In ihrem dritten großen Westerwald-Roman nimmt Annegret Held uns mit ins späte 18. Jahrhundert, als brutale Räuberbanden die gesamte Region in Angst und Schrecken versetzten. Mitreißend, klug und höchst unterhaltsam erzählt sie von Hannes, einem aufstrebenden Möchtegern-Räuber, von seinem frommen und zunehmend verzweifelten Vater Wilhelm, von der mannstollen Magd Gertraud und von all den anderen Scholmerbachern, die dem harten Dorfleben tapfer die Stirn bieten. Großartige Heimatliteratur!
Annegret Held, 1962 im Westerwald geboren, arbeitete u.a. als Polizistin, Sekretärin, Altenpflegerin und Luftsicherheitsassistentin – und ist erfolgreiche Autorin. Sie bekam den Berliner Kunstpreis der Akademie und den Glaser-Förderpreis, ist PEN-Mitglied und lebt im Westerwald und in Frankfurt. Zuletzt erschien im Eichborn Verlag ihr Roman ARMUT IST EIN BRENNEND HEMD.
EINE
RÄUBER
BALLADE
ROMAN
EICHBORN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Doris Engelke, Frankfurt a. M.
Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano
Einband-/Umschlagmotiv: © Patrizia Di Stefano; © ivo_13 / Alamy Stock Foto
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-9512-9
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Das Dorf, in dem ich geboren wurde, ist für nichts und niemanden interessant.
Außer für mich vielleicht und die Leute, die dort wohnen. Man nennt sie die Honiels oder Dapprechter oder Wissemichels oder Ruuremischs; das sind Menschen, die es schon immer gibt und die nie sterben. Sollte doch mal einer von ihnen auf dem Kirchhof landen, wächst sofort einer nach, und der ist dann genauso.
Auf alten Landkarten kann man Scholmerbach gar nicht erst finden, mein Dorf blühte immer nur im Verborgenen wie eine schäbige Gänsedistel. Wenn ich am Sonntagmorgen erwachte, hörte ich bei klarem Wetter ganz leise die Kirchenglocken der umliegenden Dörfer: Hellersberg, Ellingen und Linnen. Niemand kann sich vorstellen, dass es je anders war.
Es war aber anders.
Denn da, wo ich geboren wurde, gab es einmal viel mehr Dörfer; sie waren verstreut wie vom Himmel gefallene, schmutzige Sterne. Ihre Namen waren Himmelhain und Seligenstadt, Windhausen und Finkenhahn. Irdische gab es aber auch: Bruchhausen, Kaltenbach und sogar Kotzhausen.
Doch ob sie irdisch oder himmlisch waren, es gibt sie nicht mehr. Sie sind ausgegangen, sagte Heens Alwis, ausgegangen wie Lichter in der Nacht.
Es war die Pest, sagen die Leute. Es war der Dreißigjährige Krieg, sagen die Leute. Und irgendwann einmal sagten sie: Es waren die Räuber! Das ist schwer zu verstehen. Wenn es doch die Dörfer auf alten Landkarten gar nicht gibt, wie haben die Räuber sie dann gefunden? Man kann sich kaum vorstellen, dass hier irgendetwas Bedeutendes geschehen ist, außer dass jemand an der Kirmes ein Suppenhuhn gestohlen hat. Ich erwische mich, wie ich durch die langen, vom Regen gebogenen Gräser stapfe und die alten Steine suche. Ich will, dass die Steine mir ihre Geschichte erzählen. Ich will die Dörfer wieder ausgraben! Warum haben euch alle verlassen im fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert? Ich will, dass hier etwas geschehen ist. Etwas Bedeutendes.
Nur Schorrenberg schenkt mir noch Steine. Auf dem Hügel vor der Linner Höhe, wo die uralten Linden stehen, mit Zweigen, so ausladend und schwer, als warteten sie darauf, in Öl gemalt zu werden. Von unserem Haus aus schaut man ins Tal und auf der anderen Seite wieder hinauf auf Schorrenberg. Müller waren dort, erzählen die Leute. Ein Müllerdorf mit drei prächtigen Mühlen. Ich glaube, dass es prächtige Mühlen waren, weil prächtig sich gut anhört. Tatsächlich kann man bei uns im Westerwald selten von prächtig reden, dabei liegen wir doch mitten in Deutschland, umgeben von Rhein und Lahn und Dill und Sieg, grob gesagt: zwischen Köln und Frankfurt, was will man mehr? Und doch hat man das Gefühl, die Weltgeschichte sei drum herumgetrampelt, aber niemals mittendurch.
Die Dörfer sind verschwunden, so wie der ganze Westerwald verschwinden könnte, und man würde es womöglich nicht merken! Also schreibe ich schnell alles auf, bevor wir vielleicht wieder von der Landkarte verschwinden, auf der mein Dorf erst vor hundert Jahren erschienen ist.
