Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. PROLOG
  7. KAPITEL 1
  8. KAPITEL 2
  9. KAPITEL 3
  10. KAPITEL 4
  11. KAPITEL 5
  12. KAPITEL 6
  13. KAPITEL 7
  14. KAPITEL 8
  15. KAPITEL 9
  16. KAPITEL 10
  17. KAPITEL 11
  18. KAPITEL 12
  19. KAPITEL 13
  20. KAPITEL 14
  21. KAPITEL 15
  22. KAPITEL 16
  23. KAPITEL 17
  24. KAPITEL 18
  25. KAPITEL 19
  26. KAPITEL 20

Über dieses Buch

Zeitreisen, zarte Gefühle und eine dunkle Bedrohung Sommerferien auf dem Bauernhof in einem verschlafenen Kaff – für die 14-jährige Lea klingt das ungefähr so spannend wie Fußpilz und Herpes zusammen. Doch als sie eines Abends in der Dämmerung einen fremden Jungen beobachtet, der heimlich durch den Garten schleicht, nimmt ihr vermeintlich öder Sommer eine drastische Wendung: Der 16-jährige Moritz ist ein Zeitreisender! Und als wäre das nicht schon unglaublich genug, warnt er vor einer dunklen Macht, die die gesamte Menschheit auszulöschen droht …

Über den Autor

Michael Engler studierte in Düsseldorf Visuelle Kommunikation und arbeitete zunächst als Szenarist und Illustrator. Anschließend war er mehrere Jahre lang als Artdirector in Werbeagenturen tätig. Heute lebt er mit seiner Familie in Düsseldorf und schreibt Bilder-, Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke und Hörspiele.

M I C H A E L E N G L E R

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Roman

PROLOG

Irgendwo da draußen, in einer längst vergangenen Zukunft, tobt ein Kampf zwischen den Dynastien der Zeit und des Nichts. Durch den Diebstahl des Sphärischen Amuletts hat die Dynastie der Zeit schweren Schaden genommen. Von nun an ist sie verletzbar. Würde sie vernichtet, bedeutete dies das Ende der Zeit, der Universen und des ganzen Rests. Deshalb brachte man das Kind der Herrscher der Zeit auf einem langweiligen Planeten am Rande des Universums in Sicherheit. Wenn die Zeit gekommen ist, wird man ihn oder seine Nachkommen rufen. Aber erst dann.

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KAPITEL 1

Die Fahrt mit dem Überlandbus schien Lea in diesem Jahr extrem viel länger zu dauern als in den Jahren zuvor. Drehte der Fahrer etwa ihr zu Ehren ein paar Extrarunden durch Maisfelder und an endlosen Rapsfeldern vorbei? Schließlich kam bestimmt nicht jeden Tag eine Fremde in diese Gegend. Wobei sie ja durchaus keine richtige Fremde war. Aber sie sah aus wie eine. Und allein deshalb hatte der Fahrer sie schon beim Einsteigen angestarrt. Lea hatte mit den Augen gerollt und sich einen freien Platz gesucht.

Es war Sommer. Der Himmel sollte blau sein, die Felder golden und die Seen erfrischend. Stattdessen klatschte seit über einer Stunde dichter Regen gegen die Frontscheibe des Busses. Und die schweren Wolken am Horizont versprachen noch sehr viel mehr davon.

So eine Plörre. Lea fragte sich, warum sich die Scheibenwischer überhaupt bewegten. Draußen war doch ohnehin alles grau und grün und nass. Einfach öde. Es lohnte sich gar nicht rauszugucken.

Morgen würde zu Hause der neue Jugendclub eingeweiht.

Lea gab sich sehr viel Mühe, nicht daran zu denken. Bloß nicht. Nicht an ihre beste Freundin Sarah, die morgen ganz bestimmt mit Lisa zur Einweihungsparty gehen würde. Nicht daran, dass sie nun niemals würde sagen können, dass sie von Anfang an dabei gewesen war. Niemals! Das würde jetzt Lisa übernehmen. Und die würde es jedem jederzeit ungefragt erzählen. Sie wollte nicht an die Party denken, bei der Lisa sich garantiert wieder ganz prächtig in den Vordergrund tanzen würde. Und Lisa würde in den nächsten zwei Wochen immer wieder hingehen und sich einschleimen.

