«Das Leben fällt uns zu, es ist im wahrsten Sinne des Wortes zufällig», schreibt Dieter Imboden. «Doch das enthebt uns nicht der Verantwortung, dem Zugefallenen eine Gestalt zu geben.» In seinen Erinnerungen überblickt er eine Zeitspanne von bald 80 Jahren und wirkt immer noch jung und vor allem: unkonventionell. Der Autor erzählt, wie er als Bub in Küsnacht in einer siebenköpfigen Familie aufwächst, die Leidenschaft für die Bahn entdeckt und darüber nachdenkt, wer das «Ich» verteilt. Er berichtet über die Schulzeit in Basel, den Studienanfang in Berlin kurz nach dem Bau der Mauer und die Berufstätigkeit als Physiker und Umweltforscher, schildert sein Werben um seine Frau und wie er mit ihr eine Familie und HausWG gründet.
Ein tiefsinniges und humorvolles Buch, das dazu anregt, sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen und zu staunen, wie viel in einem Leben Platz findet.
DIETER IMBODEN
ZUGEFALLEN
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© 2020 Zytglogge Verlag AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Dr. Irène Fasel
Layout/Satz: Zytglogge Verlag
e-Book: mbassador GmbH, Basel
ISBN ePub: 978-3-7296-2302-6
ISBN mobi: 978-3-7296-2303-3
www.zytglogge.ch
Dieter Imboden
ZUGEFALLEN
Ein Leben zwischen Menschen,
Wissenschaft und Umwelt
Für Sibyl, Lorenz und Salomé
Inhalt
1Das grosse Rätsel
2Familiäre Spurensuche
3Zeitordnung
4Ich?
5Abschied vom Rollenzuteiler
6Kulturschock in der Dalbe
7Der Grüne Heinrich im Baselbiet
8Lehrer fürs Leben
9Sibyl
10Musik
11Universitas
12Zwischen Partizipation und Opposition
13Anarchie und Nützlichkeit
14Des Forschers Ariadne
15Von den Umweltnaturwissenschaften zur 2000 Watt-Gesellschaft
16Wissenschaft und globale Politik
17Der Baum
Lebensdaten
Das Leben fällt uns zu, es ist im wahrsten Sinne des Wortes «zufällig» – nicht nur unsere Geburt, sondern alles andere auch. Doch das enthebt uns nicht der Verantwortung, dem Zugefallenen eine Gestalt zu geben. Auf jedem Lebensweg liegen Schätze, aber sie erscheinen uns meistens nicht so, wie wir sie erwarten. Wichtiger als die aktive Suche nach dem ««Vorgefassten» ist die Bereitschaft, mit offenen Augen das Unerwartete zu entdecken und sich danach zu bücken.
1 Das grosse Rätsel
Wie der Kindergärtner über seine Rolle nachdenkt, wieso Erinnerungen einem neuronalen Dendritenknäuel gleichen, und was man vom Brückenbauingenieur über das Leben lernen kann.
Was verbindet den älteren Mann mit dem Knirps, der in Küsnacht auf dem Weg in den Kindergarten die Entdeckung macht, dass er für eine Lebensrolle zuständig ist, welche er niemandem delegieren kann? – Der erste morgendliche Blick in den Spiegel und die Schmerzen in den Knochen sagen es deutlich: Dieser Körper ist schon lange nicht mehr der Gleiche wie derjenige des Buben an der Schwelle zur eigenen Identität. Und doch: Unabhängig von all den seither gemachten Erfahrungen und dem angehäuften Wissen fühlt sich der Alte im Innersten unverändert und dem damaligen Kindergärtner unendlich nahe. Das grosse Lebensrätsel von damals beschäftigt ihn noch immer: Wieso bin ich ««ich»?
Niemand hat mich gefragt, ob ich die Rolle spielen möchte, die mir das Leben zuteilte. Kein Mensch ist je gefragt worden, aber wir alle müssen zur Kenntnis nehmen, dass man dieser Rolle nicht entrinnen kann. Natürlich kommt diese Einsicht nicht schlagartig; vielmehr nistet sie sich langsam und unmerklich in unserem Bewusstsein ein und tut dann so, als ob sie immer schon dagewesen wäre. «Hier hast du deine Rolle», sagt mir mein Ich, «mach eine gute Geschichte draus.»
Viel später, in meinen mittleren Lebensjahren, ich hatte mich längst in meinem Ich eingerichtet, wuchs in mir die Vorstellung, das Leben gleiche dem Bau einer Brücke über einen breiten Fluss, an dessen einem Ufer der Mensch in die Welt tritt – getreten wird – und an dessen anderem Ufer er wieder im Nichts verschwindet. Ich hatte, ohne mir darüber viele Gedanken zu machen, während vieler Jahre an meiner Brücke gebaut, einer Brücke, welche sich, wie eine moderne Konstruktion, bisher nur auf den einen Brückenkopf, demjenigen der Geburt, abstützte. Sorglos und voller Zuversicht, die einseitige Verankerung würde schon halten, baute ich mein Werk in einem schön geschwungenen Bogen in den Fluss hinaus. Irgendwann aber, ich hatte die Lebensmitte vermutlich längst überschritten, wurde mir klar, dass es nun höchste Zeit sei, auch an das jenseitige Fundament zu denken.
Quidquid agis, prudenter agas et respice finem – Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende. Eines Tages ist man alt genug, auch den zweiten Teil dieses alttestamentarischen Leitspruches ernst zu nehmen, das respice finem, das mich in meinen jungen Jahren kaum beschäftigt hatte. Doch wie soll man das Ende bedenken und jenes andere Fundament ins Auge fassen, wenn man nicht weiss, wie breit der Fluss ist, weil Nebel das jenseitige Ufer verbirgt und man befürchten muss, dieses andere Ufer tauche vielleicht ganz unvermittelt auf und entpuppe sich als schwieriger Baugrund für ein solides zweites Fundament?
