Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Karte
  8. Vorwort
  9. Die Reise beginnt
  10. Höhlenmädchen
  11. Manche Wunden heilen nie
  12. Aufgewirbelte Gedanken)
  13. Camile, meine erste Freundin
  14. Sanfte Landung
  15. Meine beste Freundin rettet mir das Leben
  16. Über den Wolken
  17. Die Geschichte der Wolkenmenschen
  18. Die Favela
  19. Geburtstag in Brasilien
  20. Das Kinderheim
  21. Den Arm voll Schokolade
  22. Acht Jahre alt und ganz allein auf der Welt
  23. Der Besuch des Kinderheims
  24. Ein Märchenland namens Schweden
  25. Die Information, nach der ich vierundzwanzig Jahre lang gesucht habe
  26. Der Alltag in Vindeln
  27. Ein Tag in der Favela
  28. Mit Mama in der Stadt der Engel
  29. Mamãe Petronilia
  30. Atmen lernen
  31. Ganz oben
  32. Zurück in Nordschweden
  33. Nachwort
  34. Danksagung

Über dieses Buch

Christina erlebte eine zerrissene Kindheit: Sieben Jahre lebte sie mit ihrer Mutter in den Waldhöhlen vor São Paulo - bitter arm, inmitten der Natur, aber getragen von der Liebe ihrer lebensklugen Mutter. Doch dann kamen die Landbesitzer und vertrieben sie, ein harter Überlebenskampf auf den Straßen der großen Stadt begann. Christina musste Unfassbares mitansehen, war nie sicher, erlitt Hunger und Not. Als ihre Mutter plötzlich verschwand, wurden Christina und ihr kleiner Bruder, noch ein Kleinkind, zur Adoption freigegeben: Eine neue Familie, eine neue Sprache, ein neues Leben in Europa begann … Das sagt die schwedische Lektorin über dieses Buch: Wie viele von uns könnten wohl mit acht Jahren das Leben auf der Straße überstehen? Was wäre, wenn diese Straßen voller bewaffneter Erwachsener wären, die die Absicht hatten, Sie zusammenzutreiben, um Sie zu töten? Das war das wirkliche Leben für Christina Rickardsson in und um São Paolo, Brasilien, bis eine Adoptionsagentur den fragwürdigen Schritt unternahm, Christina (acht Jahre alt) und ihren Bruder (weniger als zwei Jahre alt) von ihrer Mutter zu trennen und sie an eine Familie in Schweden, eine halbe Welt entfernt, zu geben. Wenn Geschichten wie die von Cheryl Strayed, Der große Trip, Ihre Emotionen geweckt haben, werden Sie auf Christinas Geschichte wahrscheinlich genauso reagieren wie ich, mit Einfühlungsvermögen und Staunen über die Stärke ihres Geistes. Die Geschichte, wie sie sich an ihre Adoptivfamilie, die Rickardssons, und an die völlig fremde Sprache und Kultur gewöhnt und anfängt sie zu lieben, ist fesselnd. Ein außergewöhnlicher Aspekt von Christinas Geschichte ist, dass sie nicht mit ihrer persönlichen Suche endet. Sie hat ihre Energie in ihre Stiftung gelenkt, eine gemeinnützige Organisation, die Armut und soziale Ungerechtigkeit an der Wurzel packen will, um andere Kinder vor ähnlichen Entbehrungen zu bewahren. Von dem Moment an, als Christinas Geschichte in mein Leben trat, war sie meine ständige Begleiterin, unerschütterlich. Ihr Mut, ihr Mitgefühl und ihre Fähigkeit zu vergeben sind absolut inspirierend. Ihre Schuldgefühle und ihr Groll darüber, dass sie ihrer Mutter und ihrem Heimatland genommen wurde, kämpfen mit der Dankbarkeit für die Vorteile und die Sicherheit, die ihr ihr neues Land und ihre Familie gewährten. Christina hätte ihr Trauma leicht in Feindseligkeit gegenüber ihrer neuen Familie, gegenüber der Welt oder gegenüber sich selbst verwandeln können. Stattdessen nahm sie das qualvolle Ausgraben ihrer Adoptionsakten in Angriff und machte sich in ihren Dreißigern auf die mutige und schmerzhafte Reise zurück in ihr Heimatland, in der Hoffnung, mit ihrer Mutter wieder vereint zu werden. Elizabeth DeNoma

Über die Autorin

Christina Rickardsson wurde 1983 als Christiana Mara Coelho in Brasilien geboren. Im Alter von sieben Jahren wurde sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder in ein Waisenhaus gebracht und dann nach Vindeln, einem Dorf im Norden Schwedens in der Region Västerbotten. Nachdem Christina ihre Memoiren Immer weiter gehen beendet hatte, gründete sie die Coelho Growth Foundation, die das Bewusstsein für die Not der Kinderarmut schärft.

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Ich widme dieses Buch den drei Frauen in meinem Leben,
die alles verändert haben.
Die mir Licht geschenkt haben, sodass ich
meinen Weg im Dunkeln fand.

Ihr habt mir Liebe gegeben,
die ich dem Hass entgegensetzen konnte.
Ihr habt mir beigebracht zu lachen,
sodass ich immer einen Trost fand.
Ihr habt mir Verständnis gezeigt, als ich nichts verstand.
Während unserer kurzen gemeinsamen Zeit
habt ihr mir genug Liebe geschenkt,
um zu verstehen, was Liebe eigentlich bedeutet.
Dieses Buch ist euch gewidmet:
Petronilia Maria Coelho, Camile und Lili-ann Rickardsson.
Wo auch immer ihr seid, ich bin immer bei euch.

Dieses Buch ist außerdem den Straßenkindern in Brasilien
und allen anderen Ländern der Welt gewidmet.
Ihr seid wundervoll und verdient so viel mehr,
als die Gesellschaft euch gibt.

