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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leserhinweis

Playlist

Widmung

Teil I

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Teil II

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Teil III

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Epilog I

Epilog II

Triggerwarnung

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Emma Scott bei LYX

Impressum

Emma Scott

Between Your Words

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Inka Marter

ZU DIESEM BUCH

Nach einem Autounfall, der ihre Eltern das Leben kostete, leidet die junge Malerin Thea unter einer dramatischen Form der Amnesie. Fünf Minuten, mehr hat sie nicht, bevor ihr Kurzzeitgedächtnis wieder gelöscht wird. Für die Ärzte des Sanatoriums ist sie ein hoffnungsloser Fall. Aber Jim Whelan, der als Pfleger in der Klinik anfängt, ist fasziniert von der jungen Frau, die es schafft, ihn in all diesen kurzen Fünf-Minuten-Spannen besser zu verstehen als jeder andere. Thea ist der einzige Mensch, bei dem ihn sein Stottern nicht hemmt. Trotz aller Widrigkeiten entsteht zwischen ihnen eine tiefe Verbindung. Und nur Jim erkennt, dass die virtuosen Bilder, die Thea aus Wortketten kreiert, einen Hilferuf enthalten, einen Hinweis darauf, dass Thea sich ihrer Situation im tiefsten Inneren bewusst ist. Doch er kämpft gegen die Windmühlen einer Institution, die Thea längst aufgegeben hat, und gegen ihre überbeschützende ältere Schwester, die jederzeit dafür sorgen könnte, dass Jim gefeuert wird. Als sich für Thea die Möglichkeit auftut, ihrem Fünf-Minuten-Gefängnis durch eine riskante neue Behandlungsmethode zu entkommen, könnte dies eine Chance für ihre scheinbar unmögliche Liebe sein – oder aber ihr Ende bedeuten …

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

PLAYLIST

Trampoline (Vorspann), SHAED

Sweet Child O’ Mine, Guns N’ Roses

Bury a Friend, Billie Eilish

Bad Romance, Lady Gaga

Black, Lady Gaga

I Will Follow You Into The Dark, Death Cab for Cutie

Dreamer, LP

Tidal Wave, Portugal. The Man

We Are Young, Fun. (feat. Janelle Monáe)

BOOM, X Ambassadors

Good Riddance (Time of Your Life), Green Day

Beloved, Mumford & Sons

Times Like These (Abspann), Foo Fighters

Für Melissa – du bedeutest mir mehr, als ich sagen kann, weil du auch für Izzy alles bist …

Und für meine wunderbare Talia – du erhellst den dunkelsten Raum …

TEIL I

PROLOG

Thea

Richmond, Virginia, vor zwei Jahren

Die Stimme meiner Schwester hallte aus der Diele nach oben.

»Thea, wir müssen los.«

»Ich komme«, rief ich zurück und schob mir eine blonde Locke aus den Augen.

Ich hatte mein altes Zimmer im Haus meiner Eltern für den Sommer in ein provisorisches Atelier verwandelt – mit einer Plane auf dem Boden und einer großen Leinwand auf einer Staffelei am Fenster. Delia schimpfte, ich sei erst seit drei Tagen da – und ob ich mich für ihre Abschlussfeier bitte nicht total einsauen könne. Aber drei Tage nicht malen? Da konnte sie mich auch bitten, nicht zu essen oder zu atmen.

Hinter mir lief auf Netflix The Office – Das Büro, die beste Serie der Welt. Ich hatte jede Folge etwa hundert Mal gesehen. Mom meinte, ich wäre wahrscheinlich so besessen davon, weil sie wie ich war: witzig und ehrlich und mit einem Hang zu total peinlichen Witzen in den furchtbarsten Momenten.

Ich wischte mir die Hände an meinem Leinenkittel ab. Violette und orange Farbschmierer gesellten sich zu gelben und nachtblauen Flecken. Ich benutzte durchaus Pinsel, trug die Farbe aber auch oft mit den Händen auf. Dad zog mich gern damit auf, dass ich als Kleinkind mit Fingerfarben angefangen und die Phase nie überwunden hätte.

Die Plane verrutschte unter meinen nackten Füßen, als ich zurücktrat, um die Leinwand zu betrachten. Eine ägyptische Pyramide warf einen dunklen Schatten auf goldenen Wüstensand, während die Sonne in den Farben der Abenddämmerung am Himmel sank.

Mein Blick fiel auf das Foto, das ich letzten Sommer auf unserer Familienreise nach Gizeh von dem echten Teil gemacht hatte. Ich wusste nicht, was genau mich an diesen verdammten Pyramiden so faszinierte – oder an der ganzen ägyptischen Geschichte, was das anging –, aber ich konnte das Thema nicht lassen. Diese riesigen Gräber waren einfach unglaublich. Die Ägypter packten die Kammern der Pyramiden mit allem voll, was ein toter Pharao im nächsten Leben brauchen könnte.

Als wären sie nicht für immer tot, sondern nur eine Weile weg.

»Wie auf einer Reise«, murmelte ich.

»Althea, komm jetzt sofort runter«, rief Delia. »Wir kommen zu spät!«

»Wie sollen wir zu spät kommen, wenn du darauf bestehst, dass wir drei Stunden zu früh losfahren?«, rief ich zurück.

Ich legte den Kopf schief, betrachtete meine Arbeit, und langsam breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Ich ließ immer das Bild entscheiden, ob es vollendet war, und dieses war fertig. Die Farben und Formen beschworen die Erhabenheit der Pyramide herauf, die Schönheit der Wüste und die Weite des Himmels darüber, genau wie ich es wollte.

Ich zog den Kittel aus. Darunter trug ich ein seidiges pinkfarbenes Kleid, das mir um die Knie schwang. Bei einer raschen Prüfung entdeckte ich nur ein paar winzige Farbspritzer am Saum.

Delias Stimme drang erneut herauf. »Ich weiß, dass mein Abschluss dir nichts bedeutet …«

»Thea, meine Liebe«, unterbrach meine Mutter sie sanft. »Bitte komm jetzt runter.«

Ich sah mein Bild ein letztes Mal an. »Gar nicht schlecht, Hughes«, murmelte ich.

