Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. So fing es an
  8. HERBST
    1. 1
    2. 2
    3. 3
    4. 4
    5. 5
    6. 6
    7. 7
    8. 8
    9. 9
    10. 10
    11. 11
    12. 12
  9. WINTER
    1. 13
    2. 14
    3. 15
    4. 16
    5. 17
    6. 18
    7. 19
  10. FRÜHLING
    1. 20
    2. 21
    3. 22
    4. 23
    5. 24
    6. 25
    7. 26
    8. 27
    9. 28
  11. SOMMER
    1. 29
    2. 30
    3. 31
    4. 32
    5. 33
    6. 34
    7. 35
    8. 36
    9. 37
    10. 38
    11. Und dann
  12. DANKSAGUNGEN

Über dieses Buch

Evvie sitzt schon im heimlich gepackten Auto, um ihren Mann zu verlassen, da erfährt sie, dass er tödlich verunglückt ist. Doch wie sagt man der trauernden Familie, den mitfühlenden Freunden, dass dieser Mann nicht der perfekte Ehemann, Arzt, Freund war? Dann zieht Dean, ein New Yorker Baseballstar auf der Flucht vor der Presse, bei Evvie ein. Erste Regel der WG: Ihre Ehe und seine Karriere sind tabu. Bis sie merken, dass der jeweils andere genau der ist, den sie jetzt für einen Neuanfang brauchen …

Über die Autorin

Linda Holmes ist Podcasterin, Autorin, Radiomacherin, Interviewerin, ehemalige Anwältin, A capella-Sängerin (wenngleich nur ein einziges Mal im College), gelegentliche Brotbäckerin, Amateurfotografin, kurz: eine Verrückte (wie sie selbst von sich sagt), die im Leben sehr viel Glück gehabt hat.

Linda Holmes

WEIL
ALLES
JETZT
BEGINNT

Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von
Alexandra Kranefeld

Für Nona, die mich stets sah.

So fing es an

Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du es niemals tun, ermahnte sich Evvie.

Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, wollte sie weg sein. Sicher, das war feige, aber sie hatte wirklich keine Lust auf das ganze Theater, dieses Riesendrama, das er daraus machen würde. Ihn ohne jede Vorwarnung zu verlassen sei doch wohl ein wenig übertrieben, würde er sagen und hätte nicht ganz unrecht damit. Warum jetzt, würde er fragen, nach all der Zeit? Er würde nicht wissen, dass Evvie heute auf den Tag genau die Hälfte ihres Lebens mit ihm zusammen war. Sie hatte es selbst nicht gewusst, bis sie es vor ein paar Monaten auf der Rückseite eines Kassenzettels ausgerechnet und das Datum auf dem Wandkalender rot eingekreist hatte. Jeden Tag war er mehrmals daran vorbeigelaufen und hatte sie kein einziges Mal danach gefragt. Sie wusste, wenn sie diesen Tag verstreichen ließ, würde sie anderweitig verschwinden, würde sich auflösen Zelle für Zelle, und von einer Person ersetzt werden, die nur noch oberflächliche Ähnlichkeit mit ihr besaß, die aber nicht sie war.

Sie knallte den Kofferraum ihres Hondas zu und verstaute den dicken Umschlag mit Bargeld im Handschuhfach. Letzteres mochte tatsächlich etwas übertrieben sein, denn Tim würde ihr wohl kaum alle Konten und Kreditkarten sperren. Aber für den Fall, dass sie ihn doch nicht so gut kannte wie gedacht – und ihr Leben bestand erwiesenermaßen aus einer ganzen Reihe solcher Unvorhersehbarkeiten –, würde sie das Geld brauchen. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass sie bei dem Versuch, seine Reaktionen vorherzusehen, böse auf die Nase fiele.

Sie kehrte ins Haus zurück und holte schnell noch den alten blauen Hartschalenkoffer aus der Kammer im Flur, der über und über mit bunten Aufklebern bedeckt war: PARIS, LONDON, ROM. Er war nicht schwer, und im Innern klapperte es, als sie ihn die Verandatreppe hinuntertrug und auf den Rücksitz verfrachtete. Der leichte Klang ihrer Schritte auf der Einfahrt entlockte ihr ein Lächeln.

Alles konnte sie sowieso nicht mitnehmen, also stieg sie ein, zog die Autotür hinter sich zu, lehnte sich einen Moment zurück und schloss die Augen. Ich verlasse ihn wirklich. In ein paar Stunden würde sie in irgendeinem billigen Hotel mit kratziger Bettwäsche und Kabelfernsehen sein. Sie würde sich eine Flasche Wein kaufen, sich im Bett fläzen und so lange lesen, wie sie wollte. Aber dann begann sie sich zu fragen, was sie morgen tun würde und am Tag danach, und weil sie sich solche Fragen gerade gar nicht leisten konnte, gab sie sich einen Ruck und stieg aus, um noch eine letzte Runde durchs Haus zu drehen und auch den Rest ihrer Sachen zu holen. Da klingelte ihr Telefon.

Der Klingelton, ein metallisch scheppernder Akkord, der einer elektronischen Harfe ähnelte, ließ sie jedes Mal kurz zusammenzucken. Der Anruf kam aus der Klinik in Camden, wo Tim manchmal die Ambulanzsprechstunde übernahm. Jetzt mit ihm zu sprechen war keine gute Idee, aber sie musste wissen, ob er womöglich früher nach Hause kam.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Eveleth Drake?«

Es war nicht Tim.

»Am Apparat.«

»Mrs. Drake, hier spricht Colleen Marshall, ich bin Krankenschwester am Camden Hospital. Dr. Drake wurde vor einer halben Stunde bei uns in der Notaufnahme eingeliefert, er hatte einen Autounfall.«

Evvies Herz tat einen Sprung, der sich bis in ihre Fingerspitzen fortsetzte. Den Bruchteil einer Sekunde erwog sie, Schwester Colleen zu sagen, sie solle sich an Tims Eltern wenden, da sie nämlich gerade im Begriff sei, ihn zu verlassen.

