handeln würde!«, versichere ich ihm. »Leider lässt es sich beim besten Willen nicht verschieben. Aber ich schwöre, ich komme so schnell nach, wie ich nur kann.«

Wehe, dieser Informant hat keine guten Hinweise für mich, denke ich.

»Das weiß ich doch.« Sogar ein kleines Lächeln ringt sich Victor ab.

»Danke.« Ich stehe auf und bemerke, dass er mich bald überragen wird. Überhaupt fällt mir auf, wie schnell die Zeit vergangen ist und wie erwachsen er geworden ist. Für mich wird er trotzdem immer wie ein kleiner Bruder sein.

Mit einem »Bis morgen« verabschiede ich mich und gehe aus seinem Zimmer.


Seufzend lasse ich mich auf das Bett fallen. Wie warm und weich einem eine Strohmatratze nach einem langen Tag vorkommen kann …

Wie viele Tage sind es jetzt noch bis zu den Wettkämpfen? Drei müssten es sein, denn die Reise geht an dem Tag los, an dem ich mich mit dem Bekannten des Händlers treffe. Apropos. Das Unkraut muss ich ja auch noch besorgen.

»Nein, das musst du nicht.«

Erschrocken fahre ich hoch und blinzle wie verrückt. Das kann doch nicht sein!

Ein blondgelocktes Mädchen steht vor mir und lächelt.

»Klar kann das sein. Wir sind in Andaria. Da ist beinahe alles möglich, Dummerchen.«

»Genesis!« Ich will aufspringen, ihr in die Arme fallen. Doch sie schüttelt kaum merklich den Kopf. Irgendwas an ihr ist anders. Aber was?

»Bleib ruhig da. Ich muss gleich wieder weg, ich habe noch andere Aufgaben, das habe ich dir ja schon einmal erklärt.«

Verwirrt schüttele ich den Kopf. »Ja, aber du hast doch gesagt, du gehst ganz weg? Und deine Aufgaben seien erfüllt? Warum bist du denn jetzt doch noch hier? Also, nicht dass ich mich nicht freuen würde, aber …«

»Schht. Alles zu seiner Zeit.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Erst einmal ist es wichtig, dass du mir genau zuhörst.«

Oh, oh. Das kann nichts Gutes bedeuten. Genesis und eine wichtige Nachricht? Ich glaube, ich habe gerade ein Déjà-vu. »Hör auf zu träumen und hör mir zu!«, schimpft sie. Eine Zornesfalte bildet sich auf ihrer Stirn und mir wird bewusst, wie enorm wichtig diese Nachricht sein muss, wenn sich Genesis so verhält. Sofort sehe ich sie aufmerksam an und warte auf das, was sie mir sagen will.

»Du musst auf jeden Fall zu den Wettkämpfen nach Delar, hörst du? Bleib nicht hier. Das ist wichtig!«

»Was?«, frage ich stirnrunzelnd. »Aber Mara …«

Sie winkt ab. »Mara hin oder her, du wirst in Delar gebraucht.«

»Aber …«

War ja klar. Weg ist sie.

Perplex sinke ich zurück aufs Bett. Damit, Genesis jemals wiederzusehen, habe ich nicht gerechnet. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt etwas Gutes bedeutet. Wenn ihre Aufgabe eigentlich beendet war und sie nun trotzdem wieder da ist, dann muss es wirklich brennen. Wird etwas in Delar passieren? Mit Mara? Oder Victor?

Ehe ich weiterdenken kann, ergreift ein seltsames Gefühl meinen gesamten Körper. Es kribbelt, von den Fingern bis zu den Zehenspitzen. Ich bekomme eine Gänsehaut. Und das, obwohl mich gleichzeitig Hitze durchflutet.

Dann ist es so plötzlich vorbei, wie es gekommen ist.

Verstört fahre ich mit der rechten Hand über meinen linken Arm. Habe ich da eben Funken gesehen?

Ich reibe meine Fingerspitzen aneinander und tatsächlich: Es knistert leise und ganz kleine blaue Funken stieben auf. Doch nur für Sekundenbruchteile, dann ist der Spuk vorbei.

Und mir wird klar, was ich da eben gespürt habe, was mich durchfahren hat.

Pure Macht.

Freiheit

Indigo

»Verschwendet eure Zeit nicht. Bringt mir rasch, nach wem ich verlange. Danach seid ihr frei.«

Lodros’ Worte verklingen in meinen Ohren, während sich das Portal hinter uns schließt. Das Amulett vibriert leicht. Es füttert mich mit der Macht des Gottes. Freudige Erregung macht sich in mir breit, als ich daran denke, wie viel Unheil ich mit meinen neuen Kräften über die Königin Andarias und den Auserwählten bringen werde.

»Was jetzt?«, krächzt die dünne Frau neben mir.

