Leia Stone ist eine USA TODAY Bestseller-Autorin, die schon zahlreiche Bücher veröffentlicht hat. Wenn sie nicht gerade mit ihren zwei Kindern durchs Haus tobt, schreibt sie neue Geschichten oder vergräbt ihre Nase in einem Buch. Zusammen mit ihrem Mann, den Zwillingen und dem Hund der Familie lebt sie in Arizona. Celestial City – Akademie der Engel ist ihr Debüt bei ONE.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Michael Krug
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Fallen Academy: Year Two«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2018 by Leia Stone
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Elena Bruns, Lingen
Covergestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von © faestock / shutterstock; Sergey Nivens / shutterstock; run4it / shutterstock; Kawin K / shutterstock; Chones / shutterstock; HS_PHOTOGRAPHY / shutterstock; YummyBuum / shutterstock; Ihnatovich Maryia /shutterstock; Allgusak / shutterstock;
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9813-7
www.one-verlag.de
www.luebbe.de
Für meine Schutzengel: Ich liebe euch, aber was habt
ihr euch dabei gedacht, mir diese Tätowierung zu
erlauben, als ich achtzehn war? <3
»Bewegung, Atwater!«, schrie Lincoln mir ins Ohr, während ich über die Laufbahn hinter der Schule rannte.
Nachdem ich ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte, beschleunigte ich und schaffte es ganz nach vorn, wo Tiffany wie eine verdammte Gazelle lief, ohne auch nur einen Tropfen Schweiß erkennen zu lassen. Ich warf einen Seitenblick auf meine blonde Nemesis. Kurz einen Fuß ausgestreckt, schon würde sie stolpern – und sich bei der Geschwindigkeit wahrscheinlich die Nase brechen. Vielleicht sogar einen Zahn verlieren.
»Halt und runter auf den Boden!«, brüllte Lincoln.
Ich knurrte und kam schlitternd zum Stehen. Meine Pläne, Tiffanys Visage umzugestalten, fielen ins Wasser, als unser Ausbildungstrupp von zwanzig Kadetten zu Boden sank und damit begann, Liegestütze zu machen. Der Kies bohrte sich in meine Handflächen, aber ich war schlau genug, nicht darüber zu klagen.
Shea war ein Stück hinter mir zu Boden gegangen. »Dein Lover hat ’nen Schaden«, flüsterte sie.
Mir fehlte schlichtweg die Puste, um etwas darauf zu erwidern.
Wir befanden uns seit einem Monat im Ausbildungslager. Die siebenundachtzig Schüler, die den Spießrutenlauf bestanden hatten, waren in vier Gruppen aufgeteilt worden und hatten Lincoln, Noah, Blake oder Darren als Ausbilder bekommen.
Wer will raten, in welcher Gruppe ich gelandet war?
»Schneller!«, blaffte Lincoln.
Das Ausbildungslager sollte uns auf den Eintritt in die Engelsarmee vorbereiten. Die ersten Lohnschecks waren bereits eingetrudelt, und ich will nicht lügen: Ein festes Gehalt zu bekommen fühlte sich verdammt gut an. Wir gehörten zu einer Art Reservearmee. Unsere schulische Ausbildung an der Fallen Academy konnten wir beenden, aber ein Wochenende im Monat verbrachten wir draußen im Kriegsgebiet und halfen, Dämonen zu beseitigen, die den Menschen dort zusetzten. Und natürlich griff man auch bei Notfällen auf uns zurück.
Langsam fand ich mich ganz gut in den Sommer ein. Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis die starrenden Blicke auf das Teufelsmal auf meiner Brust nachgelassen hatten. Tiffany nannte mich inzwischen sowohl Prinzessin der Finsternis als auch Erzi. Unsere Rache für die Durchfall-Donuts, die sie uns vorm Spießrutenlauf hatte unterjubeln wollen, nahte – Shea arbeitete an einem Trank, der Tiffany hoffentlich die Eingeweide verknoten würde.
»Auf!«, brüllte Lincoln, und ich sank zu Boden, ließ meine brennenden Arme einen Herzschlag lang ausruhen.
Lincolns Stiefel tauchten in meinem Sichtfeld auf. »Brielle Atwater, du bist für den Rest des Tages entschuldigt.« In seiner Stimme schwang Besorgnis mit.
Was zum ...
Ich sprang auf in der Annahme, ich hätte etwas ausgefressen, und wollte mich schon verteidigen, da erkannte ich meine Mutter ein Stück hinter Lincoln. Neben ihr stand mein kleiner Bruder Mikey. Er krümmte sich vornüber und hielt sich die Seite. Sein Gesicht schien zu bluten.
Oh nein.
»Vorzugsbehandlung«, grummelte Tiffany neben mir und handelte sich damit einen finsteren Blick von Lincoln ein.
»Zwei Runden für unaufgefordertes Reden, Woods«, befahl er knurrend.
Mit einem Schnauben setzte sie sich in Bewegung.
Dankbar sah ich meinen Freund an. »Danke, Sir!«, sagte ich und nickte zackig, dann lief ich zu meiner Familie.
Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf. Hatte Grim Mikey angegriffen? Er war Sheas ehemaliger Boss, den ich beinahe umgebracht hätte, und inzwischen der Boss meiner Mutter. Oder war eine Dämonengang über meinen Bruder hergefallen?
Als ich mich näherte, bemerkte ich zwei Reisetaschen hinter ihnen.
»Was ist passiert?« Schlitternd kam ich zum Stehen und scannte die beiden mit prüfendem Blick von oben bis unten.
Meine Mutter sah gut aus. Müde, aber normal. Mein Bruder jedoch schien übel verprügelt worden zu sein. Das rechte Auge war zugeschwollen, die Nase gebrochen, eine Lippe aufgeplatzt, und wahrscheinlich hielt er sich angeknackste Rippen.
Meine Mom kaute auf der Unterlippe. »Er kann nicht zurück nach Demon City. Ein paar Kids der Tainted Academy haben ihn so zugerichtet.«
Diese Arschlöcher! Ich würde sie umbringen.