»Oh mein Gott«, sagte sie stattdessen. »Wie geht es ihm?«

Die nachfolgende Pause dehnte sich so lang, dass im Hintergrund zu hören war, wie einer der Ärzte ausgerufen wurde. »Sein Zustand ist kritisch. Sie sollten so bald wie möglich kommen. Wissen Sie, wie Sie uns finden?«

»Ja«, brachte sie hervor. »Ich kann in … in zwanzig Minuten da sein.«

Evvies Hände zitterten, als sie Andy eine Nachricht schrieb. Tim hatte Autounfall, Zustand kritisch, fahre jetzt zum Camden Hospital. Kannst du meinem Vater Bescheid geben?

Dann ließ sie den Motor an, setzte den Wagen zurück und fuhr Richtung Camden. Wie sie später dem ärztlichen Bericht entnahm, war er vermutlich in dem Moment gestorben, als sie an der Chisholm Street auf Grün wartete, nur einen Block entfernt von der Kirche, in der sie getraut worden waren.

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1

Evvie lag im Dunkeln auf dem Boden der kleinen Wohnung, die in dem hinteren Anbau untergebracht war, der vom Haus hinaus in den Garten ragte. Sie lag dort, weil sie oben in ihrem Bett wieder mal davon geträumt hatte, Tim wäre noch am Leben.

Von Evvies skandinavischer Großmutter stammte die wenig erbauliche Weisheit, dass junge Frauen von den Männern träumten, die sie sich zum Ehemann wünschten, alte Frauen von den Männern, die sie gerne gehabt hätten, und irgendwo dazwischen sei nur ganz wenigen Frauen das Glück beschieden, von den Männern zu träumen, mit denen sie tatsächlich verheiratet waren. So wenig Spielraum ihr das schon ließ, dürften Evvies Träume von Tim kaum den Vorstellungen ihrer Nana entsprechen.

Er war immer noch wütend, weil sie ihn hatte verlassen wollen. Siehst du, was du angerichtet hast? Diesmal war er ihr so nah gewesen, dass sie jedes Mal, wenn er ihr diesen einen Satz wieder und wieder entgegenschleuderte, seinen Kaugummiatem im Traum hatte spüren und das Pochen der Ader an seiner Schläfe hatte sehen können. So lebendig war er ihr erschienen, dass sie Angst hatte, er würde noch immer da sein, wenn sie sich auf die andere Seite drehte und wieder einschlief. Also hatte sie die zerwühlten Decken zurückgeworfen und war nach unten gegangen. Das Haus, das sie immer schon zu groß für sie beide gefunden hatte, kam ihr nun, da sie allein war, riesig vor. Und wie sie die weit geschwungene Treppe hinuntertapste, beschlich sie einmal mehr das Gefühl, fremd im eigenen Haus zu sein, als schleiche sie sich spätabends hinunter an die Hotelrezeption, um nach zusätzlichen Handtüchern zu fragen. In der Küche hatte sie Wasser für Tee aufgesetzt, war dann hinüber in den Anbau gegangen, hatte sich auf dem Boden ausgestreckt und wartete darauf, dass das Wasser kochte.

Als sie das Haus gekauft hatten – oder besser gesagt als er das Haus gekauft hatte –, war der Plan gewesen, die kleine Wohnung zu vermieten. Aber irgendwie waren sie nie dazu gekommen, sich wirklich darum zu kümmern, und irgendwann hatte Evvie die Wände in einem hellen Taubenblau gestrichen und sich dort ihr eigenes Nest geschaffen. Noch immer hielt sie sich am liebsten nebenan auf, und sollte Tims Geist nicht plötzlich anfangen, auch hier herumzuspuken und an den Luftbläschen herumzumäkeln, die den Farbauftrag verunzierten, und ob sie das nicht besser noch mal sauber überstreichen wolle, würde sich daran wohl nichts ändern.

Nett, hatte sie gedacht, als der Gedanke sich das erste Mal in ihren Kopf geschlichen und sofort dort eingenistet hatte. Willkommen im schaurigsten Schmierentheater von Maine! Heute präsentieren wir einen Sketch, in dem der Geist meines verstorbenen Ehemanns sich als totales Arschloch entpuppt und ich mich als Monster.

Jetzt war es kurz nach vier Uhr morgens. Sie lag in T-Shirt und Boxershorts flach auf dem Rücken und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen, um sich zu beruhigen. Das Pochen ihres Pulses war bis in die Schläfen zu spüren, im Bauch, an ihren flach aufliegenden Handgelenken, von wo es sich auf den Boden zu übertragen schien. Im Haus war es stickig und still. Außer dem steten Ticken der Küchenuhr, die seit über dreißig Jahren ihren Dienst versah – erst im Haus ihrer Eltern und jetzt in ihrem –, war nichts zu hören. In der dunklen, leeren Wohnung fühlte sie sich jedoch so der Zeit enthoben, dass sie überhaupt nichts spürte, nur das leise Kitzeln des Teppichs auf ihrer Haut, als würde sie auf der nackten Erde liegen.

Immer mal wieder spielte Evvie mit dem Gedanken, hier richtig einzuziehen. Dann könnte jemand anders das Haus haben mit seiner riesigen Küche, den überzähligen Zimmern im ersten Stock und der herrschaftlichen Treppe, deren Stufen so glatt waren, dass sie einmal darauf ausgerutscht war und sich eine schlimme Prellung an der Hüfte zugezogen hatte. Sie könnte hier leben, lang auf dem Rücken ausgestreckt im Dunkeln liegen, sich all ihren düsteren Gedanken hingeben und Erdnussbuttersandwiches essen, und das kleine, batteriebetriebene Transistorradio wäre ihr einziger Draht zur Welt. Wie ein immerwährender Stromausfall.

Aus der Küche pfiff der Wasserkessel, und sie stand auf, um ihren Tee aufzugießen. Aus dem Küchenschrank nahm sie eine der beiden NPR-Tassen und ließ die andere, auf der sich schon eine dünne Staubschicht angesammelt hatte, umgedreht an ihrem Platz. Eine Tasse Tee hat noch jedes Problem gelöst stand auf dem Anhänger ihres Kamillenteebeutels. Ein Satz, wie ihn einer der Gentlemen aus Downton Abbey hätte sagen können, ehe seine Gattin von Zahnschmerzen geplagt ohnmächtig ins Plumeau sank.