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Vorwort

Dies ist die Geschichte meiner Kindheit in Brasilien, des Kulturschocks, den ich erlitt, als ich in den Wäldern Nordschwedens ankam, und über den Verlust der Menschen, die ich am meisten geliebt habe. Sie erzählt von einer Kindheit in der brasilianischen Wildnis, auf den Straßen São Paulos und im Kinderheim. Und von meiner Anfangszeit in Schweden, in der ich mich oft so fühlte, als habe man mich an einen Ort und in ein Leben verpflanzt, die kaum unterschiedlicher von dem hätten sein können, was ich kannte. Meine Erinnerungen sind durcheinandergewürfelt, aber die, die ich noch habe, sind klar. Ich habe sorgsam auf sie achtgegeben, sie immer und immer wiederholt und später auch niedergeschrieben, um an der Person festzuhalten, die ich einmal war. Ich habe eine Geschichte geschaffen, meine Geschichte. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich zum Zeitpunkt jeder Erinnerung war oder wie lange ich wo genau gelebt habe. Zeit ist ein Konzept, das Straßenkindern fremd ist. Warum sollten wir, warum sollte ich mich mit der Zeit auseinandersetzen? Wir waren kein Teil der Gesellschaft. Wir existierten in einer Welt, die keine Zeit für uns hatte. Einer Welt, in der sich niemand darum scherte, ob wir eine Ausbildung erhielten, ob wir lebten oder starben.

Hast du jemals auf einem Berggipfel stehen, den Blick in die Landschaft schweifen lassen, die Schönheit der Wälder und des Wassers in dich aufnehmen und dann so laut du kannst schreien wollen? Schreien, bis du außer Atem bist, deine Kehle weh tut und deine Lungen brennen? Einen Schrei, der deine Seele reinigt. Einen Schrei, der die Trauer zulässt und der den Druck all dessen freigibt, was du verborgen hältst. All den Schmerz, den du angestaut hast, all das Anpassen, zu dem du verpflichtet warst. Ich habe mich immer angepasst – an das Gesetz der Straße, an die Regeln im Kinderheim und an mein neues Umfeld in Schweden. Es gibt zwei Ichs: Christina aus Schweden und Christiana aus Brasilien. Es war nicht immer einfach, diese beiden Ichs zusammenzubringen. Mehrmals habe ich schon auf dem Gipfel eines Berges gestanden, wollte verzweifelt schreien und mich von einem Teil meiner Verzweiflung und Trauer befreien. Ich habe meinen Mund geöffnet, um den Schrei auszustoßen, aber er kam nicht.

Die Seiten, die du nun nach und nach umblätterst, sind mein Schrei. Die Worte sind mein Verstärker. Aber vor allem sind diese Seiten meine Wahrheit, meine Geschichte – sie erzählen von meinem Überlebenskampf und von dem Mut, den es brauchte, um nach Brasilien zurückzukehren und nach meiner Mutter zu suchen. Von dem Mut, den ich brauchte, um Freude am Leben zu finden. Und sie erzählen von Mutterliebe, die sich unendlich bis tief hinein in mein Herz erstreckt.

Die Reise beginnt

Umeå, Schweden, Winter 2015

An einem sonnigen Tag vor knapp drei Jahren wachte ich auf und hatte Angst. Wobei Panik es vielleicht besser trifft. Ich fürchtete mich schrecklich vor dem Leben. Ich litt unter einer Art Hungerast. Jeder Sportler kennt dieses Phänomen: Durch einen akuten Energiemangel entsteht ein plötzlicher Leistungsabfall des Körpers. Das Tempo, in dem es dazu kommt, kann ganz unterschiedlich sein. Man kann rennen, laufen oder taumeln. Je schneller man unterwegs ist, desto mehr tut es weh und desto größer ist das Unwohlsein. Das ist ein ebenso einfaches wie unumstößliches Gesetz. Ich hatte meinen ganz persönlichen Hungerast in Höchstgeschwindigkeit erreicht, so als hätte ich einen 400-Meter-Lauf absolviert und wäre schlussendlich gegen die Besucherbalustrade gerannt.

Was war geschehen? Wenn du meine Kollegen – meine Vorgesetzten und Bürofreunde – gefragt hättest, wäre keiner von ihnen überrascht gewesen. Ich gab immer mindestens 120 Prozent. Im Grunde war mein Leben jedoch ein heilloses Chaos. Es gab Probleme mit meiner Familie, meinen Beziehungen, meinen Freunden und mit mir selbst. Also versuchte ich mich auf das zu konzentrieren, was ich kontrollieren konnte. Wie lässt sich das »Ich habe Angst zu leben«-Chaos am besten beschreiben? Vielleicht als Angst vor Authentizität, Angst vor Schmerz, Angst vor Verlust und Tod. Womöglich hatte ich auch Angst, dass ich zusammenbrechen würde, sobald ich nicht mehr rannte. Angst vor der, die ich war.

Ich war so müde, so erschöpft. Ich konnte nicht mehr klar denken und wollte es auch nicht. Denken führte zu einer wunden Seele. Ich konnte nicht menschlich sein. Ich durchlebte etwas, das mir nie zuvor begegnet war. Mein Körper und mein Unterbewusstsein bestimmten über mich, so als habe meine Seele beschlossen, für eine Weile die Zügel zu übernehmen. Dann kamen die Albträume: Ich war wieder sieben Jahre alt und rannte um mein Leben. Wieder und wieder durchlebte ich das. Hätte ich doch nur von den gruseligen Monstern unter meinem Bett träumen können … Doch leider waren die wiederkehrenden Bilder dem wahren Leben entsprungen. Ich träumte von dem, was mir als kleines Kind widerfahren war.

Mir war klar, dass ich Hilfe brauchte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: aufgeben oder aktiv werden. Ich erinnere mich noch daran, wie ich ins Badezimmer ging und mich vor den Spiegel stellte. Ich blickte mir tief in die Augen. Ich sah in mein Innerstes. Als meine Augen sich mit Tränen füllten, verstand ich, dass das kleine Mädchen, das immer gerannt war, nie damit aufgehört hatte. Meinem eigenen Seelenheil zuliebe musste ich endlich damit aufhören und das verarbeiten, was ich erlebt hatte. Ich sagte laut: »Ich kann nicht mehr davonrennen. Ich will nicht mehr davonrennen. Ich will so nicht leben.« Und zum ersten Mal in meinem Leben bat ich um Hilfe. Um echte Hilfe.