Natürlich hoffe ich – wer täte es nicht? –, mein Leben werde sich dereinst zu einem harmonisch geschwungenen Ganzen vollenden, doch erzwingen kann man diese Hoffnung nicht. Die Naturwissenschaften, die in meinem Leben eine zentrale Rolle spielen, haben mich gelehrt, dass der menschlichen ratio nur die causa efficiens, die wirkende Ursache, zugänglich ist, also – um im Bild zu bleiben – das diesseitige Fundament der Lebensbrücke, während die causa finalis, die aristotelische Zielursache, falls sie existiert, jenseits der ratio liegt und dem Menschen verborgen bleibt.
So wuchs in mir die Erkenntnis, anstatt vergeblich nach dem jenseitigen Fundament meiner Brücke zu suchen, sei es sinnvoller, die wirkenden Ursachen meines Lebens aufzuspüren, den inneren und äusseren Kräften nachzugehen, welche mein Leben geprägt haben. Kräftelinien verlaufen nicht chronologisch, so wie auch unser Gedächtnis und unser Wissen im Gehirn nicht chronologisch geordnet sind, sondern entlang von Sinn- und Erfahrungszusammenhängen. Es gibt in jedem Leben Schlüsselmomente, gleichsam zelluläre Ausgangspunkte, bzw. – um das menschliche Gehirn als Metapher zu verwenden – Neuronen, von denen sich Dendriten (Nervenzellfortsätze) durch unser ganzes Leben ziehen, auf andere Zellen treffen, sich mit diesen verbinden und sich davon wieder trennen, sich dabei stetig verändern und sich so im Laufe unseres Lebens zu einem komplexen Knäuel verweben, in dem es schwierig ist, Anfänge und Enden, Ursachen und Wirkungen zu isolieren. So bleibt dem Nachforschenden nur der Versuch, irgendwo einen Erfahrungsstrang herauszuzupfen und ihm zu folgen. Was dabei herauskommt, muss immer Stückwerk bleiben, so wie auch der Neurologe, welcher der menschlichen Gehirnstruktur nachspürt, immer nur Teile des Ganzen in den Blick bekommt. Und doch, die Unvollständigkeit seiner Bemühungen hat den fragenden Menschen nie davon abgehalten, immer und immer wieder an einer anderen Stelle einen Faden aufzunehmen und seiner Neugierde zu folgen.
Fragen stellen und auf der Suche nach einer Antwort verschiedene Wege ausprobieren: Wie in der Forschung allgemein will ich es auch hier so halten, wo der Gegenstand meiner Neugierde mein eigenes Ich ist. Dabei kann ich nicht wissen, wohin mich meine Suche führt und ob die so entstehenden, sich überschneidenden Lebensgeschichten am Schluss ein Bild ergeben, welches mich bei der Vollendung meiner eigenen Lebensbrücke unterstützt.
Natürlich bin ich mir dessen sehr wohl bewusst, dass ich den Leser mit meinem «Knäuel» assoziativer Themen, welche sich alle in ihrer eigenen Art durch mein ganzes Leben ziehen, weit mehr strapaziere als mit einem linearen Lebensbericht. Überschneidungen und Wiederholungen sind unvermeidlich. Doch lineare Lebensläufe sind mir suspekt. Wie heisst es bei Max Frisch: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.»1
In einem Punkt gebe ich Frisch alias Gantenbein recht: Das Leben ist nicht eine Geschichte, das Leben ist vielmehr eine Art persönliche Anthologie, eine Sammlung von Geschichten, welche aus einigen wenigen, sich wiederholenden Grundthemen bestehen. Nicht diese Grundthemen machen uns als Individuum einzigartig, sondern die Art und Weise, wie wir sie für uns persönlich gestalten. Ich habe versucht, für meine Aufzeichnungen jene Geschichten auszuwählen, welche in meinem Leben zentrale Bedeutung haben.
1Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1964, 45.
2 Familiäre Spurensuche
Wie während des Krieges in der Schweiz voller Zuversicht geheiratet wird und grosse Familien geplant werden, das Fotoalbum von Mutter Elisabeth für einen Rückblick dient, und was der frühe Tod von Vater Max für seine Frau und seine Kinder bedeutet.
Max Imboden und Elisabeth Stahel heiraten am 19. Juni 1941. Es ist der 26. Geburtstag von Max; Elisabeth ist achtzehn Tage älter als ihr frisch angetrauter Mann. In Europa herrscht Krieg. Vieles deutet darauf hin, dass die bis jetzt unbesiegt gebliebene Armee von Adolf Hitler schon bald ganz Europa beherrschen wird. Die Schweiz ist von den Achsenmächten eingekesselt. Noch hat es Hitler nicht als wichtig genug befunden, die Schweiz dem Dritten Reich einzuverleiben, aber man macht sich in der Schweiz weder in der Regierung noch in der Armee Illusionen darüber, dass er es tun könnte.
Trotz düsterer Aussichten lassen sich die Menschen nicht davon abhalten, einen Bund fürs Leben zu schliessen, Familien zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Das Hochzeitsfest von Max und Elisabeth findet im Hotel Storchen in Zürich statt. Die Hochzeitsbilder zeigen eine kleine Schar festlich gekleideter Menschen an einer mit Blumen dekorierten Tafel vor reich beladenen Tellern, denen man die Nahrungsmittel-Rationierung nicht ansieht. Ein einziger Gast trägt die Uniform der Schweizer Armee. Man unterhält sich vortrefflich, lacht der Nachbarin zu oder lauscht einer Rede. Hier scheint der Krieg für einen Augenblick vergessen zu sein.
