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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leserhinweis

Widmung

Motto

Prolog

1

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4

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Epilog

Der erste Tanz

Dank

Die Autorin

Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX

Impressum

Brittainy C. Cherry

Durch die kälteste Nacht

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Katja Bendels

ZU DIESEM BUCH

Nach einem schrecklichen Schicksalsschlag hat Autorin Kennedy Lost alles verloren: den Menschen, den sie über alles geliebt hat, ihr Zuhause und auch ihre Worte. Als ihre Schwester ihr vorschlägt, nach Havenbarrow zurückzukehren und ein von ihr renoviertes Haus zu bewohnen, bis es verkauft wird, hat Kennedy keine andere Wahl, als anzunehmen. In dem kleinen Ort kommt sie das erste Mal seit einer Ewigkeit zur Ruhe, das erste Mal kann sie die Traurigkeit, die ihr Herz in Besitz genommen hat, zulassen. Manchmal kann sie sich sogar vorstellen, wieder zu schreiben. Der Einzige, der ihr Rätsel aufgibt, ist ihr Nachbar Jax Kilter. Mürrisch und unnahbar hält er alle Menschen um sich herum auf Abstand, doch ein Blick in seine tiefgrünen Augen genügt, und Kennedy erkennt hinter der abweisenden Fassade dieses attraktiven Mannes den Jungen wieder, den sie einst gekannt hat. Den Jungen, der einmal ihr Gegenstück gewesen und dann plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war. Jax gibt ihr allerdings sehr deutlich zu verstehen, dass sie sich fernhalten soll, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Aber sosehr sie auch versucht, es zu ignorieren: Die Traurigkeit in ihr erkennt die Traurigkeit in ihm, und Kennedy weiß, dass das Leben ihnen eine zweite Chance gegeben hat, die sie diesmal nicht verstreichen lassen darf …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für alle, deren Herzen ein wenig Trost brauchen.

»Thy fate is the common fate of all;
into each life some rain must fall.«

– Henry Wadsworth Longfellow

PROLOG

JAX

Dreizehn Jahre alt

Sun,

bitte entschuldige, wenn meine letzten Briefe Dich erschreckt haben. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich habe alles kaputtgemacht und niemanden mehr, mit dem ich reden kann. Mein Bruder hasst mich. Mein Dad hasst mich. Er hasst mich so sehr, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Am liebsten würde ich für immer davonlaufen und nie wieder zurückkommen. Du hast mal gesagt, ich könnte zu Dir kommen, wenn es nötig ist, erinnerst Du Dich? Kann ich? Kann ich zu Dir kommen? Vielleicht könnten Deine Eltern mich abholen. Du hast ja meine Adresse. Falls Ihr kommt, werde ich bereit sein. Ich hasse es hier. Es ist alles meine Schuld. Ich möchte davonlaufen. Bitte sag, dass ich zu Dir kommen kann.

Hast Du Angst vor mir wegen dem, was ich getan habe? Ist das der Grund, warum Du nie auf meine Briefe antwortest? Es war ein Unfall. Ich schwöre Dir, es war ein Unfall. Ich wollte das nicht. Sie war meine beste Freundin, so wie Du meine beste Freundin bist.

Bitte, schreib zurück.

Es tut mir so leid. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid.

Ich möchte nicht mehr hier sein. Ich möchte mich nicht länger so fühlen. Ich hasse es. Es tut mir leid.

Bitte, schreib zurück.

Bitte, Sun. Ich brauche Dich.

Moon

1

KENNEDY

Gegenwart

»Bitte blamier mich heute Abend nicht«, sagte Penn, während er sich zum fünfzigsten Mal die Krawatte neu band.

Die Tapete in unserem Haus war mit Zigarettenrauch und gebrochenen Versprechen gesättigt. So manche davon gingen auf das Konto meines Mannes, andere aber auch ganz allein auf meines. War das der typische Verlauf einer Ehe? Tage, die sich zu Wochen ausdehnten, die sich in Monate und Jahre nicht gehaltener Versprechen verwandelten? Die Worte »Ich will« besiegelten einen Vertrag, dessen Kleingedrucktes niemand wirklich las. Wir hatten die AGB überflogen und einfach nur »Ich stimme zu« angekreuzt, ohne die Konsequenzen zu kennen, die uns erwarteten.

Ich hatte mein Eheversprechen nicht gehalten, aber er auch nicht.

So viele gebrochene Versprechen.

An diesem Abend versprach ich ihm, nicht vor allen Leuten die Fassung zu verlieren. Das Dinner seiner Maklerfirma bot Penn eine perfekte Gelegenheit, mit stinkreichen potenziellen Kunden bei gutem Essen und Wein an einem Tisch zu sitzen und Kontakte zu knüpfen. Je glatter die Dinge an diesem Abend liefen, desto besser standen seine Chancen, sich ein paar gute Kunden an Land zu ziehen. Er wollte mich eigentlich gar nicht dabeihaben, doch sein Boss hatte darauf bestanden, dass alle Mitarbeiter in Begleitung erschienen.

Ich versprach Penn auch, nicht über Vergangenes zu reden, und hatte nicht vor, mein Versprechen zu brechen. Und so nahm ich meine Beruhigungsmittel, machte meine Atemübungen und kniff die Augenlider nur zusammen, wenn wir auf der Fahrt unter einer Brücke durchkamen. Draußen auf dem Freeway fühlte ich mich besser, ja sogar fast normal.

Meine Versprechen waren noch intakt.

Alles war perfekt, so perfekt, wie es bei mir eben sein konnte, und dann lehnte sich Marybeth – die wunderschöne, umwerfende Marybeth – während des Essens zu mir herüber. An unserem Tisch saßen fünf Paare, unter ihnen Penns Kollegin Marybeth. Die anderen waren mögliche Kunden, die mehr Geld wert waren, als ich es mir jemals hätte ausmalen können.

