Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Vorwort
  7. Vorbemerkung
  8. Der Klimatologe
  9. Teil 1
    1. Marokko in der Schweiz
    2. Phönix steigt herab
    3. Feuer im Treibhaus
    4. Trockenheit Down Under
    5. Die andere Seite des Paradieses
  10. Teil 2
    1. Eine wunderbare Stadt
    2. Miami Blues
    3. Bangladesch: Geografie als Schicksal
    4. Goodbye, Big Easy
    5. Drei Schluchten
  11. Teil 3
    1. Perle des Mittelmeers
    2. Haus auf Sand gebaut I
    3. Haus auf Sand gebaut II
    4. Tuvalu
    5. Der Untergang Rotterdams
  12. Teil 4
    1. Ein fragiler Widerspruch
    2. Impermafrost
    3. Nanuk
  13. Teil 5
    1. Der Viertagekrieg
    2. Der Indus-Krieg
    3. Oh, Kanada
    4. Vom Blauen zum Roten Nil
  14. Teil 6
    1. America First
    2. Böse Zäune, böse Nachbarn
  15. Teil 7
    1. Das Jahrhundert des Todes
    2. Tod in Würde
  16. Teil 8
    1. Streifen-Ringschwanzbeutler
  17. Teil 9
    1. Blick auf Schweden I
    2. Blick auf Schweden II
  18. Nachwort

Über dieses Buch

Eine Zeitreise durch den Klimawandel

Mit einem Vorwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker

Übersetzt von Axel Merz, Dietmar Schmidt, Rainer Schumacher

Das Jahr 2019 war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind Klimaschwankungen so rapide abgelaufen. In welcher Welt werden wir in Zukunft leben? Der renommierte Wissenschaftler James Powell nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch den Klimawandel: Die Alpen schneefrei, Australien, Spanien und weite Teile der USA verwüstet und verbrannt, westliche Staaten führen neue Kriege um Ressourcen. Eine packende Dystopie, die leider allzu real ist.

Über den Autor

James Lawrence Powell ist Wissenschaftler, ehemaliger Hochschulpräsident, Museumsdirektor und Autor. Er war zwölf Jahre lang Mitglied des National Science Board der USA, eines renommierten Beratungsgremiums für die US-Forschungspolitik.

JAMES LAWRENCE POWELL

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EINE ZEITREISE
DURCH
DEN KLIMAWANDEL

Übersetzung aus dem Amerikanischen von
Axel Merz, Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher

Vorwort

von Ernst Ulrich von Weizsäcker

Ein Kracher! Wenn wir den Klimaschutz nicht hinbekommen, wird das 21. Jahrhundert »das tödliche Jahrhundert«. Schweizer Skigebiete, spanische Lieblingsstrände, Millionärsparadiese in Florida und Kalifornien – alles kaputt und vorbei. Die grüne Lunge Amazonas, der ganze Erdteil Australien, das einst aufstrebende Bangladesch und die meisten Hafenstädte der Welt – verbrannt, vertrocknet oder aber überflutet. Neuartige Kriege (zum Beispiel um Wasser) sind die Folge, in Indien, in Kanada, in Afrika. Verzweiflung allenthalben.

Wehmütig über die zerstörte Welt erinnert sich ein alter Klimaforscher im Jahr 2084 an seinen Vater und seinen Großvater, beides auch Klimawissenschaftler. Er fragt sich mit einiger Bitterkeit, was für einen Grund die Leute zu Anfang des Jahrhunderts hatten, dass sie diese grausame Zerstörung des Planeten zulassen konnten. Wussten sie nicht, was sie da anrichteten? War die Wissenschaft in jenen Jahren noch nicht weit genug? Nein, heißt die schreckliche Wahrheit. Im Kern war damals alles schon bekannt. Aber das Volk oder politische Mehrheiten im Volk wollten das nicht hören. Klimaleugner konnten Wahlen gewinnen. Bequeme Lügen wurden regelrecht populär, und der guten Wissenschaft wurde das Geld entzogen.

Karikatur, gewiss. In allen höherentwickelten Ländern gibt es in den Jahrzehnten, in denen wir heute leben, gute und auch gut bezahlte Wissenschaftler. Aber die Anstrengungen, die der richtige Klimaschutz erfordert, wären für Wutbürger, für eingefleischte Optimisten und für Menschen mit Kurzfristgemüt zu negativ und daher sehr unpopulär gewesen. Speziell in den USA, wo der Autor dieses großartigen Buches lebt, gibt es seit den 1980er-Jahren, seit dem Amtsantritt von Präsident Ronald Reagan, eine sehr verbreitete Auffassung, die da lautet: Wenn du kein Optimist bist, bist du kein guter Patriot. Kritik und Pessimismus sind moralisch pfui.

Doch was zeichnet diesen Typ von Optimisten aus? Er blendet unangenehme kritische Fragen aus. Kritik hat Denkverbot oder mindestens Redeverbot. Und Erfolg hat man nur, so denkt man in Amerika, wenn man immer an das Gelingen glaubt.

