Indigo
Wie durch Watte registriere ich, dass mich jemand an den Armen über den Boden schleift. Vielleicht ein wildes Tier, für das ich leichte Beute bin? Ein Ruck durchfährt mich und Schmerz reißt an meinen Eingeweiden. Ich kann nicht atmen, bin kaum bei Verstand. Bringe nur ein winselndes Geräusch hervor.
Dumpf dringt ein Ächzen und Stöhnen in meine Ohren. »Ich brauche deine Hilfe«, murmelt jemand. »Nicht sterben, noch nicht.«
Irgendwie schaffe ich es, die Augen für einen winzigen Moment zu öffnen. Das Ding, das mich hinter sich her zieht, sieht beinahe menschlich aus. Schwarze, strähnige Haare hängen ihm ins Gesicht. Es ist dürr und erstaunlich kräftig.
Meine Lider flattern erst und fallen dann zu, weil der Lebenssaft mir entrinnt. Ich spüre die Nässe meines eigenen Blutes auf der Kleidung, spüre, wie mir Kraft entweicht. Wie die verbliebene Zeit zwischen meinen Fingern zerrinnt. Jeder Atemzug könnte mein letzter sein.
Erinnerungen prasseln auf mich ein. Die Königin von Andaria und der Auserwählte. Sie sind wie die Pest!
Statt mir ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Land zu geben, hat Andarias Königin einen Teil meiner Macht bekommen. Ich will sie zurück.
Lodros
Die Energie, die von den beiden zu mir herüberfließt, ist eine Wohltat. Alles an ihnen sinnt nach Rache. Nur wenig Menschlichkeit ist übrig. Die Energie der einen schwindet bereits, bald ist sie tot.
Ich koste jeden verbliebenen Moment aus. Die Sterbende spürt keine Reue, kein Mitgefühl – nur den tiefen Wunsch nach Vergeltung. Genau, wie ich es mag.
Ich selbst wünsche mir nichts sehnlicher, als meine Schwestern und Brüder für das zu bestrafen, was sie mir vor Hunderten von Jahren angetan haben. Selbst aus den Büchern der Gelehrten wurde ich verbannt, nicht einmal meinen Namen kennt man mehr in der Welt.
Mit einer beiläufigen Handbewegung lasse ich das Tor aufgleiten und die beiden betreten das Schloss. Das heißt, die Gesunde schleift die Sterbende hinter sich her.
Blitz und Donner ertönen, als ich mich vor ihnen erhebe, und ich ergötze mich daran, wie die beiden zusammenzucken.
Das dürre Menschlein verbeugt sich tief, kriecht beinahe vor mir im Dreck.
»Lodros, Gott der Unterwelt«, krächzt es und deutet auf die Hexe, die eher tot als lebendig vor ihm auf dem Boden liegt. »Ich bitte um Eure Hilfe. Ich möchte Rache und sie kann mir helfen. Aber sie stirbt. Ich brauche sie lebend. Ich werde alles dafür tun, wenn Ihr mir diesen einen Wunsch gewährt.«
Ich lege den Kopf schief und lächle. Ein verdorbener und ins Ashul verbannter Mensch bittet mich um Hilfe, damit ich das Leben einer sterbenden Hexe rette, die vor Hass nur so trieft. Das gefällt mir.
»Welchen Preis bist du bereit zu zahlen? Wirklich jeden?«
Nicht, dass es etwas ändern würde. Wenn ich will, dass dieser erbärmliche Mensch zahlt, dann zahlt er auch. Ich höre es lediglich gern.
»Der Auserwählte hat meinen Lieblingsbruder getötet! Wenn ich mich dafür rächen kann, zahle ich jeden Preis.«
Indigo
Lodros? Ein Gott, dessen Name ich nicht kenne? Ein wahrhaftiger Gott steht vor mir?
Wenn das wahr ist, bekomme ich meine Rache vielleicht doch noch. Der Gedanke gibt mir die Kraft, die Augen ein weiteres Mal zu öffnen.
Vor mir erhebt sich ein Schatten, dessen Form nur ansatzweise der eines Menschen ähnelt. Das, was ich mit Haut gleichsetzen würde, strahlt rein wie Porzellan. Ein Gesicht formt sich. Nach und nach wird es von einigen gewellten, weißen Haarsträhnen umrahmt. Auch Augen kann ich nun erkennen. Sie sind klar wie Kristalle und mustern mich berechnend.
Ich will mich hochstemmen, ihm die Ehre erweisen, die er verdient. Seine Präsenz ist mächtig und zwingt mich beinahe dazu, mich unterwerfen zu wollen, stelle ich anerkennend fest.
Doch ich bin so schwach, dass ich es nicht kann.
»Mhmmm …« Lodros schließt die Augen und zieht die Luft tief ein, als würde er die Note eines besonderen Parfüms in sich aufsaugen. »Eure Energie ist einzigartig. Sie gefällt mir.«
Dann öffnet er sie wieder und lächelt mich an. Das freudlose Lächeln reicht nicht bis zu seinen Augen.