Ich blättere im Hochzeitsalbum der Grosseltern, das sich im Nachlass meiner Mutter fand, und entdecke ein Bild, das dieses Glück nicht schöner ausdrücken könnte: Schelmisch und innig zugleich schaut die Braut zum Bräutigam zu ihrer Linken, das Gesicht umrahmt von einem der Zürcher Tracht nachempfundenen Brautschleier. Indes der Bräutigam, ein glücklich-verträumtes Lächeln im Gesicht, in eine undefinierbare Ferne blickt, während er der Rede des Brautvaters lauscht. Wie eine Gestalt aus einer Novelle von Gottfried Keller scheint Alfred Stahel, listig und über den Kopf seiner Tochter hinweg, dem Schwiegersohn gute Ratschläge zu geben, wobei er mit leicht erhobener rechter Faust seine Worte unterstreicht. Vergessen ist die dreijährige Verlobungszeit, welche der ökonomisch gestrenge Brautvater dem Paar aufgebrummt hat, bis der ungeduldige Bräutigam nach Abschluss von Studium und Doktorat in der Lage ist, selbständig eine Familie zu ernähren.
Ein Zwiegespräch anderer Art dokumentiert ein Foto, das am selben Tag beim Apéro entstanden sein muss: An einem kleinen runden Tisch sitzt vor einem Wandgemälde, vermutlich im Werdmüller-Zimmer, die berühmte Ärztin aus St. Gallen, Frau Dr. med. Frida Imboden-Kaiser, Gründerin des Ostschweizer Kinderspitals und Mutter des Bräutigams. Stolz schaut sie zu ihrem Sohn auf, Doktor der Jurisprudenz, der neben ihr steht, die linke Hand in der Hosentasche, die rechte zu einer erklärenden oder beschwichtigenden Geste ausgestreckt. Man ahnt, dass hier ein schwieriges Kapitel familiärer Auseinandersetzung eine positive Wendung genommen hat.
Die tüchtige, selbstbewusste und manchmal auch herrschsüchtige Frida Kaiser und der sensible und in ökonomischen Dingen ungeschickte Psychiater Karl Imboden heirateten, als die beiden Mediziner bereits die Mitte Dreissig überschritten hatten. Die Ehe funktionierte nie besonders gut, zu verschieden waren die Temperamente. Nach einer frühen Trennung wurde sie schliesslich geschieden. Was Frida in St. Gallen am liebsten ganz verschwiegen hätte: Die drei Kinder, eine Tochter gefolgt von zwei Söhnen, wurden im Scheidungsurteil nicht, wie es damals selbstverständlich war, alle der Mutter zugesprochen. Der ältere Sohn Max kam in die Obhut seines Vaters, mit dem er sich wesensverwandt und bis zu dessen frühen Tod im Januar 1941 sehr verbunden fühlte. Der Bannstrahl der durch das Gerichtsurteil zurückgesetzten Mutter traf nicht nur ihren ehemaligen Gatten, sondern auch den Sohn; er fiel bei seiner Mutter in Ungnade und wurde weitgehend enterbt. Vater Karl erlebte die Hochzeit von Max und Elisabeth nicht mehr. Nach seinem Tod stellte Frida den Krieg gegen ihren Sohn Max sukzessive ein, ja wandelte ihn später, als dieser Professor in Basel geworden war, in mütterlichen Stolz: «Mein Sohn, Professor Imboden in Basel…», hörte man sie später gerne sagen.
Pünktlich zehn Monate nach der Hochzeit, im April 1942, schenkt Elisabeth ihrer ersten Tochter, Regula Elisabeth, das Leben. Die Geburt ist in ihren Augen der Anfang jener grossen Familie, welche sie sich schon als Mädchen gewünscht hat. Etwa zwölf Kinder müssten es werden. Nur wenig mehr als zwei Jahre nach der Hochzeit, im August 1943, erreicht mit der Geburt des ersten Sohnes, Dietrich Max, die Familie bereits die Normgrösse von heute.
In Europa und der halben Welt tobt der Krieg mit unverminderter Heftigkeit. Max sorgt als Substitut des Bezirksgerichtes von Horgen, wo die junge Familie wohnt, für jenen Lebensunterhalt, welcher sein Schwiegervater gemeint hat, als er die Verliebten auf die lange Wartebank verwies. Dazwischen amtet er, wegen einer früheren Operation an der Lunge militärdienstuntauglich, als Luftschutzsoldat und übt mit den Bewohnern von Horgen den raschen Bezug der Luftschutzkeller und die Brandbekämpfung mit Eimerspritzen und auf den Dachböden gestapelten Sandsäcken.
Elisabeth, die junge Mutter, nimmt sich neben ihren wachsenden Pflichten im Haushalt von Anfang Zeit, die Entwicklung der Familie in Wort und Bild für die Nachwelt zu dokumentieren. Mit ihrer gut leserlichen Schrift schreibt sie, in flüssigen und zuweilen langen, aber immer druckreifen Sätzen, welche kaum je eine nachträgliche Korrektur nötig machen, an einer Familienchronik. Gleichzeitig legt sie für jedes ihrer Kinder ein eigenes Fotoalbum an.
Als die erwachsenen Kinder Familien gründen und dabei ihre persönlichen Fotoalben mitnehmen, realisiert Elisabeth, dass sie dadurch einen Teil ihrer eigenen Geschichtsschreibung verliert und stellt nachträglich aus den Kinderalben ihre eigene Chronik zusammen. Darin blättere ich auf der Suche nach meinem damaligen Verhältnis zu Eltern und Geschwistern.
***
Oktober 1943: Der zwei Monate alte Dieter liegt staunend auf dem Rücken. Seine Schwester Regula beugt sich nachdenklich über ihn. Sie hantiert mit ernstem Gesicht am Arm des Bruders. Schliesslich entscheidet sie sich zur Tat und stopft dem Bruder, ob er es will oder nicht, den Nuggi2 in den Mund.