Das Buch enthält jedoch ebenfalls einen gewaltigen moralischen Vorwurf, bloß mit umgekehrtem Vorzeichen: Unmoralisch ist die gigantische Verdrängung der Realität durch die »Klimaleugner« und ihre dumpfe Gefolgschaft.

Dies ist der Kern der Botschaft dieses Buches. Und die Botschaft ist auch nicht falsch.

Aber man könnte auch echten Klimaschutz machen, ohne dabei den Wohlstand zu verlieren. Selbst Bequemlichkeit und Gemütlichkeit können erhalten bleiben. Powell hätte das Buch wohl auch nicht geschrieben, wenn er nicht heimlich die Hoffnung hätte, dass unsere Gesellschaft noch lernfähig wäre. Allerdings halte ich im gegenwärtigen Zustand die deutsche Gesellschaft für sehr viel lernfähiger und vor allem lernwilliger als die amerikanische. In den sechs Jahren, in denen ich in den USA gelebt habe, bekam ich den Eindruck, dass das Land tief gespalten ist und dass es den Streithähnen wichtiger ist, der anderen Seite Böses zu unterstellen und sie politisch »kleinzukämpfen«, als nach Gemeinsamkeiten zu suchen, die zu einer strategischen Vermeidung künftiger Katastrophen führen könnten.

Man könnte die Schreckensvisionen, die in den rund 25 Kapiteln im Erzählstil vorgeführt werden, je einzeln durchbuchstabieren und vielleicht an der einen oder anderen Stelle wissenschaftlich kritisieren. So ist etwa das Ausmaß des Meeresspiegelanstiegs strittig. Auch sind die Orte und die Schäden durch Dürre, Brände, Eisschmelze, Wetterkapriolen und Wassernot diskutabel. Aber der Grundtenor, dass eine globale Erwärmung um vier Grad oder auch sechs Grad Celsius absolut gigantische Zerstörungen auslösen würde, ist ganz einfach richtig.

Viel wichtiger für deutsche und auch amerikanische oder afrikanische oder chinesische Leser ist allerdings die Skizze einer Politik, die die gegenseitige Verträglichkeit von wirksamem Klimaschutz und hohem Wohlstand plausibel macht. Powell würde vielleicht einwenden, dass das doch alles längst durchgehechelt worden sei und dass trotzdem die Mehrheit der Wahlmänner bei der Präsidentenwahl 2016 einen brutalen Leugner der Klimagefahren ins Weiße Haus geschickt hätten. Aber damit würden sich deutschsprachige Leserinnen und Leser nicht abspeisen lassen.

Wie sähe denn eine solche Strategie aus? Im Buch selbst findet man die Antwort des Autors im letzten Teil. Hier mischt sich die fantasievolle, schreckliche Fiktion mit Überlegungen, wie unsere Generation ihre Fehler hätte vermeiden können. Powell sinniert darüber, wie man in unserer Zeit, dem noch jungen 21. Jahrhundert, Indien (oder andere Entwicklungsländer) davon hätte abhalten können, jede Menge neuer Kohlekraftwerke zu bauen. Und seine Antwort heißt: Die einzige Chance wäre gewesen, ihnen einen besseren, billigeren Weg zur Stromerzeugung zu zeigen.

Bloß kommt dann etwas später der abenteuerliche Vorschlag, endlich wieder zur Atomkraft zurückzukehren. So als ob die Anti-Atomkraft-Bewegung ein riesiges Missverständnis gewesen wäre. So also ob die gigantischen Mengen spaltbaren Materials niemals in Form von Atomwaffen eingesetzt würden, in Bürgerkriegen, Kriegen zwischen einzelnen Nationen oder Weltkriegen. Und so, als ob es für hohen Wohlstand eben nur die Alternative Kohle oder Atomkraft gäbe.

Viel besser gefällt Powells Schilderung von Schweden, wo in unserer Zeit vieles richtig gemacht wurde, insbesondere mit der frühen Einführung einer CO2-Steuer. Die führte zu einer Blüte der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz.

Hieran anknüpfend erlaube ich mir, fünf recht unterschiedliche Strategieelemente zu skizzieren, die unserer heutigen Generation zur Verfügung stehen und die die Klimakatastrophe noch abwenden könnten.

Ich sage nicht, dass diese fünf Elemente leicht durchsetzbar sind. Aber Powells Buch kann die Neigung bei uns und anderswo gewaltig steigern, kühn und im Interesse unserer Kinder und Enkel zu handeln.

Wäre das nicht ein Plan, für den Fridays for Future auf die Straße gehen müsste?

Vorbemerkung

Man sagt, die meisten Schriftsteller schrieben für sich selbst und hofften, einen Bestseller zu landen. Heutzutage besteht für kein Buch mehr die Aussicht, sich so gut zu verkaufen, dass man von einem Bestseller sprechen könnte, ganz egal, wie gut es geschrieben oder wie wichtig sein Thema ist. Die großen Buchhändler hingen ganz vom Internet ab, das wie der Rest unserer Infrastruktur immer unzuverlässiger und unsicherer geworden ist und wohl noch vor Ende dieses Jahrhunderts verschwinden wird. Beinahe alle physischen Buchhandlungen, die einmal die Verkäufe hätten übernehmen können, sind schon vor langer Zeit von den Onlinehändlern aus dem Geschäft gedrängt worden.