»Mikey«, stieß ich atemlos hervor und streckte die Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren, aber er wich zurück.
»Sie haben gesagt, wenn ich zurückkomme, bringen sie mich um«, brummte er.
Meine Augen wurden groß. Was zum Teufel soll das? Haben sie es etwa auf ihn abgesehen, weil er mein Bruder ist?
Meine Mom starrte verstört auf meine Brust und das Mal darauf. Nach dem Spießrutenlauf hatte ich mehrmals mit ihr telefoniert, ihr geschildert, was passiert war, und ihr die Sache mit dem Teufelsmal erklärt, trotzdem krampfte sich mein Magen zusammen, als ich sah, wie ihr bei dem Anblick Tränen in die Augen traten.
»Okay, uns fällt schon was ein«, beruhigte ich Mikey. Die Dämonen hatten meine Familie eindeutig ins Visier genommen.
Mikey schwankte leicht. Er musste dringend ärztlich versorgt werden.
»Komm, bringen wir ihn in die Klinik«, wandte ich mich an unsere Mom.
Mikey war mittlerweile achtzehn. Das bedeutete, er würde an der Erweckungszeremonie im August teilnehmen. Als freie Seele würde er in die Fallen Academy aufgenommen werden. Vielleicht könnte ich ihn etwas früher als geplant einschleusen.
Während meine Mutter den humpelnden Mikey auf dem Weg zur Klinik stützte, lief ich mit seinen Reisetaschen hinter ihnen her. Ich stellte ihnen Mrs Greely vor, die Leiterin der Heilklinik. Dann lief ich rastlos auf und ab, während sie ihre Hände an seinem Körper entlangfahren ließ, um weitere Verletzungen zu erspüren. Ich hatte diese energetische Abtastung noch nicht gelernt, die einem Heiler Aufschluss über innere Verletzungen wie Blutungen oder Tumore gab. Das stand erst im dritten Jahr auf dem Lehrplan. Und ich konnte es kaum erwarten.
Mrs Greely zuckte zusammen. »Drei gebrochene Rippen, aber keine inneren Blutungen. Für die Heilung der Nase und der Rippen brauche ich Noah, mit dem Rest kann ich anfangen.«
Erleichterung mischte sich in die Wut, die mich durchströmte. Wie konnten es diese Mistkerle wagen, über meinen kleinen Bruder herzufallen? Wollten sie so an mich rankommen? Was steckte dahinter?
»Ich hole Noah«, verkündete ich, rannte aus dem Raum und zog unterwegs das Handy aus der Tasche.
Noah war draußen auf dem Sportplatz. Zweifellos scheuchte er seine Ausbildungsgruppe gerade im Dauerlauf über den Rasen, deshalb rechnete ich nicht damit, dass er rangehen würde. Tat er aber.
»Hi. Lincoln hat’s mir erzählt. Bin schon unterwegs.« Mehr sagte er nicht, bevor er auflegte.
Was zum ... Verdammt, mein Freund war gut. Manchmal. Wenn er mich nicht gerade auf dem Sportplatz quälte.
Ich schaffte es kaum bis zum Ende des Ganges, bevor sich die Doppeltür öffnete und Noah in all seiner makellosen Pracht hereinmarschiert kam.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Ich rieb mir die schmerzenden Arme, die noch von den Liegestützen brannten. »Irgendwelche Kids von der Tainted Academy haben ihn angegriffen.«
Noah knurrte. »Was für Scheißer. Keine Sorge, ich heile ihn«, versprach er und zwinkerte mir zu. Was sonst, zwinkern war Noahs Ding.
Ich nickte. »Danke.«
Er eilte den Flur hinunter. Ich blieb zurück und dachte nach. Meine Mom würde zurückmüssen, aber Mikey musste bleiben. Bis zur Erweckungszeremonie waren es noch fünf Wochen. Was sollte ich fünf Wochen lang mit ihm anstellen?
Durch meinen neuen Job bei der Engelsarmee verdiente ich zwar 2.700 Dollar im Monat, nur reichte das nicht für eine Wohnung in Angel City. Vor allem, da fünfzig Prozent an Steuern abgezogen wurden, außerdem meine Krankenversicherung, die für mich als Armeeangehörige verpflichtend war. Einen Teil des Geldes brauchte ich für meinen eigenen Kram – Uniformen und militärtaugliche Stiefel musste man sich selbst besorgen, was nicht billig war. Im Überschusslager der Armee gab es für Schüler zwar Preisnachlässe, aber ...
»Bri?« Die leise Stimme meiner Mutter unterbrach mich beim Grübeln.
Ich drehte mich um. Als ich ihre ausgebreiteten Arme sah, warf ich mich hinein. Der vertraute Geruch meiner Mom umfing mich, und ich merkte, wie sehr sie mir hier fehlte. Ich hatte Heimweh. Für meinen Geschmack sah ich sie entschieden zu selten. Sie bei mir zu haben war trotz der Umstände beruhigend.
Als ich mich von ihr löste, sah sie mich mit müden Augen an.
»Ich muss zurück. Das war meine Mittagspause«, erklärte sie. Ihr Blick fiel erneut auf Luzifers Tätowierung auf meiner Brust. Allerdings verlor sie kein Wort darüber. Sie hatte geweint, als ich am Telefon davon erzählt hatte. Aber meine Mutter war nicht der Typ dafür, sich lange mit negativen Gedanken aufzuhalten. Sie kam einfach darüber hinweg und sah nach vorn. Eine nützliche Überlebensstrategie.
»Wie ist es bei der Arbeit?«, fragte ich sie. Seit Lincoln ihren Boss, Burdock, getötet hatte, um meinen Sklavenvertrag aufzulösen, war Grim ihr neuer Chef. Ihm gehörten sämtliche Striplokale in Demon City und nach Burdocks Tod auch die Reanimationsklinik, in der meine Mutter Leichen wieder zum Leben erweckte.