Etwas werden mir die Steine erzählen, ich weiß es genau; ich gehe noch mal auf die Linner Höhe und setze mich auf die großen Steine am eingesunkenen Brunnen des Schorrenberger Baches, der uns noch immer das Wasser nach Scholmerbach bringt, und an dem schon so lange keine Mühle mehr klappert.
Scholmerbach in seinem Kranz aus Dornschlehen, Weißdorn und Himbeersträuchern, eingesunken im Tal und durchtränkt von braun-güldenen Jauchebächen, das war mein Dorf im Jahre 1796. Die Dörfer Windhausen, Fackenhahn und Himmelhain waren ausgeträumt, es gab sie nicht mehr.
Scholmerbach hatte ein Dorf, wie eine Schwester, das hieß Schorrenberg, oben auf dem Hügel, auf den am Nachmittag noch die Sonne schien, wenn schon die Schatten ganz Scholmerbach bedeckten. Die Scholm war der Bach, der von Schorrenberg herunterfloss und die beiden Dörfer mit dem Wasser des Lebens verband. Hinter dem Brückelchen war die Hecke ganz dünn und trennte die Dörfer nicht richtig, denn jeder Schorrenberger war doch auch in Scholmerbach daheim und jeder Scholmerbacher in Schorrenberg, wo die Sonne länger schien.
Die Dornenhecken um die Dörfer waren liederlich, ihre langen, stacheligen Arme wucherten über den Boden, sie bildeten Lichtkränze im Heckenblättermeer, und Sonnenstrahlen schossen auf die krummen Wände der Fachwerkhäuser und die eingefallenen Scheunen.
Der Wind hatte die Hecken zerissen, nun konnte jeder hindurch, jeder Bettler, alles Lumpenpack und jeder Galgenstrick, niemand kümmerte sich mehr darum.
Nur Wilhelm, Paulinchens Wilhelm, stand bei jedem Wetter draußen mit Hacke und Sense; er fasste mit der bloßen Hand in das Dorngestrüpp, um die langen Zweige des Weißdorns zu packen und mit den Schlehen und Himbeeren wieder in die Hecke hineinzuwinden. Sie bogen sich schwer, die Dornen rissen kleine Wunden in seine Unterarme; dann und wann musste er mit der Arbeit aufhören, um sich die Dornen herauszuziehen. Danach brach er einige Zweige ab und steckte sie in das Gestrüpp. Ihr totes Holz sollte die Hecke umso dichter machen.
So hatte es ihn sein Vater gelehrt und so musste er es seinem Sohn Hannes beibringen. Irgendwann, sagte er sich, irgendwann kam ein Wolf oder ein Bär oder dreckiger Bandit und stahl das Korn aus der Kammer und den Schinken aus dem Rauchfang; dann würden alle sehen, dass sie diese undurchdringlichen, blühenden und duftenden Mauern brauchten.
»Hannes!«, rief er. »Hannes! Geb mir de Sichel!«
Mannshoch war die Dornenhecke, und die Bienen, Käfer und Schmetterlinge stoben heraus und kehrten wieder zurück, besessen vom Duft der weißen Blüten … eine Hecke, eine Hecke, um Scholmerbach zu schützen, nicht nur vor Gaunern und vor wilden Tieren, sondern auch vor dem allgegenwärtigen Wind, der über die Höhen brauste.
»Hannes!«, rief Wilhelm. »Halt mal de Baum, sonst schlägt der zurück!«
»Niemand braucht mehr en Dornenheck!«, sagte Hannes, sein Sohn, und hielt missmutig den Zweig einer Hainbuche über Wilhelms Kopf fest. »In Hellersberg und Ellingen han se schon aufgehört domit! Dat machen nur noch die ganz Alten.«
»Weil se zu faul sind«, sagte Wilhelm. »Ein Dornenheck ist Arbeit und net einfach! Dat will gelernt sein! Sieh mal, wie groß unser Hecke ist! Da kommt so schnell kein Räuber drüber!«
»Räuber …«, sagte der Junge und verdrehte die Augen. Hier gab es keine Räuber. Nur Hühner und Esel und Kuhmist und Mücken und Fliegen; er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte über die Baumstümpfe des ehemals so stolzen Hinterwaldes. Jetzt fuhren die Holländer auf ihren Dreimastern aus Scholmerbacher Eiche über die sieben Weltmeere, und es gab beinahe keinen Wald mehr im Westerwald. Umso kräftiger wand Wilhelm die Hecke umeinander in einen undurchdringlichen, blühenden Kranz um das Dorf.
Vom Urles bis zum Rauschar, über die Linn, die Lehe und das Beilchen zerstachen die Hölzer Hannes und seinen Vater immer mehr. Die Mücken und Fliegen setzten sich in ihren Schweiß, und die beiden begannen zu schelten und zu fluchen.