»Thea, ich schwöre bei Gott …«

»Ich komme«, sagte ich. Ich machte den Fernseher aus und ging hinunter. »Wir müssen uns wirklich beeilen, sonst haben wir keine Zeit, um noch herumzusitzen und zu warten.«

Meine Eltern – Sandra und Linden – waren elegant gekleidet und warteten neben Delia, die ihren marineblauen Abschlusstalar trug wie eine Uniform. Sie strich sich eine widerspenstige Strähne ihres schulterlangen dunklen Haars glatt und sah mich wütend an, während ich meine Füße in die Pumps zwängte, die zu diesem Anlass zu kaufen sie mich nachdrücklich gedrängt hatte.

»Es ist meine Abschlussfeier, und ich bestimme, wann wir losfahren«, sagte Delia. »Und was hast du da an?«

»Schuhe mit Absatz«, sagte ich. »Aber nur, weil du mich dazu zwingst.«

»Ich meine das Kleid. Es ist voller Farbe.«

»Nur ein paar Tropfen. Verleiht ihm Persönlichkeit.«

Delia rollte mit den Augen. »Du bist eine Katastrophe, wie immer. Ich bin überrascht, dass du dein Haar gebürstet hast.«

»Ist doch Samstag, oder?« Ich zwinkerte meinem Dad zu.

Er zwinkerte zurück. »Lasst uns fahren, meine Lieben. Die Fahrt dauert eine Stunde, und wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir …« Er tat so, als würde er auf die Uhr gucken. »… wirklich früh da.«

Delia schnaubte und schaltete in ihren berüchtigten Geschäftsmodus.

»Ich weiß, ihr denkt, ich spinne, aber ihr werdet mir noch danken, wenn wir nicht ewig nach einem Parkplatz suchen müssen. Es wird voll, und ich werde unruhig, wenn wir spät dran sind.«

»Du? Unruhig?«, fragte ich. »Sag nicht so was.«

»Gott, kannst du einmal im Leben etwas ernst nehmen?«, fuhr Delia mich an. »Lass die Witze. Und wenn die Zeremonie anfängt, wirst du keine Szene machen und mich blamieren!«

Ich blinzelte unschuldig. »Was kannst du bloß damit meinen?«

Sie warf mir einen ihrer mörderischen Delia-Blicke zu. »Du weißt genau, was ich meine. Kein unangemessenes Verhalten.«

»Du bist so unwitzig.«

»Du bist für uns beide witzig genug.«

»In der Tat.«

Niemand sonst hielt sich so genau an die Regeln wie meine große Schwester, während ich für den Moment lebte. Dad scherzte gern, er müsse Mom eben glauben, dass wir beide von ihm waren.

»Für ein paar Fotos haben wir noch Zeit«, sagte Mom und holte ihr Handy heraus. »Rückt zusammen, Mädchen. Du auch, Linden.«

»Du musst auch mit drauf, Mom«, sagte ich. »Nehmen wir mein Handy. Es hat einen Selbstauslöser.«

Ich stürmte vor, öffnete die App auf meinem Telefon und legte es auf die Ablage gegenüber der Treppe. Dann stellte ich mich zu den Menschen, die ich auf der Welt am meisten liebte.

»Wir haben zehn Sekunden«, sagte ich und setzte ein Lächeln auf. »Sagt Cheeseburger!«

Das Handy gab ein Klicken von sich. Mom holte es und sah sich das Bild an.

»Perfekt. Ihr seid beide wunderschön.« Tränen traten ihr in die Augen, als sie das Bild meinem Dad zeigte. »Sind sie nicht wunderschön?«

Dad nickte. Er legte Delia den Arm um die Schultern. »Wir sind so stolz auf dich, mein Schatz.« Er zwinkerte mir zu. »Auf dich auch, Spätzchen.«

Ich spürte, wie mir ebenfalls die Tränen kamen. Ich war einundzwanzig, und er nannte mich immer noch Spätzchen. Ich hoffte, er würde nie damit aufhören.

Ich schlang einen Arm um Delia. »Ich bin auch stolz auf dich, Schwesterherz. Die Zweitbeste an der University of Virginia. Du wirst die Rede halten! Du bist echt eine große Nummer!«

»Danke, Thea«, sagte Delia mit dem warmen Lächeln, das sie sich für besondere Gelegenheiten aufsparte. Dann räusperte sie sich. Geschäftsmodus. »Können wir jetzt bitte los?«

»Aber sicher.« Dad nahm den Autoschlüssel vom Haken und öffnete die Haustür mit einer überschwänglichen Geste. »Die Damen.«

Wir setzten uns in Bewegung. Meine Füße drückten schon jetzt in den albernen Schuhen. In irgendeiner Tasche brummte ein Telefon.

»Das ist meins«, sagte Delia und wühlte in ihrer Handtasche. Sie las eine Nachricht und biss die Zähne zusammen. »Rogers Eltern haben ihn versetzt. Schon wieder. Er braucht eine Mitfahrgelegenheit zur Abschlussfeier.«

»Sie gehen nicht zu seiner Abschlussfeier?«, fragte ich. »Gott, sie sind wirklich furchtbar

Die Nyes wohnten ein paar Querstraßen weiter in einem Haus wie dem unseren, in einer netten Straße wie der unseren, aber sie hätten auch auf dem Mond wohnen können, so sehr unterschieden sie sich von Mom und Dad. Unsere Eltern gaben mir und Delia so beständig und zuverlässig Liebe und Unterstützung. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass die Nyes ihren Sohn konsequent wie eine Nebensache behandelten.

»Kein Problem«, sagte Dad. »Wir fahren kurz bei ihm vorbei.«

Delia nahm jetzt ihre eigenen Autoschlüssel vom Haken. »Nein, ich hole ihn ab. Fahrt ihr schon los.«

»Schatz, wir haben genug Zeit, um bei ihm vorbeizufahren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du kennst Roger. Es wird ihm peinlich sein. Es ist besser, wenn ich ihn allein abhole.«

Sie sah, wie wir neugierige Blicke tauschten, wie immer, wenn sie Roger erwähnte. Sie schworen, dass sie nur Freunde waren, aber seit dem Kindergarten waren sie unzertrennlich. Nur ein Roger in Not konnte meine Schwester von ihrem strengen Terminplan abbringen. Ihre Freundschaft gehörte zu den wenigen Dingen, die ihre sanfte Seite zum Vorschein brachten.