»Ganz okay. Die Einnahmen in der Klinik fließen nicht mehr so wie zu Burdocks Zeiten. Das gefällt Grim nicht.« Sie zuckte mit den Schultern.
Panik erfasste mich. »Tut er dir weh?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er lässt mich in Ruhe, aber kürzt mir wegen jeder Kleinigkeit den Lohn. Bei ihm dreht sich alles um Geld.«
Dieser Mistkerl!
Plötzlich kam ich mir egoistisch vor. Jedes Mal, wenn wir uns unterhielten, redeten wir über mich. Brauchte meine Mutter Geld? »Du, hör mal, ich bin jetzt Berufssoldatin der Engelsarmee und bekomme einen Sold. Ich kann dir also beim Zahlen der Rechnungen helfen«, bot ich ihr an.
Das schlaffe blonde Haar fiel ihr über die Schultern, als sie den Kopf schüttelte. »Nein, Schatz. Ich komme zurecht. Seit ein paar Monaten vermiete ich dein und Sheas Zimmer an Mrs Conner. Kümmere du dich einfach um Mikey, ja?«
Mikey. Kacke. Was soll ich mit ihm machen?
Ich nickte. »Klar, Mom. Mach ich.«
Sie lächelte wieder, diesmal matter. »Hab dich lieb, Bienchen.« Der Spitzname aus meiner Kindheit überraschte mich. Bienchen hatte sie mich nicht mehr genannt, seit ich zehn war.
»Hab dich auch lieb, Mom.« Ich zog sie für eine weitere Umarmung an mich, doch allzu bald löste sie sich wieder von mir.
»Bernie und Maximus vermissen dich«, fügte sie hinzu, bevor sie ging. Einfach so. Sie ließ mich zurück mit meinem kleinen Bruder und mit Sehnsucht im Herzen nach ihr, nach Bernie, nach allen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie schlimm Demon City in Wirklichkeit war – und wie schlimm das Dasein als Sklavin.
Ich strich mir ein paar verirrte Strähnen aus dem Gesicht, verließ den Heiltrakt und begab mich auf die Suche nach dem Einzigen, der Mikey helfen konnte und würde.
* * *
Leise klopfte ich an die große Doppeltür und betete stumm, dass er in seinem Büro sein würde.
»Herein!«, hörte ich Raphaels vergnügte Stimme.
Gott sei Dank.
Erleichtert und gleichzeitig nervös betrat ich den Raum. Er saß an seinem Schreibtisch und betrachtete etwas, das ich für Karten und Dokumente hielt. Der Erzengel wirkte überrascht, mich zu sehen.
»Brielle? Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich, stand auf und kam mir um den Schreibtisch herum entgegen. Seine riesigen weißen Flügel empfand ich jedes Mal wieder als atemberaubend. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie gebannt anstarrte.
»Ist jemand verletzt?« Seine Besorgnis steigerte sich.
Verdammt, ich hatte die Sache mit dem Gedankenlesen vergessen.
»Ja, mein Bruder. Der eine freie Seele ist!«, fügte ich schnell hinzu. »Ein paar Kids der Tainted Academy haben ihn zusammengeschlagen, und jetzt ... kann er nicht zurück nach Demon City.«
Ich ließ den Satz in der Luft hängen. Raphaels Brauen zogen sich besorgt zusammen.
»Aber es sind nur noch fünf Wochen bis zur Erweckungszeremonie«, fuhr ich fort, »und als freie Seele kommt er ohnehin an die Fallen Academy.« Es sei denn, er ist ein Knorpler. Oh Gott, bitte lass ihn kein Knorpler sein.
»Also ...« Ich konnte es nicht. Ich brachte die Frage nicht heraus.
Raphael schmunzelte. »Du möchtest, dass er in der Zwischenzeit hierbleibt?«
Wieder durchströmte mich Erleichterung. »Ja. Bitte. Wenn das in Ordnung ist.«
Der Erzengel rieb sich das Kinn und las etwas in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch nach. »Wir sind noch in der Übergangsphase. Die Schüler, die beim Spießrutenlauf durchgefallen sind, dürfen den Sommer über in den Wohnheimen bleiben, während wir ihnen Jobs und eine dauerhafte Unterkunft besorgen. Deshalb habe ich im Moment nichts frei.«
Meine Hoffnung sank. Zwar könnte ich vermutlich bei Lincoln schlafen, dann könnte Mikey theoretisch mein Bett im Wohnheim haben. Allerdings bezweifelte ich, dass er als Junge ins Mädchenwohnheim einziehen durfte.
»Aber ...« Raphael hob die Hand. »Wäre er damit einverstanden, Gartenarbeit zu erledigen? Den Rasen der Sportanlage mähen, Hecken schneiden? Mein bisheriger Platzwart hat gerade sein letztes Jahr hier beendet und danach die Academy verlassen. Sein Häuschen und seine Arbeit sind derzeit zu haben. Dein Bruder könnte den Job den Sommer über machen. Das würde mir Zeit verschaffen, einen Ersatz zu finden.«
Eine Fünfzig-Kilo-Last hob sich von meinen Schultern.
»Ja! Danke, Sir! Er wird alles tun, was es zu erledigen gibt. Er kann superhart arbeiten.«
Das stimmte zwar nicht ganz, aber das konnte mein Brüderchen lernen. Vielleicht.
Raphael strahlte. »Wunderbar.« Er ging zu einem Schrank und nahm einen Schlüsselbund heraus. »Das sind die Schlüssel für das Platzwart-Haus. Es ist hinter der Sporthalle.«
Dafür also war das Häuschen. Ich hatte es schon gesehen und mich gefragt, wozu es diente. Das winzige Steinhaus sah aus, als hätte man beim Bau der riesigen Schule vergessen, es abzureißen.
»Vielen Dank, Sir.«
* * *
Auf dem Weg zurück zum Heiltrakt fühlte ich mich schon etwas leichter. Wenigstens hatte ich eine vorübergehende Lösung für Mikey gefunden. Er durfte sich bloß nicht als Knorpler entpuppen.