Kleine Wellen in den heißen Tee pustend, ging Evvie mit ihrem dampfenden Becher ins Wohnzimmer und kuschelte sich in den dunkelgrünen Zweiersessel. Eine an Tim adressierte Sports Illustrated ragte aus dem Stapel Post auf dem Couchtisch, und in dem schmalen Lichtschein, der aus der Küche fiel, blätterte sie ein wenig darin. Das Ende der Baseballsaison und der Beginn der Footballsaison, ein Feature über eine Turnerin, die ihre Karriere beendete, um Ärztin zu werden, und eines über einen Pitcher der Yankees, der eines Morgens aufgewacht war und nicht mehr werfen konnte. Der letzte Bericht war ziemlich groß aufgemacht mit einer fetten Überschrift: Vom Spielfeld zur Fallstudie – das Ende einer Karriere. »Für den Fall der Fälle«, murmelte sie, klappte die Zeitschrift wieder zu und ließ sie ganz zuunterst im Stapel verschwinden.

Die Uhr auf der Kabelbox zeigte jetzt 4:23 Uhr. Evvie schloss die Augen. Bald ein Jahr war seit Tims Tod vergangen, und noch immer war sie an den meisten Tagen zu fast nichts imstande, weil ihre Zeit und Energie dafür draufgingen, ihn nicht zu vermissen. Ganze Räume ließen sich füllen mit dem Gefühl, als Einzige zu wissen, dass sie ihn kaum noch geliebt hatte, während sie in der letzten Nacht seines Lebens seinem leisen Schnarchen lauschte. Du Monster, hielt sie sich vor. Monster, Monster, Monster.

2

»Lilly hat ihre Milch auf den Boden geschmissen.« Andy machte eine Pause, um einen Schluck Kaffee zu trinken. »Und ich habe jetzt den Stress mit ihrer Lehrerin.«

Seit Andys Scheidung vor vier Jahren trafen er und Evvie sich jeden Samstag zum Frühstück im Compass Café und hatten diesen Termin noch kein einziges Mal ausfallen lassen. Manche Männer hätten sicher ein Problem damit gehabt, aber Tim war es ganz recht gewesen. »Dann komme ich mal dazu, in Ruhe zu arbeiten. Solange du dich bei ihm nicht über mich beschwerst, meinetwegen«, so seine Worte.

Andy nahm immer das Omelett mit Käse und Schinken, Evvie die Blaubeerpfannkuchen mit einer Extraportion gebratenem Speck und ein großes Glas Orangensaft. Bei zwei Kannen Kaffee ließen sie die vergangenen Wochen Revue passieren und redeten über alles, was ihnen gerade so in den Sinn kam. Das Café füllte und leerte sich und füllte sich erneut, und sie orderten noch mal frischen Kaffee. Manchmal saßen sie auch nur schweigend da und beobachteten die Touristen oder hielten einen kleinen Plausch mit Bekannten, die an ihrem Tisch vorbeikamen und eine Bemerkung übers Wetter fallen ließen oder sich nach Andys kleinen Töchtern erkundigten. Seit ungefähr einem Jahr reckte man zudem verstohlen die Hälse, um einen Blick auf Evvie zu erhaschen und sich aus höflicher Distanz zu vergewissern, dass der tragische Tod ihres Mannes sie nicht zu einem Schatten ihrer selbst hatte werden lassen, zu einem Häufchen Elend, das seine Zeit damit verbrachte, Tims Lieblingshemd fest an sich gedrückt leise traurige Lieder zu summen.

»Warum hat Lilly denn ihre Milch auf den Boden geschmissen?« Lilly war die jüngere von Andys Töchtern und hatte gerade mit der Vorschule angefangen.

»Gute Frage. Ihre Lehrerin meinte, sie habe es ohne jede Vorwarnung getan. Und dabei geschrien: ›Milch ist flüssiger Joghurt!‹«

Evvie musste schmunzeln. Sie konnte es sich sehr lebhaft vorstellen, einschließlich des wutentbrannten Gesichts, mit dem Lilly praktisch schon zur Welt gekommen war. »Man kann es ihr kaum verdenken.«

»Die Lehrerin meinte also, sie hätte dafür einen Verweis bekommen, und ich erwiderte, kein Problem, und dann sagte sie: ›Es wäre gut, ihr auch zu Hause etwas Respekt beizubringen.‹ Darauf ich dann: ›Respekt vor Ihnen?‹ Und sie: ›Das auch, aber ich meinte Respekt vor fremdem Eigentum.‹ Und da hab ich mich ernsthaft gefragt, reden wir jetzt wirklich darüber, dass ich meiner Tochter Respekt vor Milch beibringen soll? Weil ich wüsste nicht, was sie sonst gemeint haben könnte. Oder an was denkst du bei Respekt vor fremdem Eigentum?«

»An Kapitalismus?«

»Wäre auch eine Möglichkeit. Ich arbeite auf jeden Fall dran und versuche Lilly jetzt mehr Respekt für ihre Lehrerin beizubringen. Und für Milch.«

»Wäre das dann so etwas wie Lactosetoleranz? Gibt es das?«

»Nö.« Andy winkte zum Zeichen, dass sie Nachschub bringen sollte, mit seinem leeren Kaffeebecher nach Marnie, einer jungen Mutter mit lila Strähne im Haar und seit Jahren ihre Stammbedienung. »Als sie klein war, hat sie wie wild gebissen, aber wo das jetzt wieder herkommt, ich weiß es nicht. Selbst wenn sie mit einem kuscheln will, ist es schiere Gewalt. Kürzlich habe ich sie hochgehoben, und sie brüllt: »Dad! Los, umarm mich!« Und das in einer Lautstärke, dass dir das Trommelfell zerspringt. Sehr herrisch und bestimmend, ein bisschen wie …«