Warum habe ich dann aber dieses Buch geschrieben, obwohl mir klar ist, dass es vor allem Freunde und Verwandte lesen werden? Weil ich mich mit Oral History befasse, mit mündlich übermittelter Geschichte. Meine Arbeit besteht darin, entscheidende Ereignisse der Menschheitsgeschichte aufzuzeichnen, indem ich die Worte derjenigen verwende, die sie erlebt haben. Damit liefern wir anderen Historikern das Rohmaterial, auf dem sie aufbauen und aus dem sie verallgemeinernde Schlüsse ziehen können. Selbstverständlich schreibe ich auch, weil mir das Schreiben gefällt und es sich dabei um eine Vergnügung handelt, die noch möglich ist. Man benötigt letzten Endes gar keinen Computer zum Arbeiten, kein Internet und auch nicht die sogenannte Cloud – man braucht nur Bleistift und Papier.

Der Meister dieses Ansatzes und mein Vorbild ist Studs Terkel, der große Oral Historian des 20. Jahrhunderts. Zwei seiner Bücher, The Good War: An Oral History of World War II und Hard Times: An Oral History of the Great Depression, fangen die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise auf US-Amerikaner aller Gesellschaftsschichten in einer Weise ein, wie es keinem anderen Buch je gelungen ist. Während meiner ganzen Laufbahn habe ich Terkels Werke immer wieder gelesen, und jedes Mal hat er mich neu inspiriert.

Studs Terkel reiste viel und interviewte Menschen aus allen Lebensbereichen, von Farmen und aus Fabriken, aus Städten und Dörfern; Rentner und Jugendliche, Angehörige der oberen Zehntausend und den Mann und die Frau von der Straße. Wie bei ihm sind die meisten meiner Interviewpartner Durchschnittsbürger, aber ich spreche auch mit Experten und Führungspersönlichkeiten. Am Ende hatte ich beinahe hundert Personen interviewt, zu viele für ein Buch. Darum habe ich letztlich die Interviews ausgewählt, die am besten illustrieren, was Überschwemmungen, Dürren, Kriege, Hungersnöte, Seuchen und die Massenmigration von Klimaflüchtlingen der Menschheit zugefügt haben.

Ich empfinde eine besondere Verbundenheit mit Studs Terkel, weil ich 2012 zur Welt kam, genau ein Jahrhundert nach ihm. 1912 war die Erderwärmung nur ein theoretisches Konzept. Einige wenige Naturwissenschaftler hielten sie für möglich, besaßen aber zu wenig Informationen, um globale Erwärmung als gefährlich zu betrachten. Diese Forscher nahmen verständlicherweise sogar an, dass eine wärmere Welt für die Menschheit günstig sein könnte. Bei meiner Geburt ein Jahrhundert später stand außer Frage, dass die Erderwärmung real und von Menschen verursacht war – und dass sie die Menschheit bedrohte. Doch dank einer Kampagne, die zu einem erheblichen Teil von den damaligen großen Ölkonzernen finanziert wurde, entschieden sich die Hälfte der Bevölkerung und viele Politiker für das Leugnen dieser Tatsache und stellten Ideologie und Lügen über die Zukunft ihrer Enkelkinder.

Ich habe meine Rolle auf ein Minimum beschränkt und zeige durch Kursivsetzung, wo ich eine Frage gestellt habe. Ansonsten lasse ich meine Interviewpartner für sich sprechen, ganz wie Studs Terkel es getan hat. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, habe ich Kapitel nach Themen gruppiert, doch das ist ein wenig willkürlich, weil viele Regionen unter mehr als nur einer Auswirkung der Erderwärmung leiden. Sofern nicht anders angemerkt, fanden die Gespräche über ein Satellitentelefon statt.

Lexington, Kentucky

31. Dezember 2084

Der Klimatologe

Heute spreche ich mit Robert Madsen III., der wie vor ihm sein Vater und Großvater Klimatologe ist.

Dr. Madsen, ich trete mit einer Frage an Sie heran, die sich Menschen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts einfach aufdrängt.

Uns, die wir heute leben, bleibt es ein Rätsel, wieso sich in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, bevor uns die Zeit weglief, niemand bemüht hat, die Erderwärmung wenigstens zu verlangsamen. Woran lag das? Gab es nicht genügend Beweise? War die Wissenschaft uneins? Gab es eine bessere Theorie, um die globale Erwärmung zu erklären, welche offensichtlich stattfand, oder etwas anderes? Die Generation unserer Großeltern muss doch sicher einen guten Grund gehabt haben, um zuzulassen, dass die Welt sich so entwickelte, wie sie heute ist – worin bestand der?

Nun, ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass dieses Kapitel nicht das längste in Ihrem Buch sein wird, denn die Antwort ist kurz und einfach: Sie hatten keinen guten Grund.