Ich sitze auf dem Sofa in meiner Wohnung in Umeå in Schweden und sehe die Adoptionspapiere von mir und meinem Bruder durch, die mein Vater mir gegeben hat. Einen großen Stapel, den ich nun auf meinem Wohnzimmertisch ausgebreitet habe. Die eine Hälfte der Dokumente ist auf Schwedisch, die andere auf Portugiesisch. Vierundzwanzig Jahre lang lagen diese Papiere unberührt im Safe meines Vaters, ich habe nie danach gefragt. Dieses Bedürfnis habe ich nie verspürt. In diesen Dokumenten steht vermutlich nichts über mich, was ich nicht schon weiß, und nichts über mein Leben in Brasilien, an das ich mich nicht sowieso erinnern kann. Ich habe nie das Bedürfnis verspürt herauszufinden, wer ich bin, woher ich komme oder warum ich verlassen wurde. Ich weiß, wer ich bin und woher ich komme, und vor allem weiß ich, dass ich nicht verlassen wurde. Kidnapping ist vielleicht ein etwas heftiger Ausdruck, um unseren Adoptionsprozess zu beschreiben, doch so fühlte es sich streckenweise an.

Mein Bruder Patrick, oder Patrique José Coelho, wie er eigentlich hieß, da unsere leibliche Mutter ihn so genannt hatte, war bei unserer Ankunft in Schweden zu jung, um sich an irgendetwas aus der Zeit davor zu erinnern. In unserer schwedischen Familie wurde selten über diesen Abschnitt unseres Lebens gesprochen. Dafür gab es sicherlich zahlreiche Gründe, aber ich kenne nur meine eigenen. Ich weiß jedoch, dass mein Bruder sich nur an ein Detail aus seinem Vorleben in Brasilien erinnert: Er musste in einem Karton schlafen. Das stimmt. Ich war diejenige, die ihn in den Karton gelegt und versucht hat, ihn zu beruhigen. Das Faszinierende an Erinnerungen ist ja, dass manche für immer bleiben und andere nicht; manche verschwinden auf ewig, und andere kehren zurück. Ich habe es mehrfach versucht, aber ich kann mich nicht an die Zeit erinnern, als meine Mutter mit Patrick schwanger war. Als Kind stand mir das bestimmt noch klar vor Augen – wie der Bauch meiner Mama wuchs und ich mich auf die Ankunft eines kleinen Bruders oder einer kleinen Schwester freute. Ich weiß nicht, ob diese Phase meinem Gedächtnis entfallen ist, weil ich die meiste Zeit ohne meine Mutter auf der Straße verbracht habe, oder weil ich mich schlichtweg nicht daran erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass Patrick, mein kleiner Bruder, eines Tages in meinem Leben war und dass ich ihn vom ersten Moment an geliebt habe. Ich erinnere mich noch, wie ich mich auf der Straße um ihn gekümmert, wie ich ihn gefüttert, seine Stoffwindeln gewechselt und sichergestellt habe, dass er hin und wieder schlief. Ich weiß noch, dass er ein friedliches Baby war und selten schrie.

Ich war acht Jahre alt, als ich nach Schweden kam, und mein Bruder war knapp zwei. Wir sind Halbgeschwister. Wir haben dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter. In unseren Adoptionspapieren steht, wer Patricks Vater ist. Bei mir wurde das Feld Vater jedoch freigelassen. Ich frage mich, ob ich jemals herausfinden werde, wer mein leiblicher Vater ist. Es fühlt sich seltsam an zu sagen, Patrick und ich seien Halbgeschwister. Vielleicht liegt es daran, dass ich weder meinen noch Patricks Vater kenne. Weil unsere Väter beide abwesend waren, habe ich Patrick immer als meinen Bruder betrachtet. Gemeinsam adoptiert zu werden und neue Eltern zu bekommen hat unser Geschwisterband wahrscheinlich zusätzlich gestärkt. Wir wurden eine Familie, eine Familie, die nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch die äußeren Umstände, Zufälligkeiten und vielleicht noch ein Quäntchen Unerklärliches zusammengeführt wurde. In jedem Fall wuchsen wir zu einer Familie zusammen. Patrick war neugierig und stellte viele Fragen: »Woher komme ich?«, »Wer sind meine biologischen Eltern, und warum haben sie mich abgegeben?«. Solche Gedanken kamen mir nie. Ich fragte mich, wer mein leiblicher Vater sein mochte, aber ich hatte nie das Gefühl, dass seine Identität wichtig ist. Er war nicht da. So sah meine Normalität aus. Das Leben meines Bruders und meines waren unterschiedlich. Seine Biographie ist nahezu komplett schwedisch, meine sowohl brasilianisch als auch schwedisch. Wer von uns es einfacher oder schwerer hatte, ist dabei nebensächlich. Jeder von uns hat seine eigenen Sorgen, hat Schmerz, Freude und Glück auf seine eigene Art erlebt.

Gefühle sind nicht immer leicht zu verstehen oder zu beherrschen, und mein Verstand ist nicht immer stark genug, um die Stürme zu bändigen, die mich durchlaufen. Jetzt ist wieder so ein Moment, während ich hier sitze und die Adoptionsunterlagen anschaue.