»Jerry Orbach.«

Er runzelte die Stirn. »Aus Dirty Dancing

»Law & Order

»Gut, dann Jerry Orbach.« Er überlegte. »Was ich damit sagen will: Sie hat ihren eigenen Kopf, was ja gut ist, aber es kann ihr, wie man sieht, auch eine Menge Ärger einbringen, und ich wage mir kaum vorzustellen, wie das erst in ein paar Jahren wird.«

Evvie grinste. »Könnte spannend werden, wenn sie in die Pubertät kommt.«

»Dann darf sie zu dir ziehen.«

»Oh nein. Ich übernehme Jungs- und Aufklärungsgespräche, aber leben tue ich allein.«

»Noch«, meinte er. »Ich wollte dich sowieso fragen, ob das noch aktuell ist, dass du die Wohnung vermieten willst?«

Sie knabberte an einem der gebratenen Speckstreifen. »Vielleicht. Irgendwann.«

»Du benutzt sie doch nicht, oder?«

»Nur um zu nachtschlafender Stunde auf dem Boden zu liegen und über mein Leben nachzudenken.« Seine Augenbrauen schnellten hoch. »War ein Scherz«, sagte sie, denn er würde es nicht verstehen und sich bloß Sorgen machen. »Eigentlich halte ich mich nie dort auf.«

»Ich habe mir nur überlegt, dass es doch ungenutztes Kapital ist, ich meine, du lässt dir ganz schön viel Geld entgehen, wenn du sie einfach leer stehen lässt.« Die Logik war bezwingend. Vermutlich war es eine Falle.

»Kann schon sein«, räumte sie argwöhnisch ein.

»Ist so.« Er zeigte auf ihren Teller. »Dein Ärmel hängt im Sirup.«

Sie tupfte die klebrige Stelle am Bündchen ihres Pullis ab. »Hast du einen bestimmten Mieter im Sinn? Willst du Rose ausquartieren?«

»Ha ha.« Er lachte nicht. »Nein, ich bin der Ansicht, die beiden sollten mindestens zehn sein, ehe sie auf eigenen Beinen stehen.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Und bevor ich es vergesse: Rose hat morgen in einer Woche Ballettaufführung, und du sollst vorher vorbeikommen und ihr ›wieder die Frisur mit den gedrehten Zöpfen‹ machen.« Rose war sieben und traute ihrem Vater ballettfrisurentechnisch wenig zu.

»Sie plant voraus.«

»Neulich hat sie mich ›Vater‹ genannt – wie in Unsere kleine Farm

Evvie überlegte. »Ich glaube, da haben sie ›Pa‹ gesagt.«

»Woran denke ich dann? Wer sagt Vater?«

»Priester?«, schlug sie vor. »Und Captain von Trapp.«

»Kann ich ihr also sagen, dass du kommst?«

»Natürlich«, versprach Evvie. »Und du verrätst mir jetzt, wen du in meiner Wohnung unterbringen willst.«

»Also gut. Ein alter Freund von mir braucht eine kleine Auszeit und sucht etwas, wo er für ein paar Monate unterkommen kann.«

Sie runzelte die Stirn. »Wer denn? Einen alten Freund von dir müsste ich kennen, oder?«

»Dean.«

Ihre Augen weiteten sich ungläubig. »Der Baseball-Profi?« Sie meinte sich zu erinnern, dass einer von Andys Freunden Pitcher in der Major League war, kannte ihn aber nicht persönlich.

»Ex-Profi«, korrigierte Andy. »Er hat seine Karriere kürzlich beendet und will hier oben eine Weile ausspannen. Sich die frische Meeresbrise um die Nase wehen lassen, du kennst das.«

»Ich vergesse immer, dass Profisportler sich viel früher zur Ruhe setzen als wir Normalsterblichen. Wie alt ist er, Mitte dreißig? Und er hat ganz aufgehört? Stelle ich mir nett vor.«

»Ganz so einfach ist es nicht. Was du wissen würdest, wenn du auch mal einen Blick in die Sports Illustrated werfen würdest, ehe ich sie mir unter den Nagel reiße.«

»Mein Interesse hält sich in Grenzen«, erwiderte sie. »Ist übrigens gerade wieder eine gekommen, bringe ich dir nächste Woche mit.«

»Ich weiß«, sagte er. »Steht ein langer Artikel über Dean drin.«

Sie schnippte mit den Fingern. »Moment. Dann ist Dean … die Fallstudie?«

Andy sah sie scharf an. »Damit eins klar ist: Er hat nicht den Verstand, sondern seinen Arm verloren. Also nicht seinen richtigen Arm, sondern seinen Wurfarm. Er hat noch beide Arme. Und er ist kein Spinner.«

»Und was genau ist sein Problem?«

»Er war mal ein erstklassiger Pitcher, und irgendwann bekam er keinen vernünftigen Wurf mehr zustande. Mehr weiß ich auch nicht.«

Genau in dem Augenblick tauchte Diane Marsten an ihrem Tisch auf. Diane führte den kleinen Trödelladen vor Ort, Esther’s Attic, den sie vor Jahren von ihrer Mutter übernommen hatte. Samstags kamen Diane und ihr Mann oft zum Essen ins Compass, manchmal auch in der großzügig geduldeten Begleitung ihres Hündchens Ziggy, das heute jedoch nicht mit von der Partie zu sein schien, um mit feucht herumschnüffelnder Hundenase gegen sämtliche Hygienevorschriften zu verstoßen. »Morgen, ihr beiden.«

»Hallo, Diane«, sagte Andy. »Wie geht es dir?«

»Schlechten Menschen geht’s immer gut.« Was nicht stimmte, wie Evvie aus Erfahrung wusste. Und schon wandte Diane sich ihr zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Schön, dich mal wieder hier zu sehen.«

Evvie warf Andy einen kurzen Blick zu und rang sich ein Lächeln ab. »Danke, Diane. Es ist wirklich eine Weile her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Bei euch ist alles in Ordnung?« Worauf Diane sich kurz über die Krankheiten der Nachbarn ausließ (diskret bis hin zur Unverständlichkeit wie »er hat konstitutionelle Beschwerden«) oder private Ärgernisse (wiederum sehr vage als »diese Sache mit der einen Tochter«), ehe sie sich auf den Weg machte, um ihren French Toast nicht länger warten zu lassen. »Ach ja«, seufzte Evvie.