Als ich in seinem Krankenzimmer ankam, war er weggetreten und schlief tief und fest. Noah zog seine verrückte Heilnummer mit der orange leuchtenden Hand ab.
»Geht’s ihm gut?«, fragte ich, als ich mir die beiden Reisetaschen meines Bruders über die Schultern hievte.
Noah nickte. »Ich habe ihm ein beruhigendes Schmerzmittel gegeben. Knochen zu heilen tut ziemlich weh.«
Armer Mikey.
»Vielen Dank. Ich bin gleich wieder da, bereite nur schnell seine neue Bleibe für ihn vor«, teilte ich Noah mit.
Unterwegs war ich mir nicht sicher, was ich härter fand – Lincolns Schinderei beim Teamtraining oder zwei riesige, schwere Reisetaschen quer über den Campus zu dem kleinen Steinhäuschen zu schleppen.
Als ich ankam, zitterten meine Arme vor Erschöpfung. Rasch schloss ich die Tür auf und ließ die Taschen unsanft zu Boden fallen. Bei einer riss der Reißverschluss in dem Moment auf, als sie landete, und die Sachen meines Bruders kullerten heraus.
Was für ein Chaos.
Ich bückte mich, um seinen Krempel wieder in die Tasche zu stopfen, da fiel mein Blick auf ein grelles orangefarbenes Flugblatt, das herausgefallen war. Zuerst sprang mir der fettgedruckte Betrag von einer Million Dollar ins Auge, dann das Wort »Kampfnacht«.
Was zum ...
Ich hob den Zettel auf und überflog den Text.
KAMPFNACHT – $ 1.000.000 für die Sieger
(ohne Bedingungen)
Teams aus jeweils zwei Kämpfern treten gegeneinander an.
Wer am Ende noch steht, gewinnt.
Ausstrahlung im Fernsehen.
Altersbegrenzung 18 – 21 Jahre.
$ 100 Anmeldegebühr pro Team.
Die Gewinner werden eingeladen, der Armee
der Verdorbenen beizutreten.
Bei der letzten Zeile wurde mir übel. Armee der Verdorbenen? Was zum Teufel sollte das sein? Klang verdächtig ähnlich wie Engelsarmee, aber ... benutzten die Dämonen neuerdings Schüler der Tainted Academy, um sie jenseits der Mauer für sich kämpfen zu lassen? Das war ekelhaft.
Mir wurde schwindlig, und ich setzte mich aufs Bett. Als ich mich in die Kissen zurücklehnte, drehte ich das Flugblatt um. Die krakelige Handschrift meines Bruders ließ mein Herz einen Schlag aussetzen.
Geld gewinnen. Mom aus dem Dämonenvertrag herauskaufen. Ihre Seele befreien.
Ich setzte mich auf. Konnte mein Bruder etwa die Lösung gefunden haben, um unsere Mom zu befreien? Würde Grim sie für eine Million aus ihrem Vertrag entlassen? Immerhin hatte sie eben erst erwähnt, dass sich bei ihm alles nur um Geld drehte ...
Mit wild klopfendem Herzen stand ich auf. Ich würde bei der Kampfnacht antreten und meine Mutter befreien. Aber ich würde Hilfe dabei brauchen.
Mit einem Blick auf den Zettel stellte ich fest, dass der Kampf im Februar stattfinden sollte, noch Monate entfernt. Mir blieb Zeit zum Planen.
Halt durch, Mom. Ich hol dich da raus.
»Kommt überhaupt nicht infrage!«, tobte Lincoln. Er klang umso lauter, weil wir uns in seinem winzigen Wohnwagen befanden. Es war spät, und ich wollte nur noch, dass dieser ereignisreiche Tag endlich endete, aber ich konnte Lincoln nicht anlügen. Außerdem würde ich seine Hilfe brauchen.
»Schatz.« Den Kosenamen hatte ich noch nie benutzt, und ich hoffte, Lincoln dadurch milde zu stimmen. »Ich werde es so oder so tun. Ich bitte dich nur, mich für den Kampf zu trainieren.«
Lincoln war außer sich vor Zorn. Die Adern an seinem Hals traten hervor, sein linkes Augenlid zuckte. »Du weißt doch nicht mal, ob er das Geld nehmen wird!«
»Er wird«, meldete sich Shea zu Wort, die während unseres Streits geschwiegen hatte. »Geld ist seine Motivation. Ich hab fast sechs Jahre lang für ihn gearbeitet. Wenn die Nekro-Klinik nicht viel abwirft, wird er die Million als faire Ablöse für den Verlust einer Mitarbeiterin betrachten. Er wird eine neue Nekromantin einstellen und zufrieden mit dem Deal sein.«
Lincoln warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Noah und ich werden antreten«, verkündete er schließlich.
Ich zuckte zusammen und zeigte auf das Flugblatt. »Hier steht nur von achtzehn bis einundzwanzig. Ihr seid dreiundzwanzig.« Trotzdem fand ich es süß von ihm, dass er anbot, für meine Mutter zu kämpfen. Das würde ich ihm nie vergessen.
Er presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen und massierte sie. »Nein, du machst es nicht. Wir sammeln Spenden oder so.«
Ich stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Eine Million an Spenden? Die Leute mögen mich noch nicht mal! Sie halten mich für böse. Niemand wird was spenden, um meine versklavte Mutter aus Demon City rauszuholen, Lincoln.«
Er seufzte. »Es ist trotzdem eine miese Idee. Du könntest sterben.«
Ich trat näher an ihn heran und berührte ihn am Arm. »Es geht um meine Mutter, Lincoln. Um meine Familie. Um die Frau, die mir das Leben geschenkt hat.« Jetzt hatte ich ihn so weit. Lincoln gab sich geschlagen.
»Du bringst mich noch ins Grab«, seufzte er.
Ich grinste. »Also, trainierst du mich?«
Brummelnd nickte er. »Wer ist dein Kampfpartner?«
Shea stand auf und knackte mit den Knöcheln. »Die Ghetto-Bitches der Tainted Academy können einpacken«, erklärte sie nüchtern.