Es ist spannend zu lesen, was meine Adoptiveltern alles über sich ergehen lassen mussten, bevor sie endlich die Kinder adoptieren und zu sich holen konnten, für die sie so lange gekämpft hatten. Sie haben zehn Jahre lang versucht eigene Kinder zu bekommen, bevor sie schließlich beschlossen, ein Kind zwischen einem und drei Jahren zu adoptieren. Schlussendlich bekamen sie zwei Kinder. Es gibt so viel Papierkram: Unterlagen von schwedischen Gerichten, von schwedischen Behörden, die für die öffentliche Gesundheit und soziale Belange verantwortlich sind, von dem Gericht in São Paulo und dann noch die Leumundszeugnisse für meine schwedische Mutter Lili-ann und meinen Vater Sture, die von ihren engsten Freunden und Kollegen verfasst wurden. Auch ein Brief meiner biologischen Mutter ist dabei, und es macht mich gleichzeitig froh und traurig, ihre Worte zu lesen. Froh, dass ich etwas über ihre Gedanken und Gefühle erfahren darf, traurig, dass sie nicht mehr bei mir ist. Ich wünschte, sie wäre an meiner Seite und würde mich bei meiner Aufarbeitung der Vergangenheit unterstützen. Ich bin eine unabhängige, erwachsene Frau, trotzdem zweifle ich, ob ich das kleine Kind in mir, das sie ständig vermisst und sich jeden Tag nach ihr sehnt, je hinter mir lassen werde. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, was es bedeutet, jemanden wirklich zu vermissen. Jemanden zu vermissen hängt nicht davon ab, wann man ihn zuletzt gesehen hat oder wie viele Stunden es her ist, dass man zuletzt miteinander sprach. Es sind die Momente, in denen man sich den anderen an seine Seite wünscht.

Als Teenager habe ich Mama einmal gefragt, wie sie und Papa reagiert haben, als sie herausfanden, dass sie Patrick und mich adoptieren durften. Mama sagte, sie hätten ewig auf das Schreiben gewartet, das die Erlaubnis zur Adoption eines Kindes bestätigen würde. Als der Brief dann kam und verkündete, in der näheren Auswahl stünde ein Geschwisterpaar, ein achtjähriges Mädchen und ein knapp zweijähriger Junge, verschwand Papa für zwei Tage im Wald. Mama sagte der Agentur sofort zu, obwohl sie hinsichtlich Stures Gefühlen etwas unsicher war. Als er nach Hause zurückkehrte und sah, wie aufgewühlt sie war, konnte er nur noch Ja sagen. Sture lächelt immer ein bisschen, wenn er behauptet, Mama hätte auch fünf Kinder aufgenommen, wenn die Agentur das vorgeschlagen hätte. Das finde ich schön, und ich bin mir sicher, dass Mama gleich eine ganze Fußballmannschaft willkommen geheißen hätte, wenn die Alternative darin bestanden hätte, kinderlos zu bleiben. Mama hat mir erzählt, dass sie ein Geschwisterpaar nie im Leben getrennt hätte. Und falls Sture und sie dieses Angebot abgelehnt hätten, wäre ihnen vielleicht kein weiteres Kind vorgeschlagen worden.

Ich lese weiter in den Unterlagen und verspüre einen Stich im Herzen. Da steht etwas, auf das ich nicht vorbereitet war.

Es gibt viele Dinge, an die ich mich nicht erinnere, aber ich weiß ganz bestimmt, dass meine biologische Mutter uns nicht geschlagen hat. Die Menschen haben uns fürchterlich behandelt, aber ich kann mich nicht entsinnen, dass meine Mutter sich ebenfalls fürchterlich verhalten hätte. Wir wurden vernachlässigt, das stimmt. Gemessen an schwedischen Verhältnissen werden alle Straßenkinder vernachlässigt, sogar wenn sie gute Eltern haben. Am stärksten reagiere ich jedoch auf etwas, das ich weiter unten in dem Schreiben lese: dass ich gesagt hätte, meine Mutter sei »bekloppt«. Ich wünschte, das würde nicht stimmen, aber ich weiß, dass ich das tatsächlich gesagt habe. Ich habe es gesagt, weil es damals so von mir erwartet wurde. Ich habe nie gedacht, dass meine Mutter irgendwie anders sei, aber wer weiß, vielleicht war sie das. Als Kind kann man schwer zwischen normalem und nicht normalem Verhalten unterscheiden. Ich weiß nur, dass ich sie geliebt habe und immer noch liebe – und dass es wehtut, diese Zeilen zu lesen, weil ich weiß, was wir zusammen durchgemacht haben. Ich frage mich, wer nicht bekloppt werden würde, wenn er jeden einzelnen Tag so viele verschiedene Kämpfe ausfechten müsste, einzig und allein, um zu überleben.

Ich lege die Adoptionspapiere beiseite und gehe einen Stapel alter Quittungen, Flugtickets und Hotelrechnungen durch, die Mama von der Reise nach Brasilien aufgehoben hat, als sie und Papa dorthin kamen und mich und meinen Bruder abholten. Ich suche nach Dokumenten, die mit meinem Aufenthalt im Kinderheim, meiner biologischen Mutter und meiner Nachbarschaft zusammenhängen. Nach und nach übersetze ich die Quittungen: eine Apothekenrechnung, die den Kauf von Milchpulver für Patrick belegt, eine Rechnung für den Kauf von Kinderkleidung und einige Restaurantrechnungen. Nichts davon ist das, wonach ich suche. São Paulo ist eine riesige Metropole mit über zweiundzwanzig Millionen Einwohnern und zahlreichen Favelas, wie man die Slums in Brasilien nennt. Herauszufinden, in welcher Favela wir gelebt haben, scheint unmöglich. Inmitten der Rechnungen finde ich ein weißes Blatt Papier, das ein bisschen knittrig und in der Mitte gefaltet ist. Ich falte es auseinander. In der oberen linken Ecke prangt ein Stempel des Gerichts in São Paulo. Ich erkenne Lili-anns Handschrift. Sie hat schnell ein paar Dinge über mich notiert: Christina wünscht sich ein anderes Leben.

Habe ich das gesagt? Mir wird plötzlich klar, dass man diese Aussage vermutlich nicht nur an Lili-ann und Sture, sondern auch an meine biologische Mutter Petronilia weitergeleitet hat. Mit einem Mal fällt mir das Atmen schwer. Nach allem, was meine biologische Mutter und ich miteinander durchgemacht haben, und trotz all der Liebe, die sie mir geschenkt hat, haben die brasilianischen Behörden ihr womöglich erzählt, dass ich von ihr getrennt werden wollte. Und das, obwohl die Wahrheit kaum gegenteiliger hätte sein können.