Ich wünschte, ich hätte so Marybeth ähneln können. Sie war perfekt. Die perfekte Mutter, die perfekte Ehefrau, die perfekte Immobilienmaklerin. Sie duftete nach Chanel Nº 5, und von ihrem Hals perlten Diamanten. Ihr strahlend weißes Lächeln ließ alle anderen die Lippen aufeinanderpressen, denn sie wussten, dass sie es mit dem Wow-Effekt dieses Lächelns nicht aufnehmen konnten. Marybeth war alles, was ich nicht war, und alles, was ich sein wollte.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der ich mich selbst so sehr geliebt hatte, dass ich niemals eine andere Frau um ihr Leben beneidet hätte.

Was war mit mir geschehen? Wann hatten meine Stärken mich verlassen?

Die perfekte Marybeth berührte leicht mein Handgelenk und lächelte mich mit ihren Lippen und den haselnussbraunen Augen an. »Interessantes Tattoo, Kennedy. Was bedeutet es?«

Und in diesem Augenblick hatte sich das Versprechen, das ich Penn gegeben hatte, erledigt. Anfangs war es nur ein kleiner Riss an den Rändern, doch dann zersprang es in tausend Scherben.

»Das ist … Das …« Ich sog scharf Luft ein, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Penn mich anschaute. Ich sah die Enttäuschung in dem intensiven Blick seiner blauen Augen, denn er kannte die Anzeichen meiner Schwächen. Er wusste, wann ich ihm entglitt. Mein Körper zitterte, meine Stimme brach, und jeder Atemzug fiel mir schwer. »Das ist …«

Ich blickte auf mein Tattoo – ein Gänseblümchen mit einem umgedrehten »D« in der Mitte.

»Mein, das ist …« Ich schluckte die Luft, die mir im Hals stecken geblieben war, hinunter und schloss die Augen. Tränen drängten sich in meine Augenwinkel, und ich wusste, dass ich sie jeden Augenblick fließen lassen würde. »Das ist für meine Eltern und meine …« Ich sah zu Penn hinüber, der mir mit seinem Blick laut Tu’s nicht! entgegenschrie, doch ich konnte dieses Gespräch nicht einfach mittendrin abbrechen. »… unsere Tochter. Das umgekehrte D steht für unsere Tochter.«

Marybeths Mund öffnete sich leicht, als sie verstand. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, und ich sah die Schuldgefühle in ihren Augen. Natürlich wusste sie von dem Unfall. Alle wussten von dem Unfall; sie zogen es bloß vor, auf Zehenspitzen um das Thema herumzuschleichen, anstatt es offen anzusprechen. Der Tod war den Menschen unangenehm, und ich konnte ihnen nicht verübeln, dass sie nicht darüber reden wollten. Es war ja auch kein einfaches Thema.

Ich zog die Linie des umgedrehten »D« mit dem Finger nach, und die Tränen liefen über meine Wangen. »Meine Tochter hieß …« Ich wollte es ihr erzählen. Ich musste über meine Lieben sprechen, damit sie in mir lebendig blieben. Es tat mir gut, doch manchmal kamen die Worte ein wenig zu unsicher über meine Lippen.

»Kennedy.« Eine Hand legte sich auf meinen Arm und überdeckte das Tattoo. Ich blickte auf und sah Penn, der mir in die Augen blickte und leicht den Kopf schüttelte, während er meinen Arm ein wenig zu fest drückte. »Vielleicht solltest du dich ein wenig zurechtmachen gehen und mal eine Minute frische Luft schnappen.«

Was übersetzt bedeutete: Du blamierst mich schon wieder – reiß dich zusammen.

Er empfand keinerlei Mitgefühl mehr mit mir. Wieso auch – nach über einem Jahr? Ihm war es schließlich auch gelungen, unsere Tragödie hinter sich zu lassen. Ich hätte in der Lage sein müssen, das Gleiche zu tun, doch aus irgendeinem Grund bekam ich es einfach nicht besser hin.

Und dabei wünschte ich mir doch nichts sehnlicher als das.

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, was jedoch nur dazu führte, das weitere nachkamen. »Ja. Natürlich. Entschuldigt, ich …« Ich schob meinen Stuhl zurück. »Entschuldigt bitte.«

Marybeth blickte mich schuldbewusst an, und als ich mich zum Gehen wandte, hörte ich, wie sie sich leise bei Penn entschuldigte.

»Nein, nein, du hast nichts falsch gemacht, Marybeth«, sagte mein Mann und tröstete lieber seine Kollegin anstelle seiner Frau. »Sie ist nun mal so. Du hast nichts falsch gemacht. Sie ist einfach zu emotional und muss lernen, sich zusammenzureißen. Ich meine, in ihrem Alter …«

Zu emotional.

In der Toilette starrte ich in den Spiegel und betrachtete überrascht das Gesicht darin, das meinen Blick erwiderte. Wann hatte ich das alles verloren? Wann hatte ich meine Farbe verloren, mein Licht? Waren die Ringe unter meinen Augen schon immer so groß gewesen? Wie viel hatte ich abgenommen, dass meine Wangen so eingefallen waren?

Die Tür wurde geöffnet, und Laura, eine langjährige Kundin von Penns Firma, kam herein.

Laura war älter als ich, etwa Ende fünfzig. Wir kannten uns schon eine Weile, und sie war immer sehr nett zu mir gewesen, auch wenn ich in vielen Situationen seltsam und ungeschickt rüberkam.

»Ist alles in Ordnung, meine Liebe?«, fragte Laura mit ernstem Gesicht. In ihre dunkelbraunen Haare hatten sich die ersten grauen Strähnen gemischt, und wenn sie lächelte, konnte man es körperlich spüren.

Ich lachte leise und wischte mir, so gut es ging, die Tränen aus dem Gesicht. »Ja, entschuldigen Sie. Ich bin einfach zu …«

»Sie sind nicht zu emotional«, unterbrach sie mich und trat mit einem Papiertuch in der Hand zu mir. »Sie übertreiben kein bisschen. Ich habe selbst ein Kind verloren – es war eine Fehlgeburt, aber es war mein Kind, und ich wäre beinahe daran zerbrochen. Mein Mann war damals meine Rettung. Er war mein Fels in der Brandung. Ich will nicht neugierig sein, aber ich habe zufällig gesehen, wie Penn Sie eben behandelt hat. Sweetheart, seien Sie mir nicht böse, aber so sollte kein Mann seine Frau behandeln. Niemand sollte Ihnen gegenüber herablassend sein, wenn Sie am Boden liegen. Er sollte Ihnen aufhelfen, nicht nachtreten.«

Ich wollte etwas sagen, doch ich wusste nicht, wie.