Die Beweise für die von Menschen verursachte Erderwärmung waren schon zur Jahrhundertwende überwältigend, und sie wurden im Lauf der Zeit nur noch deutlicher, bis sie für jeden rationalen Menschen unbestreitbar waren – also jeden, der sich vom Verstand leiten ließ. Ein Freund, der Jura studierte, hat mich einmal gefragt, ob die Erderwärmung durch erdrückende Indizien oder mangels begründeter Zweifel bewiesen worden sei; Letzteres hätte in einem Strafrechtsprozess den höheren Stellenwert. Ich antwortete, dass die Erderwärmung ohne begründeten Zweifel festgestanden habe: so sicher, wie eine wissenschaftliche Theorie nur sein kann.

Wenn Sie in die 2010er-Jahre zurückgehen und die kollektive Meinung der Naturwissenschaft anhand dessen beurteilen würden, was an von Fachleuten geprüften Artikeln in den einschlägigen Zeitschriften erschien, würden Sie feststellen, dass sich bis 2020 eine so gut wie hundertprozentige Übereinkunft eingestellt hatte, dass die Erderwärmung vom Menschen verursacht war. Das ist nicht bloß eine glatte Zahl, die ich aus der Luft gegriffen habe, sondern das Ergebnis einer Auswertung von nahezu 20.000 von Fachleuten geprüften Artikeln aus dieser Zeit.

So schwer vorstellbar es ist: Die Leugner der von Menschen verursachten Erderwärmung hatten keine eigene naturwissenschaftliche Theorie, um die Fakten zu erklären. Hätten die Leute in den Zehner- und Zwanzigerjahren erlaubt, dass unsere Welt zerstört wird, weil sie auf die falsche Theorie gesetzt haben – das könnte man verstehen. Aber es gab keine alternative Theorie. Die Temperaturen stiegen, auf allen Kontinenten gab es von Jahr zu Jahr schlimmere Flächenbrände, der Meeresspiegel stieg an, Stürme wurden immer stärker und so weiter und so fort. Wer bestritt, dass Menschen dafür verantwortlich waren, wollte nicht wissen, was das Extremwetter verursachte, sondern hatte beschlossen, woran es nicht liegen sollte: an der Nutzung fossiler Brennstoffe.

Also gut, das ist kurz und einfach. Aber selbst Leugner ohne eine Theorie mussten eine alternative Erklärung für die Daten haben, von denen die Naturwissenschaftler überzeugt waren. Wie haben sie das angestellt?

Eine Weile behaupteten sie, die Erderwärmung sei ein Schwindel und miteinander verschworene Wissenschaftler hätten die Daten gefälscht. Die Argumentation derer, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse bestreiten, läuft immer auf Verschwörungstheorien hinaus, denn die einzige andere Möglichkeit bestünde darin, zuzugeben, dass die Forscher recht haben.

Wenn Sie zu dieser Zeit gelebt hätten, was hätten Sie denen geantwortet, die behaupteten, dass die von Menschen verursachte Erderwärmung eine Verschwörung sei?

Nun, ich hätte die Leute aufgefordert, sich ein paar einfache Fragen zu stellen: Wie sollte die Verschwörung organisiert worden sein? Die erwähnten 20.000 Artikel stammen grob geschätzt von 60.000 Autorinnen und Autoren aus aller Herren Länder. Wie hätten die Schwindler sich absprechen sollen? Sie hätten E-Mails benutzen müssen. Aber im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stahl jemand eine riesige Zahl von E-Mails prominenter Klimatologen und veröffentlichte sie – insgesamt rund eine Million Wörter, wenn ich mich richtig erinnere. Kein einziges Wort in diesen E-Mails deutet jedoch auf eine Verschwörung hin.

Warum wurde kein einziger Verschwörer jemals ertappt, schrieb eine Enthüllungsbiografie oder legte ein Geständnis auf dem Totenbett ab? Und warum sollten sie sich überhaupt verschworen haben? In den USA beantworteten die Leugner diese Frage mit: »Weil sie Liberale sind.« Aber mehr als die Hälfte der Fachzeitschriften erschienen im Ausland, wo solche Etiketten nicht anwendbar sind.

Natürlich stellten sich die Leugner in den 2010er-Jahren keine Fragen dieser Art. Für sie war es derart offensichtlich, dass menschengemachte Erderwärmung nicht existierte, dass der Grund, aus dem Naturwissenschaftler einen Schwindel aufgezogen haben sollten, keine Rolle mehr spielte.

In den 2020er-Jahren hatten Lügen die Wahrheit dann endgültig nicht nur in der Naturwissenschaft, sondern auch in anderen Bereichen verdrängt. Die Leute akzeptierten lieber eine Lüge, die ihre früheren Annahmen bestätigte, als eine Wahrheit, die diesen Glauben untergrub. Schon zuvor waren deshalb in Ländern wie Australien, Brasilien, Russland und den USA Politiker ins höchste Staatsamt gewählt worden, die der Gruppe der Leugner angehörten.