Während ich das lese, überkommt mich das Gefühl, dass ich sie finden muss. Ich möchte den guten Ruf meiner Mutter wiederherstellen und die Wahrheit erzählen, so wie ich mich daran erinnere. Die Dinge und unsere Liebe so darstellen, wie sie mir im Gedächtnis geblieben sind – Erinnerungen aus einer anderen Welt, einem anderen Universum. Weil es ein himmelweiter Unterschied ist, ob man sich dafür entscheidet, sich nicht um seine Kinder zu kümmern, oder ob man in einer Gesellschaft lebt, die den Schwächsten keine Ressourcen bietet, sich um die eigenen Kinder kümmern zu können.

Ich rufe beim örtlichen Gericht an und bitte um Kopien der Adoptionsunterlagen. Die Frau am Apparat verspricht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun. Drei Tage später liegt ein Brief mit den Kopien in meinem Briefkasten, anbei finde ich eine handschriftliche Nachricht: Viel Glück auf deiner Reise, Christina.

Höhlenmädchen

Brasilien, 1980er Jahre

Laut meiner brasilianischen Papiere wurde ich am 30. April 1983 geboren. Am siebenunddreißigsten Geburtstag des schwedischen Königs, der auf der anderen Seite des Atlantiks lebte, tausende Kilometer von der brasilianischen Stadt Diamantina entfernt, wo ich meine ersten Atemzüge tat. Als ich klein war, erzählte mir Mamãe (das ist der portugiesische Ausdruck für »Mutter«), dass ich im Wald geboren wurde und dass mein Vater indigen war. – Ich weiß nicht, ob das stimmt. Vielleicht hat sie die Geschichte ein wenig ausgeschmückt und versucht, die Dinge netter klingen zu lassen. Vielleicht wusste sie nicht, wer mein Vater war, oder vielleicht wollte er nichts mit uns zu tun haben. Ich habe ihre Erzählung immer gemocht und viele Jahre bewusst daran festgehalten. Ein Teil von mir wünscht sich immer noch, dass sie wahr ist. Ich erinnere mich gut daran, dass ich die ersten Jahre meines Lebens mit meiner Mutter in den Wäldern und Höhlen außerhalb von Diamantina verbracht habe.

Obwohl ich noch sehr klein war, als meine Mutter und ich im Wald lebten, ist mir vieles nachdrücklich im Gedächtnis geblieben. Ich weiß noch, dass wir in zwei verschiedenen Höhlen wohnten. Eine war in der Nähe einer staubigen roten Straße, die andere tiefer im Wald. Ich saß oft neben Mamãe, wenn sie Zweige und Palmwedel ineinanderflocht, um den Höhleneingang damit zu verdecken oder um Sitz- und Schlafmatten herzustellen. Ich habe gerne dabei zugesehen, wie ihre Finger geschickt arbeiteten und die Palmwedel zu Schutzwänden werden ließen. Mamãe wirkte so stark, und ich versuchte so viel wie möglich von ihr zu lernen.

Wir versteckten unsere Machete in einem Loch in der Höhlenwand und legten einen Stein davor, damit keine giftigen Tiere es sich darin bequem machten. Weder Mamãe noch ich wollten gebissen werden, wenn wir unsere Hand in das Loch steckten, um unsere Machete herauszuholen. Sie war unser wertvollster Besitz. Ohne sie wären wir komplett hilflos gewesen. Mamãe nutzte sie als Waffe, und wir brauchten sie auch, um uns einen Weg durch das dichte Grün des Waldes zu bahnen. Außerdem öffneten wir Nüsse damit und ernteten essbare Pflanzen – sie sicherte unser Überleben.

Ein Gürteltier und ein kleiner Affe waren meine Haustiere. Wobei das vielleicht nicht der richtige Begriff ist, weil sie nicht gerade zahm waren und wir natürlich auch kein Haus hatten. Das Gürteltier hielt ich mehr oder weniger gegen seinen Willen, und der Affe kam und ging, wie es ihm passte. Meine Beziehung zu dem Affen war eher einseitig. Er kam nur, um sich Futter zu holen, und bewarf mich mit Kieseln, Nüssen und allem, was er sonst noch in die Finger bekam. Sobald sein Hunger gestillt war, verschwand er wieder. Mamãe meinte, der Affe sei wie ein Mann, was ich damals nicht verstand. Ein Affe war ein Affe, ein Mann war ein Mann. Als ich sie danach fragte, lachte sie nur. Einmal fütterte ich den Affen und das Gürteltier gleichzeitig. Der Affe schnappte sich seine Frucht und zog ohne eine Dankesgeste ab. Ich könnte schwören, dass das Gürteltier dem Affen einen Blick zuwarf, der ausdrückte: Du glücklicher Affe, verschwinde, so schnell du kannst! Ich warf dem Gürteltier einen bösen Blick zu und wollte es hochnehmen, doch es rollte sich schnell zu einem harten kleinen Ball zusammen.

Mamãe sagte hin und wieder, man könne das Gürteltier einfach essen, wenn es zu mürrisch sei. Wenn sie dann mein Gesicht sah, lachte sie und meinte, sie mache nur einen Spaß. Aber falls ich meine Meinung ändern sollte, könnten wir das Tier jederzeit in den Kochtopf werfen. Ich verstand nicht, was daran witzig sein sollte, und wurde wütend, wenn Mamãe so etwas sagte. Ich aß gerne Fleisch, hatte jedoch noch nicht begriffen, was das eigentlich war. Als ich es schließlich verstand, wollte ich aus Protest darauf verzichten. Dieser kleine Akt der Auflehnung hielt jedoch nur kurz an, da wir arm waren und der Hunger immer das letzte Wort hatte. Aber mein Gürteltier war nicht zum Essen da. Ich gab ihm oft Insekten zu fressen, weil ich dachte, dass das keine Tiere seien. Einmal wurde ich so wütend auf das Gürteltier, dass ich das zusammengerollte Kerlchen heftig mit meinem bloßen Fuß trat. Diesen Fehler machte ich allerdings nur einmal: Der Schutzpanzer eines Gürteltiers ist hart wie Stein, und es tat wahnsinnig weh.