»Hört zu«, sagte sie. »Wenn Roger mit uns allen fährt, fühlt er sich nur noch schlechter. Lediglich Minuten, nachdem seine Eltern ihn mal wieder im Stich gelassen haben, muss er sich ansehen, wie perfekt Mom und Dad sind.«

»Wenn du meinst«, sagte Dad.

»Ja, das meine ich.« Delia gab ihm einen Kuss auf die Wange, umarmte Mom und tätschelte mir den Kopf. »Sei brav«, sagte sie. »Wir treffen uns dort. Fahrt vorsichtig, aber trödelt nicht.«

Sie warf uns einen letzten, strengen Blick zu, dann rauschte sie an uns vorbei in den warmen Mainachmittag. Der Saum ihres akkurat gebügelten Talars wirbelte um die schicken Pumps, die auf dem Pflaster klangen wie eine Marschtrommel. Aus. Dem. Weg.

»Super«, sagte ich. »Jetzt können wir unterwegs noch eine Pizza essen.«

Mom betastete ihre blonden, von Silber durchzogenen Haare. »Ich denke, für deine Schwester wäre es das allerschönste Examensgeschenk, wenn wir bei ihrer Ankunft schon auf unseren Plätzen sitzen.«

»Wartet kurz.« Ich schlüpfte aus den Pumps und nahm meine gelben Sandalen vom Schuhregal neben der Tür.

»Thea«, sagte Mom. »Du hast es versprochen.«

»Hey, ich habe dieses langweilige Kleid versprochen. Von Delia genehmigtes Schuhwerk war nicht im Vertrag inbegriffen. Sie merkt es sowieso erst, wenn es zu spät ist.«

Wir stiegen in Dads silbernen Cadillac. Mom saß auf dem Beifahrersitz, ich hinter ihr, und wir fuhren auf die Landstraße Richtung Charlottesville. Die Aussicht war umwerfend – grüne Hügel und Bäume unter einem wolkenlosen blauen Himmel. Ich liebte Virginia, aber ich hatte nicht vor, hierzubleiben. Nach meinem Abschluss an der Kunsthochschule nächstes Jahr würde ich mich direkt nach New York City aufmachen.

»Wie wär’s mit Musik, Paps?«, fragte ich.

»Acht Sekunden Stille«, sagte Dad. »Ein neues Album.«

»Musik ist Leben«, sagte ich lachend. »Direkt nach Malen. Und The Office. Und Pizza.«

»Keine Pizza.« Dad drehte am Radio, bis er meinen Lieblingssender fand, und »Bad Romance« erfüllte den Wagen. »Gut?«

»Mit Lady Gaga kann man nichts falsch machen.«

Dad verzog das Gesicht. »Ich will dir mal glauben.«

Ich wiegte mich zu dem Song, so gut das angeschnallt ging, bis Mom die Lautstärke runterdrehte.

»Der arme Roger«, sagte sie. »Was denken sich seine Eltern nur?«

»Ich frage mich eher, was Delia denkt«, sagte Dad. Er sah mich im Rückspiegel an. »Hast du irgendwelche schwesterlichen Geheiminformationen? Sind die beiden ein Paar?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ihr kennt Delia. Absolut zugeknöpft. Sie erzählt mir nie etwas.«

Mom verdrehte den Hals und sah mich an. »Und du? Kein Date für diesen Anlass?«

»Das ist ein Familiending. Und keiner der Typen, die ich in letzter Zeit gedated habe, ist es wert. Sie finden mich witzig, suchen aber nichts Ernstes. Oder ich suche nichts Ernstes. Vielleicht kann ich ›ernst‹ nicht.«

»Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt, Liebes«, sagte Mom.

»Delia würde dir da garantiert gern widersprechen.«

»Ich liebe deine Schwester über alles, aber selbst ein Kloster ist für sie nicht ernst genug.«

Ich seufzte. »Ehrlich gesagt kann ich es gar nicht erwarten, mich zu verlieben, aber wahrscheinlich kann man so was nicht erzwingen. Es passiert einfach. Ich werde ihn treffen. Den einen, an den ich ständig denken muss. Und wenn meine Gefühle für ihn in meine Kunst einfließen, werde ich wissen, dass es der Richtige ist.«

»Eine weise Einstellung«, sagte Dad.

»Apropos Kunst«, sagte Mom. »Was macht dein neuestes Bild?«

»Es ist fertig. Ich bin gerade noch fertig geworden, bevor bei Delia die Sicherung raussprang.«

»Wunderbar, ich kann es kaum erwarten, es zu sehen.« Mom klopfte mir mit dem Handrücken gegen das Knie. »Du und deine Pyramiden.«

»Stimmt, oder?« Ich lachte. »Wenn ich jemals berühmt werde, dann mit Ägypten. Wie die Kahlo mit ihren Selbstporträts oder die O’Keefe mit den vulvaförmigen Blumen.«

»Thea.« Dad lachte leise.

»Ich will damit nicht sagen, dass ich eine Frida oder eine Georgia bin …«

»Du würdest das nicht sagen, weil du zu bescheiden bist«, sagte Mom. »Aber als deine Mutter darf ich damit prahlen, dass du zu den ganz Großen gehörst.«

»Als meine Mutter bist du vertraglich verpflichtet, das zu behaupten«, sagte ich. »Aber danke, Mama. Du bist die Beste. Ich …«

»Mein Gott«, rief mein Vater.

Mom drehte sich um. »Was …?«

Ein hellblauer Blitz und blendendes Chrom.

Ein Knall so laut wie das Universum. Ich spürte ihn in den Knochen. In den Zähnen. Er hallte durch die Motorhaube, durch die Windschutzscheibe.

Er kam immer näher und näher und näher auf uns zu, durchbohrte uns, bis nichts mehr war.

1. KAPITEL

Jim

Das rot-weiße Zu-Vermieten-Schild sprang mir sofort ins Auge. Ich drosselte die Geschwindigkeit meiner Harley FX, hielt am Straßenrand und schob das Visier des Helms nach oben.

Hinter einem wackeligen Zaun stand ein kleines, wahrscheinlich kaum achtzig Quadratmeter großes Haus auf einem Stück vertrockneten Rasens. Der Zementpfad, der zur Haustür führte, war rissig. Vor der Eingangstür befand sich eine schiefe Stufe. Die weiße Farbe der Fassade blätterte ab.