Denn Lisa war nicht im Urlaub. Und auch Sarah war noch nicht weggefahren. Nur Lea war schon im Zwangsurlaub. Vierzehn Tage Ackerverschickung.

Sie hatte ihre Mutter um eine Verschiebung von drei Tagen gebeten. Sie hatte gebettelt, mit Tränen in den Augen, sie wäre bereit gewesen, nahezu alles zu versprechen. Nur diese drei Tage, um wenigstens bei der Einweihung dabei zu sein. Aber ihre Mutter ließ sich nicht erweichen. Nicht mal, als Lea ihr erklärte, dass Sarah sonst bestimmt mit Lisa gehen würde. Ihre Mutter verstand nicht mal das Problem!

Aufhören. Jetzt!

Sie würde ab sofort nicht mehr an Lisa denken, bloß nicht, die war doch nur –

Leas Kopf knallte gegen den Vordersitz. Der Fahrer machte eine Vollbremsung, die Fahrgäste rutschten aus ihren Sitzen, dann schlingerte und rutschte der Bus quietschend über die nasse Landstraße. Lea umklammerte mit beiden Händen den Vordersitz. Sie schmeckte Blut. Hatte sie sich auf die Lippe gebissen?

Der Bus holperte wie ein Radiergummi über die Landstraße, dann kam er mit einem Ruck schwankend zum Stehen.

»Verdammtes Arschloch!«, brüllte der Fahrer jetzt. Die Tür öffnete sich zischend, der Fahrer sprang auf, hielt sich am Rahmen fest und lehnte sich nach draußen. Er sah sich um. Suchte etwas im endlosen Grün. Sprang schließlich aus dem Bus.

Die wenigen Fahrgäste rappelten sich auf und sahen sich fragend an. Manche guckten aus dem Fenster, andere gingen zur vorderen Tür. Sie tuschelten aufgeregt miteinander.

Das wird bestimmt richtig spannend hier, wenn die wegen einer Vollbremsung schon dermaßen aus dem Häuschen sind, dachte Lea. Sie kroch unter den Sitz, um die Sachen aufzusammeln, die aus ihrer Tasche gefallen waren. Ihr Notizbuch, ein Lippenstift, bei dem sie sich fragte, was sie hier überhaupt damit machen sollte, ihr Smartphone, das hier im Nirgendwo natürlich keinen Empfang anzeigte. Sie nahm einen Stift und schrieb:

Ich befinde mich zum ersten Mal in meinem Leben seit einer Stunde in einem Funkloch. Wenn Tante Marie und Onkel Benno immer noch kein funktionierendes WLAN haben, drehe ich durch. Warum glaubt meine Mutter, dass Ferien am Arsch der Welt eine gute Idee sind? Was soll ich hier? Mit wem soll ich reden? Die Bevölkerung hier ist mental ausbaufähig. Ich muss mich nur umschauen. Der Bus hat gerade gebremst, und alle sind vollkommen aufgeregt. Meine Güte, ein Bus hat gebremst. Hallo?!

Der Busfahrer stieg schwer atmend wieder ein. »Da ist mir eben einer fast vor den Bus gerannt«, erklärte er den Fahrgästen.

Einer sagte »Jau«, die anderen nickten schweigend.

»Und ich glaube, der hatte nicht mal was an!«, fügte der Fahrer hinzu.

Die Fahrgäste nickten noch einmal und setzten sich wieder.

Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Es sieht ganz danach aus, dass die Menschen hier aus Verzweiflung versuchen, sich nackt gegen Busse zu werfen. Das kann ja heiter werden.

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Eine Viertelstunde und etliche Maisfelder später rollte der Bus am Ortsschild von Veldhaus vorbei und kam hundert Meter danach schnaufend unter ein paar riesigen Eichen zum Stehen. Endlich hatte es aufgehört zu regnen, dafür tanzten jetzt kleine schwarze Wolken vor den Scheiben. Es dauerte einen Augenblick, bis Lea erkannte, dass es Gewitterfliegen waren. Aber das mussten Millionen sein; es wirkte wie wildes Schneetreiben – nur eben mit Fliegen.