Laura tupfte die Tränen von meinen Wangen und lächelte mir zu. »Wie gesagt, es geht mich nichts an, und Jonathon würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich mich in anderer Leute Angelegenheiten mische, aber Sie verdienen es, wieder gesund zu werden, und Sie sollten über Ihre Tochter sprechen dürfen, ohne dafür gedemütigt zu werden. Erkennen Sie Ihren Wert. Und dann fordern Sie ruhig noch ein wenig mehr.«

Ich schluckte, als sich mich in den Arm nahm. Erst jetzt spürte ich, wie sehr ich genau das gebraucht hatte. Mein Körper schmolz in Lauras Umarmung hinein, und sie hielt mich fest, während ich in ihren Armen weinte.

»So ist es gut, meine Liebe. So ist es richtig. Unterdrücken Sie es nicht länger, lassen Sie es raus.«

Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, ließ sie mich los und sah mich lächelnd an. »Ach übrigens: Ich habe all Ihre Bücher gelesen. Ihre Worte sind ein wahrer Schatz. Ich kann es kaum erwarten, mehr von Ihnen zu lesen.«

In den vergangenen fünf Jahren hatte ich einige Romane veröffentlicht, doch seit dem Unfall konnte ich nicht mehr schreiben. Meine Agentin sagte, ich sollte mir Zeit lassen, die Worte würden irgendwann zurückkehren, doch allmählich begann ich daran zu zweifeln. Ich hatte meine Muse verloren, und mit ihr meine Sprache.

Auf dem Heimweg herrschte Schweigen. Ich drehte Penn den Rücken zu und hielt die Augen während der gesamten Fahrt geschlossen. Erst zu Hause machte Penn seinem Ärger Luft.

»Du hast mir versprochen, dass du das unterlassen würdest«, seufzte er und fuhr sich mit der Hand durch das zurückgegelte Haar. »Du hast mir versprochen, in der Öffentlichkeit nie wieder so eine Szene zu machen! Ich meine, verdammt, Kennedy! Bist du es nicht irgendwann leid, ständig wie eine Psychopathin auszusehen?« Seine Worte trafen mich ins Mark.

Ich hatte sie erwartet, denn sie kamen nach jedem meiner Zusammenbrüche. Anfangs hatte er es noch verstanden, denn er hatte selbst getrauert. Doch mit den Monaten hatte sich sein Verständnis in Bitterkeit verwandelt. Mein Verhalten erschöpfte ihn, und ich konnte es ihm nicht mal verübeln.

Es erschöpfte mich ja selbst, ich wünschte bloß, er könnte sehen, dass ich mich wirklich bemühte, dass ich mein Bestes gab, um normal zu sein, um wieder ich selbst zu sein.

Ich gab mir wirklich Mühe.

Ich sah ihn an und wusste nicht, was ich sagen sollte, denn nach all den vergeblichen Versuchen, mich wieder in mein altes Ich zu verwandeln, wirkte jede Entschuldigung nur noch leer.

Penn warf sein Sakko über den Sessel im Wohnzimmer und begann seine Manschetten aufzuknöpfen. »Ich wünschte, du hättest dir dieses dämliche Tattoo niemals stechen lassen. Es ist nichts anderes als eine abartige Erinnerung an eine grässliche Zeit, Kennedy. Ich verstehe einfach nicht, warum du es dir auf diese Weise jeden Tag vor Augen halten willst.«

Seine Worte waren hart, doch auch die konnte ich ihm nicht verübeln. Schweigend blickte ich auf die Tinte an meinem Handgelenk. Er konnte es nicht verstehen, doch ich brauchte diese ständige Erinnerung. Ich musste mein kleines Mädchen auf meiner Haut spüren, musste das Gefühl haben, sie immer noch bei mir zu haben.

»Hast du gar nichts dazu zu sagen?«, fragte er, während er sich die Hose auszog. Dabei schob er das Kinn vor wie ein enttäuschter Vater, nicht wie ein besorgter, liebender Ehemann. »Gar nichts?«

»Es …« Ich schluckte und blickte zu Boden. »Es t-t-tut mir …«

»Es tut dir leid«, zischte er und schüttelte den Kopf. »Natürlich tut es dir leid. Immer tut es dir leid. Dein ganzes Leben ist eine einzige Bitte um Verzeihung.«

Er war wütend, und ich verstand, wieso, aber warum war er so aggressiv? Vielleicht lag es am Whiskey, den er beim Essen getrunken hatte. Seine Zündschnur war beinah heruntergebrannt.

»Weißt du was? Ich kann das nicht mehr.« Er seufzte und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, bevor er sich vor mir auf die Couch fallen ließ. Dann zog er eine Packung Zigaretten heraus und zündete sich eine an. »Ich kann das nicht.«

»I-ich weiß.« Ich schluckte und schloss die Augen. »Ich weiß, dass es manchmal nicht leicht mit mir ist.«

»Manchmal? Kennedy. Es ist immer so. Du bist schon lange nicht mehr normal, und es macht mich fertig. Es ist echt schwer mit dir. Du hast seit Monaten nicht mehr geschrieben. Du verlässt kaum das Haus. Dich ins Auto zu bekommen ist fast unmöglich. Das nimmt mir die Luft zum Atmen. Du nimmst mir die Luft zum Atmen. Ich kann das nicht mehr. Ich kann nicht …« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte das niemals tun dürfen.«

»Was?«

»Dich heiraten. Wir hätten niemals heiraten dürfen. Meine Eltern haben mich gewarnt, aber ich war jung und naiv, und sieh nur, wo es mich hingeführt hat. Sie haben mich gewarnt, dass du mich nur in eine Falle locken wolltest, aber ich habe nicht auf sie gehört.«

Ich schüttelte den Kopf und sah ihn an. »Penn …«

»Und da sitze ich nun – in der Falle. Ich hätte auf sie hören müssen. Ich hätte schon damals Schluss machen müssen, aber ich war ein Idiot.«

»Du … du bist wütend. Ich weiß, ich habe heute Abend Mist gebaut, aber …«

»Hör auf, Kennedy. Verstehst du es denn nicht? Ich habe dich nur geheiratet, weil du schwanger warst, und jetzt habe ich nicht mal mehr eine Tochter vorzuweisen – und das alles nur deinetwegen«, zischte er und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare.