Klein, schlicht und billig.

Perfekt.

Ich setzte den Helm ab, holte das Handy aus meiner schwarzen Lederjacke und wählte die verblasste Nummer auf dem Schild.

Es ist nur ein dämlicher Telefonanruf, dachte ich und atmete tief ein. Reiß dich zusammen.

Ein Mann antwortete. »Ja?«

Einatmen. Ausatmen.

»Ich rufe an wegen des Hauses in Boones Mill, das zu vermieten ist.«

Kein Stottern. Nicht einmal beim M von Mill. Ein kleiner Sieg.

»Okay«, sagte der Typ. »Sechshundertfünfzig im Monat, Nebenkosten außer Wasser inklusive. Keine Haustiere. Wollen Sie es sich ansehen? Ich kann in fünf Minuten da sein.«

»Ich habe ein Vorstellungsgespräch im Blue-Ridge-Sanatorium«, sagte ich. »Wenn ich den Job kriege, bin ich in ein paar Stunden zurück. Dann könnte ich es mir ansehen.«

Der Typ seufzte. »Und warum rufen Sie jetzt an?«

»Ich will nicht, dass es mir jemand wegschnappt.«

Halb hustend, halb lachend atmete er den Rauch einer Zigarette aus. »Junge, Sie sind in diesem Monat der Erste, der anruft. Ich glaube, Sie sind da außer Gefahr.« Er zog an der Zigarette. »Sie wollen im Blue Ridge arbeiten? Bei den Spinnern und Verrückten?«

Ich umfasste das Handy fester. Arschloch. »Vermieten Sie einfach das Haus nicht, okay?«

»Klar. Ist reserviert. Extra für Sie.«

»Danke«, murmelte ich. Ich legte auf und ließ die Hand auf den Oberschenkel sinken.

Der Typ hatte recht. Niemand außer mir wollte sein beschissenes kleines Haus. Der Anruf war ein Probelauf für das Einstellungsgespräch im Sanatorium gewesen. Ich war um sechs Uhr früh in Richmond losgefahren und seitdem unterwegs und wollte die ersten Worte an diesem Tag nicht mit einem Personalentscheider wechseln.

Der höhnische Tonfall meiner Pflegemutter hallte durch meinen Kopf.

Als würde das etwas bringen, du Riesendummkopf. Du wirst sowieso das ganze Gespräch nur stottern, und das weißt du.

»Halt die Klappe, Doris«, murmelte ich.

Man hatte mich seit meiner Geburt in vielen Pflegefamilien untergebracht, und von zehn bis achtzehn war ich in ihrer Obhut gewesen – wenn man das so nennen wollte. Selbst mit vierundzwanzig ließ ihre spöttische Stimme mich noch nicht in Ruhe. Ich stotterte fast gar nicht mehr, aber das Stottern lauerte noch unter meiner Zunge und kam zum Spielen raus, wenn ich wütend war. Oder nervös.

Zum Beispiel nervös vor einem Vorstellungsgespräch.

Als ich zwölf war, hatten Ärzte mein Stottern als eine psychische Redeflussstörung bezeichnet: eine Reaktion auf ein traumatisches Ereignis, kein physiologisches Problem im Gehirn.

»Eine Reaktion?«, hatte Doris im Sprechzimmer des Arztes höhnisch ausgerufen. »Sie meinen, das ist in seinem Kopf, dass er nicht richtig reden kann? Pfft. Er ist einfach ein Riesendummkopf. Das beweist das nur.«

Der Arzt versteifte sich. »Hat es vor Kurzem einen traumatischen Vorfall gegeben?«

»Natürlich nicht«, gab Doris knapp zurück, während ich an meiner gefesselten Zunge vorbei schreien wollte, dass doch etwas passiert war. Genau letzte Woche. Opa Jack war gestorben.

Eigentlich war Doris’ Vater nicht mein richtiger Großvater, aber er war netter zu mir gewesen als jeder andere Mensch, seit ich im Jugendhilfesystem von South Carolina herumgeschubst wurde. Er nahm mich zum Lake Murray zum Angeln mit. Er kaufte mir Eis und steckte mir nach dem Abendessen Bonbons zu.

»Erzähl’s nicht deiner Mutter«, sagte er immer.

Mutter. Doris nahm Pflegekinder wegen des Geldes auf, nicht aus Güte. Sie war nicht mal ansatzweise eine Mutter. Wie ein Mann wie Jack an eine Tochter wie Doris gekommen war, würde ich nie erfahren. Er war freundlich. Er wuschelte mir durchs Haar, statt mich zu kneifen, und nannte mich nie dumm. Als er starb, nahm er das einzige bisschen Glück mit, das ich in meinen zwölf unglücklichen Jahren erlebt hatte.

Als ich neben Doris im Beerdigungsinstitut stand und in seinen Sarg blickte, fing ich an zu weinen. Doris zerrte mich in ein Nebenzimmer, ihre Finger gruben sich wie Klauen in meine Arme. Sie schüttelte mich grob.

»Du weinst nicht wegen ihm, verstanden? Er war nicht deine Familie.«

»Er … er war Opa J-Jack«, sagte ich, und die Schluchzer rissen die Worte auseinander.

»Er war nicht dein Opa.« Doris’ dunkle Augen bohrten sich in meine, als würde sie mich mit einem verdammten Fluch belegen. »Rede nicht über ihn, als würde er zu dir gehören. Nie wieder. Er war mein Vater. Er war mit mir verwandt. Du bist nicht mit mir verwandt. Du bist nichts als ein Scheck, der jeden Monat mit der Post kommt, also hör auf zu heulen.«

Und das tat ich.

Ich unterdrückte alles, fraß alles in mich rein. Alles, was ich Opa Jack sagen wollte, verhedderte sich irgendwo hinter meinen Zähnen. Die Trauer drängte sich in meinem Gehirn, machte meinen Kiefer steif und verwandelte sich in ein Stottern, das jahrelange Schikanen in der Schule verhieß und noch schlimmere Beschimpfungen von der Frau, die sich eigentlich um mich kümmern sollte.