Mamãe brachte mir bei, welche Pflanzen ich essen konnte, welche Früchte und Beeren giftig waren und wie man Feuer macht. Sie lehrte mich, welche Tiere gefährlich und welche weniger gefährlich waren. Das hielt ein neugieriges Mädchen jedoch nicht davon ab, ständig in Schwierigkeiten zu geraten. Einmal pflückte ich Beeren von einem riesigen Busch. Sie waren gelb und nahezu so groß wie Tennisbälle. Mamãe hatte mir zwar klar verboten, die Beeren zu essen, aber der hungrige Magen einer Dreijährigen übertrumpfte alle Warnungen. Zu ihrem Entsetzen sah Mamãe, wie ich meinen Mund vollstopfte und zu kauen begann. Sie rannte zu mir und schrie, ich solle sofort die Beeren ausspucken. Ich kaute schneller und versuchte, noch rasch etwas herunterzuschlucken, bevor sie mich erreichte. Sie umfasste mein Gesicht und steckte hektisch ihre Finger in meinen Mund, um die Beerenreste herauszufischen. Es tat weh und ich begann zu weinen. Sie schrie, ich solle alles ausspucken, was ich auch tat. Etwas an ihrer Stimme zeigte mir, dass sie Angst hatte. Sie nahm mich auf den Arm, trug mich zu unserer Höhle und wusch meinen Mund mit Wasser aus. Während sie noch mehr Wasser über unserer behelfsmäßigen Feuerstelle aufkochte, fragte sie mich immer und immer wieder, ob ich die Beeren heruntergeschluckt hatte. Ich schüttelte den Kopf, fühlte mich jedoch zunehmend unwohl. Mamãe fluchte und gab getrocknete grüne Blätter in das kochende Wasser. Sie rührte um und goss das Gemisch dann in die braune kanuförmige Pflanze, die wir als Trinkgefäß benutzten. Sie herrschte mich an, ich solle alles austrinken. Es schmeckte bitter. Dann fragte sie, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte bloß den Kopf, und wenig später begannen die Bauchschmerzen. Den restlichen Tag und die ganze Nacht über hatte ich heftige Magenkrämpfe und trank immer wieder etwas von Mamães Medizinwasser. Danach habe ich nie wieder Beeren gegessen, von denen Mamãe sagte, dass sie giftig seien.

Ich bin oft auf den Hügel über unserer Höhle geklettert und ließ meine Beine über den Rand baumeln. Von dort aus hatte ich einen tollen Blick über die Berge, den Wald, die unbefestigten Straßen, das Wasser und den Himmel. Ich fand das alles wunderschön. Von meinem Sitzplatz aus konnte ich die hohen Berge sehen, die unsere Höhle umgaben. Wohin ich auch sah, erblickte ich Grün. Der Himmel war meist hellblau, und das Wasser floss munter über die Steine. Die einzigen Geräusche kamen aus dem Wald von den Grillen und den anderen Tieren, die dort lebten. Ein paar Mal hörte ich auch Motorengeräusche von Autos, die über die staubigen Straßen in der Nähe fuhren. Die einzigen Stimmen gehörten jedoch Mamãe und mir. Manchmal saß ich alleine auf dem Hügel, und manchmal gesellte sich Mamãe zu mir und ließ ihre Beine ebenfalls über den Rand baumeln, während sie mir Geschichten erzählte. Meistens war es warm und windstill. An manchen Tagen war keine einzige Wolke am Himmel, an anderen konnten wir große, fluffige Zuckerwattewolken sehen.

Einmal saßen wir dort oben, und ich beobachtete die Wolken und dachte darüber nach, dass ich eines Tages mit Mamãe auf einer von ihnen sitzen würde. Ich stellte mir vor, wie wir dort hocken und nach unten schauen würden: auf den Wald, das Wasser und Brasilien. Ich würde Mamães Hand halten, und dann würden wir von Wolke zu Wolke springen. Ich weiß noch, dass ich ihr damals sagte, wie gerne ich mit ihr auf den Wolken sitzen würde. Und sie antwortete, sie wisse nicht, ob das möglich sei, wolle es aber bestimmt versuchen. Eines Tages würden Mamãe und ich fliegen.

Mamãe erzählte Geschichten über Tiere, Engel und Gott. Ich hörte aufmerksam zu und stellte tausende Fragen. Manchmal kam es mir so vor, als wolle sie mir ein bisschen Angst einjagen. Zum Beispiel, als sie mir von einer Kuh erzählte, die von einer Anakonda verschluckt worden war.

In der Nähe unserer Höhle befand sich die Farm eines Bauern. Eines Tages führte er seine Kühe zum Teich, um sie dort weiden zu lassen und zu tränken. Sein angenehmes Mittagsschläfchen im Schatten wurde jäh davon unterbrochen, dass die Kühe in Panik davonstoben. Nur eine blieb zurück. Sie stand am Rand des Wassers und bewegte sich eigenartig vor und zurück. Der Bauer ging näher an das Tier heran und sah, dass eine riesige Anakonda sich in das Gesicht der Kuh verbissen hatte. Er wagte es nicht, einzugreifen und zu helfen. Also konnte er nur zusehen und beobachtete über Stunden, wie die Schlange die Kuh so weit erschöpfte, dass sie keine Gegenwehr mehr leisten konnte und schließlich kraftlos zusammenbrach. Dann wand sich die riesige Schlange um den Leib der Kuh und der Bauer konnte hören, wie ihre Knochen unter dem Druck zerbrachen. Zu guter Letzt verschluckte die Anakonda die Kuh, angefangen am Kopf.

Mamãe sah zu mir hinüber, als sie die Geschichte beendete, und sagte, man wisse nie, was sich im Wasser verberge.

Ich widersprach und behauptete, dass eine Schlange niemals eine komplette Muh-Kuh essen könne. Oder? Denn das würde ja auch bedeuten, dass sie mich verschlucken könnte, oder? Mamãe meinte, ich sei wahrscheinlich ein echter Leckerbissen, und jede Schlange könne sich glücklich schätzen, mich zu essen. »Aber Mamãe, wenn mich eine Schlange frisst, werde ich dann nicht zu Kacka?«, fragte ich. Mamãe lachte und sagte, ja, genau das würde ich.