Lincoln seufzte erneut und verdrehte die Augen in Richtung Decke, als wären dort Antworten zu finden. »Das werden wir ja noch sehen. Wir treffen uns jeden Tag nach der Grundausbildung in der kleinen Turnhalle. Jeden Tag. Auch an den Wochenenden. Und wenn die Schule wieder losgeht, will ich euch jeden Tag nach dem Unterricht dort sehen.«
Shea stöhnte. Lincoln warf ihr einen finsteren Blick zu. »War bloß Spaß«, sagte sie schnell und fügte ein gefaktes »Yeah« hinzu.
Lincoln massierte sich weiter die Schläfen. »Jetzt raus hier, bevor ich’s mir anders überlege.«
Wir wandten uns zum Gehen. Seine Hand schnellte vor und zog mich zurück. In dem Moment, als seine Lippen meine berührten, spürte ich, wie all meine Sorgen dahinschmolzen. Lincoln stand hinter mir. Wenn er uns trainierte, konnten wir das Ding locker gewinnen. Wahrscheinlich.
Als er sich von mir löste, sah er mich mit seinen tiefblauen Augen durchdringend an. »Ich liebe dich, Brielle. Aber bitte hör auf, ständig zu versuchen, dich umzubringen«, bat er mich.
Ich grinste. »Geht klar. Gleich nach dieser einen Sache.«
Schmunzelnd verdrehte er die Augen. »Gute Nacht.« Er küsste mich noch einmal und ließ meine Knie damit schwach werden.
»Nacht.« Ich grinste wieder.
* * *
Shea warf mir einen schiefen Seitenblick zu, als wir zu Mikeys Häuschen gingen, um nach ihm zu sehen. »Wir schaffen das doch, oder? Ich meine, gegen die Kids aus Demon City zu kämpfen. Die sind ja dort schon wirklich krass drauf ...«
Shea hatte zwar nur eine kurze Zeit an der Tainted Academy verbracht, aber ich wusste, dass sie es dort schwer gehabt hatte. Ich durfte nicht zulassen, dass sie die Hoffnung verlor. Also blieb ich stehen, drehte mich zu ihr und sah ihr fest in die großen braunen Augen.
»Wir sind in der gleichen Gegend aufgewachsen wie sie. Wir wissen, wie man schmutzig kämpft, aber wir bekommen hier eine wesentlich bessere Ausbildung. Mit Sera und deiner Magie können wir gewinnen, das weiß ich. Für Mom.«
Shea nannte sie zwar nie »Mom«, sondern immer Kate, trotzdem war sie auch Sheas Mutter.
»Für Mom«, pflichtete sie mir lächelnd bei.
Familie war Familie. Das Blut spielte dabei keine Rolle.
Ich umarmte sie, bevor wir weiter zu Mikeys neuer Bleibe gingen.
Als wir an seiner Tür ankamen, klopfte ich laut, noch bevor mir der Gedanke kam, er würde wegen der Medikamente, die Noah ihm gegeben hatte, wahrscheinlich schlafen.
»Herein!«, rief er. Mein Bruder klang benommen.
Shea und ich traten ein. Mikey lag im Bett und scrollte auf dem Display seines Handys. Er legte es weg und setzte sich langsam auf, hielt sich dabei aber immer noch die Rippen.
»Danke, dass du mir die Unterkunft hier besorgt hast, Bri.« Lächelnd deutete er auf den Raum, aber seine Züge fielen in sich zusammen, als sein Blick an dem Blatt Papier in meinen Händen hängenblieb.
»Erwischt.« Ich hielt das Flugblatt hoch. Obwohl er nur ein Jahr jünger war als ich, bemutterte ich ihn noch immer.
Er schaute zu mir auf und seufzte. Die Spuren der Schlägerei in seinem Gesicht waren deutlich zu sehen, aber zumindest sah seine Nase wieder normal aus.
»Haben dich diese Kids deshalb angegriffen?«, fragte Shea und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Gedanke war mir gar nicht gekommen.
Er nickte. »Ich bin hingegangen, um mich anzumelden. Sie haben gesagt, ich wäre dafür viel zu verweichlicht, und sind über mich hergefallen. Meine hundert Mäuse haben sie mir auch abgenommen.«
Oh, verdammt. Schlagartig empfand ich zugleich Mitgefühl für ihn und heiße Wut auf die Penner von der Tainted Academy, die meinen Bruder angegriffen hatten.
»Mikey, du kannst nicht einfach solchen Mist abziehen! Du musst zuerst zu mir kommen. Mit wem wolltest du eigentlich kämpfen?«, fragte ich aufgebracht.
»Wollte ich mir noch überlegen«, antwortete er schulterzuckend. »Du bist ja nicht mehr da, deshalb weißt du nicht, wie schlecht es Mom geht. Dieser Arsch kürzt ihr jede Woche den Lohn mit der Begründung, dass sie nicht genug Aufträge an Land zieht. Aber sie ist kein Dämon! Sie hat nicht Burdocks Verbindungen.«
Sofort packten mich Gewissensbisse. Lincoln hatte Burdock im Kampf getötet, und ich hatte keine Ahnung gehabt, dass dies so weitreichende Konsequenzen für meine Mutter haben würde. Grim kürzte ihr den Lohn jede Woche? Kein Wunder, dass sie mein Zimmer vermietet hatte.
Oh Gott, auf einmal machte ich mir echt Sorgen um sie. Von meinem nächsten Sold würde ich ihr Geld schicken. Wenn es sein müsste, würde ich sie zwingen, es anzunehmen.
Shea legte den Arm um Mikeys Schultern, als sie sich neben ihn setzte. »Keine Sorge. Bri und ich gewinnen die Kohle und holen Mom da raus.«
Sie ging immer so sanft mit ihm um, fuhr den totalen Kuschelkurs. Ich knuffte ihn normalerweise bloß in die Schulter und forderte ihn auf, die Klappe zu halten.