Da entdeckte Lea schon ihre Tante und ihren Onkel durch die tropfnassen Scheiben. Sie hatten sich seit dem letzten Sommer kein bisschen verändert. Vermutlich trugen sie sogar noch dieselben Klamotten.

»Lea! Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt!«, rief ihre Tante Marie und umarmte sie, während Onkel Benno die schwere Tasche aus dem Bus wuchtete.

»Was sind das denn für Fliegen?«, fragte Lea, während sie mit beiden Händen wedelte, um sie wenigstens von ihrem Gesicht fernzuhalten.

»Fransenflügler«, antwortete ihre Tante, die gerne die richtigen biologischen Bezeichnungen verwendete. »Seit ein paar Tagen scheinen die unser Dorf ganz besonders gernzuhaben«, erklärte sie lachend.

Regentropfen lösten sich von den Blättern der Eiche und klatschten weich und kalt auf Leas Stirn. Sie zitterte und fühlte sich innerlich durchgefroren. Es war doch Sommer!

»Kann ich gleich bei euch heiß duschen?«, fragte sie.

»Natürlich kannst du das. Aber jetzt lass dich erst mal anschauen, Kleines«, sagte Onkel Benno und presste Lea an seine breite Brust.

»Sag bloß nicht, dass ich groß geworden bin!«, rief sie lachend, dann bekam sie für einen Moment keine Luft mehr – meistens unterschätzte ihr Onkel seine eigene Kraft. Sein Hemd roch vertraut nach Schafstall und abgebranntem Kaminholz.

»Ich soll euch von Mama grüßen!« Lea lächelte die beiden an. Ohne auf eine Reaktion zu warten, schob sie gleich die für sie dringende Frage hinterher: »Funktioniert euer WLAN eigentlich?«

»Sicher«, sagte Onkel Benno. »In der Küche läuft das ganz prima. Manchmal jedenfalls.«

»Du sollst dich doch sowieso erholen und nicht ständig in deinen Computer gucken«, fügte Tante Marie aufmunternd hinzu.

»Das ist ein Scherz, oder?«, fragte Lea atemlos, plötzlich panisch. »Oder?«

Ihr Onkel und ihre Tante sahen sie jedoch nur verständnislos an.

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Beim Abendessen saßen sie zu dritt am großen Tisch in der gemütlichen Küche. Lea hatte ein Handtuch um ihre nassen Haare gewickelt. Ihr war endlich wieder warm, und sie roch wohlig nach Milch und Honig. Das stand zumindest auf dem Duschgel in der Badewanne.

Obwohl es noch recht früh war, mussten sie die Lampe über dem Tisch anschalten. Lea schaute aus dem Fenster. Draußen hingen die grafitgrauen Wolken so tief, dass es schien, als würde es gleich Nacht werden.

Im nahe gelegenen Wald sah Lea kurz ein gelbes Augenpaar aufblitzen. Aber vielleicht hatte sie sich auch vertan, denn als sie noch mal hinsah, war es verschwunden.

Onkel Benno schenkte Tee ein, und Tante Marie schnitt extradicke Scheiben vom frischen Brotlaib ab.

»Nimm was von dem Schinken, der ist besonders gut gelungen«, forderte Benno seine Nichte auf.

Lea zögerte.

»Du bist doch nicht etwa Vegetarierin?«, fragte er.

»Noch nicht«, antwortete sie, nahm etwas Salat aus der Schüssel und belegte dann ihr Brot dick mit Schinken. Sie lächelte Benno an: »Siehste?«

»Ist vom Nachbarn, der Schinken«, sagte Tante Marie. »Die Tiere sind immer draußen auf der Wiese. Ist also sozusagen alles Bio.«

Lea sah nach draußen in Richtung des Nachbargrundstücks. Da waren keine Schweine auf der Wiese. Da waren überhaupt keine Tiere. »Ich sehe keine Schweine.«

»Jau«, murmelte Onkel Benno, und Tante Marie fragte schnell, was die Schule so machte. Zu schnell.