Frühling 1944: Elisabeth, elegant gekleidet, einen rassigen Hut mit breiter Krempe auf dem Kopf, wendet sich, hinter dem Kinderwagen kauernd, stolz und inniglich ihrem Sohn zu. Dieser sitzt vergnügt im Wagen, streckt seinen linken Arm der Mutter entgegen und berührt diese mit seinen kleinen Händen liebevoll am Kinn. Das Bild muss an der Seestrasse in Horgen entstanden sein.
November 1945: Vater Max ist zum Rechtskonsulent der Stadt Zürich ernannt worden. Max und Elisabeth müssen sich im Hinblick auf das dritte Kind, das auf den kommenden April erwartet wird, nach einer grösseren Wohnung umsehen. Sie finden diese in Küsnacht, wo Elisabeth den grössten Teil ihrer Jugend verbracht hat und wo auch die Eltern Stahel wohnen. Zudem liegt Küsnacht näher am neuen Arbeitsort von Max.
An einem kalten Novembertag machen die Eltern mit ihren beiden Kindern einen Ausflug. Kahle Fichtenstämme ragen aus dem unterholzlosen Waldboden in den nicht sichtbaren November-Himmel empor. Max sitzt in dickem Wintermantel, den Hut tief ins Gesicht gezogen, auf einer Bank zwischen seinen beiden Kindern, zur Linken Tochter Regula, zur Rechten Sohn Dieter, beide aufrecht neben dem Vater. Ihre Hände scheinen sich auf dessen Schoss leicht zu berühren, als ob sie über ihn hinweg geschwisterliche Zusammengehörigkeit ausdrücken möchten. Die gleiche Konstellation mit der Mutter in Pelzmantel und mit Kopftuch: Ihre Arme umfassen die beiden Kinder, die sich an die Mutter kuscheln oder von ihr zu sich herangezogen werden.
Was auffällt: Der Krieg ist zwar unterdessen vorbei, und doch schauen beide Eltern besorgt, ja niedergedrückt in die Kamera. Viel später erfahre ich, dass es für sie eine schwierige Zeit gewesen ist: Max sucht nach der für seine grossen Ideen adäquaten beruflichen Tätigkeit, Elisabeth im Trubel der wachsenden Ansprüche von Ehemann und Kindern im Rahmen einer Psychoanalyse nach ihrer eigenen Identität.
Im April 1946 kommt Christoph Niklaus zur Welt, an Weihnachten 1947 Johannes Ulrich. Im siebten Ehejahr ist die Familie bereits auf vier Kinder angewachsen. Regula und Dieter bilden fortan das Paar der «Grossen», Christoph und Hannes (wie Johannes genannt wird) die «Kleinen». Mutter Elisabeth hat mit ihren vier vorschulpflichtigen Kindern mehr als genug zu tun. Die neue Wohnung in Küsnacht liegt ein gutes Stück oberhalb des Dorfkerns. Ein Auto gibt es nicht, also müssen die Einkäufe zu Fuss die steile Allmendstrasse hinaufgeschleppt werden. Ob Elisabeth immer noch an ihren Traum von zwölf Kindern denkt?
Zumindest an mehr Wohnraum denken Max und Elisabeth. Im Jahre 1949 können sie dank der Erbschaft von Grossvater Stahel, der 1946 überraschend gestorben ist, das unbebaute Grundstück neben dem grossmütterlichen Haus an der Zürichstrasse kaufen. Dort entsteht ein von Architekt Franz Jung (Sohn von C.G. Jung) geplantes Haus. Im April 1950 bezieht die Familie ihr neues Heim, ein kleines Paradies mit einem grossen Garten, der ohne Zaun mit demjenigen der Grossmutter verbunden ist.
Die Kinder sind noch zu klein um zu ahnen, was die Versorgung der ganzen Familie an Arbeit und Geldmitteln benötigt. Im Gegenteil: Dass die Mutter wenig Zeit hat, kann ihnen nur recht sein, denn umso unbeschränkter sind ihre Freiheiten. Die Nachbarschaft, der Wald, die Allmendstrasse hinunter ins Dorf, später die Zürichstrasse und der nahe See mit dem Küsnachter Horn, das alles sind Orte, die es – mit wachsendem Aktionsradius – zu entdecken gibt. Der Autoverkehr ist noch bescheiden, die selbständige Überquerung der Seestrasse traut man sich auch als Siebenjähriger zu, auch wenn es dort noch keine einzige Personenunterführung gibt.
Ab Frühling 1947 besucht Regula den Kindergarten, ein Jahr später Dieter. Im Laufe der Zeit übernehmen die Grossen immer mehr Verantwortung für die Kleinen. Im Frühling 1951 entsteht vor dem neuen Haus an der Zürichstrasse ein Foto von Dieter und Christoph: Die beiden Brüder marschieren Hand in Hand Richtung Dorf, links Dieter, der Zweitklässler, den Schulranzen am Rücken, rechts Christoph, das Znünitäschli3 umgehängt. Christoph geht seit wenigen Wochen in den Kindergarten, sehr gegen seinen Willen, so dass es jeden Morgen zu einem kleinen Familiendrama kommt. Wann immer der Stundenplan von Dieter es erlaubt, begleitet er seinen jüngeren Bruder bis zum Schulhaus an der Wiltisgasse, manchmal schiebt er ihn sogar auf dem Trottinett.
Auf einem weiteren Bild aus jener Zeit stehen Dieter und Hannes im Garten des grossmütterlichen Nachbarhauses, beide in Wintermänteln. Dieter blickt fürsorglich zum dreijährigen Bruder hinunter, seine rechte Hand liegt auf dessen Schulter, während Hannes, aufrecht wie ein kleiner Soldat, ernst in die Ferne schaut, als ob er dort Sicherheit für die Zukunft suchen würde.