Mein Herz fühlte sich an, als wollte es in sich zusammenfallen.

Seine Worte schmerzten, und das obwohl wir uns mittlerweile so weit voneinander entfernt hatten, dass sie mir eigentlich nicht mehr hätten wehtun dürfen. Wir waren uns schon lange nicht mehr nah gewesen, abgesehen von gelegentlichem bedeutungslosem Sex und seinen Firmenevents. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann wir zum letzten Mal gelacht hatten. Mein Herz schlug so gut wie nie für ihn. Und doch … das Gift auf seiner Zunge fraß sich in meinen Kopf. Es sickerte in meine Hirnzellen und vergiftete mein Selbstwertgefühl – nicht, dass davon noch viel übrig gewesen wäre.

Und er hörte nicht auf. Nein, er machte weiter und zerstörte mich mit seinen Worten. »Mein Vater hatte recht – du hättest damals abtreiben sollen. Es hätte uns allen viel Zeit gespart.«

Mein Herz …

Hörte auf zu schlagen.

Und zerbrach.

Zerbrach in tausend Scherben.

Meine Knie gaben unter mir nach, und der kalte, harte Boden fing mich auf. Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte, und es war niemand da, um mich zu trösten. Penn war das alles leid. Er war mich leid, meine Panikattacken, meine Zusammenbrüche, meinen Schmerz.

Und in diesem Augenblick sah ich es.

Unsere Beziehung, unsere Ehe, unser Versprechen – all das war vorbei.

Penn erklärte ungerührt: »Vielleicht solltest du heute Nacht woanders schlafen. Und nicht nur heute Nacht. Ein paar Wochen, ein paar Monate … Überleg dir irgendwas, denn hier kannst du nicht länger bleiben.«

»Wo soll ich denn hin?«, keuchte ich.

»Ich weiß es nicht, Kennedy. Zu deiner Schwester oder so.«

Yoana …

Ich hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Was würde sie wohl denken, wenn ich nach über einem Jahr Funkstille plötzlich vor ihrer Tür stand? Was würde sie sagen? Warum sollte sie mir helfen? Alles, was sie in den letzten Monaten von mir bekommen hatte, waren sporadische Textnachrichten gewesen, in denen ich ihr geschrieben hatte, dass es mir gut ging, auch wenn es nicht stimmte. Sie schuldete mir nichts, und doch hatte sie mir immer alles gegeben. Sie hatte mir lange Nachrichten geschrieben, in denen sie mir von ihrem Leben erzählt und alle Neuigkeiten berichtet hatte. Doch alles, wozu ich mich hatte aufraffen können, war, ihr ein paar Emojis zu schicken, denn während ihr Leben weiterging, trat meines auf der Stelle.

In ihrer letzten Nachricht hatte sie von ihren Flitterwochen erzählt, die nun endlich, zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, stattfinden sollten. Davor hatte sie mich gefragt, ob ich sie nicht mal besuchen kommen wollte. Und davor? Sie hatte mir eine lange Sprachnachricht hinterlassen, in der sie erzählt hatte, dass Nathan und sie ein Haus renoviert hatten und es nun verkaufen wollten. Seit ihrer Hochzeit hatten die beiden sich darauf konzentriert, alte Häuser zu restaurieren. Dass sie zusammenarbeiteten und trotzdem miteinander glücklich waren, erinnerte mich an unsere Eltern. Mama und Daddy waren genauso gewesen.

Und Penn und ich? Wir hätten nicht gegensätzlicher sein können. Als ich ihm gesagt hatte, dass ich Schriftstellerin werden wollte, hatte er mir ins Gesicht gelacht und erklärt, dass ich dafür nicht die richtige Ausbildung hätte. Als ich meinen ersten Vertrag bekam, sagte er, ich hätte bloß Glück gehabt. Als meine ersten Schecks kamen, riet er mir, das Geld lieber nicht auszugeben, denn mehr würde es sicher nicht werden.

Penn ging in sein Arbeitszimmer und kam mit einem Stapel Papiere zurück. »Die hier hatte ich dir schon vor dem Unfall geben wollen, aber dann habe ich mich erst mal zurückgehalten. Unterschreib einfach auf der gestrichelten Linie, und leg sie in den Flur, wenn du gehst.«

Dann verließ er das Zimmer und ließ mich mit meinen Emotionen sitzen, während er den letzten Nagel in den Sarg unserer Ehe schlug.

Scheidungspapiere.

Ich unterschrieb sie mit gequältem Herzen.

Dann packte ich meine Sachen in drei Koffer. Ich nahm nur das Nötigste mit, nur die Dinge, die mir wirklich etwas bedeuteten, rief mir ein Taxi und machte mich auf den fünfundvierzig Minuten langen Weg zu meiner Schwester, die keine Ahnung hatte, dass ich gleich vor ihrer Tür stehen und sie anflehen würde, mich reinzulassen.

Vor ihrem Haus in Rival, Kentucky, stieg ich aus und schleppte meine drei Koffer die Stufen zu ihrer Tür hinauf.

Als ich ihr Auto in der Einfahrt stehen sah, stahl sich ein erleichterter Seufzer über meine Lippen.

Ich klopfte an die Tür. Es war nach zehn, und womöglich schlief Yoana schon. Sie war noch nie eine Nachteule gewesen, eher eine Lerche.

»Wer ist da?«, fragte eine Stimme – Nathan. Natürlich.