»Wie immer.« Lea sah ihre Tante ernst an. »Warum sind da draußen keine Tiere?«

»Weil es regnet«, sagte Onkel Benno. Und damit war das Thema für ihn abgeschlossen.

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»Was machen wir morgen?«, fragte Lea später, als sie ihrer Tante half, die Küche aufzuräumen.

»Erhol dich doch erst mal«, gab Marie zurück.

»Vielleicht hört der Regen ja auf, und wir können schwimmen gehen«, schlug Lea hoffnungsvoll vor.

Marie sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. »Glaub nicht, dass der Regen morgen aufhört.«

»Regnet es denn schon den ganzen Tag?« Lea schaute ebenfalls nach draußen.

»Seit Tagen, und das hört auch wohl so schnell nicht mehr auf«, erwiderte Marie.

Auch das noch! Nachdem Lea festgestellt hatte, dass das WLAN tatsächlich nicht bis in ihr Zimmer reichte, stand für sie nun endgültig fest: Dies versprach der ödeste Urlaub seit Menschengedenken zu werden. Aber so leicht gab sie nicht auf. »Habt ihr so eine gelbe Jacke? So eine für Regen?«, fragte sie.

»Regenjacke? Natürlich. Wozu?«

»Dann guck ich mir einfach mal die Gegend an. Bevor ich hier den ganzen Tag im Haus rumsitze. Ich meine, das hätte ich auch zu Hause machen können, das Rumsitzen.«

»Alleine?«, fragte Marie zögernd.

»Du kannst ja mitkommen.«

Marie antwortete nicht sofort. Sie wischte mit dem Geschirrtuch noch einmal die Arbeitsplatte ab, schloss die Spülmaschine und faltete das Handtuch sehr umständlich zusammen. Dann endlich sah sie wieder auf.

»Ist besser, im Haus zu bleiben. Wenigstens im Moment. Glaub mir, passieren komische Dinge da draußen«, sagte sie.

Lea lächelte. »Und ich dachte schon, hier würde überhaupt nichts passieren.«

Tante Marie reagierte nicht.

»Na, lieber komisch als gar nichts, oder?«, fügte Lea hinzu. Doch ihre Tante schien den Gag immer noch nicht zu verstehen.

»Die Ulmen sterben«, sagte sie stattdessen und sah dabei so ernst aus dem Fenster, als könnte sie mit diesem Blick die Ulmen retten. »Eine nach der anderen.«

»Bäume sterben nun mal«, meinte Lea. »Bei uns haben sie auch in der ganzen Straße die Pappeln gefällt. Angeblich waren die nicht mehr sicher. Aber die wachsen ja auch wieder nach. Natur vergeht nicht.«

»Und dann der Regen.«

»Klimakatastrophe, was erwartest du?«, fragte Lea.

»Da soll es aber heiß und trocken werden, oder?«, meinte Marie.

»Nein«, erwiderte Lea. »Das Wetter wird extremer. Und da sind nasse und kalte Sommer durchaus auch drin. So wie jetzt.« Sie sah, dass Marie noch immer über etwas nachdachte, deshalb schob sie hinterher: »Siehst du, es gibt für alles eine Erklärung.«

»Und es gibt einen Wolf«, sagte Tante Marie mit Grabesstimme.

Was auch immer sie mit diesem Satz erreichen wollte, der jetzt wie ein Granitblock in der Küche stand, sie erreichte das Gegenteil.

Lea war augenblicklich wie elektrisiert. Ihre Augen blitzten auf. Sie lief zur Tür, öffnete sie und sah hinaus. »Ein Wolf? Echt wahr? Hast du ihn schon gesehen?« Ihr fiel das gelbe Augenpaar von vorhin wieder ein. Hatten Wölfe nicht gelbe Augen? »Wie groß ist er? Seit wann lebt er hier? Hast du eine Ahnung, ob er allein ist oder im Rudel? Ist er gefährlich? Hat ihn schon jemand fotografiert?«

Noch während sie ihre Fragen ausstieß, stand Tante Marie plötzlich neben ihr, drückte die Tür zu und schloss ab.