»Sie macht sich bloß Sorgen um dich.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber du merkst schon, wie sie mich alle belauern, oder? ›Schön, dich zu sehen‹, hat sie gesagt, als wäre ich ewig nicht hier gewesen. ›Schön, dass du mal wieder rauskommst, Evvie.‹ Sie tun gerade so …«, sie senkte die Stimme zu einem Flüstern, »… als würde ich bloß wie ein Trauerkloß zu Hause hocken.«

»Es war einfach nur nett gemeint. Sie hat sich gefreut, dich zu sehen, nichts weiter.«

Evvie schüttelte den Kopf. »Sie bedauert mich. Ihr Mitleid macht mich fertig. Die sanften Berührungen, der verständnisvolle Tonfall. Und vor dieser Baumpflanzaktion beim Krankenhaus graut mir jetzt schon. Wie sie dann alle dasitzen, um mich heulen zu sehen.«

»Du brauchst nicht zu heulen. Jeder weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.«

Von wegen. Niemand wusste Bescheid. Nicht mal Andy.

»Ich verstehe es einfach nicht«, ging Evvie über seine Bemerkung hinweg. »Um Tessa Vasco macht niemand so einen Wirbel, weil sie nach dem Tod ihres Mannes nicht ständig um die Häuser zieht.«

»Tessa Vasco ist zweiundneunzig.«

»Und?«

»Du bist sechzig Jahre jünger als Tessa Vasco. Und brauchst weder einen Rollator noch einen Sauerstofftank, um zum nächsten Laden zu kommen.« Er sah sie herausfordernd an. »Und du musst mir die Bemerkung verzeihen, aber Tessa geht einmal die Woche zur Wassergymnastik – was man von dir nicht behaupten kann.«

»Woher weißt du so was?«

»Weil meine Mutter auch einmal die Woche zur Wassergymnastik geht. Sie ist allerdings erst neunundsechzig. Dein Glück.«

Evvie gab sich geschlagen. »Okay, okay – war kein gutes Beispiel.«

»Dürfte ich noch mal versuchen, dir deinen potenziellen Mieter schmackhaft zu machen?«

Sie ließ ihren Blick durchs Café schweifen, ehe sie Andy wieder ansah. »Warum sollte ein Profisportler meine Wohnung mieten wollen? Ich dachte, die leben alle … keine Ahnung, auf irgendwelchen Privatinseln oder so.«

»Dean lebt in Manhattan, was so ziemlich das Gegenteil einer Privatinsel ist. Er sagt, er könne sich nicht mal einen Kaffee holen, ohne fotografiert zu werden. Deshalb will er für eine Weile raus aus der Stadt. Ich sagte zu ihm, hier oben würden die Leute ihn sicher in Ruhe lassen. Sich für die Zeit was zu kaufen lohnt sich nicht, und um im Hotel zu wohnen, ist es zu lange. Und bei mir kann er nicht mehr als ein paar Tage bleiben, weil ich die Kinder und keinen Platz habe. Also dachte ich an deine Wohnung. Liegt nahe und hätte zudem den Vorteil, dass ich dich kenne und ihm versprechen kann, dass du ihn kaum heimlich im Bad filmen würdest oder seinen Müll durchforstest und ans Trash-TV verkaufst. Du hättest ein paar zusätzliche Einnahmen, und am Ende versteht ihr euch bestimmt prima. Win-win-Situation, wenn du mich fragst. Ich habe ihm gesagt, du verlangst achthundert im Monat, warm.«

Evvie schluckte. Das würde tatsächlich schon so einige Rechnungen bezahlen. »Achthundert ist okay.«

»Also abgemacht?«

Sie blickte in ihre Tasse, an deren Rand sich Kaffee und Sahne wie Pegelstände abgesetzt hatten. »Bring ihn einfach mal vorbei. Dann sehen wir weiter.« Evvie merkte, dass das nicht die Antwort war, die Andy von ihr hören wollte. »Ich kenne ihn überhaupt nicht, Andy. Was erwartest du von mir?«

»Du wirst ihn mögen«, versprach er. »Ich mag ihn.«

Evvie setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Du magst eine ganze Menge Leute. Wer weiß, welche Typen, mit denen du irgendwann mal auf dem College Party gemacht hast, du mir da anschleppst?«

»Ich war nicht mit ihm auf dem College. Wir kennen uns von den Pfadfindern. Er war bei meiner Hochzeit, Ev, du hast die Bilder gesehen. Und, wenn du dich vielleicht erinnerst, er war es, der mich nach der Scheidung mit den Mädchen nach Disneyland geschickt hat. Keine Sorge, der lässt deinen Schmuck schon nicht mitgehen.«

Evvie lächelte. »Das ist meine geringste Sorge. Ich besitze kaum Schmuck.«

»Na, dann eben deine … wunderbar verfilzten Wollpullis.«

»Ha ha.« Jetzt war sie es, die nicht lachte. »Pass auf, er kann sich die Wohnung gern ansehen, aber ich will ihn erst kennenlernen. Wenn es passt, einverstanden. Ich kann das Geld durchaus gebrauchen.« Sie sah die Küchenschublade mit dem Stapel längst überfälliger Rechnungen vor sich. Ein Jahr ohne Arztgehalt machte sich doch ziemlich bemerkbar. Warum hatte sie die Wohnung nicht längst vermietet? Sie würde die Miete kassieren, die Tür zum Haus bliebe zu, und sie würde kaum merken, dass überhaupt jemand da war.

Andy seufzte. »Danke. Er braucht … einfach Ruhe, nehme ich an. Und wie ich schon sagte, kann es auch nicht schaden, wenn du ein bisschen Gesellschaft hättest.«

»Ich habe Gesellschaft«, erwiderte sie. »Ich bin jetzt gerade in Gesellschaft.«

»Ich meine außer mir. Und den Mädchen. Und deinem Dad. Du weißt schon«, er zeigte mit seiner Gabel auf sie, »es ist nicht gut, so viel allein zu sein. Man wird leicht seltsam.« Mit seinen blond gewellten Haaren und der schmalen Statur hätte Andy sich auch gut auf dem Plattencover einer Indie-Band gemacht, aber nach sieben Jahren hatte die Vaterrolle doch deutliche Spuren hinterlassen.