Ich wollte schlicht nicht glauben, dass Mamães Geschichte von der Kuh und der Schlange wahr war, aber ihre Warnung wirkte: Ich war von da an immer sehr vorsichtig beim Schwimmen – und bin es bis heute.

Unsere Zeit in den Höhlen war meistens schön. Die Erinnerungen daran verfolgen mich nicht. Unsere größten Herausforderungen waren das Beschaffen von Essen, der Hunger, wenn wir nichts fanden, und nicht von giftigen Schlangen, Spinnen oder Skorpionen attackiert zu werden. Ich weiß noch, wie ich einmal mitten in der Nacht aufgewacht bin, weil ein riesiger giftiger Tausendfüßler mein Bein hochkrabbelte. Ich wischte ihn lässig beiseite und schlief wieder neben meiner Mutter ein. Ich fühlte mich sicher und warm. Was auch immer Mamãe tat, tat ich auch. Meistens spielte ich mit Kaulquappen und allen anderen Tieren, die ich fand.

Einmal entdeckte ich ein Vogelnest in der Höhle. Ein kleines Vögelchen saß darin und zwitscherte aufgeregt. Mamãe meinte, dass die Vogelmutter nicht zurückkäme, weil sie Angst vor uns habe. Ich befand, wir müssten den kleinen Vogel retten. Mein Wunsch, ihn zu beschützen und ihm zu helfen, war übermächtig stark. Der kleine verlassene Vogel war mein Ein und Alles. Er hatte einen orangefarbenen Schnabel und rosafarbene Haut, die durch seine schwarzen Daunen hindurchschimmerte. Ich taufte den Vogel Fläumchen. Fläumchen quiekte und öffnete und schloss seinen Schnabel. Mamãe erklärte mir, dass der Vogel hungrig sei. Also holte ich ein wenig Reis aus der alten Farbdose, die Mamãe zum Kochen benutzte. Ich versuchte den Vogel mit gekochtem Reis zu füttern. Doch mein Bemühen blieb ohne Erfolg. Mamãe nahm Fläumchen vorsichtig aus meiner Hand, zerquetschte einen Käfer und fütterte den kleinen Vogel damit. Ich freute mich riesig, Fläumchen essen zu sehen. Als ich fragte, ob er überleben würde, meinte meine Mutter, sie wisse nur, dass er irgendwann sterben würde, zum jetzigen Zeitpunkt jedoch lebendig wirke und alles gut sei. Als ich fragte, ob wir sterben würden, meinte sie, wir würden immer zusammenbleiben.

Das war zwar keine richtige Antwort auf meine Frage, aber eigentlich war mir nur wichtig, dass wir immer zusammen sein würden. Ich wusste nicht so genau, was »sterben« eigentlich bedeutete. Mir war nur klar, dass es irgendetwas mit Abschied und sich nicht mehr sehen war. Wenn ich die Augen schloss, kam ich mir manchmal wie die einzig Lebende vor, weil ich ja niemand anderen mehr sah. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte und fühlte, dass Sterben nichts Gutes ist.

Mamãe sagte mir fast immer die Wahrheit, ganz gleich wie schlimm sie war. Arme Leute wie wir konnten es sich nicht leisten, sich davor zu verschließen. »Ohne die Wahrheit können wir nicht überleben«, sagte Mamãe oft. Wir konnten uns davonträumen, von einem schönen Haus, warmen Betten, Essen und so weiter träumen, aber wir mussten diese Träume und die Realität strikt voneinander trennen. Fakt war, dass wir niemals ordentliche Bürger sein und die anderen Leute uns immer als »Ratten« sehen würden. Je schneller man das akzeptierte, desto besser standen die Überlebenschancen.

Wenn ich als Erwachsene darüber nachdenke, wird mir klar, dass meine Mutter mir nie etwas vorgemacht hat, gleichzeitig jedoch alles so gut und vorsichtig erklärte, wie sie konnte. Sie erzählte mir immer die Wahrheit, und so habe ich mich immer geliebt gefühlt. Sie sah mich, wie ich war, und nahm meine Einfälle ernst. Wer weiß, wie anders das gewesen wäre, wenn wir Geld, ein schönes Zuhause mit einem Vater und all den Annehmlichkeiten, die die Leute als »unverzichtbar« bezeichnen, gehabt hätten. Unser Alltag sah jedoch anders aus, und zumindest zum damaligen Zeitpunkt fand ich es nicht weiter schlimm, kein Zuhause, sondern nur eine Höhle zu haben. Versteht mich nicht falsch: Das Leben war extrem hart für uns, und ich glaube nicht, dass irgendjemand so aufwachsen sollte. Wir kämpften um unser Überleben, und wenn wir nach Diamantina gingen und auf der Straße schliefen, waren wir mehr als verwundbar. Aber die Höhle bot Sicherheit. Ich spielte meistens, und wenn ich nicht spielte, half ich meiner Mamãe, Essen und Geld zu beschaffen. Ich holte Wasser und machte Besen aus Zweigen und Palmwedeln, mit denen ich fegte und saubermachte. Ich pflückte Blumen und suchte nach Essen. Ich kannte es nicht anders. Das war mein Alltag.

Ich weiß noch, wie toll ich es fand, als Mamãe mir beibrachte, eine richtige Schleuder zu bauen und damit Beute zu erlegen. Es dauerte lange, bis ich es meisterte, aber dann wurde ich ziemlich gut im Umgang mit der Schleuder. Einmal habe ich einen kleinen gelben Vogel mit schwarzem Muster auf den Flügeln abgeschossen. Als ich ihn vom Boden aufhob, fühlte ich mich schlecht. Doch das Gefühl verging, als ich sah, wie stolz meine Mutter war. Mit einem Mal war auch ich stolz auf meine Leistung. Wir aßen den Vogel zum Mittagessen. Mamãe garte ihn über unserer kleinen Feuerstelle. Nachdem sie die Federn ausgerupft hatte, war der Vogel nur noch halb so groß. An seinem kleinen Körper befand sich kaum Fleisch. Wir aßen einige Früchte, Beeren und Nüsse dazu, und Mamãe witzelte, dass ich wohl bald auf Jaguarjagd gehen würde. Nach dem Essen räumte Mamãe auf, dann spielten wir Indianer. Mamãe steckte mir einige der gelben Federn ins Haar. Sie blieben ohne Mühe darin, sie musste sie nur tief genug in meine Locken drücken.