Grinsend schaute er zu mir auf. »Im Ernst?«
Ich nickte. »Wann ist Anmeldeschluss?«
Er deutete auf das Kleingedruckte unten auf dem Flugblatt. Letzte Anmeldemöglichkeit war der Tag der Erweckungszeremonie.
Also hatten wir noch Zeit. Ich würde diese Kampfnacht so was von gewinnen.
* * *
Nachdem wir sämtliche Informationen über die Kampfnacht aus Mikey herausgequetscht hatten, teilte ich ihm mit, dass er der neue Platzwart war. Zumindest über den Sommer.
Er fand sich damit ab, dass er für seinen Lebensunterhalt tatsächlich arbeiten musste, und uns allen gefiel der angenehme Alltagstrott der nächsten Wochen. Mikey kümmerte sich um das Schulgelände, Shea und ich trainierten wie blöd. Ich erzählte Raphael von der Sache mit der Armee der Verdorbenen, doch er wirkte nicht überrascht, bloß traurig.
Mittlerweile war der Sommer fast vorbei, und morgen fand die Erweckungszeremonie statt.
Shea stand in der Sporthalle und umklammerte ihre scharfen Rundklingen. Schweiß lief ihr über die Brust, während ihr düsterer Blick fokussiert auf Lincoln ruhte. Mein Freund stand vor ihr, das blaue, feurige Schwert hoch erhoben.
»Greif an!«, brüllte er, und Shea tat es. Ihre Fäuste umklammerten die flachen Griffe der Klingen, als die scharfen Halbkreise vorschnellten. Lincoln war so schnell, dass ich seine Bewegungen kaum verfolgen konnte und ihn nur verschwommen wahrnahm.
Die Jungs und er hatten uns hart trainiert. Während ich noch abgelenkt auf Shea und Lincoln starrte, nutzte Noah die Gelegenheit und trat meine Beine unter mir weg. Ich knallte auf den Boden. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich seine Klinge am Hals.
Verdammt.
Noah blickte auf mich herab. Schweiß glitzerte auf seiner perfekten Porzellanhaut. »Bei einem Kampf zwei gegen zwei musst du deinen eigenen Gegner im Auge behalten. Wenn du dich davon ablenken lässt, was Shea macht, gehst du drauf.«
Er hatte recht. Wenn es so weit wäre, würde ich mich völlig auf meinen eigenen Kampf konzentrieren müssen.
Mit einer schnellen Drehung wirbelte ich von seinem Schwert weg und nutzte den Schwung, um nun ihm gegen die Beine zu treten. Geräuschvoll ging Noah zu Boden. Sofort wälzte ich mich auf ihn. Doch als ich mich auf ihn kauern wollte, um ihn am Boden zu fixieren, schoss seine Handkante vor und gegen meine Kehle.
Heilige Scheiße ...
Schmerz breitete sich explosionsartig in meinem Hals aus, als ich röchelnd versuchte zu atmen. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, und meine einzige matte Verteidigung bestand darin, wegzukippen.
Noah warf mir einen Seitenblick zu. »Das war fies, tut mir echt leid, Bri. Aber die Kids von der Tainted Academy werden genauso kämpfen, also müsst ihr darauf vorbereitet sein.«
Während mir Tränen aus den Augenwinkeln liefen, konnte ich nur nicken. Er hatte recht. So recht, dass es wehtat.
Lincoln und Shea hatten innegehalten und eine Kampfpause eingelegt.
»Du hast recht, Noah«, meinte Lincoln. »Das bringt mich auf eine Idee.«
»Oh nein. Der Gesichtsausdruck gefällt mir gar nicht. Du hast den Blick aufgesetzt«, sagte ich zu ihm.
Er grinste nur, dann schaute er zu Shea. »Sag mal, wann rufst du ihn an?«
Schnaubend stieß Shea die Luft zwischen ihren vollen Lippen hervor. »Keine Ahnung. Bald mal.«
Wir hatten entschieden, dass lieber Shea den guten Meister Grim anrufen sollte. Wir brauchten von ihm die Erlaubnis, Demon City zu betreten, damit wir uns für den Wettbewerb anmelden konnten. Zumal ich ja versucht hatte, ihn umzubringen und so.
Lincoln schüttelte den Kopf. »Okay, besorg uns drei Pässe. Ich begleite euch Mädels.«
Noah verzog mürrisch das Gesicht. »Hey, ich bin noch nie in Demon City gewesen. Ich will auch mit.«
Sheas Blick begegnete seinem. »Glaub mir, du verpasst nicht das Geringste.«
»Frag einfach«, forderte Lincoln sie auf und hielt ihr das Handy hin.
Sie kaute auf der Unterlippe. »Mann, ist mir schlecht. Was, wenn er nein sagt? Dann haben wir die ganze Zeit umsonst trainiert.«
»Lass nicht zu, dass er nein sagt. Du kennst ihn. Setz alles ein, was du hast«, ermutigte ich sie.
Shea holte tief Luft, wählte mit eingeschalteter Freisprechfunktion Grims Nummer und begann, auf und ab zu gehen.
»Was willst du?«, fragte Grim knurrend in dem Moment, als er ranging. Da sie sechs Jahre lang seine Mitarbeiterin gewesen war, hatte er ihre Nummer natürlich in seinem Telefon gespeichert.
Abrupt blieb Shea stehen und wischte sich die verschwitzte Hand am Hosenbein ab. »Ihnen eine Million für Kate Atwaters Dämonenvertrag geben«, antwortete sie aalglatt.
Grim lachte schallend. »Verschwende nicht meine Zeit mit Märchen, Engelsfreundin«, entgegnete er kurz angebunden.
Wieder biss Shea sich auf die Unterlippe. »Tue ich nicht. Sie müssen mir nur vier Pässe für Demon City ausstellen, damit ich mich für die Kampfnacht anmelden kann. Wenn mein Team gewinnt, kriegen Sie das Geld. Die gesamte Summe. Im Gegenzug rücken Sie Kates Vertrag raus.«
Stille. Eine lange, beklemmende Stille. Hat er aufgelegt?