»Mir geht’s gut«, versicherte sie ihm. »Ich bin nicht seltsam. Und wenn mir langweilig wird, frage ich Tessa Vasco, ob sie mit mir zum Zumba gehen will.« Andy hob zweifelnd die Brauen. »Alles gut, Andy. Ich schaue mir deinen Freund an.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie sah ihn aus schmalen Augen an. »Du versuchst aber nicht, mich zu verkuppeln, oder?«

Andy lachte und verschluckte sich an seinem Frühstück, spülte dann alles mit einem Schluck Kaffee herunter. »Genau das meinte er auch: ›Willst du mich verkuppeln?‹« Sie fand das gar nicht witzig. »Will ich nicht. Vergiss nicht, dass meine Mutter noch immer hofft, ich würde dich eines Tages heiraten. Was sollte aus ihren schönen Plänen werden, wenn ich dich mit Ex-Profis verkupple?«

»Ach herrje«, meinte Evvie. »Wann willst du es ihr sagen?«

»Ihr was sagen?«

»Ihr was sagen«, äffte sie ihn nach. »Ihr sagen, dass wir es längst versucht haben. Und dass der Funke leider, leider nicht überspringen wollte und wir lieber Freunde bleiben.«

»Sie würde mir nicht glauben.«

»Wäre sie dabei gewesen, sähe sie das sicher anders.«

»Du meinst, als du plötzlich nicht mehr aufhören konntest zu lachen? Das war wirklich nicht sehr romantisch.«

»Wir konnten beide nicht mehr aufhören zu lachen.«

»Du hast eindeutig lauter gelacht«, beharrte er und zeigte anklagend mit der Gabel auf sie.

»Na gut, da könntest du recht haben.«

3

Dean saß in seinem Wagen vor Andys Haus. Vor gut acht Stunden war er in New York aufgebrochen und hatte unterwegs bloß einmal Halt gemacht. »Dann mal los«, murmelte er, als er ausstieg, zum Haus hinaufging und klingelte.

Andy öffnete ihm grinsend die Tür. »Hey, da bist du ja! Schön, dich zu sehen.« Sie umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken, wie sie es schon mit dreizehn gemacht hatten. »Komm rein, Mann.«

Andy lebte in einem bescheidenen Bungalow, dessen grüne Fassade auch schon bessere Tage gesehen hatte. Umso herrschaftlicher wirkte das große bunte Puppenhaus, das im Wohnzimmer auf dem Boden stand und mit drei Geschossen und einem per Flaschenzug betriebenen Fahrstuhl punkten konnte. Den überall auf dem Boden verstreuten Plastikmöbeln und winzigen Lampen nach zu urteilen, schien es heute schon einmal umgefallen und hastig wieder aufgestellt worden zu sein. Am Sofa lehnte ein Hula-Hoop-Reifen, ein Stück den Flur hinunter lief irgendwo ein Fernseher, und hinter einer der Türen hörte man zwei Mädchen kichern. »Willkommen in meinem wilden Leben.« Andy reichte ihm ein Bier und zeigte auf einen der Sessel. »Entschuldige das Chaos, so sieht es hier immer aus.«

Dean grinste. »Wie alt sind die beiden jetzt?«, fragte er und ließ sich in den Sessel fallen.

»Rose ist sieben und Lilly fünf.« Andy stellte den Hula-Hoop-Reifen weg und setzte sich aufs Sofa. »Sie schauen sich gerade zum fünfzigsten Mal Ghostbusters an, womit die Frage geklärt sein dürfte, als was sie an Halloween gehen. Ich kann die paranormalen Schwingungen schon förmlich spüren.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier. »Wie war die Fahrt?«

Dean verzog das Gesicht, als er an seinen Rücken dachte. »Acht Stunden, eine Pause, aber ich bin zügig durchgekommen. Tut gut, mal rauszukommen. Und dich zu sehen. Das muss jetzt auch schon wieder drei, vier Jahre her sein, oder?«

»Bestimmt«, meinte Andy. »Da war Lori noch dabei. Waren wir nicht mit dir auf dieser Party, irgendwas vom Fernsehen? Das müsste dann vor vier Jahren gewesen sein.«

Dean seufzte. »Das ist wirklich lange her.«

»Tja«, sagte Andy. »Kurz danach hat Lori mich und die Mädchen verlassen, aber das weißt du ja. Ich unterrichte noch immer Mathe, bin noch immer geschieden und keine neue Frau in Sicht. Seit Kurzem betreue ich das Jahrbuch, was ich mir in etwa so vorstelle, wie mäßig begabte Sportler zu coachen. Und damit bist du eigentlich auch schon auf dem neuesten Stand.« Sein Blick wanderte zu einem Foto von sich und den Mädchen, das auf dem Beistelltisch stand. »Außer mir hat es glaube ich niemanden überrascht, dass meine Ehe gescheitert ist.«

Dean hob einen Plüschpanda vom Boden auf, betrachtete ihn einen Moment und setzte ihn wieder ab. »Ich hätte danach mal vorbeischauen sollen. Irgendwie hatte ich es immer vor, aber dann kam dauernd was dazwischen. Als Profi hast du ganz schön viel um die Ohren.«

»Kann ich mir vorstellen.« Andy nickte und sah ihn an. »Krasse Geschichte.«

Dean ließ die Flasche sinken, die er gerade zum Trinken angesetzt hatte, und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Allerdings. Scheint, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall.«

»Sagen sie das?«

»Oh, ich weiß, dass sie es sagen.«

»Wie geht es dir seitdem?«

Dean lehnte den Kopf zurück. »Es war nicht unbedingt mein bestes Jahr.«

»Klar.«

»Du ahnst nicht, wie viele Briefe, E-Mails und Tweets ich deswegen bekommen habe. Meistens von Leuten, die sich berufen fühlen, mir ungebeten Ratschläge zu geben, und ganz genau wissen, wie sie mir helfen können.«