»Lea!«

»Was denn?«

»Sei froh, dass du eine Tür zwischen dir und der Gefahr hast.« Ihre Tante blickte sie streng an.

»Aber es ist doch nur ein Wolf.« Maries Reaktion irritierte sie.

»Ein Wolf ist ein Raubtier und nichts, worüber man sich freut. Die reißen unsere Schafe, fallen Kinder an. Und dieser ganz besonders.«

»Wölfe greifen Menschen nicht an. Das ist Unsinn. Wir gehören nicht zu ihrem Beuteschema«, erklärte Lea vorsichtig.

»Und woher weißt du das?«, schoss Tante Marie ungewohnt scharf zurück. »Aus der Stadt? Wo sich so viele von denen rumtreiben?«

Lea schluckte. Wahrscheinlich war es besser, das Thema ruhen zu lassen.

Tante Marie wischte sich die Hände an ihrer Hose ab und lächelte Lea an. »Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen und fernsehen.«

Lea zögerte. »Ich muss nur noch schnell Sarah bei WhatsApp schreiben.«

»Aber die Tür bleibt zu.«

»Natürlich, Tantchen, natürlich.«

»Willst du nicht mal deine Mutter anrufen?«, fragte Marie.

»Wozu?« Lea seufzte.

»Vielleicht macht sie sich Sorgen.«

»Die macht sich garantiert Sorgen. Und daran ändert sich auch nichts, wenn ich sie anrufe. Sie macht ja eigentlich den ganzen Tag nichts anderes mehr, als sich um mich zu sorgen. Ständig will sie wissen, wo ich bin, wo ich war, wo ich hinwill. Ständig muss ich erzählen, was ich gemacht habe. Und vor allem mit wem.«

»Mit wem?« Maries Augen blitzten neugierig auf.

»Sie meint Jungs.«

Marie lächelte. »Gibt es denn einen?«

»Oh, bitte!« Lea schnaubte verächtlich. »Wenn ich mich zwischen Pickeln und einem Jungen entscheiden müsste, würde ich die Pickel nehmen plus Herpes und Zahnschmerzen.«

»Das wird sich ändern«, meinte Tante Marie vorsichtig.

Lea rollte mit den Augen. »Nicht solange die Jungs so sind wie die an meiner Schule.«

»Hast du das meiner Schwester je gesagt? So, wie du es mir gerade gesagt hast?«

»Das sollte sie wissen«, sagte Lea trotzig.

»Ihr solltet vielleicht mehr miteinander reden.«

»Vielleicht. Aber immer nur Frage- und Antwortspiele sind kein Miteinander-Reden.«

»Schick ihr wenigstens eine SMS. Sie sollte wissen, dass du sicher angekommen bist. Und wenn du erst mal ein paar Tage zur Ruhe kommen konntest, sieht die Welt bestimmt ganz anders aus. Du kannst sie ja die Tage mal anrufen. Oder noch besser: Lade sie fürs Wochenende ein. Da ist hier Schützenfest.«

Nachdem Tante Marie ins Wohnzimmer gegangen war, zog Lea ihr Smartphone aus der Tasche und tippte an Sarah:

Lea: Bin angekommen. Es ist öde, öde, öde. Aber! Das ist vollkommen irre: Hier gibt’s einen Wolf! Einen richtigen, echten Wolf. Und das hat mir vorher niemand gesagt! Ich versuche mal, ein paar Fotos von ihm zu machen. Mein Forschergeist ist geweckt. Wenigstens ein Lichtblick in der Ödnis. Vermisse dich.