Selbst in den frühen 2020ern hätte die Erderwärmung noch auf drei Grad Celsius begrenzt werden können. Die Nationen der Welt konnten sich jedoch nicht dazu durchringen, das auch nur zu versuchen. Als endlich etwas geschah, waren selbst vier Grad Celsius nicht mehr einzuhalten. Wir wissen nicht, wie hoch die Temperatur noch steigen wird. Es ist schon seltsam: Wir Menschen rühmen uns für unser vernunftbestimmtes Denken, aber wenn die menschliche Zivilisation auf dem Spiel steht, entscheiden wir uns für Ideologie und Ignoranz.

Wenn die Leute glaubten, Wissenschaftler seien so korrupt, dass sie die Erderwärmung erfänden, muss es ihnen schwergefallen sein, der Wissenschaft überhaupt zu trauen. Hatte diese Haltung eine Auswirkung auf den Status der Wissenschaft?

Mein Großvater war Naturwissenschaftler und hat mich inspiriert, selbst einer zu werden. Er hat mir erzählt, dass Ende der 2010er-Jahre im Weißen Haus und in den oberen Etagen beinahe jeder Behörde Wissenschaftskritiker saßen. Sie beschnitten den Forschungsetat nicht nur für die Klimatologie, sondern auch für alles andere, was mit der Umwelt zusammenhing: gefährdete Arten, industrielle Umweltbelastung und so weiter. Die Umweltschutzbehörde und die National Science Foundation haben die 2020er-Jahre nicht überstanden, und die gesamte nationale Förderung der Wissenschaft sank auf das Niveau der 1950er-Jahre. Grandad sagte, ihm und seinen Kollegen sei es geradezu so vorgekommen, als habe man »Wissenschaft« zum Schimpfwort erklärt.

Die meisten Wissenschaftler an den US-amerikanischen Universitäten hingen damals von staatlichen Geldern ab und mussten ihre Forschungsprogramme aufgeben. Große Universitäten hatten ein Viertel bis ein Drittel ihrer Finanzmittel aus Forschungsförderungen erhalten. Einer der ersten Schritte, die sie unternahmen, bestand darin, die Mittel für naturwissenschaftliche Lehrstühle zu kürzen und Professoren zu entlassen. Studierende sahen keine Zukunft im Studium der Naturwissenschaften und stimmten mit den Füßen ab, indem sie sich für andere Fächer einschrieben. Infolgedessen schrumpften die naturwissenschaftlichen Fachbereiche, was die Abschaffung weiterer Lehrstühle und Professorenstellen rechtfertigte. Naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, deren wichtigste Kunden die Universitäten darstellten, fielen ebenfalls dem Schrumpfungsprozess zum Opfer, als Umfang und Qualität der Forschung in den Keller gingen und die Finanzierung der Universitätsbibliotheken zusammengekürzt und schließlich eingestellt wurde. Selbstverständlich mussten ohne Forschungsmittel und Fachzeitschriften auch viele wissenschaftliche Gesellschaften dichtmachen.

In der Büchersammlung meines Großvaters fand ich einen zerlesenen Band mit dem Titel Das Ende der Geschichte. Wir stehen vielleicht noch nicht am Ende der Naturwissenschaft, aber abzusehen ist es schon.

Teil 1

Dürre und Feuer

Marokko in der Schweiz

Christiane Mercier ist die langjährige Korrespondentin in Sachen Erderwärmung der französischen Tageszeitung Le Monde. In diesem Interview spricht sie von unterschiedlichen Regionen Europas zu mir. Unser erstes Gespräch in dieser Serie fand in dem ehemaligen Schweizer Skiort Zermatt statt.

Ich unternehme diese Reise, um eine Bestandsaufnahme anzufertigen, wie sich die Erderwärmung in verschiedenen Teilen Europas auswirkt. Heute stehe ich im ehemaligen Herzen des schweizerischen Tourismus, wo Skifahren nicht mehr möglich ist. Zermatt bot einmal Skipisten von Weltruf und eine fabelhafte Aussicht auf das Matterhorn. Wenn ich mich nun umschaue, ist nirgendwo Schnee zu sehen, nicht einmal auf dem Gipfel dieses Wahrzeichens der Alpen.

Um mich auf dieses Interview vorzubereiten, habe ich ein wenig die Geschichte der Erderwärmung in den Alpen recherchiert. Schon zur letzten Jahrhundertwende gab es ungute Vorzeichen. Damals lag die Schneegrenze noch bei 3.030 Metern, aber bereits im Hitzesommer von 2003, um nur ein Beispiel zu nennen, stieg sie auf 4.600 Meter, überschritt damit die Höhe des Matterhorns und erreichte beinahe den Gipfel des Montblancs, der höchsten Erhebung westlich des Kaukasus. Der Permafrost, der Fels und Erde auf dem Matterhorn festhielt, schmolz und ließ Geröll bergab rutschen. Man sieht noch immer die Abbruchhaufen, die an verrammelten Skihütten und Restaurants liegen und teilweise in die Gebäude eingebrochen sind.