Im Dezember 1951, vier Tage vor Weihnachten, kommt als fünftes Kind Dorothea Hedwig Esther zur Welt. Wie sich zeigen wird, ist die Familie jetzt, etwas mehr als zehn Jahre nach der Hochzeit von Elisabeth und Max, komplett. Zwei Mädchen, neun Jahrgänge, aber altersmässig beinahe zehn Jahre auseinander, rahmen die drei Buben ein. Es sind zwar nur fünf, nicht zwölf Kinder. Dieter findet aber schon diese Familiengrösse an der Grenze des Üblichen oder gar Schicklichen. Als ihm seine Mutter im Laufe des Sommers 1951 eröffnet, er bekäme um die Weihnachtszeit noch einmal eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder, will er dies in seiner Klasse besser nicht publik machen, denn so viele Kinder, sagt er, hätten nur arme Leute und Katholiken.
Doch das «arme Katholikenkind» scheint schon bald die besondere Zuneigung seines ältesten Bruders gewonnen zu haben. Im Sommer 1952 führt er die Schwester im Kinderwagen (ein rassiges Gefährt, Sportwagen genannt) gerne in Küsnacht spazieren. Die Mutter freut sich darüber. Nur einmal, als Dieter zu spät und etwas ausser Atem zum Nachtessen erscheint, macht sie sich Sorgen. Er sei mit Dorothee bis an die Stadtgrenze von Zürich, zum Bahnhof Tiefenbrunnen gegangen (rund 8 Kilometer hin und zurück), um der Schwester dort das Zürcher Tram zu zeigen, erklärt er nachher seiner Mutter voller Stolz. Womit die Sache erledigt ist.
Weil Vater Max als Professor an die Universität Basel berufen wird, muss die Familie im Sommer 1953, nach nur drei Jahren, das Küsnachter Haus bereits wieder verlassen. Im Familienalbum findet sich eine Serie von vier Bildern von Dieter und Dorothee, welche im Februar 1954 im kleinen Garten des neuen Domizils am Hirzbodenweg in Basel entstanden sind: Aufmerksam Dieter, damals in der vierten Primarklasse und kurz vor dem Übertritt ins Gymnasium, seine dreijährige Schwester auf ihrer Erkundigungstour durch den Garten. Die Kamera schwenkt zur Seite, hinter den beiden erscheint ein hölzerner Puppenwagen, worauf Dieter sich zur Schwester hinunterbeugt, ihr etwas zuflüstert und versucht, sie zur Kamera zurückzudrehen, was ihm alsbald glückt. Die Hände noch auf ihren Schultern, erhebt er sich wieder und freut sich offensichtlich über die gelungene Inszenierung, während Dorothee die Deichsel ihres kleinen Wagens festhält und leicht verdutzt in die Kamera schaut.
Im Sommer 1953, unmittelbar vor dem Umzug nach Basel, unternehmen Elisabeth und Max mit ihren fünf Kindern einen Ausflug ins Ritterhaus in Bubikon im Zürcher Oberland. Wie seinerzeit bei der Küsnachter Allmend gruppiert sich die nunmehr fünfköpfige Kinderschar einmal um den Vater, einmal um die Mutter, doch diesmal machen alle einen glücklicheren Eindruck.
Dieter sitzt als einziger links vom Vater, zur Rechten folgen Christoph, Hannes und – ein wenig auf Distanz – Regula mit Dorothee auf ihrem Schoss. Der Vater lächelt stolz in die Kamera, seine Hände auf den Knien gefaltet. Hier sieht man, so kommt es mir vor, lauter unabhängige Menschen, zwar nahe nebeneinander, aber jedes für sich schon eine unabhängige Person.
Auf dem entsprechenden Gruppenbild mit der Mutter ist Dieter immer noch auf der linken Seite, doch hat sich Hannes zwischen ihn und die Mutter gesetzt. Elisabeth umfasst Christoph von rechts mit ihrem Arm. Neben Christoph, praktisch gleich wie auf dem Vater-Bild, folgen die beiden «distanzierten» Mädchen.
***
Ich bin mir bewusst, dass die Interpretation alter Fotos, so spannend sie für die Betroffenen erscheinen mag, aus verschiedenen Gründen an ihre Grenze stösst. Vor allem aber ist im vorliegenden Fall der Interpret selber Teil der Geschichte und damit bei der Rekonstruktion des damaligen Familiengefüges nicht objektiv. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass meine Deutung der alten Bilder wegen der zeitlichen Distanz stark durch meine heutige Sicht auf das Verhältnis zu Eltern und Geschwistern beeinflusst ist und ich dadurch, wie Max Frisch sagen würde, mein Leben «erfinde».
Tatsächlich ist jede Betrachtung über sich selbst, sei diese auf die Gegenwart oder die Vergangenheit bezogen, immer subjektiv und damit eine Art von Erfindung. Doch wieso soll meine heutige Sicht weniger authentisch sein als die damalige – falls es damals eine solche Analyse überhaupt gegeben hat? Ich kann mir also durchaus die Frage stellen: Wie interpretiere ich heute mein damaliges Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern und umgekehrt deren Verhältnis zu mir?