»Yoana, ich bin’s«, krächzte ich und unterdrückte ein Schluchzen. »Kennedy. Ich … ich brauche …« Ich schluckte meine Angst hinunter und schloss die Augen. »Ich brauche dich.«

Die Tür flog auf, und da stand sie, in ihrem Schlafanzug, und sah mich voller Sorge an.

Meine ältere Schwester sah selbst jetzt, nachdem ich sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte, aus wie eine Göttin. Himmel, wie ich sie brauchte. Ich brauchte sie so sehr, dass es wehtat, ihr in die Augen zu sehen. Augen, die Mamas so ähnlich waren.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie, und diese Worte knackten die Schale, in die ich meine Wunden gehüllt hatte. Die Ernsthaftigkeit ihrer Frage schmerzte mich mehr, als ich ausdrücken konnte – die Sorge, die Güte, die Liebe. Das ganze letzte Jahr hatte ich meine Schwester angelogen, ihr nie mitgeteilt, wie es mir wirklich ging, weil ich dumm gewesen war und mit meinen inneren Dämonen gekämpft hatte, und doch fragte sie mich jetzt, ohne eine Sekunde zu zögern, ob bei mir alles in Ordnung war.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Tränen strömten über meine Wangen, und ich schlug die Hände vors Gesicht, während ich von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. »Es tut mir so leid, Yoana«, heulte ich und schüttelte vor Scham und Schmerz immer wieder den Kopf. »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid …«

Meine Schwester schien meine Entschuldigung nicht zu brauchen. Sie bombardierte mich nicht mit Fragen, schalt mich nicht, weil ich mich nicht gemeldet hatte. Stattdessen trat sie vor und zog mich in ihre Arme.

»Es ist gut, Kennedy. Alles ist gut. Ich bin hier. Ich bin bei dir.«

Sie hielt mich fest, und zum ersten Mal seit einem Jahr begann ich wieder zu atmen.

Und dann stellte sie mir eine sehr, sehr wichtige Frage – vielleicht die wichtigste, die ich seit langer Zeit gehört hatte: »Wein?«

»Ja«, lachte ich und war überrascht, wie echt es klang. »Wein.«

2

KENNEDY

Jeder Neuanfang sollte mit einem Warnhinweis versehen werden.

Achtung: Auch ein Neuanfang kann nicht verhindern, dass Sie von alten Erinnerungen heimgesucht werden, die zu Panikattacken, einem Gefühl des Unbehagens in Gegenwart anderer Menschen und Gefühlsaufwallungen jedweder Art aufgrund von Depression, übermäßiger Dankbarkeit und Wutausbrüchen führen können. Kein Gefühl wird ausgelassen.

Seit drei Tagen wohnte ich nun schon im Gästezimmer meiner Schwester, und Penn hatte noch nicht ein einziges Mal versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich gab mir alle Mühe, die widersprüchlichen Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, für mich zu behalten, um meiner Schwester und Nathan nicht zu viel von meinem Leid aufzubürden – das hatten sie nicht verdient. Sie verdienten den Teil von mir, der ihnen einfach dankbar war, nicht das traurige Mädchen, in das ich mich im letzten Jahr verwandelt hatte. Und genau das war auch das Problem mit Penn – er sah meine Traurigkeit und zeigte mir, dass dieser Teil von mir es nicht wert war, geliebt zu werden. Also arbeitete ich noch härter daran, diese Seite zu verbergen. Ich wollte andere Leute nicht länger mit meiner Trauer vertreiben.

Ich wollte, dass sie blieben.

Wenn du nur lange genug so tust, wird es vielleicht irgendwann wahr.

Es ist bewiesen, dass man nur häufiger zu lächeln braucht, damit die Leute denken, man wäre glücklich. Das ist eine einfache Tatsache. In den letzten Tagen hatte ich so viel gelächelt, dass mir davon schon die Wangen wehtaten. Manchmal entschuldigte ich mich und ging auf die Toilette, nur um für ein paar Minuten nicht lächeln zu müssen.

Bisher schien mein falsches Lächeln niemandem aufgefallen zu sein, was wohl bedeutete, dass ich dafür einen Oscar verdient hätte.

»Okay, nicht gucken!«, sagte Yoana, während sie mich durch die Straßen einer kleinen Stadt namens Havenbarrow führte. Sie lag nur fünfzehn Minuten von ihrem Haus entfernt, und sie behauptete, es sei das süßeste kleine Städtchen, das es auf der Welt gab. In den letzten Tagen hatte sie über nichts anderes gesprochen.

»Ist die Augenbinde wirklich notwendig?«, fragte ich ein wenig verwirrt von dem Theater. Yoana hatte kaum ihr Auto in der kleinen Stadt abgestellt, als sie mir schon befahl, die Augen zu schließen. Und dann nahm sie mich mit auf ein Abenteuer.

»Ja! Und jetzt sei still und geh weiter. Wir sind fast da. Warte! Stopp! Auto!«, kreischte sie und riss mich zurück.

»Was zum Teufel?!«, schrie ich, und Yoana fing an zu lachen.

»War nur ein Scherz. Die Straße ist weit weg. Ich dachte bloß, es wäre witzig.«

»Oh, wie sehr ich deinen Humor vermisst habe.« Es klang ironisch, aber ich hatte ihn wirklich vermisst. Tatsächlich hatte ich so ziemlich alles an ihr vermisst, und in den letzten Tagen war sie ein absoluter Engel gewesen.

»Nur noch einmal nach links abbiegen«, erklärte sie, beide Hände auf meinen Schultern – und drehte mich mit Schwung nach rechts. »Ich meinte rechts, rechts! Okay, noch ein paar Schritte nach vorne. Zwei zurück …«

»Was soll das werden, die Schrittfolge für Paula Abduls ›Opposites Attract‹? Dann muss ich mir aber andere Schuhe anziehen«, erklärte ich.

»Pst. Wir sind da. Rück mal ein Stück nach links.« Ich rückte. »Noch ein Stück.« Ich rückte noch ein Stück. »Okay, super. Und jetzt ein winzig kleines Stück nach rechts.«

»Yoana!«, rief ich.