Aus Davos, Gstaad, St. Moritz oder irgendeinem anderen einst berühmten Wintersportgebiet in der Schweiz, in Frankreich und Italien könnte ich das Gleiche berichten. Die Alpen kennen seit den 2040er-Jahren keine Schneekuppen mehr, kein ewiges Eis. Soviel ich weiß, hat die Skihänge der Rocky Mountains das gleiche Schicksal ereilt.

Meteorologen sagen uns, dass das Klima im heutigen Südeuropa identisch ist mit dem, das in Algerien und Marokko herrschte, als das Jahrhundert begann. Nach gemessenen Temperaturen und Niederschlägen ist Südeuropa heute eine Wüste, und die Alpen entwickeln sich zum Abbild des Atlasgebirges jener Zeit.

Mehrere Wochen später war Madame Mercier in Nerja an der spanischen Costa del Sol, einst bevorzugter Aufenthaltsort von dauerhaft im Ausland wohnenden Gästen und saisonal anreisenden Besuchern, die vor den kalten Wintern in Deutschland und dem Vereinigten Königreich flohen.

Wenn ich vom Ufer bei Nerja nach Süden blicke, breitet sich vor mir das gewaltige blaue Mittelmeer aus. Schaue ich nach Norden, dehnt sich vor mir ein scheinbar grenzenloser Ozean aus verlassenen sand- und ockergelben Wohnanlagen: Tausende, Zehntausende – eine unfassliche Anzahl, und die meisten verfallen, zerbröckeln. Der Grund dafür ist nicht schwer zu verstehen: Das Land ist ausgedörrt und tot. Um 14 Uhr herrscht vor den Ruinen des verrammelten Hotels Balcón am Strand von Nerja eine Temperatur von 51 Grad Celsius im Schatten, und es regt sich kein Lüftchen. Ich scheine weit und breit der einzige Mensch zu sein und plane sicher nicht, lange zu bleiben.

Auf dem Weg von Córdoba und Granada nach Nerja habe ich die verkohlten Überreste Zehntausender Olivenbäume gesehen, deren Monokultur einmal Südspanien dominiert hat. Als die Region sich erwärmte, trockneten die Olivenbäume aus und wurden anfällig für Krankheiten und leicht entzündlich. Heute hat sich der Olivenanbau aus Spanien und Italien nach Norden verlagert, nach Frankreich und Deutschland und sogar nach England.

Von Nerja aus reiste Madame Mercier nach Gibraltar.

Ich hatte große Schwierigkeiten, ein Verkehrsmittel zu finden, das mich hin und wieder zurückbrachte. Was eine Fahrt von einem halben Tag sein sollte, kostete mich vier. Gibraltar war einmal Kronkolonie des British Empire und bewachte den Zugang zum Mittelmeer. Nur 13,5 Kilometer über Wasser entfernt lag Marokko, und diese Nähe zu Afrika machte aus Gibraltar das natürliche Mekka der Klimamigranten.

Bei meinen Recherchen zur Reisevorbereitung fand ich einen Bericht aus den 2010er-Jahren, in dem angemerkt wurde, dass wegen der zunehmenden Hitze und Dürre und der daraus entstehenden gesellschaftlichen Verwerfungen die Migration in die EU bereits angestiegen sei. Eine Studie sagte voraus, dass die jährliche Anzahl von Migranten von den 350.000 in den Zehnerjahren bis 2100 auf das Doppelte ansteigen werde. Doch diese Studie prognostizierte wie so viele aus dieser Zeit, ganz ungeachtet des Themas, die Zukunft auf Grundlage der Vergangenheit – und die Vergangenheit ist keine gute Richtschnur, wenn sich alle paar Jahre eine »neue Normalität« einstellt. Diese Prognosen bezogen so gut wie nie die Erderwärmung und ihre Folgeerscheinungen mit ein. Heute weiß niemand zu sagen, wie viele Migranten aus Afrika, dem Nahen Osten und dem Gebiet, das wir einmal Osteuropa genannt haben, es geschafft haben, Europa zu erreichen, aber ganz gewiss beträgt ihre Zahl mehrere hundert Millionen, wenn nicht sogar eine halbe Milliarde. Und es kommen noch immer welche.

2050 hatten so viele Migranten Gibraltar überschwemmt, dass England verkündete, es trete Gibraltar an das Land ab, das es so lange beansprucht hatte. Spanien unternahm daraufhin einen halbherzigen Versuch, Gibraltar zu regieren. Aber als die Entsalzungsanlagen ausfielen, von denen Gibraltar sein Trinkwasser bezog, sah sich Spanien nicht in der Lage, sie zu ersetzen. 2065 gab es auf und erklärte Gibraltar zur »offenen Stadt«. Mir war klar, dass Gibraltar eine Brutstätte des Schmuggels und anderer krimineller Aktivitäten ist und jeder, der dorthin geht, sein Leben aufs Spiel setzt. Ich musste mich als Mann verkleiden und brauchte Schutz durch bewaffnete Söldner. Lange blieb ich nicht – aber lange genug, um zu sehen, dass die Stimmen, die vorhersagten, dass die Erderwärmung die Hölle auf Erden bringen werde, sich nicht getäuscht haben.