Ich mustere die fürchterlich abgemagerte und faltige Gestalt mit den strähnigen Haaren. »Wie heißt Ihr?«, frage ich und schaffe es kaum, meine Abscheu zu verbergen.

»Gibber.« Sie streckt mir eine Hand entgegen, die ich ignoriere. Sie kommt wohl nicht von hier, sonst wüsste sie, dass der Handschlag in Andaria nicht üblich ist. Gut für mich, denn so habe ich eine Ausrede, sie nicht berühren zu müssen.

»Bitte?«

»Gibber«, wiederholt sie, die Hand noch immer ausgestreckt.

»Gibber wie Glibber?«, frage ich ungläubig.

Gibber seufzt. »Den Vergleich mag ich nicht, aber ja. Das ist richtig.«

Was für ein seltener und überaus merkwürdiger Name. Doch ich nicke und stelle mich ebenfalls vor. »Ich bin Indigo.«

Gibber zuckt mit den Schultern. »Ich weiß, ich habe Euch verfolgt. Außerdem eilt Euch Euer Ruf voraus.«

»Danke.«

»Was jetzt?«, fragt Gibber und schaut mich mit großen Augen an. Mich deucht, ich werde viel von der göttlichen Macht für meine Nerven verbrauchen müssen.

Die Frage lasse ich unbeantwortet und sehe mich um. Lodros hat uns nicht ohne Grund an genau diesem Ort und zu dieser Zeit zurückkehren lassen. Vor uns, mitten im Wald, erspähe ich einen breiten Sandweg. Dessen Spuren deuten darauf hin, dass dieser in letzter Zeit häufiger genutzt wurde.

Ich ziehe ein wenig Magie aus dem Amulett und versuche mich an dem Echo der Vergangenheit. Drei Anläufe brauche ich, meine Magie ist wohl trotz der göttlichen Kraft ein wenig eingerostet. Schließlich gelingt es mir und ich muss mich anstrengen, um mich von Gibbers erstaunten Ausrufen nicht aus dem Fluss reißen zu lassen.

Vor mir zeichnet sich langsam ein rötlich flimmerndes Feld ab, das mir die Passanten des Sandweges der letzten Stunden offenbaren soll.

Und siehe da. Nach einigen Sekunden sehe ich eine Kutsche. Jetzt kommt die wahre Macht dieses Spruches zum Vorschein. Mit einer abrupten Handbewegung halte ich das Bild an.

»Bleib hier«, zische ich nach hinten zu meiner Begleitung.

Vermutlich nickt sie gerade, denn sie gibt keinen Mucks von sich. Gut so.

Vorsichtig steige ich in das Bild hinein. Das ist nur dem vergönnt, der die entsprechende Magie gewirkt hat – in diesem Fall also mir. Dann öffne ich die Tür zur Kutsche und setze mich neben das Königspaar, das sich zu meinem Glück wohl gerade angeregt unterhalten hat. Nun werde ich gleich mehr erfahren, hoffe ich. Denn ich weiß nicht, wo wir sind und was wir hier sollen.

Eine schnelle Handbewegung setzt die Kutsche und die Gespräche wieder in Gang, nur dass ich diesmal als unsichtbarer Zuschauer und Zuhörer dabei bin. Vergangenheitsmagie ist eine meiner liebsten Magie-Arten, doch auch eine der gefährlichsten. Nicht selten sind Hexen nach der Anwendung eines solchen Spruches nie mehr zurückgekehrt.

»… ist selbstverständlich gut genug für den Wettkampf vorbereitet! Ich lasse mich doch nicht von irgendwelchen lächerlichen Andarianern besiegen.« Die Frau, die sich ihren pinken Hut zurechtrückt, schnaubt empört.

Der Mann neben ihr hat einen dicken, runden Bauch, auf dem er nun die Arme verschränkt. »Dann will ich dir mal glauben«, brummt er.

Wettkampf? Natürlich, sie reisen nach Delar!

Diese Information genügt mir schon, sodass ich die Vergangenheit abermals anhalte, aussteige und aus dem Bild verschwinde, bevor der Moment mich mitnimmt wie so viele vor mir. Danach lasse ich die Kutsche verschwinden, als wäre sie nie da gewesen.

Gibber starrt mich mit aufgeklapptem Kiefer an. »Pfffoaaahhh«, macht sie. »Ihr seid beileibe eine mächtige Hexe!«

Gelangweilt winke ich ab und wechsle das Thema. »Ich weiß nun, wie wir vorgehen. Die ersten Leute reisen zu den Wettkämpfen nach Delar. Andaria und somit auch die Personen unserer Begierde werden dort sein. Deshalb werden wir hier einem Königspaar auflauern und deren Gestalt annehmen. So können wir unerkannt reisen und das Schicksal nimmt seinen gerechten Lauf.«

Anerkennend nickt die Vogelscheuche. »Ihr seid wahrlich schlau! Euer Plan gefällt mir. Wie genau stellen wir das an?«