»Du kannst nicht gewinnen. Du bist in Angel City mit Sicherheit schwach geworden. Verschwende nicht meine Zeit.« Damit legte er tatsächlich auf.
Was fällt ihm ein?
»Mistkerl!«, schrie Shea das Telefon an. Dann setzte sie sich auf den Boden und begann, wie wild auf dem Display zu tippen.
Stirnrunzelnd ging ich zu ihr. »Was ...« Meine Frage blieb mir im Hals stecken, als ich sah, dass sie Grims Foto von einer der Websites seiner Striplokale aufrief.
»Dem werd ich zeigen, wer hier schwach ist.« Sie wiegte sich vor und zurück, murmelte in einem leisen Singsang und bewegte die Hände über dem Handydisplay hin und her. Dunkelblaue Magie floss aus ihren Fingern und umhüllte das Telefon.
»Ist das Lichtmagie?« In Lincolns Stimme schwang Besorgnis mit.
Ich zog die Augenbrauen hoch, aber Shea ignorierte Lincolns Frage. »Es ist Magie, die ihm die Hörner abfallen lässt«, erklärte sie. Ich erbleichte.
»Shea ...« Bevor ich sie von ihrem Vorhaben abhalten konnte, leuchtete das Display. Grim rief an.
Shea beendete ihren Zauber und grinste, als sie ranging und ein zuckersüßes »Na, so was – hallöchen!« ins Telefon flötete.
»Was machst du denn?«, tobte Grim. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Spucke von seinem Mund spritzte.
»Wer ist jetzt schwach?«, fauchte Shea höhnisch. »Vor zwei Monaten habe ich dabei geholfen, vier Dämonen zu töten, also kommen Sie mir nicht damit, dass ich nicht gewinnen kann. Die Million gehört mir«, betonte sie mit einem Knurren.
Stille.
Noch mehr Stille.
»Nein, sie gehört mir. Du bekommst deinen Deal. Und jetzt hör auf, an meinen Hörnern rumzupfuschen«, brummte Grim wütend und legte wieder auf.
Shea lächelte, als wir uns alle zugleich verblüfft und erleichtert ansahen. Zwei Minuten später schickte Grim ihr eine Nachricht mit einem Pass für vier Personen aus Angel City, der uns eine Stunde Aufenthalt in Demon City erlaubte.
»Wir sind im Geschäft«, erklärte Lincoln.
Am nächsten Tag brachen wir auf, um uns für die Kampfnacht anzumelden. Nachdem wir die Grenze mit unseren Pässen passiert hatten, beschrieb Shea Lincoln den Weg zur Tainted Academy. Je länger wir fuhren, desto mehr rutschten Noah und Lincoln unbehaglich auf ihren Sitzen hin und her.
»Wieso geht es Shea und mir nicht schlecht, wenn wir hier sind, aber euch beiden schon?«, fragte ich Lincoln schließlich.
Er warf mir einen Seitenblick zu. »Shea spürt es nicht, weil es nur Celestials fühlen, und du nicht, weil ...« Er beäugte das Mal auf meiner Brust.
Ah. Interessant. Weil ich keine vollwertige Celestial war, sondern ein Luzifer-Hybrid.
Oh Mann. Tut mir leid, dass ich gefragt hab.
»Nach links in die Gasse da«, sagte Shea und lehnte sich vor. Wir bogen zwischen zwei Backsteingebäuden ab und fuhren durch eine schmale Gasse. Als wir das Ende erreichten, erwartete uns ein Dämonensklave, der wie ein Profi-Wrestler aussah und ein schwarzes schmiedeeisernes Tor bewachte. In der überdimensionierten linken Pranke hielt er eine kompakte schwarze Pistole.
Lincoln ließ das Fenster runter. Die Nasenflügel des Wachmanns blähten sich, als er ihn mit finsterer Miene ansah.
»Was wollt ihr hier?«, spie er uns entgegen.
Lincoln reichte ihm sein Handy mit dem Barcode, der zeigte, dass wir eine Genehmigung für den Aufenthalt in Demon City hatten. »Wir sind hier, um uns für die Kampfnacht anzumelden«, teilte Lincoln ihm mit.
Der Wachmann warf einen Blick auf das Display und zuckte mit den Schultern. »Hier steht, ihr dürft in Demon City sein. Aber nichts davon, dass ich euch in die Tainted Academy lassen muss.«
Verdammt.
Ich wollte gerade etwas sagen, als Shea ihr Fenster direkt hinter Lincoln herunterließ. Der Blick des Wachmanns schwenkte in ihre Richtung.
»Was ist los, Schnuckelbär? Angst, gegen zwei Kids von der Fallen Academy zu verlieren?«, fragte Shea herausfordernd.
Mürrisch funkelte er sie an. Seine Augenbrauen zogen sich zu einer buschigen, zornigen Linie zusammen. »Nimmst du teil?«
»Meine beste Freundin und ich«, bestätigte Shea mit einem Nicken und zeigte mit dem Daumen in meine Richtung. »Wir werden mit euch Losern von der Tainted Academy den Boden aufwischen.«
Seine finstere Miene verzog sich erst zu einem Grinsen, dann lachte er laut. Er fasste nach unten und zog sein Walkie-Talkie hervor. »Ich brauch ’ne Eskorte für ein paar Deppen von der Fallen Academy. Behaltet vor allem den Dunkelhaarigen im Auge. Er ist einer der Anführer der Engelsarmee.«
Mit einem Blick auf Lincoln grinste er hämisch, dann klopfte er auf die Motorhaube.
Lincoln schaute finster drein, als wir durch das Tor rollten.