Als ich das nächste Mal mit Madame Mercier sprach, war sie die Mittelmeerküste hinauf zur spanischen Region Murcia gefahren.

Von Gibraltar aus mietete ich ein Boot, das mich Richtung Nordosten nach Murcia bringen sollte. Unterwegs ankerten wir in Häfen, von denen mein Kapitän mir sagte, dass wir dort vermutlich sicher seien. Hätten Sie Murcia Anfang des Jahrhunderts besucht, hätten Sie überall Felder voller Blattsalat und Treibhäuser mit reifen Tomaten gesehen. Überall waren neue Ferienanlagen aus dem Boden gestampft worden. Auf dem Weg zum Strand hätten Sie Mühe gehabt, auf keinen grünen Golfplatz zu stoßen. Murcia galt als trockenste Region Spaniens, wo also kam all das Wasser her?

Wie Sie aus meinen Berichten wissen, tue ich eines, bevor ich einen Ort besuche: Je fais mon travail – ich mache meine Hausaufgaben. Ich befasse mich mit der Geschichte einer Stadt oder eines Landes, damit ich verstehe, was ich dort sehe. Murcia ist ein exemplarisches Beispiel, wie wenig Menschen und Regierungen solche tragédies des biens communaux – »Tragödien des Allgemeinguts« – verhindern können, die ihr Leben und ihr Land ruinieren.

Murcia war stets trocken, aber der Regenmangel hielt die Menschen nicht davon ab, sich zu benehmen, als gäbe es auf ewig unerschöpfliche Wassermengen. Wenn Wasser nicht vom Himmel fiel, fand man es unterirdisch oder leitete es aus fernen Schneefeldern heran. Zur Jahrhundertwende weigerte man sich zu glauben, dass der Tag kommen könnte, an dem keine dieser Strategien mehr funktionierte.

Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts bauten Murcias Bauern Feigen und Dattelpalmen an, und dort, wo es genügend Wasser gab, Zitronen und andere Zitrusfrüchte. Dann leitete der Staat Wasser aus weniger trockenen Regionen um, was den Bauern gestattete, auf durstige Pflanzen wie Kopfsalat, Tomaten und Erdbeeren umzusatteln. Es wurde gebaut, was das Zeug hielt, und jedes neue Gebäude musste einen eigenen Swimmingpool bekommen. Urlauber verlangten Hotels, Ferienwohnungen und zahlreiche Golfplätze, damit niemand auf seinen Abschlag warten musste. Jeden von Murcias Golfplätzen grün zu halten, kostete Hunderttausende Liter Wasser am Tag. Jemand hat ausgerechnet, dass rund 11.000 Liter Wasser nötig waren, um einen Golfer eine Runde spielen zu lassen. Heute hat Golf den Weg von Eishockey, Skifahren und Sport ganz allgemein genommen.

Hätten die spanischen Verantwortlichen die Erderwärmung ernst genommen und sich mit den aufgezeichneten Temperaturen in Murcia befasst, wären sie vielleicht ein bisschen vorsichtiger gewesen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts erwärmte sich Spanien doppelt so stark wie der globale Durchschnitt, während gleichzeitig der Niederschlag nachließ. Wissenschaftler prognostizierten, dass der Regenfall bis 2020 um weitere zwanzig und bis 2070 um vierzig Prozent sinken werde. Die Vorhersagen erwiesen sich als zutreffend, aber als sie angestellt wurden, schenkte ihnen niemand Beachtung. Nachdem die nördlichen Provinzen ihre Wasserlieferungen reduzieren mussten, griffen die Bauern und Städte Murcias auf das Grundwasser zurück, was dazu führte, dass dessen Pegel schlagartig sank. Ein Schwarzmarkt für Wasser aus illegalen Brunnen entstand, und schon bald lag der Grundwasserspiegel so tief, dass es mit Pumpen nicht mehr an die Oberfläche befördert werden konnte. Skandale kamen ans Tageslicht: Korrupten Beamten wurde nachgewiesen, dass sie gegen Bestechung in Gegenden, in denen es kein Wasser mehr gab, Baugenehmigungen erteilt hatten. Unfassbarerweise kauften leichtgläubige Briten und Deutsche noch immer Ferienwohnungen und Villen in Spanien. Wenn sie in ihrem neuen Haus oder ihrer neuen Wohnung den Wasserhahn aufdrehten, kam nichts heraus, und sie zogen vor Gericht. Dort erfuhren sie, dass eine Klausel im Kleingedruckten ihrer Kaufverträge die Bauherren und den spanischen Staat von der Haftung entbinde, wenn ein »Akt Gottes« zu Wasserknappheit führte. Die Erderwärmung soll ein Akt Gottes gewesen sein? Ne me fais pas rire, oder, wie Sie sagen: Bringen Sie mich nicht zum Lachen.