Doris brachte mich nie zur Sprachtherapie oder einer anderen Behandlung. Erst in der siebten Klasse bekam ich Hilfe. Meine Lehrerin Mrs Marren hatte Mitleid mit mir und schlug ein bisschen was zu Redeflussstörungen nach. Sie war keine Spezialistin, aber sie fand ein paar Atemtechniken, die mir halfen, durch einen Satz zu kommen.

Atme den Gedanken ein, atme die Worte aus. Immer ganz locker, James.

Einatmen. Ausatmen.

Versuch es mit Singen, James. Manchmal kann Musik dabei helfen, die Worte auszusprechen.

Ich atmete in den Erinnerungen an South Carolina ein und atmete im Heute in Boones Mill, Virginia, aus. Setzte all meine Hoffnungen auf ein beschissenes kleines Häuschen und ein Vorstellungsgespräch.

Ich setzte den Helm wieder auf, startete das Motorrad und fuhr los. In einer Viertelstunde war ich in Southern Hills, am Rande von Roanoke. Im Südwesten dösten die Blue Ridge Mountains unter dem klaren blauen Sommerhimmel. Ich folgte einer gewundenen zweispurigen Straße die Hügel hinauf, zwischen leuchtend grünen Farnen und hohen Bäumen. Ein antik aussehendes Holzschild mit verschnörkelter Schrift tauchte zu meiner Linken auf.

Blue-Ridge-Sanatorium, gegr. 1891

Darunter steckte ein neueres Schild in kräftigerer Farbe im Boden.

Langzeitbehandlung von Gehirnverletzungen, kognitives Training und Rehabilitation.

»Spinner und Verrückte«, hatte der Typ von der Maklerfirma gesagt. Ich zeigte ihm in Gedanken den Mittelfinger. Zu einem gewissen Grad waren wir alle Spinner und Verrückte. Manche konnten es nur besser verbergen. Für einige von uns war es eine Lebensaufgabe, das zu tun.

Ich bog ein und fuhr die Straße hinauf, bis ich an eine Schranke kam. Daneben stand ein kleines Häuschen mit einem Wachmann. Zu beiden Seiten der Durchfahrt erstreckte sich eine hohe Mauer bis in den Wald hinein. Ich fuhr näher heran.

»Jim Whelan«, sagte ich. »Ich hab hier ein Vorstellungsgespräch.«

Der Mann trug eine hellgraue Uniform mit dem aufgebügelten Abzeichen einer Sicherheitsfirma auf der Brust und prüfte sein Clipboard.

»Whelan … Jepp. Alonzo Waters wird sich mit Ihnen treffen. Erdgeschoss. Man wird Ihnen an der Rezeption sagen, wo Sie hin müssen. Der Parkplatz für Besucher ist links.«

»Danke.«

Quietschend öffnete sich die Schranke, und ich fuhr die gepflasterte Zufahrt hinauf. Nur hundert Meter weiter war ich am Blue-Ridge-Sanatorium angelangt.

Das hohe Haus sah aus wie das Herrenhaus einer Plantage, was es bis 1891 wahrscheinlich auch gewesen war. Ein solides zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein mit weißen Zierelementen und vier weißen Säulen davor.

Ich fuhr auf den leeren Besucherparkplatz und stellte die Harley ab. Es war still hier, bis auf die Insekten, die in der feuchten Luft surrten. Niemand spazierte über die Wege oder saß auf den Steinbänken.

Die Gegensprechanlage an der schwarz lackierten Eingangstür sah aus wie ein Fremdkörper auf dem alten Holz. Ich drückte auf den roten Knopf.

Eine Frauenstimme meldete sich. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Jim Whelan, ich soll mich hier mit Mr Waters treffen.«

Die Tür summte und klickte. Ich drehte den Türknauf und trat in das kühle Innere des Sanatoriums. Dielen führten bis in den Rezeptionsbereich. Der Geruch nach Reinigungsmitteln lag über dem Duft nach altem Holz. Neben einem Gemälde von einer Obstschale hing eine Klimaanlage an der Wand. Das Sanatorium schien irgendwo zwischen einem alten Herrenhaus und einer Gesundheitseinrichtung festzustecken. Aber vielleicht ging es genau darum – man gab den Patienten das Gefühl, zu Hause zu sein und nicht in einem Krankenhaus.

Eine Frau mittleren Alters mit einem dunklen Pferdeschwanz winkte mich heran. Sie trug dieselbe Uniform wie der Mann draußen in dem Wachhäuschen. Auf ihrem Namensschild stand Jules, und sie sah mich unverfroren von oben bis unten an.

»Hallo Süßer. Wen sollen Sie treffen?«

»Alonzo Waters.«

Sie riss die Augen auf. »Du bist wegen der Stelle als Hilfspfleger hier?«

Ich nickte.

»Aha. Wenn du meinst. Für mich siehst du nicht wie ein Hilfspfleger aus. Eher wie ein sexy Arzt aus einer dieser Serien. Ein Rebell, der den Laden ein bisschen aufmischt.«

Ich erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern wartete, die Stiefel fest auf dem Boden, bis sie fertig war mit dem ordinären Getue.

»Aha. Der starke stille Typ«, sagte Jules mit einem leisen Lachen. Sie sah mich noch immer an. »Also, ich hoffe wirklich, du kriegst den Job. Du bist echt ein erfreulicher Anblick. Außerdem fehlen uns ein paar Hilfskräfte, seit die letzten beiden weggezogen sind.«

Gut. Wenn das Sanatorium unterbesetzt war, würden sie mich so schnell wie möglich einstellen.

»Nicht mal kurz plaudern?« Jules seufzte dramatisch. »Okay, okay. Alonzo ist jetzt im Speisesaal, direkt da durch die Doppeltür. Du kannst ihn nicht verfehlen.«

»Danke«, sagte ich und ging in die Richtung, in die sie zeigte.

»Ah, er kann sprechen! Viel Glück, Süßer.«

Ich spürte, wie Jules’ Blick mir folgte, und schüttelte ihn ab.

Der Speisesaal hatte weiße Wände und einen weißen Fußboden, hohe Fenster ließen die Maisonne hinein. Es gab ein Dutzend quadratischer Tische, jeder war für vier Personen gedeckt. Ein Mann saß mit einer Krankenschwester an einem Tisch am Fenster und aß langsam eine Suppe. Er hatte eine deutlich sichtbare Delle von der Größe eines Untersetzers im Kopf. Als ich eintrat, warf er mir einen stechenden Blick zu.