Noah wandte sich an Shea. »Woher hast du gewusst, dass es so funktionieren würde?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Bitte. Männer werden von zwei Dingen gesteuert: ihrem Pimmel und ihrem Ego. Pimmel, Ego, Pimmel, Ego ...«
Noah hob abwehrend die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. »Schon kapiert.«
Schmunzelnd spähte ich zu Lincoln, der hinter dem Lenkrad das Gesicht verzog. »Woher kennt er dich?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe den Kerl noch nie zuvor gesehen.«
Noah lehnte sich von der Rückbank nach vorn und streckte den Kopf zwischen uns. »Ja, das war komisch. Sollten wir Raph erzählen.«
Lincoln nickte nur und lenkte den Wagen in eine Parklücke in der Nähe des Eingangs, wo zwei große Männer mit automatischen Gewehren standen.
»Scheiße, Mann, die sind hier bewaffnet. Das ist doch ’ne Schule, oder?« Lincoln drehte sich um und sah Shea an.
Ein Schatten huschte über ihre Züge, und sie nickte. »Eine total kranke Schule, ja.«
Die Kerle kamen auf unser Auto zu. Lincoln öffnete die Tür, stieg aus und richtete sich zu voller Größe auf.
»Keine Waffen auf dem Campus«, warnte einer der Wachmänner. Er sah brutal aus: groß, buschiges schwarzes Haar und eine rote Halbmond-Tätowierung auf der Stirn.
Lincoln schwieg ganze fünfundvierzig Sekunden lang, bevor er sich ins Auto lehnte und flüsterte: »Noah, du bleibst mit den Waffen hier. Wenn ich dir texte, fährst du auf den Campus und bringst mir mein Schwert.«
Heilige Scheiße, rechnet er etwa mit Schwierigkeiten?
Dann nahm er sein Schwert ab und legte es auf die Mittelkonsole.
Sehnsüchtig ließ Noah den Blick über den Campus wandern. Es war nicht zu übersehen, dass er gern mit hineinwollte. Aber er nickte nur in Lincolns Richtung, als Shea und ich ausstiegen. Ich wusste nicht, ob man uns durchsuchen würde, und ich konnte nicht riskieren, dass man mir Sera abnahm, also ließ ich sie auf dem Sitz zurück.
Als ich um den Wagen herumging und mich neben Lincoln stellte, sah ich, wie die Männer ihn auf Waffen abtasteten.
»Was ist mit ihm?« Sie zeigten auf Noah, der auf den Vordersitz geklettert war.
»Mein Chauffeur fühlt sich nicht gut. Er bleibt im Wagen«, antwortete Lincoln, ohne eine Miene zu verziehen.
Niemandem war entgangen, dass Lincoln gefahren war. Der dunkelhaarige Dämonensklave bedachte ihn mit einem letzten finsteren Blick, bevor er sich mir zuwandte. Ich trug ziemlich enge Kleidung. Er forderte mich auf, das Shirt zu heben und mich im Kreis zu drehen, damit er mich auf versteckte Waffen überprüfen konnte. Als ich wieder zum Stehen kam, stieß er einen anzüglichen Pfiff aus und glotzte auf meinen Bauch.
Lincolns Flügel fuhren schnappend aus, und er machte einen Schritt nach vorn, zweifellos um dem Kerl die Visage zu polieren.
Meine Hand schoss zur Seite und legte sich auf seine Brust. »Lass es«, murmelte ich.
Der Dämonensklave grinste von einem Ohr zum anderen.
»Jetzt du, Schätzchen«, wandte er sich an Shea. Meine Freundin setzte ihr bestes Dauerzickengesicht auf, als sie ihr Shirt anhob und sich drehte.
»Ihr Mädels glaubt also, ihr könntet einen Kampf gegen unsere Besten gewinnen?« Er musterte Shea und mich von oben bis unten.
Ignorier den Kerl. Im selben Moment schossen auch meine Flügel hervor. Die Spitzen berührten die von Lincoln.
Beim Anblick meiner schwarzen Schwingen weiteten sich die Augen der Wachleute. Erst jetzt schienen sie die Tätowierung des Fürsten der Finsternis auf meiner Brust zu bemerken.
Shea trat vor. »Zeig uns einfach, wo wir uns anmelden können, Süßer. Die Kohle gehört uns.« Sie war unschlagbar darin, streitlustige Kerle von einem Kampf abzulenken.
Der Dämonensklave grinste. »Das werden wir noch sehen.«
Lincoln wirkte wie ein angriffslustiges Raubtier. Sein gesamter Körper war angespannt. Er schien nicht einmal zu atmen. Ich wusste, wenn einer dieser Kerle nach einer Waffe griffe, würde sich Lincoln sowohl Shea als auch mich schnappen und uns zurück nach Angel City fliegen.
Die Kerle warfen einen letzten Blick auf Lincoln, verdrehten die Augen und setzten sich in Richtung des Eingangs in Bewegung.
Ich trat näher zu meinem Freund, verhakte meine Finger mit seinen und zog ihn mit mir. Wir mussten uns für den Kampf anmelden, sonst könnte ich meine Mutter nicht retten.
Lincoln wartete, bis sich unsere Aufpasser einige Meter vor uns befanden, damit sie seine Worte nicht hörten.
»Er hat dich wie ein Stück Fleisch angeglotzt. Ich will ihm die Augen ausstechen«, presste er knurrend hervor.
Meine Brauen wanderten zum Haaransatz hoch. »Verdammt, die Vibes hier sind ansteckend!«
»Ich hab euch ja gesagt, dass der Verein hier total krank ist«, flüsterte Shea. »Wahrscheinlich lassen sie uns die Anmeldung ausfüllen, und wenn wir gehen wollen, fallen sie über uns her oder so.«
Lincoln schnaubte höhnisch. »Den Versuch würde ich gern sehen.«
Shea und ich wechselten einen Blick. Sie hatten halbautomatische Gewehre. Wir waren unbewaffnet, und Lincoln schien es nicht allzu gut zu gehen. Er schwitzte und atmete schwer. Wenn sie uns angriffen, würden sie uns fertigmachen, so viel stand fest.
Als wir den Innenhof betraten, stach mir auf Anhieb ins Auge, wie verwahrlost die Gebäude waren. Sie bestanden alle aus brüchigem Ziegelstein und verschiedenfarbigem Wellblech. Zwei größere Gebääö