Nachdem das Wasser versiegt war, wandten sich die Bauern wieder den Feigen und Dattelpalmen zu. Doch während das Jahrhundert verstrich, erwiesen sich die Vorhersagen der Wissenschaftler als korrekt oder – öfter sogar – als konservativ, und selbst solche Wüstenpflanzen konnten in Spanien nicht mehr wirtschaftlich angebaut werden. In den 2050er-Jahren gab es so gut wie keine Landwirtschaft mehr in Murcia, und die Ferienvillen und -wohnungen standen leer. Heute unterscheidet sich Murcia von der nordafrikanischen Wüste hundert Jahre zuvor nur noch durch seine Bauruinen.

Als ich das nächste Mal mit Madame Mercier spreche, ist sie in ihrer Heimatstadt Paris angekommen.

Auf dem Weg nach Hause kam ich durchs Tal der Loire, ein Gebiet, das früher einige der herausragendsten Weine der ganzen Welt hervorbrachte: Chinon, Muscadet, Pouilly-Fumé, Sancerre, Vouvray und andere mehr. Sie alle sind verschwunden. Das Problem war, dass bei steigender Temperatur die Weinbeeren schneller reifen, ihren Zuckeranteil erhöhen und den Säuregehalt senken. Solche Trauben ergeben einen gröberen Wein mit höherem Alkoholgehalt. Wäre die Temperatur nur um ein oder zwei Grad gestiegen – wären wir unter dem Kipp-Punkt der Kohlendioxidkonzentration geblieben –, dann hätte der Vouvray vielleicht nicht mehr genauso geschmeckt wie vorher, aber er wäre trinkbar geblieben. Ein Experte hätte ihn womöglich sogar als eine Variante des Vouvray erkannt. Aber die Temperatur hat sich um fünf Grad Celsius erhöht. Im Tal der Loire wachsen keine Weinreben mehr, und der Anbau ist dort wie im übrigen Frankreich verschwunden. Wenn man heute Wein möchte, wendet man sich an das frühere Vereinigte Königreich oder Skandinavien.

Im Moment stehe ich am Nachmittag des 1. Juli 2084 im Schatten des Arc de Triomphe. Wie gut, dass ich im Schatten bin, denn wir haben 46 Grad. Sich bei dieser Hitze länger als wenige Minuten in die Sonne zu stellen, garantiert einen Hitzschlag. Wenn ich mich umsehe, bewegen sich nur eine Handvoll Fahrzeuge. Es sind kaum Leute auf der Straße. Selbst nachts ist es zu heiß, um im Freien zu sitzen, denn dann geben Stahl und Beton die Wärme, die sie tagsüber aufnehmen, wieder ab. Die Stadt des Lichts ist wie so viele zur Stadt der Hitze geworden, und ihre Straßencafés sind nur noch Erinnerung.

Von Paris reist unsere Reporterin nach Calais am Ärmelkanal.

Auf dem Weg hierher war die Reise so schwierig, dass ich beinahe aufgegeben hätte und nach Paris zurückgekehrt wäre. In nächster Zeit wird niemand diese Reise machen können, ohne seine Sicherheit zu riskieren. Für Afrikaner, die versuchten, im Norden der mörderischen Hitze zu entgehen, war Gibraltar das natürliche Tor nach Europa. Genauso bildet Calais, über den Ärmelkanal nur 32 Kilometer von Dover entfernt, den natürlichen Fluchtweg vom Kontinent, um ins kühlere Klima des ehemaligen Vereinigten Königreichs zu gelangen. In den 2020er-Jahren wollten die Briten sowohl legale als auch illegale Einwanderung reduzieren. Eine Weile wurde ihnen dieser Wunsch erfüllt, aber Ende der 2030er-Jahre stieg die Zahl der illegalen Einwanderer, die ins ehemalige UK gelangten, steil an und ist seitdem immer weiter gewachsen. Calais dient heute hauptsächlich dieser illegalen Einwanderung als Einfallstor. So wie ich in Südspanien nur wenige Spanier erblickte, sind die meisten Menschen, die ich in Calais sehe und mit denen ich rede, keine Franzosen oder Briten, sondern Araber, Afrikaner, Syrer und Slawen. Gemeinsam scheinen sie nur zu haben, dass sie aus dem Ausland kommen und entschlossen sind, die Kreidefelsen von Dover zu erreichen. Einige Migranten versuchen den Ärmelkanal zu durchschwimmen, aber das überleben nur wenige. Der Tumult hier erinnert mich an eine Szene aus alten Wochenschaufilmen, die das Chaos beim Fall von Paris zeigt, als die Deutschen anrückten und die Pariser sich in alle Winde verstreuten.

Am Hafen von Calais sehe ich die Doublette einer weiteren Szene aus dem Zweiten Weltkrieg: die Flucht der British Expeditionary Force aus Dünkirchen mit Hunderten von Wasserfahrzeugen aller Arten. Jetzt ist das Wasser wieder mit einer wilden Mischung aus Booten gefüllt, vollgepackt bis an die Reling mit Menschen, die ins gelobte Land wollen, nach England, wo die Schleuser auf sie warten – oder zumindest erhoffen sie sich das.

Ich hatte gedacht, ich könnte mir eine Passage auf einem dieser Boote verschaffen und von England aus berichten, aber ich bin völlig niedergeschlagen und deprimiert von dem, was ich gesehen habe. Je me rends. Ich gebe auf.