Ich erwiderte seinen Blick und nickte ihm respektvoll zu. Er hob die Augenbrauen, dann schürzte er grunzend die Lippen und widmete sich wieder seiner Suppe.

Hinter einer kleinen Auslage mit Gebäck und Salaten stand eine mollige Dame in weißer Kochjacke. Kaffee lief hinter ihr in hohe silberne Thermoskannen. Sie sprach mit einem älteren schwarzen Mann mit grauem Haar, der schon über sechzig sein musste. Er trug ein weißes kurzärmliges Hemd, das er in eine weiße Hose gesteckt hatte. Schwarzer Gürtel, schwarze Stiefel. Ein riesiges Schlüsselbund rasselte an seiner Hüfte.

Ich ging näher, und die Essensdame hob das Kinn. »Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann drehte sich um. »Sie müssen Jim Whelan sein«, sagte er.

Ich nickte und gab ihm die Hand.

»Alonzo Waters«, sagte er und taxierte mich. »Sie wollen als Hilfspfleger arbeiten?«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie einen Lebenslauf?«

Ich zog zwei zusammengefaltete Blätter aus der Jackentasche. »Ja, Sir.«

»Sir«, sagte Alonzo und lachte leise. »Hörst du das, Margery?«

Sie verdrehte die Augen. »Lass es dir nicht zu Kopf steigen.«

»Kommen Sie, setzen wir uns.« Alonzo führte mich zu einem leeren Vierertisch und setzte sich mir gegenüber. »Kaffee?«

»Nein danke.«

»Ich versuche selbst, es ein bisschen einzuschränken.« Alonzo überflog meinen Lebenslauf. »Vierundzwanzig Jahre. Abschluss von der Webster-High, South Carolina. Dann direkt Arbeit in der Rehaklinik Richmond für … sechs Jahre?«

»Ja, Sir.«

»Warum haben Sie aufgehört? Oder sind Sie gefeuert worden?«

»Die Klinik hat geschlossen.« Ich räusperte mich und deutete auf meinen Lebenslauf. »Dahinter ist ein Empfehlungsschreiben.«

»Ah ja.« Alonzo lehnte sich zurück und las den Brief von meinem ehemaligen Vorgesetzten. »Wow. Hier steht, Sie waren ein ›vorbildlicher Mitarbeiter‹, und er hätte am liebsten zehn von Ihnen gehabt.« Er verschränkte die Hände über dem Bauch und sah mich an. »Nicht schlecht, nicht schlecht. Die Rehaklinik war für Suchtkranke. Wie ging es Ihnen damit?«

»Gut.«

»Geht das ein bisschen ausführlicher?«

Vermassel das nicht. Rede einfach.

»Ich war immer pünktlich«, sagte ich. »Bin keinen Tag nicht da gewesen.«

Ich atmete aus. Kein Stottern bei Sätzen, die zwei der schwierigsten Konsonanten enthielten. P, K und T waren mein Untergang, aber die Totalkatastrophe war das D. Es hatte Doris wahnsinnig gemacht, wenn ich bei ihrem Namen gestottert hatte, und sie hatte mir immer einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben. »Spuck’s schon aus, du großer D-D-Dummkopf.«

»Wie war die Kommunikation mit Patienten?«

»D-da war nicht viel«, sagte ich. Mist. »Ich hab meine Arbeit gemacht.«

»Hatten Sie je mit Gehirnverletzungen zu tun?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich selbst habe in allen möglichen Einrichtungen gearbeitet«, sagte er. »Auch Entzugskliniken. Und ich kann Ihnen sagen, dass Gehirnverletzungen ein völlig anderes Paar Schuhe sind. Zum einen sind Drogensüchtige immer noch sie selbst. Das ist hier nicht immer der Fall. Wir haben siebenundzwanzig Bewohner im Blue Ridge, und manche von ihnen sind nicht mehr ganz da.« Er tippte sich an die Stirn. »Sie werden sich mit ihren Fallgeschichten vertraut machen müssen. Lernen, wie Sie angemessen mit ihnen reden. Schon bei einem einzigen falschen Wort kann jemand durchdrehen oder verwirrt reagieren. Können Sie damit umgehen?«

»Ich denke schon.«

In der Rehaklinik Richmond hatte ich kaum reden müssen, weshalb ich den Job mochte. Der Gedanke, im Blue Ridge mehr an der Pflege der Patienten beteiligt zu sein, erweckte einen alten Traum von mir erneut zum Leben: Kids mit Sprechstörungen zu helfen. Kids wie mir, die sich dumm fühlten und jede verfluchte Minute ihres Lebens frustriert waren. Es war ein Traum, der durch das Stottern geboren und mit ihm auch wieder gestorben war.

Wer würde sein stotterndes Kind von einem stotternden Therapeuten behandeln lassen?

Niemand, kapiert, du Riesendummkopf, sagte Doris.

»Anders als Gerüchte in der Gegend behaupten«, sagte Alonzo, »ist das hier kein psychiatrisches Krankenhaus. Keiner unserer Bewohner – Bewohner, nicht Patienten – ist hier wegen emotionaler Probleme. Sie sind alle aufgrund von Verletzungen hier. Meist durch Unfälle. Aber alle leiden unter einem bleibenden Hirnschaden. Unser Job ist es, ihnen zu helfen, mit der neuen Realität zurechtzukommen.«

»Okay.«

Alonzo lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Warum wollen Sie hier arbeiten, Junge?«

Tausend professionell klingende und verlogene Antworten stiegen in meiner Kehle auf und verhedderten sich.

Ich atmete langsam ein und atmete die Wahrheit aus.

»Ich will helfen.«

Alonzo betrachtete mich aus zusammengekniffenen Augen und blickte dann wieder auf meinen Lebenslauf. »Sie haben sich in der Reha in Richmond ziemlich eingewöhnt, haben sich wie zu Hause gefühlt, ja?«

Habe mir ein Zuhause geschaffen.

»Warum sind Sie nicht aufs College gegangen? Wollen Sie für den Rest des Lebens Kranken hinterherputzen?«

Ich zuckte mit den Achseln.