Meine Erinnerung an Schleuder, Vogel und Indianerspiel werte ich als Beweis dafür, wie wichtig es ist, sich seiner Ziele, Stärken und Belohnungen bewusst zu sein. Als Erwachsene denke ich jedes Mal daran zurück, wenn ich vor einer schwierigen Aufgabe stehe, die mir Bauchschmerzen bereitet.

Eines Tages fuhren Mamãe und ich per Anhalter aus Diamantina zurück. Der Fahrer hielt, um uns aussteigen zu lassen, und wir bedankten uns fürs Mitnehmen. Dann folgten wir dem ausgetretenen kleinen Pfad in Richtung unserer Höhle. Als wir dort ankamen, sahen wir, dass einige Kühe vor dem Eingang standen. Sie wirkten weniger überrascht, uns zu sehen, als wir es waren. Zwei Kühe hatten unsere Reissäcke entdeckt. Sie hatten das Plastik zerkaut und die Hälfte des Inhalts gefressen. Als Mamãe das sah, begann sie zu schreien. Sie hob einige große Äste vom Boden auf und begann die Kühe zu schlagen. Mir fiel auf, dass sie gleichzeitig schrie und weinte, also nahm ich ebenfalls einen Ast zur Hand und ging zu ihr. Sie brüllte jedoch, ich solle fortbleiben, damit mich die Kühe nicht zertrampelten. Sobald die Tiere fort waren, ging sie zu den Reissäcken, ließ sich daneben auf die Erde sinken und schluchzte laut auf. Ich ging zu Mamãe hinüber und streichelte ihr Haar, so wie sie meins immer streichelte, wenn ich traurig oder krank war. Sie umarmte mich und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und hätte keinen Grund, Angst zu haben. Ich war jedoch das reinste Nervenbündel. Mir war traurig zumute, weil ich wusste, wie schwer es gewesen war, genug Geld für den Reis zusammenzukratzen, und wie wichtig er für unser Überleben war. Ich ließ mich neben Mamãe nieder und sah, dass der Boden mit kleinen Reiskörnern bedeckt war. Mamãe hob jedes einzelne Korn auf, und ich half ihr dabei. Schnell fiel mir auf, dass es nahezu unmöglich war, die Reiskörner aufzulesen, ohne einen Haufen Erde mitzunehmen. Mamãe meinte, das sei nicht so schlimm, wir könnten den Reis abwaschen. Wir schütteten den Reis zusammen mit der Erde und dem Schmutz, den wir nicht ablösen konnten, in die Säcke zurück. Mamãe trug die Säcke in unsere Höhle und versteckte sie vor weiteren ungebetenen Gästen, die vielleicht noch vorbeischauen würden.

Ich kann mich an viele Male erinnern, die wir unseren kleinen Hügel hinaufgingen und auf der anderen Seite abstiegen, um zu einem kleinen Bach zu gelangen, wo wir uns wuschen und Wasser holten. Nachdem wir dort angekommen waren, baute Mamãe oft eine kleine Feuerstelle. Dann füllte sie die große Farbdose mit Wasser und hängte sie über die Flammen. Ein großer Baumstamm quer über dem Bach diente uns als Brücke. Der Baum lag vermutlich schon sehr lange dort und war von grünem Moos und kleinen Pflanzen überzogen. Während Mamãe das Wasser kochte, rannte ich immer wieder zu dem Baum und suchte nach etwas, mit dem ich spielen konnte. Plötzlich registrierte ich eine Bewegung. Ein seltsames kleines Tier mit zwei winzigen Klauen vorne und mehreren Beinchen am Rand des Körpers war dort, seinen Schwanz hatte es aufgerollt. Ich stand eine Weile da und beobachtete es. Das Tier bewegte sich vorsichtig und drehte sich dann zu mir um. Ich lehnte mich langsam nach vorne, um es nicht zu erschrecken, und streckte meine Hand aus, um meinen neuen Freund hochzunehmen. Dann hörte ich Mamães Schrei: »Christiana, nein!« Ich nahm die Angst in ihrer Stimme wahr und hielt augenblicklich inne. Mamãe rannte mit erhobenem Flip-Flop in der Hand zu mir, und bevor ich etwas tun konnte, drosch sie auf meinen neuen Freund ein. Die Vorderseite war zerquetscht, aber seine Hinterbeine und sein Schwanz bewegten sich noch eine Weile. Sein Schwanz stach wild in die Luft, bis Mamãe noch einmal darauf einhieb. Ich war starr vor Angst. Mamãe atmete tief aus, zog mich an sich und umarmte mich fest. Sie erklärte mir, dass das Tier ein Skorpion war, dass es gefährlich war und seine Beute mit seinem Schwanz stach. Es hätte mich vergiften und töten können. Ich beschloss, niemals wieder mit einem Skorpion zu spielen.

Wenn der Wald uns nicht genug Nahrung bot, fuhren wir per Anhalter nach Diamantina. Mamãe pflückte allerlei Pflanzen, und ich suchte nach einer bestimmten Blumenart. Die Stiele waren lang, grün und angenehm weich. An der Spitze befand sich etwas, das aussah wie ein grünes Nadelkissen mit winzigen weißen Blüten an den Enden. Das wollten wir in Diamantina verkaufen. Ich weiß nicht, ob die Blumen zu etwas nütze waren. Es waren bestimmt nicht die schönsten Blumen im Wald, und ich nehme an, dass wir sie aus einem anderen Grund pflückten. Vielleicht waren es die einzigen, die den langen Weg in die Stadt unbeschadet überstanden.