»Himmelherrgottsakrament!« Hannes sah es nicht ein. Eine Dornenhecke half doch niemandem mehr, außer den Käfern und dem Getier, das sich darin tummelte. Niemand aus dem Dorf packte mehr zu. Der Vater mit seinen Marotten machte eine unnütze Arbeit für ganz Scholmerbach, während alle anderen in der Sommerhitze dösten und nur die Mistkäfer und die trägen Katzen sich in der Sonne regten.
»Eysch hör’ jetzt auf«, sagte Hannes und warf das Messer hin.
»Mir mache noch bis zu den Weidehecken«, sagte Wilhelm.
»Eysch net mehr, eysch geh zum Bach, zou den anderen!«
»Dou tust, was der Vater dir sagt! Dou gehst mir zu Hand, bis mir fertig sin!«
Aber Hannes ließ sich nichts mehr sagen.
»Eysch will net mehr, mach et doch allein!«
»Dou frecher Kerl, jetzt pack hier an!«
»Na gout«, sagte Hannes, »dann nehm eysch jetzt diesen Ast!«
Er bog einen Weißdornzweig zurück, ließ ihn dann wie aus Versehen los, und der Zweig schnellte zurück und hieb seinem Vater scharf durchs Gesicht. Hannes lachte laut und lief davon.
Wilhelm blieb zurück mit der frischen Schrunde in seiner Wange und voller Wut über diesen Ungehorsam, mehr noch über das Lachen, das ihn verhöhnte, ihn, den Vater! Er ärgerte sich darüber, wie dieser Kerl mit seinen sechzehn Jahren immer nur scheinhalber seinen Anweisungen folgte, das Vieh fütterte, aber den Stall nicht auskehrte, das Wasser holen ging, aber es verschüttete, einen Eimer Jauche aus »Versehen« über den Nachbarsjungen kippte. Sein Sohn gefiel ihm nicht.
»Herr, gib mir Kraft«, betete er. Das ungeratene Bürschchen, der Rotzlöffel, der freche Hund. »Warte nur, warte nur!« Und er fluchte ein »Kreuzsakrament« hinterher und dann ein Vaterunser.
»Deiner«, sagten sie zu Wilhelm. »Dein Hannes hot wieder was angestellt.«
Seit die Mutter siech und krank darniederlag und lange und schlürfende Geräusche aus der Schlafstube hie und da von ihrem Dasein kündeten, schien der halbwüchsige Hannes das Haus zu meiden. Er trieb sich herum, statt den Ochsen zu füttern oder das Heu zu wenden.
Du sollst nicht murren gegen dein Schicksal. Nicht aufbegehren gegen Gottes unergründlichen Ratschluss. Aber Wilhelm fing unweigerlich an zu grollen mit diesem aufsässigen Kerl und seiner schwerkranken Frau und der kleinen Liesel, die nur mit sich selber sprach und im Hof mit Steinchen spielte. In seinem Lehmhaus stank es vom Strohlager seiner Frau. Der Geruch drang aus dem Fenster und mischte sich mit den sieben Misthaufen, die sich um den Scholmer Bach drängten, als gelte es, den Bach eifersüchtig zu bewachen und geschlossen den Rest der Welt in die Flucht zu stinken. Darum nannte man diese Gasse die Siebenmistjesecke.
Wilhelm betete immerzu, ein Vaterunser, einen Rosenkranz, ein Herr-erbarme-Dich.
Sein Leben war ein einziges Stoßgebet. Der Herr sei bei uns, mein Jesu Barmherzigkeit, mein Herr und mein Alles. In ehrfürchtigem Ernst und mit gesenktem Haupt ging er seiner Wege.
»Willi wirft wieder die Füß von sich«, sagten die Leute, wenn er des Weges kam. Denn wenn auch sein krummer Rücken im verschlissenen blauen Kittel und die tief ins Gesicht gezogene Kappe die verlangte Ergebenheit ausdrückten, so schienen seine Beine mitunter einen anderen Weg nehmen zu wollen; sie wollten ausbrechen, das eine nach links, das andere nach rechts, Wilhelm hatte Demut nur bis zu den Schenkeln.
»Er stalpscht«, sagten die Leute. »Da weiß dat eine Bein nit, wo dat andere hinwill.«
Hannes machte ihn manchmal nach, lief hinter ihm und senkte den Kopf und warf die Beine wie ein Hanswurst. Man wusste nicht, ob man schelten oder lachen sollte. Alle schüttelten den Kopf. Den eigenen Vater so zu veräppeln. Aber je gottesfürchtiger und ernsthaftiger Wilhelm wurde, umso ärger trieb es Hannes.
Man musste doch auch mal lachen. Man musste sich mal einen Spaß machen. Vielleicht den Spaß, seinen Vater zu ärgern.