»Ich werde dir helfen«, sagt er an mich gewandt. »Doch du musst mir ebenfalls helfen.«
Unter Anstrengung bringe ich ein Nicken zustande. Selbst diese Bewegung ist zu viel für meinen Körper und ich huste Blut. Es fühlt sich an, als ob meine Lunge zerreißt. Der Schmerz ist unbeschreiblich und erstickt jeden Gedanken an einen weiteren Versuch, mich zu bewegen, im Keim.
Plötzlich durchfährt mich eine angenehme Kälte und lindert die Schmerzen. Etwas hebt mich hoch, sodass ich in der Luft schwebe. Deutlich spüre ich den kühlen Stoff des Kleides um meine Beine flattern.
Das angenehme Gefühl ist schnell vorbei. Meine Wunden heilen im Eiltempo und ich schreie vor Pein auf, als sich Fasern, Nerven, Organe neu verbinden. Ich will mich winden, um mich schlagen, doch ich schwebe starr in der Luft, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.
Wenigstens dauert es nicht lange, dann ist es vorbei.
Und ich fühle es ganz deutlich, als die Qual endlich verebbt: Meine Kraft kommt zurück. Stärker, als sie jemals war. Mein Herz schlägt kräftig und gesund gegen meine Brust und ich kann mit einem Mal wieder frei atmen. Alles um mich herum ist klar, ich kann ohne Probleme meine Umgebung wahrnehmen.
Langsam sinke ich mit den Füßen voran zu Boden, bis ich schließlich aus eigener Kraft stehe. Um meinen Hals hängt ein mit Schnörkeln verziertes Amulett an einer goldenen Kette. Der Stein in der Mitte leuchtet moosgrün. Wie von selbst wandern meine Finger zu dem Schmuckstück, befühlen seine glatte Oberfläche. Ich bewundere die Stärke, die von ihm ausgeht.
»Ich danke Euch.« Ehrfürchtig verbeuge ich mich. Ihm noch einmal in die Augen zu sehen, wage ich nicht.
Doch er legt einen seiner Schattenfinger unter mein Kinn und hebt es sachte an, sodass ich keine andere Wahl habe.
Seine Augen funkeln amüsiert. »So begegnen wir uns endlich einmal, Nordhexe. Der Duft von Hass und Rache klebt an dir. Er riecht verlockend.« Noch einmal atmet er tief ein und aus, dann leckt er sich lüstern über die Lippen. »Ich habe etwas für dich getan, nun wirst du etwas für mich tun.«
»Alles, Herr.« Meine Stimme zittert. Macht bin ich gewohnt, ich habe viele Gestalten gehabt, habe zahlreiche mächtige Lebewesen bekämpft und besiegt. Einem Gott stand ich jedoch nie gegenüber.
»Die Quelle deiner Macht ist Gaara. Du wirst mir helfen, diese Quelle für meine Zwecke zu nutzen. Ich werde dir ein Portal öffnen. Bring mir den Auserwählten, damit ich endlich Rache an meinen Brüdern und Schwestern nehmen kann. Nur die Macht Kiaras fehlt mir noch und sie ist tief in ihm verankert. Stärker als in anderen Menschen. Ohne den Auserwählten ist es mir unmöglich, das Ashul zu verlassen. Ich gebe dir nur wenige Tage Zeit, dann wird die Energie des Amuletts verbraucht sein und du wirst sterben. Außer, du bringst mir den Auserwählten. Bis dahin kannst du jegliche Zauber wirken, die du benötigst. Nimm niemals das Amulett ab. Solltest du es doch tun, ist dein Leben ebenfalls beendet.«
Ich verneige mich abermals. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Lodros. Gestattet Ihr mir eine Frage?«
Er nickt vage, sieht mich abwartend an.
»Darf ich, wenn ich Euch den Auserwählten bringe, Andarias Königin haben? Sie hat einen Teil meiner Macht, ich hätte ihn gern zurück. Außerdem ist mir ihre Gestalt schon lange versprochen.«
»Sie ist nur ein Mensch, sie interessiert mich nicht. Wenn du mir den Auserwählten bringst, kannst du so viele andere Menschen töten, wie es dir beliebt.«
Vor Freude und Tatendrang schlägt mein Herz höher. Zwar hätte ich diesen Burschen gerne eigenhändig um sein Leben gebracht, doch so bleibt mir immerhin die Königin und wenn ich ihre Gestalt habe, ein ganzes Land.
Die Frau mit dem strähnigen Haar räuspert sich neben mir. In meiner Aufregung habe ich sie ganz vergessen.
»Auch deine Rachegelüste spüre ich deutlich«, sagt Lodros. »Du hast mir die Hexe gebracht, also sprich. Wen willst du?«
»Ich möchte den Jungen mit dem Drachen, den Hüter des Portalwächters. Er hat meinen Bruder Shuddel getötet. Das erzählte man mir jedenfalls … Bitte, lasst mich mit der Hexe gehen.«
»Nun.« Lodros verschränkt die Arme hinter dem Rücken, sieht zwischen uns hin und her. »So sei es. Zusammen seid ihr stärker. Bringt mir, was ich verlange. Doch denkt an die Zeit, die ich euch gegeben habe.«