Sie lachte, und allein der Klang ihres Lachens ließ mich leise mit einfallen. »Okay, okay, tut mir leid. Ich wollte bloß, dass die Überraschung perfekt wird, das ist alles.«

»Okay, sag mir, was ich machen soll. Kann ich die Überraschung jetzt sehen? Nicht, dass du mir irgendetwas schenken müsstest, denn du hast schon mehr als genug getan, indem du mich bei euch schlafen lässt. Und dazu noch, dass du …«

»Kennedy?«

»Ja?«

»Halt die Klappe.«

»Okay.«

»Okay. Danke. Also, ich zähle jetzt bis drei, und bei drei nehme ich dir die Augenbinde ab und zeige dir die tollste Überraschung der Welt. Eins, zwei, drei!« Sie riss mir die Augenbinde vom Kopf, und ich sah, dass wir vor einem Haus standen. Ein wirklich zauberhaftes Haus, frisch gestrichen und mit einem kleinen Zaun um den Garten, in dem ungebremst das Unkraut wucherte. Auf der Treppe saß Nathan mit zwei Flaschen Sekt und dem breitesten Grinsen, das ich je auf seinem Gesicht gesehen habe.

Verwirrt sah ich meine Schwester an. »Was genau geht hier vor?«

»Überraschung!«, kreischte sie. »Das hier ist dein neues Zuhause!«

»Mein neues …« Ich wirbelte zu ihr herum, und mir fiel die Kinnlade runter. »Mein neues was?«

»Dein neues Zuhause. Wie du weißt, haben Nathan und ich vor einiger Zeit angefangen, alte Häuser aufzukaufen und zu renovieren, und das hier war unser letztes Projekt in der zauberhaftesten kleinen Stadt, die die Menschheit je gesehen hat. Wir wollten es verkaufen, aber dann haben wir beschlossen, es noch eine Weile zu behalten, damit du einen Ort hast, wo du wohnen kannst, und der allein dir gehört.« Sie klang, als wäre alles, was sie da sagte, nicht vollkommen wahnsinnig, und lief dabei Richtung Haustür. »Der Garten ist noch nicht fertig, aber die Gärtner kommen in ein paar Tagen, und es gibt so gut wie keine Möbel. Okay, es gibt eigentlich gar nichts, aber ich habe ein paar Sachen bestellt, von denen ich dachte, dass sie dir gefallen könnten. Sie kommen in den nächsten Tagen. Ich habe eine Waschmaschine und einen Trockner bestellt, und Nathan und ich haben dir unseren blauen Vintage-Kühlschrank, ein absolutes Spitzenmodell, aus unserer Garage in die Küche gestellt. Außerdem habe ich Nathan gebeten, dir ein paar Basics zu besorgen – ein wundervolles aufblasbares Queen-Size-Bett, ein bisschen Geschirr und Besteck, einen billigen Küchentisch, alles, was du so im Badezimmer brauchen wirst, und …«

»Warum solltest du so etwas tun?«, stieß ich hervor, noch immer vollkommen überwältigt von all der Freundlichkeit, die Yoana mir entgegenbrachte. »Das ist vollkommen verrückt.« Ich hatte das hier nicht verdient. Ich konnte nicht in einem Haus wohnen, das sie eigentlich hatten verkaufen wollen. So viel konnte ich unmöglich von meiner Schwester annehmen, während ich selbst ihr im letzten Jahr so wenig gegeben hatte.

Wenn überhaupt, dann hatte ich ihr das Wichtigste aus ihrem Leben genommen.

»Warum ich so etwas tun sollte?«, fragte sie überrascht. Sie legte die Hände auf meine Schultern und sah mich aus schmalen Augen an. »Kennedy, du bist meine Schwester. Ich würde alles für dich tun.«

Wenn ich an Erzengel dachte, dann war meine Schwester jedes Mal die Erste, die mir in den Sinn kam. Yoana war eine Heilige. Ein Herz wie ihres gab es nur selten. Sie war innerlich wie äußerlich eine wahre Schönheit, auch wenn den meisten Leuten zuerst ihr Äußeres ins Auge fiel. Yoana McKenzie Lost war das Ebenbild unserer Mutter. Sie hatte Mamas schwarzes lockiges Haar, ihre espressobraune Haut, ihre Rehaugen und das tiefe Grübchen, das ihre linke Wange betonte. Jedes Mal, wenn meine Mutter mir fehlte, hatte ich das Glück, meiner Schwester in die Augen sehen zu können.

Ich dagegen war die perfekte Mischung von beiden Eltern, die Verkörperung ihrer Liebe. Ich hatte Mamas Lächeln und ihren Amorbogen geerbt, und Dads schmale gebogene Nase und seine runden Backen. Mama und ich hatten die gleichen Muttermale auf den Schulterblättern und das gleiche Grübchen am Kinn. Mein gewelltes honigfarbenes Haar war eine Kombination aus beider Genen.

Und meine Augen? Die gehörten meinem Vater. Ich hatte Daddys golden schimmernde Augen, mit ihren braunen und grünen Sprenkeln geerbt, die in der Iris funkelten. Jedes Mal, wenn er mir fehlte, sah ich in den Spiegel.

Meine Schwester und ich waren der lebende Beweis für die epische Geschichte unserer Eltern – ihre größte Liebe. Auch wenn Dad nicht Yoanas biologischer Vater war, so gab es keinen Zweifel, dass er ihr Dad war. Als meine Mutter allein und verloren mit ihrer zweijährigen Tochter dagesessen hatte, hatte mein Vater ihre Herzen im Sturm erobert, und er hatte Yoana vom ersten Tag an geliebt wie sein eigenes Kind.

Es gehört schon einiges dazu, ein Kind zu lieben, das nicht von einem selbst stammt. Mein Vater hat Yoana keine einzige Sekunde lang anders behandelt als mich. Manchmal hatte ich als kleines Kind sogar das Gefühl, als liebte er sie ein wenig mehr als mich. Doch wenn, dann tat er es nicht mit Absicht, und je älter ich wurde, desto besser verstand ich es. In Yoanas Lebensgeschichte fehlte etwas, und Daddy sorgte dafür, dass ihr Buch trotz allem mit Liebe erfüllt war, auch wenn sie ihren biologischen Vater niemals kennenlernen würde.