»Kaum zu glauben, dass sie den Fall noch immer nicht geknackt haben.«

Dean lächelte. »Wärst du beispielsweise auf die Idee gekommen, dass das alles reine Kopfsache sein könnte? Oder dass Leute plötzlich dachten, ich hätte psychische Probleme, denn wie sollte man es sonst erklären, dass ich nicht mal mehr ein Auto mit einem Beanbag treffen würde, obwohl ich früher Spieler geschlagen habe, die es bis in die Hall of Fame geschafft haben?«

»Alles rein mental also?«

»Jep, darauf läuft es hinaus«, sagte Dean und tippte sich an die Stirn. »Ich müsste mich einfach bloß fokussieren, aufs Wesentliche konzentrieren. Kontakt mit meinem inneren Zulukrieger aufnehmen.«

»Das mit dem Zulukrieger hast du dir gerade ausgedacht.«

»Nein, das hat tatsächlich jemand geschrieben. Meinen inneren Zulukrieger, meinen inneren Peyton Manning, jemand sprach sogar von meinem inneren Hannibal Lecter. Musst du dir mal vorstellen – als hätte ich nicht schon genug Probleme. ›Sie sollten es mit Hypnose versuchen!‹, ›Haben Sie Sunzi gelesen?‹, ›Waren Sie schon mal beim Therapeuten?‹ Manche sind da echt auf einer Mission und wollen den New Yorker Baseball retten, indem sie mich zum Therapeuten schicken. Ich bitte dich, ich lebe in einer Stadt, in der Baristas dir ihren Schamanennamen auf den Kaffeebecher schreiben, und Margo aus Greenpoint schlägt mir vor, ich soll zum Therapeuten gehen! Danke für den Tipp, Margo, wäre ich nie drauf gekommen.«

Andy nickte. »Du warst also beim Therapeuten.«

Dean fasste sich mit dem linken Arm vor die Brust und begann seine rechte Schulter zu massieren. »Du wirst lachen, aber ich war insgesamt bei acht Sportpsychologen und zwei Psychiatern.« Er ließ den Arm wieder sinken und zählte an den Fingern ab. »Ich habe es mit Akupunktur versucht, Akupressur, habe meine Schulter schröpfen lassen und mir brennende Kerzen in die Ohren stecken lassen – frag nicht, das ist eine komplett andere Geschichte. Ich habe auf Gluten verzichtet, auf Zucker, auf Sex, auf Fleisch. Dann habe ich es mit extraviel Sex und extraviel Fleisch probiert. Ich habe Feldenkrais und Ausdruckstanz gemacht, mich ausgiebig hypnotisieren lassen und angefangen zu meditieren. Das mache ich übrigens immer noch, kann ich dir sehr empfehlen.« Er sah Andy an, der sichtlich perplex zuhörte. »Woran denkst du? Den extravielen Sex?«

»Nein, Ausdruckstanz. Ich glaube, das hat Rose auch mal gemacht.«

»Unglaublich elegante, fließende Bewegungen. Wenn du es eine Weile machst, wirst du eine Elfe. Mir sollte es dabei helfen, meine innere Mitte zu finden und mich natürlicher zu bewegen. Ich sollte mich locker machen, mich nicht so in den Muskeln verspannen. Das war neu, ehrlich. Niemand auf Twitter hatte mir verspannte Muskeln attestiert, und was lernen wir daraus? Glaub nicht alles, was im Internet steht.«

Andy schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Dean. Ich wollte dich die ganze Zeit anrufen und fragen, wie es dir geht – dabei hätte ich mich bloß an Margo aus Greenpoint zu wenden brauchen.«

»Nicht witzig.«

Andy grinste. »Was hast du denn jetzt vor? Was willst du hier oben machen?«

»Mich vom Internet fernhalten«, sagte Dean. »Meine Ruhe haben. Und mir überlegen, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll.«

»Schon irgendwelche Ideen?«

»Du stellst Fragen.« Dean streckte seine Schulter. »Ich könnte als Coach arbeiten, wenn mein zweifelhafter Ruhm sich erst mal etwas verflüchtigt hat. Sportkommentator wäre auch eine Möglichkeit, allerdings habe ich mir bei den Sendern nicht gerade Freunde gemacht. Mein Geld reicht noch eine Zeit lang, da besteht kein Anlass zur Eile. Aber natürlich habe ich mir das letzte Jahr so meine Gedanken gemacht – wenn ich nicht gerade Overwatch gespielt habe, worin ich mittlerweile erschreckend gut bin.«

Andy musste sich ein Lächeln verkneifen. »Darf ich dich mal was fragen?«

»Ja, klar.«

»Stimmt das mit Dancing with the Stars

»Sie haben angefragt, ja. He, lach nicht! Ich fand das gar keine schlechte Idee, Tanzen und so. Hast du das damals geschaut, als Emmitt Smith dabei war? Erste Sahne. Aber meine Schwägerin, die sich jede Staffel reinzieht, hat mich gewarnt, dass sie die Sache ausschlachten und mich zu ›Take Me Out to the Ball Game‹-Walzer tanzen lassen würden und ich die ganze Zeit erzählen müsste, welch unglaubliche Chance das für mich wäre, mich zu beweisen und neu zu erfinden, also habe ich abgesagt. Jetzt haben sie angeblich diesen Eiskunstläufer genommen, der bei der Olympiade gestürzt ist und so dramatisch geblutet hat. Sieht aus, als tauge ein tragischer Held so gut wie jeder andere.«

»Du bist kein tragischer Held«, erinnerte ihn Andy und legte Dean die Hand auf die Schulter. »Du hast einen Sprung in der Schüssel – das ist etwas völlig anderes.«

Sie lachten, bis Rose den Kopf aus ihrem Zimmer streckte und den Flur hinunterbrüllte: »Ich kann nichts verstehen, wenn ihr so laut seid!«