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KAPITEL 2

Ein Wolf! Das war Leas erster Gedanke, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Wölfe sind so cool! Seit sie diese Doku über die Rückkehr der Wölfe gesehen hatte, wünschte sie sich, endlich einmal einen in freier Wildbahn zu sehen. Natürlich greifen Wölfe keine Menschen an. Das weiß doch jeder. Ja, es sind Raubtiere, sagte sie sich, und man muss etwas Abstand halten. Aber wenn man sie mit Respekt behandelt, verhalten sie sich ruhig. Als ob sie Menschen anfallen! Vielleicht in Sibirien, wenn sie monatelang nichts zu fressen haben. Aber hier? In unseren Wäldern, die doch voll sind mit Wild. Wie soll ein Wolf da auch nur in die Nähe des Verhungerns kommen? Das weiß man doch, wenn man sich informiert. Aber wer informiert sich hier schon?

So sind die eben. Hier auf dem Land. Mit Argumenten braucht man denen nicht zu kommen. Alles wird immer so gemacht, weil es schon immer so gemacht wurde. Das ganze Leben besteht hier aus dummen Sprichwörtern und blöden Bauernregeln.

In der Küche, beim Frühstück, sagte Lea natürlich kein Wort über den Wolf. Sie hatte sich entschieden. Sie musste nur warten, bis sie endlich allein war.

Und das war sie schon bald. Am späten Vormittag war der Hof verwaist. Onkel Benno war mit dem Traktor unterwegs und Tante Marie zum Einkaufen in die nächste Stadt gefahren.

Es hatte aufgehört zu regnen. Doch die dunklen Wolken hingen immer noch schwer und drohend wie eine Betondecke über den Wiesen. Deshalb hatte Lea vorsichtshalber die Regenjacke angezogen, die Tante Marie ihr rausgelegt hatte. Wahrscheinlich gehörte die Onkel Benno, denn Lea musste die Ärmel dreimal umkrempeln, um ihre Finger wieder sehen zu können. Sie machte probeweise ein paar Schritte und hatte das Gefühl, in einem Zelt durch die Gegend zu laufen.

Aber wenn man groß wirkt, hält das vielleicht sogar einen richtig bösen Wolf in Schach, sagte sie sich und ging los.

Die Luft war warm und feucht. Drückend. Und es war still. Natürlich war es auf dem Land ruhiger als in der Stadt, aber das war schon eine sehr stille Stille. Und diese Fliegenschwärme überall, dicht wie schwarze Schatten, waren doch wirklich sehr seltsam. Genauso wie die Nebel, die plötzlich aus dem feuchten Gras hochdampften. Alles war irgendwie merkwürdig.

Oder auch nicht, beruhigte sich Lea, das kommt nur von dem ganzen Zeug, das Tante Marie erzählt. Macht einen ja vollkommen kirre.

Sie schüttelte ihren Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Dann klopfte sie die Taschen der Regenjacke ab. Ja, sie hatte an alles gedacht: ihr Telefon, das Notizbuch und ein paar Stifte, Müsliriegel und eine Flasche Wasser. Sie sah sich ein letztes Mal um, holte tief Luft und lief rasch über die Schafwiese ohne Schafe in den Wald.

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Lea wusste aus ihren letzten Urlauben hier im Ort, dass man den Wald in einer knappen halben Stunde durchqueren konnte. Dabei ging es die ganze Zeit leicht bergauf. Am Ende des Waldes fiel der Hügel steil nach unten ab, bis er an einen kleinen Fluss stieß. Mit seinen weitverzweigten Nebenarmen ließ der Fluss das Gelände dort brackig, dumpf und gefährlich werden.

Aber noch hatte Lea das Ende des Waldes nicht erreicht. Denn sie ging sehr langsam, achtete auf Spuren. Oder auf alles, was eine Spur sein könnte. Abgebrochene Zweige zum Beispiel, mit harten grauen Haaren daran. Oder Pfotenabdrücke auf den schlammigen Stellen unter den Bäumen.

Lea war um elf Uhr losgegangen, und das Ende des Waldes war noch nicht einmal in Sicht. Sie fragte sich, wie lange sie wohl schon unterwegs war, und linste auf die Uhr ihres Handys: 15:03. Das konnte nicht sein! Sie war auf gar keinen Fall seit vier Stunden unterwegs.

Oder doch?

Ihre Beine fühlten sich schwer an.