Wenn ich die beiden zuletzt erwähnten Familienbilder vor dem Ritterhaus in Bubikon betrachte, sehe ich darin das unterschiedliche Verhältnis von Mutter und Vater zu ihren Kindern treffend widergespiegelt: Hier sitzt der Vater als Teil einer grossen Familie inmitten seiner bereits als Individuen erkennbaren und von ihm so behandelten fünf Kinder, dort schart eine Mutter voller Freude und Stolz «ihre Kinder» um sich. So ist auch meine Erinnerung an die Eltern: Einerseits der introvertierte, oft gedanklich abwesend scheinende, aber verständnisvolle Vater, der sich scheut, an seinen Kindern herumzudoktern und deren Erziehung, auch die nötige, lieber seiner Frau überlässt; andererseits eine liebevolle, Zuwendung spendende, aber auch Zuwendung einfordernde Mutter, welche ihren Kindern Geborgenheit gibt, aber sich gleichzeitig gerne mit ihnen als ihr Lebenswerk umgibt.
Als ältester Sohn hatte ich es einfach, meine Unabhängigkeit zu entwickeln und ohne Konflikt und Streiterei frühzeitig allzu starker Bindung zu entfliehen. Es gab ja noch genug andere Objekte mütterlicher Fürsorge, meine jüngeren Brüder zum Beispiel, vor allem Christoph, dem sich meine Mutter bis zu ihrem Tod besonders stark verbunden fühlte. Trotzdem fanden wir Buben alle ziemlich schmerzlos in die Unabhängigkeit. Wir heirateten alle Mitte Zwanzig, also aus heutiger Sicht jung.
Auch meine beiden Schwestern heirateten früh, aber ihr Weg in die Selbständigkeit war, wie ich rückblickend erkenne, schwieriger, insbesondere für meine ältere Schwester Regula. Meine Mutter, welche in zweiter Generation in einem reinen Mädchenhaushalt aufgewachsen war (Elisabeths Mutter Else stammte aus einem Sieben-Mädchen-Haushalt und hatte selber «nur» zwei Töchter), hatte klare Vorstellungen über die in ihren Augen richtige Erziehung von Töchtern, was naturgemäss in der Nachkriegszeit, als sich die Sitten rasant änderten, zu Konflikten zwischen Regula und ihrer Mutter führte. Umgekehrt hatte Elisabeth keine Vorbilder für die Erziehung von Buben mit in die Ehe gebracht und war deshalb aus purer Unsicherheit ihnen gegenüber viel toleranter.
Nach dem klassischen familiären Rollenmuster wäre eigentlich der Vater als Konfliktpartner der Söhne zuständig gewesen. Doch diese Rolle verweigerte er, wofür ich ihm dankbar bin, machte aber umgekehrt meiner Mutter als «Alleinerzieherin» das Leben manchmal schwer. Schon die zwei Waldbilder vom November 1945, aber speziell die Fotos vor dem Ritterhaus sprechen für mich eine deutliche Sprache: Mein Vater spielte lieber die Rolle des Beobachters, welcher dort unterstützend eingreift, wo er eine (hauptsächlich geistige, weniger handwerk- liche) Begabung sich entwickeln sah oder wo er ein Problem ortete. Ich könnte dazu aus meiner Erinnerung unzählige Beispiele aufführen. Ein sehr frühes ist mir deutlich in Erinnerung geblieben:
Mein Vater muss meine Faszination für die Eisenbahn bald erkannt haben. Mit sechs erhielt ich meine erste Spieleisenbahn, Fabrikat Buco, Spur 0, eine Lokomotive mit Aufziehmechanik (die mir nicht wichtig war, denn ich bewegte die Lokomotive lieber von Hand), vier Güterwagen, Schienen für einen Kreis und eine Weiche für ein Abstellgleis. Auf einer Fotoserie vom Herbst 1949 erkenne ich all meine damaligen Schätze, insbesondere die vier Wagen: Tankwagen, Kohlenwagen, Kranwagen und Langholzwagen, letzterer vierachsig und mit kleinen Baumstämmen beladen. Ein Jahr später, im väterlichen Studierzimmer unter dem Dach des neuen Hauses an der Zürichstrasse, durfte ich hinter dem Schreibtisch meine Eisenbahnanlage aufbauen. Mein Vater schrieb mir jeweils auf einem Zettel die Reihenfolge der Güterwagen auf, welche ich durch entsprechende Rangiermanöver zu erstellen hatte – selbstverständlich ohne einen Wagen vom Geleise zu nehmen. Während er an seinen Gutachten und Vorlesungen schrieb, rangierte ich meinen Zug, meldete dann den erfolgreichen Abschluss des Manövers und erhielt darauf eine neue Aufgabe.
Das Verhältnis zwischen meinem Vater und seinen Kindern wurde umso wertvoller, je weiter letztere in ihrer geistigen und intellektuellen Entwicklung vorangeschritten waren. Ich schloss meine Schule als Erster ab und profitierte wahrscheinlich am stärksten von diesem Interesse des Vaters, auch deswegen, weil später die Arbeitsbelastung von Max und seine gesundheitlichen Probleme ihm immer weniger Zeit für die Familie liessen. Das mag erklären, wieso ich offensichtlich ein ganz anderes Vaterbild habe als meine Geschwister. Für sie war er hauptsächlich der introvertierte Gelehrte, der wenig Zeit hatte und in Gedanken oft abwesend schien, für mich war er ein an meiner Entwicklung aktiv interessierter, wohlwollender Freund, der mich auch bei verschiedenen Gelegenheiten an seinem Beruf teilhaben liess.