Sie war seine Tochter – wenn schon nicht dem Blut nach, dann umso mehr im Herzen. Ihre beiden Herzen schlugen im Einklang, und manchmal hätte ich schwören können, dass Yoana Daddys Lächeln hatte.

Es verging kein Tag, an dem ich meine Eltern nicht vermisste, doch zum Glück hatte ich jetzt meine Schwester. Ich wünschte, ich hätte das schon früher erkannt. Stattdessen hatte ich sie auf Abstand gehalten, weil ich fürchtete, sie würde mir die Schuld an dem Unfall geben.

Dank Yoana hatte ich jetzt zum ersten Mal das Gefühl, als würde sich der wolkenverhangene Himmel, der mich das ganze letzte Jahr über begleitet hatte, zu sonnigen Tagen und ruhigeren Nächten öffnen. Ich würde ihr die bedingungslose Liebe, die sie mir entgegenbrachte, für den Rest meines Lebens danken.

Die beiden führten mich durchs Haus, und ich war vollkommen überwältigt, wie schön es war, vor allem im Vergleich zu den Fotos vor der Renovierung, die sie mir zeigten. Als es fast an der Zeit für die beiden war, sich zum Flughafen aufzumachen, um in die Flitterwochen zu fliegen, gab Yoana mir noch eine Liste mit Aufgaben, die ich erledigen sollte, solange sie fort waren.

»Und jetzt wiederhole noch mal, was ich dir gesagt habe«, befahl sie.

»Meditation morgens und abends, egal, was ist, und wenn ich nur fünf Minuten lang atme. Ja, Mutter«, stöhnte ich übertrieben, während ich in Wahrheit unendlich dankbar für Yoanas Liebe war.

Sie trug so viel von unserer Mama in ihrem Herzen. In ihrer Nähe zu sein fühlte sich an, als würde man sich in eine besonders weiche Kuscheldecke wickeln.

»Und der Wald da hinterm Garten – mach dir keine Gedanken, du kannst dort ohne Weiteres spazieren gehen. Er gehört zwar nicht offiziell zum Haus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es den Besitzer stört. Als Nathan und ich hier gearbeitet haben, haben wir uns darin regelrecht verlaufen, und ich musste immer wieder daran denken, wie Mama und Daddy uns als Kinder mit zum Wandern genommen haben. Erinnerst du dich, wie oft wir uns damals verlaufen haben?«

Ich kicherte. »Oh ja, und wenn Mama sich Sorgen gemacht hat, weil es langsam dunkel wurde, sagte Daddy immer: ›Man kann nicht verloren gehen, wenn man mitten in der Natur ist. Die Natur ist unser Zuhause.‹« Bei der Erinnerung daran musste ich lächeln, doch dann sackten meine Mundwinkel wieder nach unten.

»Sie fehlen mir«, gestand Yoana.

»Mir auch.« Mehr, als ich mit Worten hätte ausdrücken können. Ich zweifelte nicht daran, dass ich so manche Meditationssitzung in diesem Wald verbringen würde.

Als wir noch klein waren, hatten meine Eltern dafür gesorgt, dass meine Schwester und ich jeden Morgen und Abend unsere Energie erdeten. Daddy lehrte uns Yoga, und Mama verschiedene Atemtechniken. Diese Lektionen hatten mein Leben mitgeprägt, doch als dann alles den Bach runterging, war die Meditation das Erste gewesen, das aus meinem Tagesablauf verschwunden war. Schon seltsam, wie leicht die Menschen ihre wichtigsten Prinzipien über Bord warfen, wenn ihre Welt auf den Kopf gestellt wurde.

Die anderen Aufgaben auf meiner Liste lauteten:

Yoana stieß mir den Ellbogen in die Rippen. »Okay, wenn jetzt alles geregelt ist, lass uns irgendwo zu Abend essen.«

»Ehrlich gesagt, bin ich ein wenig müde. Und was ist mit eurem Flug nach Costa Rica?«

Ihre Gesichtszüge entgleisten ein wenig, als sie auf ihre Uhr blickte. »Oh. Richtig. Das.«

»Ja, das.« Ich lachte. »Der erste Schritt zu den grandiosesten Flitterwochen aller Flitterwochen.«

Sie sah mich mit einem Welpenblick an. »Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«

»Absolut. Glaub mir, ich kann damit umgehen, das fünfte Rad am Wagen zu sein, wenn ich mit euch ins Kino gehe, aber mit euch um die Welt zu fliegen, wäre wohl eine Nummer zu viel.«

»Na gut. Ich weiß bloß nicht, was ich so lange ohne dich machen soll. Schließlich hab ich dich ja gerade erst wiederbekommen.« Sie schwieg einen Augenblick und kaute auf ihrer Unterlippe, während ihre Augen feucht und stumpf wurden. »Ich will dich nicht wieder verlieren.«

»Keine Sorge. Wenn ihr wieder zurück seid, werde ich noch mehr ich selbst sein. Du wirst mich nicht wieder verlieren. Nie wieder.« Ich schniefte ein wenig, als ich sah, wie Yoana von ihren Gefühlen übermannt wurde. »Fang jetzt bloß nicht an zu heulen. Du weißt genau, dass ich dann mit dir heule. Nimm mich einfach noch mal in den Arm und verschwinde endlich, okay?«

Sie zog mich in ihre Arme. »Ich rufe dich jeden Tag an, okay? Die Zeitverschiebung ist mir egal. Und wenn du mich brauchst, wofür auch immer, Kennedy, bin ich für dich da.«

»Ich weiß. Danke. Aber jetzt geh!«, befahl ich und scheuchte das glückliche Paar zur Tür. Ich gab Yoana einen Kuss auf die Wange und nahm Nathan noch einmal fest in den Arm. »Pass gut auf sie auf, sonst bring ich dich um, okay?«

»Aye, aye Captain. Hör zu, in der Stadt gibt es ein paar tolle Läden und Lokale. Und sag Bescheid, wenn dir jemand Probleme macht. Ich weiß, wie unfreundlich die Leute hier in der Kleinstadt sein können. Du bist jetzt meine Schwester, und ich hab kein Problem damit, jemandem vom anderen Ende der Welt aus in den Arsch zu treten.«

Ich lachte. »Abmarsch, ihr Lieben. Ich hab euch lieb. Passt auf euch auf und vergesst nicht, was Mama und Daddy immer gesagt haben: Keine Angst vor dem Unbekannten!«

»Das Gleiche gilt für dich, Schwesterherz. Keine Angst vor dem Unbekannten«, gab Yoana zurück.