Sie sollte sich ausruhen. Etwas essen und trinken.

Gerade, als sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm setzen wollte, entdeckte sie doch noch etwas: In einer Mulde links von ihr lagen Knochen. Große Knochen. Lea sah sich vorsichtig um und ging dann langsam zu der Mulde hinüber.

Es roch herb nach altem Laub und Pilzen, süßlich nach verwesendem Fleisch. Und nach Hund. Sie ließ den Blick schweifen und entdeckte weitere Knochen. Das Laub rundherum war flach gelegen. Dies könnte der Schlafplatz des Wolfs sein. Aber wo war er jetzt? Auf der Jagd? Und wann würde er zurückkommen? Oder war er schon längst wieder da und beobachtete sie aus sicherer Entfernung?

Lea machte schnell ein paar Fotos, dann ging sie leise rückwärts zurück.

Als sie dachte, weit genug entfernt zu sein, kletterte sie auf einen Baum, dessen Stamm von Büschen umgeben war. Von dort oben hatte sie eine gute Aussicht auf die Mulde und war doch sicher. Sie machte sich klein und verschmolz mit dem Ast. Zumindest glaubte sie das.

Nach einer Weile packte sie einen Müsliriegel aus, biss hinein, trank einen Schluck Wasser.

Die Uhr auf dem Handy zeigte 16:12.

Unmöglich.

Wahrscheinlich ging ihr Handy langsam kaputt.

Ganz großartig!

Das kam ja genau zur richtigen Zeit.

Lea langweilte sich.

Denn auf Wölfe zu warten ist ungefähr so spannend wie Angeln. Vor allem, wenn das Aufregendste, das rundherum passiert, von Blättern rutschende Regentropfen sind und das Handy überhaupt keinen Empfang mehr hat.

Lea versuchte, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über Wölfe wusste. Es war nicht viel. Zu allem Übel schweiften ihre Gedanken auch noch ständig zu Sarah, zur Party, zu Lisa. Sie wollte nicht daran denken.

Vor lauter Verzweiflung zog sie ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb auf, was sie soeben entdeckt hatte: Mehrere Knochen, cirka 30 cm lang, dick. Oberschenkelknochen? Muss noch rausfinden, von welchem Tier. Das Lager = eine Mulde, vielleicht zwei Meter lang und breit. Liegt gut geschützt hinter Anhöhe mit etlichen Bäumen als Deckung. Kein Wolf zu sehen.

Erst jetzt fiel ihr auf, wie still es war. Waren sonst nicht ständig und überall Geräusche in einem Wald? Vogelgezwitscher, das Rascheln von Mäusen im Laub, Wind in den Blättern. Lea schnippte mit ihren Fingern und war beruhigt. Sie war eindeutig nicht taub geworden, wenigstens das Geräusch ihrer schnippenden Finger konnte sie hören. Aber sonst?

Lea sah sich noch einmal um. Hinter sich entdeckte sie jetzt auf dem Waldboden ein paar Äste, die nicht so aussahen, als würden sie zufällig dort liegen. Das war ihr vorhin gar nicht aufgefallen. Doch von hier oben betrachtet, entstand ganz eindeutig ein Muster. Es sah aus wie ein Gang, ein Weg oder ein Plan. Ein Irrgarten? Wahrscheinlich waren das die Überreste eines Spiels, das die Dorfkinder im Wald spielten. Oder lag das schon sehr viel länger hier auf dem Waldboden? Es war auf keinen Fall zufällig entstanden. Sie versuchte, die Äste zu fotografieren, doch immer waren ihr irgendwelche Zweige oder Blätter im Weg.

Dann kam der Nebel.

Er kam von der anderen Seite, und sie bemerkte ihn erst jetzt. Er kroch über den Boden, wand sich zwischen den Bäumen hindurch, stieg. Rasch, unaufhörlich.

Es war diese Art Nebel, die man aus Filmen kennt. Aus Filmen, nach denen man meist schlecht schläft. Binnen weniger Minuten sah Lea nicht einmal mehr den Waldboden. Sie musste zurück.