Sehr genau erinnere ich mich an eine Sitzung des Basler Jugendparlamentes, zu dessen Gründern ich gehörte. Es muss im Jahre 1960 oder 1961 gewesen sein, als ich die Ehre hatte, anlässlich der ersten Sitzung (sie fand im Basler Grossratssaal statt) als Motionär einen Vorstoss zum staatsbürgerlichen Unterricht an den Schulen einzubringen. Vom Rednerpult aus erblickte ich plötzlich auf der Tribüne den sonst so vielbeschäftigten Professor, der als Mitglied des Grossen Rates schon oft an diesem Pult gestanden hatte. Stolz und anerkennend lächelte er seinem Sohn zu. Ein anderes Mal – ich studierte unterdessen nach zwei Auslandsemestern in Basel Physik – durfte ich ihn zu einer Tagung auf Schloss Lenzburg begleiten, wo ich den damaligen Nationalrat und späteren Bundesrat Kurt Furgler, den Historiker Jean Rudolf von Salis und andere Persönlichkeiten kennenlernte. Auch der Besuch der Landsgemeinde in Stans, an der mein Vater als «Schöpfer» einer zur Abstimmung vorgelegten neuen Kantonsverfassung Ehrengast war, hat mein Verhältnis zu ihm nachhaltig geprägt, weil ich bei solchen Gelegenheiten den vermeintlich in sich gekehrten Mann als rhetorisch hochbegabten, brillanten und allseitig geschätzten Staatsmann erlebte.
Im Frühling 1969 erkrankte Vater Max ernsthaft und starb, noch nicht 54-jährig, innerhalb weniger Wochen. Der 7. April 1969, ein Ostermontag, war für unsere Familie ein schwarzer Tag, besonders für meine Mutter. Der frühe Tod hatte den Austausch mit dem Vater zu einem Zeitpunkt jäh abgebrochen, als dieser Dialog – gerade für meine jüngeren Geschwister – in seiner ganzen Intensität erst am Entstehen war.
Ich war damals 25 Jahre alt, seit knapp einem Jahr verheiratet, arbeitete an meiner Doktorarbeit an der ETH und fühlte mich geistig und emotional stark genug, über den schmerzlichen Verlust hinwegzukommen. Aber der verständnisvolle und erfahrene Gesprächspartner fehlte mir während meines ganzen Lebens. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich mich viele Jahre später, zuerst an der ETH und später beim Schweizerischen Nationalfonds, in den Fussstapfen meines Vaters wiederfand, der als Rektor der Universität Basel und als erster Präsident des neu gegründeten Schweizerischen Wissenschaftsrates unübersehbare forschungspolitische Spuren hinterlassen hatte.
Vaters Tod veränderte unser Familiengefüge grundlegend. Meine Mutter, welche nur wenige Jahre zuvor noch einem Haushalt von sieben Personen – und zusätzlich ein bis zeitweise zwei Hausangestellten – vorgestanden hatte, sah sich plötzlich mit ihrer jüngsten Tochter Dorothee allein im Haus in Riehen, das sie und Max wenige Jahre zuvor gebaut hatten. Bald machte sich auch Dorothee selbständig und begann in Genf ihr Studium. Einige Jahre später verkaufte Elisabeth das Riehener Haus und zog zurück nach Küsnacht.
Der frühe Tod des Vaters beeinflusste auch meine Situation innerhalb der alten Familienstruktur. Ich hatte unterdessen meine eigene Familie und sah mich gleichzeitig mit der Erwartung meiner Mutter konfrontiert, als ihr Ratgeber und Helfer in administrativen und finanziellen Angelegenheiten die Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen, aber auch als Hüter über das Wohl ihrer andern Kinder. Die Erkenntnis, dass Letzteres nur scheitern kann, brauchte Zeit und schmerzliche Auseinandersetzungen mit Mutter und Geschwistern, auf die ich rückblickend nicht stolz bin. Schliesslich akzeptierte meine Mutter – zumindest mit dem Verstand – meine Verweigerung, die Rolle des Familienaufsehers zu spielen. Aber emotionale Zusammenstösse zwischen ihr und mir gab es leider auch noch viele Jahre nach dem Tod meines Vaters immer wieder.
Elisabeth überlebte ihren Mann, mit dem sie gerade knappe 28 Jahre verheiratet gewesen war, um 36 Jahre; sie starb neunzigjährig im Jahre 2005, als zwölffache Grossmutter und vierfache Urgrossmutter.
2Schweizerdeutsch für Schnuller.
3Znüni oder Z’nüni: Schweizerdeutsch für einen kleinen Zwischenimbiss am Vormittag (‚nüni’ steht für neun Uhr).
3 Zeitordnung
Wie ein kleiner Bub im Albulatal seine Liebe für die Eisenbahn entdeckt, was die Affenfurche und die Systemanalyse damit zu tun haben könnten, und wieso die Liebe zu Fahrplänen einen chaotischen Gegenpart braucht.
Das Maiensäss mit den weissen Mauern, den braunen Schindeln und den grünen Läden duckt sich hinter den Bahndamm. Darüber steigt die massige Felswand des Muot in den dunkelblauen Himmel. Von der Haustüre aus schaut der Bub hinauf zur Weichenlaterne, welche die Einfahrt in die kleine Station vor dem langen Tunnel markiert. Das schwere Eisengewicht am Ende des Umstellhebels fixiert die Weiche in ihrer Position.
Es ist viertel vor elf. Pünktlich wie eine Uhr ertönen vom Bahnhofgebäude her die schweren Schritte von Bahnwärter Rauch, Angestellter der Rhätischen Bahn mit Dienstort Preda. Langsam geht er zwischen den Schienen und setzt seine Bergschuhe bedächtig auf die Schwellen. Bei der Weiche angekommen, ergreift er den Stellhebel und wirft ihn herum. Seine Bewegung ist eingeübt und scheinbar ohne jede Anstrengung. Man hört das scheppernde Geräusch der sich drehenden Weichenlaterne; sie steht jetzt quer zum Gleis und signalisiert dem Lokomotivführer eines herannahenden Zuges eine Umleitung auf das Nebengleis. Der Bahnwärter setzt sich auf den Stellhebel, nimmt die Dienstmütze vom Kopf, zieht eine Schachtel Streichhölzer aus seiner Hosentasche und zündet die erloschene Pfeife an.