Er schürzte die Lippen. »Sie reden nicht viel, was?«

»Nicht viel.«

»Glück gehabt. Mir geht kaum etwas mehr auf die Nerven als Mitarbeiter, die herumstehen und schwatzen.« Er hielt mir die Hand hin. »Spaß beiseite. Dieses Empfehlungsschreiben zeigt deutlich, dass ich ein Idiot wäre, Sie nicht einzustellen. Jim Whelan, Sie haben den Job.«

Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus und schüttelte ihm die Hand. »Danke, Sir.«

»Nennen Sie mich nur Sir, wenn Margery in der Nähe ist«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Sonst einfach Alonzo. Ich bin ein freundlicher Mensch, aber ich hab den Laden hier fest im Griff. Um die Sicherheit und das Wohlergehen der Bewohner zu gewährleisten, haben wir hier sehr viele Regeln. Wenn Sie die missachten, sind Sie draußen, und zwar sofort. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Gut.« Alonzo stand auf, und ich tat es ihm nach. »Unterschreiben wir die Papiere, dann können Sie Montagmorgen anfangen. Pünktlich um sieben Uhr. Geht das klar?

Ich nickte. »Ich kann ein Haus in Boones Mill mieten. Ich ziehe dieses Wochenende um.«

»Gut«, sagte Alonzo. »Ich brauche Sie für das Frühstück, das Mittagessen, Bewegungsübungen und die Freizeitbeschäftigung am Nachmittag. Sie werden während der Arbeit eingewiesen. Wir haben vor Kurzem zwei Mitarbeiter verloren, also hoffe ich, dass Sie sich schnell einarbeiten.«

»Ich tue mein Bestes.«

Ich unterschrieb die Papiere, dann verabschiedeten wir uns.

»Montag um sieben«, sagte Alonzo. »Pünktlich.«

Ich ging zurück ins Foyer. Jules stand nicht mehr hinter der Rezeption, aber der Raum war nicht leer. Eine junge Frau mit blonden Locken stand vor der Wand und betrachtete das Ölgemälde neben der Klimaanlage. Sie war etwa zehn Zentimeter kleiner als ich mit meinen eins zweiundachtzig. Schlank. Trug eine unförmige Stoffhose, ein schlichtes beiges Shirt und bequeme Slipper.

Sie sah sich um, als meine Schritte durch das Foyer hallten. Große, leuchtend blaue Augen in einem herzförmigen Gesicht sahen mich näher kommen. Ein strahlendes Lächeln erhellte ihre zarten Gesichtszüge, und mein verfluchter Puls ging schneller.

»Ist es nicht schön?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf das Bild. »Wie das Licht auf die Rundung des Apfels fällt. Wie es den Trauben diesen Glanz verleiht.«

Ich stellte mich neben sie. »Für mich sieht es wie Obst aus.«

Sie lachte. »Es ist Obst. Es ist das Wesen des Obstes. Eine prachtvolle Darstellung eines einfachen Gegenstands. Das Licht enthüllt das Leben darin.«

»Es klingt, als würden Sie wissen, wovon Sie sprechen.«

»Ich denke schon. Ich bin Künstlerin. Ich male.« Sie hob die kristallblauen, von dunklen Wimpern umrahmten Augen, um meinem Blick zu begegnen. »Sie sind der erste Mensch, den ich treffe. Wie heißen Sie?«

»Jim. Jim Whelan.«

»Thea Hughes. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie nahm meine Hand und schüttelte sie kräftig, einmal nach oben und unten. »Sie haben gütige Augen, Jim Whelan.«

Und Sie sind verdammt umwerfend, Thea Hughes.

Sie deutete auf das Gemälde. »Aber Sie sind kein Fan?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Was mögen Sie im Bereich der Kunst?«

»Musik«, sagte ich. »Ich mag … Musik.«

Gott, ich klang wie ein totaler Schwachkopf. Ich Musik mögen. Aber Theas schönes Gesicht strahlte noch mehr.

»Oh, ich liebe Musik«, lachte sie. »Malen ist mir das Liebste, aber Musik ist Leben. Spielen Sie ein Instrument?«

»Ich habe eine Gitarre …«, sagte ich, und der Rest erstarb. Ich würde ihr nicht erzählen, dass ich manchmal sang, während ich eine Melodie zupfte. Oh nein.

»Ich liebe Gitarre«, sagte Thea. »Was hören Sie am liebsten?«

Ich rieb mir den Nacken und zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Vor allem Rockmusik. Guns N’ Roses. Foo Fighters. Pearl Jam.«

Thea legte den Kopf schief. »Komisch, die kenne ich gar nicht.«

»Sie haben nie von Guns N’ Roses gehört?«

Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Sollte ich?« Dann boxte sie mir spielerisch gegen den Arm. »Stellen Sie mich nicht bloß, James. Mein Ding ist eher Techno und Dance. Betrachten Sie … meine echt coolen Hühnerhals-Moves.«

Sie riss immer wieder den Kopf nach vorn, und ein Lachen brach aus mir hervor. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn gleichzeitig eine Wolke aus Staub und Motten herausgekommen wäre. Ich beneidete sie um die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in ihrem Körper bewegte. Keine Befangenheit.

Sie ist, wer sie ist.

»Jim?«

Ich blinzelte.

»Sie starren mich an.«

Wie könnte ich nicht!

»Aber ich kann es Ihnen nicht vorwerfen«, sagte sie und hielt sich dann die Hand vor die Augen. »Oh, mein Gott, das klang so egoman…egomanisch? Ist das ein Wort? Egal, ich meinte, dass ich mich ständig in den Vordergrund dränge. Das sagt jedenfalls meine Schwester.«

»Sie tanzen, als würde niemand zusehen, obwohl jemand zusieht.«

»Ich hoffe, dass ist keine subtile Spitze gegen mein wahnsinniges tänzerisches Talent.«

»Niemals«, sagte ich. Mir war es noch nie so leichtgefallen, mich zu unterhalten. Ich redete so ungezwungen, wie sie tanzte. Kein Zögern.