»Dann musst du mal wieder deine Ohren putzen! Soll ich den Gartenschlauch holen? Oder warte, der Staubsauger tut es auch, oder?«, rief Andy zurück. Im Hintergrund war Gekicher zu hören, dann wurde die Tür wieder zugeknallt. »Die lieben Kleinen«, meinte Andy und schüttelte den Kopf. »So. Ich habe dir schon das Klappbett unten im Keller bezogen. Fürs Erste kannst du hierbleiben, würde ich sagen. Morgen fahre ich mit dir zu Evvie. Sie will dich nämlich vorher kennenlernen und abchecken, ob du nicht gemeingefährlich bist oder Schlagzeug spielst.«

»Irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Über Evvie? Nein, alles gut. Du wirst sie mögen. Witzig, unkompliziert, sieht ganz süß aus … wie deine Schwester.«

Dean runzelte die Stirn. »Ich habe keine Schwester.«

»Aber sie könnte deine Schwester sein. Sie ist der Typ, der jedermanns Schwester sein könnte.«

»Ah ja. Und wessen Schwester ist sie?«

»Sie ist Einzelkind.«

Dean schüttelte den Kopf. »Das hilft mir nicht wirklich weiter.«

Andy seufzte. »Braune Haare. Wollpullover. Braune Augen, glaube ich.«

»Sonst noch was?«

»Hauptsache, du sprichst ihren Namen richtig aus, oder um es mit ihren Worten zu sagen: ›Evvie wie in Chevy, nicht Evie wie Max Greevey.‹«

»Wer zum Henker ist Max Greevey?«

»Ein Cop in Law & Order. Evvie hat als Kind kaum ferngesehen, weshalb sie jetzt alles nachholt. Bis 1998 ist sie mittlerweile gekommen und hat gerade mit Dawson’s Creek angefangen.«

»Wow, ganz alte Schule.«

»Aber schwer in Ordnung. Keine Ahnung, was ich ohne sie gemacht hätte, als ich mit den Mädchen von einem Tag auf den anderen ganz allein dastand. Tu mir den Gefallen, dich nicht von ihr bemuttern zu lassen, sie übertreibt es da manchmal ein bisschen, und am Ende bist du ein besserer Mensch, als du es verdient hast.«

»Alles klar. Und sie nimmt achthundert Dollar im Monat?«

Andy nickte. »Nur unter uns: Sie kann das Geld glaube ich gut gebrauchen. Ihr Mann hatte keine Lebensversicherung.«

»Autsch.«

»Dachte ich auch. Aber man soll ja nicht schlecht von den Toten sprechen oder über den Mann herziehen, den deine beste Freundin geheiratet hat.«

»Und zwischen euch beiden …? Verpasste Gelegenheiten?«

»Nein, nichts. Wir sind einfach Freunde.«

»Aber ihr seid jetzt beide frei.«

»Ja, sind wir. Aber als wir uns kennengelernt haben, waren wir es nicht. Außerdem war sie ja bis letzten Herbst verheiratet.« Andy bugsierte mit dem Fuß eine der auf dem Boden liegenden Plastiklampen zurück ins Puppenhaus. »Vor sechs Monaten haben wir es mal probiert, weil sowieso alle denken, wir hätten was miteinander, aber es war irgendwie … komisch. Der Funke wollte einfach nicht überspringen. Als würdest du in eins dieser Videos, die dir vor dem Abflug erklären, wie man sich richtig anschnallt, eine romantische Szene einschmuggeln. Völlig fehl am Platz. Wahrscheinlich kennen wir uns einfach zu gut, Stichwort Schwester. Meine Mutter konnte ich davon leider noch nicht überzeugen.«

»Oh, Mama Kell. Wie hatte sie eigentlich deine Scheidung aufgenommen?«

»Ihre größte Sorge war, dass die Mädchen zu ihrer Mutter ziehen könnten. Aber sobald feststand, dass sie bei mir leben und Lori bloß besuchen würden, wenn die gerade mal nicht mit sich selbst beschäftigt war, hat sie sich beruhigt und fand, dass es für alle Beteiligten wohl das Beste sei.«

Dean trank einen Schluck und nickte bedächtig. »Und wie steht es zwischen dir und Lori?«

»Ganz okay. Wir sind Freunde. Oder gehen zumindest freundlich miteinander um. Weil sie es hier oben vor Langeweile nicht aushält, kommt sie maximal bis nach Portland, und ich fahre die Mädchen dann runter. Sie sehen sich, sie ruft an, sie liebt die beiden, was will man mehr.«

»Aber sie wollte noch mal neu anfangen, oder wie?«

Andy nickte. »Ich an ihrer Stelle hätte die Mädchen zwar nicht einfach so verlassen können, aber es ist ihr Leben. Und wie Evvie damals ganz richtig meinte, hat Lori sich lediglich eine Freiheit herausgenommen, die Männer sich seit Ewigkeiten herausnehmen – und keinen kratzt es. Den Mädchen gefällt es inzwischen ganz gut, mal ein paar Tage bei Loris Familie in Charleston zu verbringen. Es gibt massig Süßkram, und wenn die zwei zurückkommen, haben sie einen ziemlich beeindruckenden Südstaatenslang drauf.«

»Mit Fremdsprachen kann man nicht früh genug anfangen.«

»Du sagst es. Alles in allem könnte es schlimmer sein.«

»Würde ich an deiner Stelle auch so sehen.«

Früher hatten sie viele Abende so verbracht – rumhängen, reden, Zeit totschlagen. Darauf warten, dass das Schuljahr endlich um war und die Ferien anfingen, dass die Schule vorbei war und die Zukunft begann. Doch früher hatte Dean immer einen Plan gehabt, hatte immer gewusst, wie es weitergehen würde. Jetzt dachte er bloß bis zum Abendessen und dass er nachher noch seine Tasche aus dem Wagen holen musste. Seine Sicht auf die Zukunft hatte sich extrem verkürzt – als wäre da eine Nebelwand, die sich schier endlos vor ihm erstreckte. An manchen Tagen wachte er morgens auf und konnte sich vielleicht fünfzehn Sekunden in dem Glauben wiegen, dass alles war wie früher. Dass er einen Plan hatte, eine Aufgabe. Bis ihm dann wieder einfiel, dass dem nicht so war. Dass da nichts war.

Sekunde sechzehn warf ihn jedes Mal um.