Der Bub in den kurzen hellbeigen Sommerhosen schaut ehrfürchtig zum Bahnwärter hinauf. Dieser gibt mit einem kurzen Blick zu verstehen, er habe seinen treuen Zuschauer sehr wohl bemerkt, dann wendet sich sein Gesicht talabwärts Bergün zu, von wo gemäss Fahrplan um exakt elf Uhr der Morgenzug von Chur erwartet wird.
Stille. – Bahnwärter und Bub schauen und lauschen. Miteinander zu reden hiesse eine heilige Ordnung stören. Jedes Wort ist überflüssig, denn es ist beiden klar, um was es hier in den nächsten Minuten geht.
An gewissen Tagen, wenn die Windrichtung stimmt, hört man die bergwärts fahrende Lokomotive, eine Ge 4/4, Serie 601-610, wie Bahnwärter und Bub wissen, und die in den engen Kurven quietschenden Wagen bereits gute fünf Minuten vor deren fahrplanmässiger Ankunft in Preda. Im engen Tal überquert der Zug in einer langen Kurve unmittelbar nacheinander zweimal die Albula und verschwindet dann im 535 Meter langen Zuondra-Tunnel, dem letzten Kehrtunnel vor Preda. Die Zugsgeräusche verstummen; nur noch das Rauschen des nahen Wasserfalls erfüllt das Tal. Schon oft hat der Bub versucht, durch langsames Zählen die Zeit vorauszusagen, bis man das hohe Summen der Lokomotive und das Kreischen der Wagen wieder hört, wenn der Zug den Tunnel verlässt. So etwa bis auf Fünfzig oder Sechzig kommt er jeweils. Auch wenn die beiden, Bahnwärter Rauch und sein Beobachter, die Lokomotive noch nicht sehen, so fahren sie doch beide in Gedanken die Strecke im Führerstand der Ge 4/4 mit: Jetzt unterquert der Zug bei Naz die Strassenbrücke, gleich wird vor dem unbewachten Bahnübergang auf der grossen Wiese von Preda d’Miez ein heller Pfeifton erklingen, aufsteigend und dann lange in oberer Tonlage verharrend, wie nur die Lokführer der RhB zu pfeifen wissen, und jetzt geht es nur noch Sekunden, bis der Zug in der letzten Linkskurve sichtbar wird und – dedemm, dedemm, dedemm – in die Station rumpelt.
Bahnwärter Rauch hat sich erhoben und beim Vorbeifahren den Lokomotivführer mit einem Handzeichen begrüsst. Nachdem der letzte Wagen die Weiche passiert hat, stellt er diese mit Schwung in gerade Stellung zurück, schaut noch kurz zu seinem Beobachter hinunter und geht dann bedächtig zurück zum Stationsgebäude. Doch für den Buben unter dem Bahndamm ist das Morgenritual noch nicht zu Ende. Jetzt wird gleich der Schnellzug aus St. Moritz wie ein Pfeil aus dem Albulatunnel hervorschiessen, auf dem Durchgangsgleis den Gegenzug kreuzen und dabei (hoffentlich) ebenso kunstvoll pfeifen wie der Zug von Chur. Wenn er auf dem Bahndamm am Maiensäss vorbeirattert, klirren in der Stube seiner Grossmutter leise die Gläser und Tassen auf dem Arvenbuffet.
Dann wird wieder Ruhe einkehren ins Tal, Zeit für den Buben, sich anderen Dingen zuzuwenden, seinem eigenen Zug zum Beispiel, welcher zwar nur aus farbigen Holzklötzchen besteht, aber nicht weniger schön zu pfeifen weiss, wenn er sich auf dem Vorplatz des Maiensäss seinen Weg zwischen den Gartenmöbeln sucht. Bis zum nächsten richtigen Zug, einem Güterzug mit Personenbeförderung aus Chur, wird es mehr als eine Stunde dauern. Er wird von einer braunen Ge 6/6, Serie 401-415, von Kennern Schmalspurkrokodil genannt, gezogen werden. Der Bub kann die beiden Lokomotivtypen auch nachts, wenn er im Bett liegt, am Geräusch unterscheiden, das gleichmässige helle Surren der Ge 4/4 und das rhythmische Stampfen der Triebstangen der Ge 6/6.
Nach den Ferien im Albulatal warten in Küsnacht auf den Zugbeobachter andere Herausforderungen. Der grosse Garten seines Elternhauses mit den alten Obstbäumen grenzt direkt an die SBB-Linie Zürich-Meilen-Rapperswil. Einen pfeifenrauchenden Weichensteller gibt es hier nicht, dafür geheimnisvolle Drähte seitwärts des Gleises, welche auf Rollen lagern, sich von Zeit zu Zeit langsam in die eine oder andere Richtung bewegen und dabei ein sirrendes Geräusch von sich geben. Der Bub ist stolz, als er schliesslich nach gründlicher Beobachtung herausfindet, dass diese Drähte etwas mit den vielen Bahnübergängen zu tun haben, welche sich der Bahnlinie entlang durch das Dorf ziehen. Die Barrierenwärterin am Kohlrain, kaum hundert Meter vom Elternhaus entfernt, bedient auch diejenigen am Fussgängerübergang weiter Richtung Zürich. Wenn die Stationsglocke – kling klang, kling klang – einen Zug anmeldet, steht sie vor ihrem Häuschen und dreht gleichzeitig an zwei Kurbeln. Die eine bewegt die grosse Barriere neben dem Wärterhaus, die andere mit Hilfe der am Garten vorbei führenden Drähte die kleinere weiter nordwärts. Die andern Drahtzüge, so die naheliegende Schlussfolgerung des Beobachters, werden wohl Weichen und Signale steuern, was erklärt, wieso es in Küsnacht keinen Bahnwärter Rauch braucht.
Lederstrumpf