Jetzt!

Vorsichtig stieg sie vom Baum herunter. Ihre Schritte klangen gedämpft auf dem Laub. Sonst hörte sie immer noch nichts. Der Nebel schluckte alle Geräusche.

Auch die vom Wolf?

Vorsichtig tastete Lea sich voran. Aber war das überhaupt richtig? Oder ging sie in die falsche Richtung? Von wo würde der Wolf kommen? War es nur einer oder doch ein Rudel? Auf einmal spürte sie einen Ball aus Eis in ihrem Magen. Kalte Angst. Sie sollte nicht an den Wolf denken. Können Wölfe im Nebel riechen?

Lea versuchte, ruhig zu atmen. Jetzt bloß nicht panisch werden!

Denk nach!

Es ging leicht bergab. Sie war bergauf hierhergekommen. Die Richtung stimmte also.

Plötzlich hörte sie ein Knacken. Sie konnte nicht sagen, woher es kam. Von vorne? Von hinten?

Nein, es kam von überall!

Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie fragte sich, wie sie auf die dämliche Idee gekommen war, allein nach einem Wolf zu suchen. Nach einem Wolf! Das war ein Raubtier! Der würde sie in seine Mulde zerren, dort töten und dann fressen. Vielleicht würde er sie auch gar nicht sofort töten, sondern erst mal mit ihr spielen. Oder machten das nur Katzen? Lea wurde schlecht. Der Müsliriegel rumorte in ihrem Magen.

Schritte!

Direkt hinter ihr.

Oder hörte sie doch nur das Echo ihrer eigenen?

Ein Schatten huschte an ihr vorbei. Eindeutig. Aber das war kein Wolf, das war etwas, das aufrecht ging. Oder beinahe aufrecht. Was auch immer es war, es verschwand zwischen den Bäumen. Doch es reichte, dass Leas Haut schlagartig kalt wie ein Gefrierfach wurde, ihr Atem aussetzte und ihr Herz wie ein wild gewordener Presslufthammer in ihrer Brust rumorte.

Lea rannte.

Ihr war egal, dass Zweige in ihr Gesicht klatschten.

Ihr war egal, dass der Wolf sie hören könnte.

Das andere, dieser Schatten, das machte ihr plötzlich viel mehr Angst.

Sie rannte, wirbelte Laub auf, sprang über Äste, rutschte über Moos, stolperte, fing sich, sprintete zwischen Bäumen hindurch. Ihre Kehle war trocken, ihr Atem brannte. Blut pochte hinter ihren Schläfen.

Sie wollte zurück auf den Hof. Sie wollte nach Hause. Sie würde die Stadt nie wieder verlassen. In der Stadt gab es keine Wölfe.

Da vorne waren weniger Bäume.

Da vorne war Licht.

Die Wiese.

Und dahinter mehr Licht!

Vollkommen außer Atem stolperte Lea auf den Hof ihrer Tante und ihres Onkels. Sie drehte sich um. Der Nebel über der Wiese lichtete sich. Nichts verfolgte sie.

Absolut nichts.

Sie hatte sich alles nur eingebildet. Wie ein dummes, kleines Mädchen!

Ihre Angst schlug in Ärger über ihre Angst um.

Da war nichts.

Vor nichts hatte sie Angst gehabt.

Der Wagen ihrer Tante rollte auf den Innenhof. Sie hupte, winkte und rief Lea zu: »Willst du etwa allein rausgehen?«

Lea zwang sich ein Lächeln ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Bloß nichts sagen, ihr rasender Atem würde sie verraten.

»Aber wozu hast du dann eine Regenjacke an?«

Schulterzucken.

Marie stieg aus und öffnete den Kofferraum. Er war voller Einkaufstüten.

»Hilf mir beim Ausladen, dann können wir gleich vielleicht noch mal kurz zusammen rausgehen. Der Nebel verzieht sich ja schon wieder.«

Lea nahm eine Tüte vom Beifahrersitz. Dabei fiel ihr Blick auf die Uhr am Armaturenbrett: 12:43.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und drückte kurz drauf.

12:43.