Nathan verabschiedete sich und ging hinaus, um Yoana und mir noch einen Moment allein zu geben. Mein Herz brannte, wenn ich daran dachte, dass sie mich jetzt verlassen würde, aber ich tat mein Bestes, es mir nicht anmerken zu lassen.

»Was Penn dir angetan hat, war grausam, und wenn ich könnte, würde ich ihm den Schwanz abschneiden, aber dieses Kapitel deines Lebens ist beendet. Erinnerst du dich, was Mama und Daddy immer gesagt haben, wenn ein anderer Mensch uns das Gefühl gegeben hat, schwach zu sein?«

Ich nickte, und Tränen traten mir in die Augen. »›Wenn jemand dir das Gefühl gibt, schwach zu sein, tu etwas, das dir das Gefühl gibt, stark zu sein.‹«

»Jawohl. Und genau das ist es, was du gerade tust. Du findest dich selbst wieder. Du fängst neu an, und jeder, der den Mut hat, neu anzufangen, ist stark. Du bist unglaublich stark. Mama und Daddy wären stolz auf dich. Ich bin es auf jeden Fall.«

Ich konnte mich doch immer darauf verlassen, dass Yoana mich zum Weinen bringen würde. »Verschwinde einfach, okay? Sonst hock ich hier noch schluchzend wie die letzte Idiotin allein in einer kleinen Stadt.«

»Okay. Hab dich lieb. Ich rufe an, wenn wir am Flughafen sind.«

Wir verabschiedeten uns erneut, denn voneinander Abschied zu nehmen war immer ein langer Prozess. Als meine Schwester schließlich die Tür hinter sich schloss, holte ich tief Luft und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Holz der Tür, schloss die Augen und spürte, wie die Einsamkeit über mir hereinbrach. Offenbar war es egal, wie groß oder klein ein Zuhause war, wie warm oder kalt, oder wie viele Dinge darinstanden – wenn die Einsamkeit über einen Menschen hereinbrach, war es immer unendlich traurig.

In diesem Augenblick meldete sich mein Handy.

Yoana: Hab ich ganz vergessen: Ich habe dir ein Geschenk in die Einfahrt gestellt.

Ich schluckte und ging nach draußen, um mir die Überraschung anzusehen. Und sofort fing ich wieder an zu heulen.

Da stand es, vor meinen Augen – ein Geschenk aus der Vergangenheit: Mamas und Daddys Cabrio. Dieser alte, zerbeulte Wagen war eine Erinnerung an meine beiden Lieblingsmenschen, die ich verloren hatte. Der gelbe Lack war stumpf, und der Wagen war komplett bemalt. Mama und Daddy hatten uns während unserer Kindheit unsere liebsten Ereignisse darauf verewigen lassen, damit wir sie im Laufe der Jahre immer wieder betrachten konnten.

Langsam ging ich um das Auto herum und betrachtete jede einzelne Erinnerung, die darauf abgebildet war. Geburtstage. Kunstausstellungen. Familienurlaube. Ich spürte, wie ein Lächeln meine Mundwinkel ein wenig nach oben zog. Dieses Auto war eine Erinnerung an den Menschen, der ich tief in meiner Seele wirklich war.

Ich dachte wieder daran, wie wir gemeinsam über den Freeway gefahren waren und Lauryn Hill gehört hatten, während unsere Haare im Wind wehten – ohne Angst und bis zum Rand mit Glück erfüllt. Yoana hatte neben mir gesessen, und ihr Lachen war so ansteckend gewesen. Sie und ich hatten damals auf dem Rücksitz gesessen und Seifenblasen aufsteigen lassen. Mit diesen drei Menschen in meinem Leben und dieser Freude hatte ich unmöglich nicht glücklich sein können.

Ich kletterte auf den Fahrersitz und atmete tief ein, während der besondere Geruch mich umhüllte.

Mama.

Ich sah zum Beifahrersitz hinüber, wo ein Korb mit wundervollen Dingen und einem Brief stand. Mamas Lieblingsparfüm war dabei, und das war es auch, das ich roch. Yoana musste die Sitze damit eingesprüht haben.

Lilien und Honig.

Neben dem Parfüm gab es noch eine Flasche Whiskey und ein Glas Kaffeebohnen.

Ich öffnete den Brief und las.

Kennedy,

ich hasse es, dass ich dich so kurz nach unserem Wiedersehen schon wieder verlassen muss, und ich dachte mir, du könntest ein Stückchen Familie gebrauchen, während du dich selbst wiederfindest. Deshalb habe ich dir ein Glas mit Mamas Lieblingskaffeebohnen dagelassen – für morgens. Für abends gibt es eine Flasche mit Daddys Lieblingswhiskey.

Ich liebe dich, Sis. Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Ich bin nur einen Flug entfernt.

Und grüble nicht zu viel. Du bist auf dem richtigen Weg, auch an den Tagen, an denen es sich vielleicht nicht so anfühlt.

Yoana

Ich starrte hinauf zu den Sternen, die Havenbarrows Himmel sprenkelten, öffnete den Whiskey und verbrachte den Abend damit, mir bessere Tage von den Sternen zu wünschen. Ich bat Mama und Daddy, mir ein Zeichen zu senden, dass alles gut werden würde, was auch geschah. Ich bat um Rat, um ein Gebet, um ein Wunder.

Ich hätte wirklich ein Wunder gebrauchen können.

Am nächsten Morgen hatte ich das deutliche Gefühl, endlich wieder die Sonne spüren zu können nach so vielen Tagen in der Dunkelheit.