»Was malen Sie?«, fragte ich. »Obstschalen?«

Sie warf mir einen listigen ausgelassenen Blick zu. »Was glauben Sie, was ich male?«

Ich zuckte mit den Schultern und schob die Hände in die Taschen. »Wenn ich raten müsste … würde ich auf etwas Großes tippen. Den Grand Canyon vielleicht. Ich wette, Sie benutzen auch ziemlich viele Farben.«

»Groß und bunt, ja?« Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Und wie kommen Sie darauf?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben so etwas an sich.«

Das klang wie eine blöde Anmache, aber die Wahrheit wäre zu viel gewesen. Dass ich in nur wenigen Minuten in ihrer Gegenwart ihre Größe gespürt hatte.

»Nun, Sie sind ziemlich nah dran«, sagte sie. »Ich male vor allem ägyptische Motive. Die Pyramiden. Kleopatra. Den Nil. Ist mein Ding.«

Ich nickte. »Ich hatte so ein Gefühl.«

»Wirklich?« Unsere Blicke trafen sich, und ihr Lächeln bekam etwas Intimes. Nur für mich. »Ich habe auch so ein Gefühl, was Sie angeht, Jim Whelan.«

Mein Herz schlug einen langsamen Purzelbaum. »Ja?«

»Ja. Von außen sind Sie wie eine Mauer mit der knallharten schwarzen Lederjacke und dem Filmstargesicht. Aber innen? Tief wie der Grand Canyon.« Sie hob fragend die Augenbrauen. »Bin ich nah dran?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich … ich weiß es nicht …«

»Sie zucken auch ziemlich viel mit den Achseln«, sagte sie. »Tun Sie das nicht. Ihre Gedanken sind nicht irrelevant.«

Wir sahen uns wieder in die Augen, und die »Mauer«, die ich gebaut hatte, um mich sicher zu fühlen, war nutzlos bei ihr. Irrelevant. Ich musste diese Frau wiedersehen, auch wenn das hieß, dass sie mich stottern hörte.

Ich hatte so ein Gefühl, dass es Thea Hughes nichts ausmachen würde.

»Besuchen Sie hier jemanden?«, fragte ich.

Theas Lächeln wurde starr. »Hier?«

»Ja. Ich bin gerade erst in die Stadt gezogen und …«

»Meine Schwester. Sie kommt her.« Ihre zarten Brauen zogen sich zusammen, Verwirrung trübte das Kristallblau ihrer Augen. »Und meine Eltern. Sie müssen jeden Moment hier sein.«

»Okay.« Einatmen. Ausatmen. »Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht …«

»Wie lange ist es her?« Thea schlang die Arme um den Körper und sah sich um, als würde sie die Umgebung zum ersten Mal sehen. Ihr Atem ging schneller. »Ich weiß nicht, wo ich bin.« Ihr Blick huschte zu mir. »Wie lange ist es her?«

»Wie lange …?« Ich blinzelte. »Ich weiß nicht …«

»Wer sind Sie?« Thea hatte die Augen jetzt aufgerissen, Angst glänzte in ihren hellblauen Tiefen. »Wie lange ist es her?«

Wollte sie wissen, wie spät es war? Ich sah auf die Uhr, und dann dämmerte es mir. Wie eine kalte Flutwelle löschte es die kleine flackernde Flamme zwischen uns.

Shit, du Idiot. Sie ist eine Patientin. Eine Bewohnerin.

»Wie lange ist es her?«, sagte Thea mit zu hoher Stimme, und die Worte hallten durch das Foyer.

»Ich … w-w-weiß es n-n-nicht …«, stammelte ich im Takt mit dem Pochen meines Pulses.

Sie trat einen Schritt zurück. »Sie arbeiten an meinem Fall«, sagte sie. »Die Ärzte. Ich hatte einen Unfall. Wie lange ist es her?«

Ich sah mich Hilfe suchend im leeren Foyer um. »Ich w-w-weiß …«

»Miss Hughes, da sind Sie ja.«

Ich drehte mich um und entdeckte eine kleine Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen, die rasch durch den Raum eilte. Sie trug Hose und Kasack in Hellblau – die Arbeitskleidung einer Krankenschwester. Erleichterung überkam mich. Die Schwester warf mir einen neugierigen Blick zu und nahm Thea sanft am Arm.

»Miss Hughes scheint immer einen Weg zum Ausgang zu finden.«

Thea wandte sich mit geweiteten Augen an die Schwester, auf deren Namensschild Rita stand. »Wie lange ist es her?«

»Zwei Jahre, Miss Hughes«, sagte Rita. »Die Ärzte arbeiten an Ihrem Fall.«

»Genau«, sagte Thea, atmete tief ein und klammerte sich an Ritas Arm. »Sie werden herausfinden, was mit mir nicht stimmt.«

Rita lächelte sanft und deutete mit dem Kinn auf das Gemälde. »Ein hübsches Bild, nicht wahr?«

Thea entspannte sich, und ihr strahlendes Lächeln kehrte langsam zurück. »Oh ja. Sehen Sie nur, wie das Licht auf die Rundung des Apfels fällt.« Sie drehte sich zu mir um. »Ist es nicht wunderschön?«

Ich nickte und starrte sie an. »Ja. Wunderschön.«

Sie strahlte und hielt mir die Hand hin. »Hi. Ich bin Thea Hughes.«

»Jim Whelan«, murmelte ich. Meine Hand bewegte sich wie von selbst und nahm ihre. Ich fühlte mich wie bei einer außerkörperlichen Erfahrung.

Was zur Hölle ist da grade passiert?

Thea schüttelte einmal kräftig meine Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Jim.«

Rita räusperte sich. »Du musst der neue Hilfspfleger sein?«

»Ich fange Montag an.«

»Ich bin Rita Soto.« Ihr Lächeln war warm. »Willkommen im Blue Ridge.« Sie deutete mit dem Kopf auf den verlassenen Rezeptionstresen. »Jules macht wohl mal wieder eine Zigarettenpause. Danke, dass du Miss Hughes Gesellschaft geleistet hast.«

»Gern«, sagte ich, unfähig, Thea länger anzusehen. Mir taten die Augen weh. »Ich gehe besser.«

»Bye, Jim«, rief Thea. »Sehen wir uns mal wieder?«

Ich blieb stehen. Genau diese Frage hatte ich ihr stellen wollen.

Da hast du deine Antwort, du Riesendummkopf, gackerte Doris in meinem Kopf. Du wirst sie jeden Tag sehen.

Jeden. Tag.