Eitel hatte Hannes sein langes Haar in den Nacken gekämmt und sein beim Sturz im Bierrausch zerrissenes Hemd flicken lassen von der Schneiderin. Er überragte nun seinen Vater wie ein drohendes Unheil.
»Einen Spaß muss man machen!«, schrie er, dem Unglück seiner Familie zum Trotz. Wenn es sein musste, dann brach er den Spaß mit Gewalt vom Zaun.
»Deyn Hannes«, sagten die Leute zu Wilhelm. »Deyn Hannes hott uns Gäulsäppel in dat Brunnenwasser geschmissen!« »Dein Hannes! Hot unserem Lenchen dat Kopftuch abgerisse und ins Kartoffelfeuer geworfen!« »Deyn Hannes! Hot unseren Ochs losgebunne und der es bis Hellersberg gelaufe! Den ganze Daag mussten mir ihn einfangen!«
Mein Herr und mein Alles.
Hannes hatte kein Maß und kein Ziel. Wer das Spaßmachen daheim nicht gelernt hat, dem fehlt dazu das Vorbild, der rechte Rahmen.
»Deyn Hannes!«, sagten die Leute. »Hot unserer Marie Kuhmist in de frisch Wäsch geworfe! Die drei Daag zum Bleiche gelegen hot! Er hot uns en Huhn gestohle mitte ausem Verschlag! Dat wirst dou mir bezahle, Paulinchens Wilhelm! Deyn Hannes! Hot unserer Anna den Rock hochgehobe vor alle Leut, dat mer ihren Hintern sehen konnt!«
Allmacht des Herrn.
»Da hört der Spaß auf!«, sagten die Leute.
Heiliger Bartholomäus. Heiliger Barnabas. Heiliger Bonifatius. Wilhelm betete auf allen Wegen, der Boden war zertreten von bloßen Füßen und zarten Hühnerkrallen und bedeckt mit weich trocknenden Fladen, die Luft voller Heusamen war schwer und von tanzenden Fliegen schwarz durchstochen.
»Et es nicht mehr feierlich!«, sagten die Leute. »Der Hannes is ohngeraten. Er schlägt üwwer die Sträng. Dou musst ihm Mores lehren. Ihn zur Räson bringen. Er hot kein Gott und kein Gebot!«
Wen der Herr liebt, den züchtigt er.
Das war die schwere Aufgabe, die auf Wilhelm lastete, die jeder von ihm erwartete, der Herrgott am allermeisten. Aber hatte Wilhelm nicht schon oft die Rute auf Hannes tanzen lassen? Jedesmal waren seine Schläge schwach gewesen und jedesmal hatte der Junge hinterher gelacht. Wie Wilhelm dieses Lachen fürchtete, wenn er seines Sohnes nicht Herr wurde. Mit diesem Lachen scharte Hannes die Kinder um sich, sie kamen gerannt aus der ganzen Siebenmistjesecke, und die zwölfjährige, lockige Gertraud vom Hannebambels Schorsch machte ihm alles nach.
Warf er einen Stein nach einem Huhn, warf sie auch einen Stein nach dem Huhn. Zerbrach er eine Latte im Zaun, trat auch sie kräftig gegen den morschen Zaun. Und wenn Hannes das Gesicht des kleinen Otto in den Bach tauchte, dann tauchte auch sie ihr Schwesterlein unter Wasser und lachte genauso laut wie er.
»Deyn Hannes! Er verdirbt unsere Kinder!«, sagten die Leute. »Dou musst ihn mal ordentlich verdreschen! Dat hat er verdient!«
Wilhelm fürchtete sich davor, seinen Sohn zu verdreschen. Der parierte ja doch nicht. Die Frucht war verdorben, der missratene Kerl würde von Gott einmal schwer gestraft werden und womöglich wurde ihm das Tor zum Himmel verwehrt.
»Züchtige ihn«, sagte auch der Herr Pfarrer aus Ellingen, wo sie zur Kirche gingen.
Herr, gib mir Kraft. Herr, sei meiner Seele gnädig.
Wilhelm musste sich seinem Schicksal fügen und einen Ort und eine Zeit finden, wo er Hannes ordentlich das Fell gerbte. Da der Junge aber schon baumlang war und auf seine Worte nicht mehr hörte, musste Wilhelm ihn erwischen, wenn er nicht aufpasste, nicht seiner Sinne mächtig war. Im Morgengrauen. Wenn Hannes, wie immer, nicht aus den Federn kam.
Und Wilhelm entschied sich schweren Herzens, seinen Sohn zu schlagen, wenn dieser schlief. Er musste schnell zuschlagen, mit aller Kraft, bevor Hannes wusste, wie ihm geschah, bevor er anfangen konnte zu lachen, so schrecklich zu lachen und seinen Vater zu verhöhnen.
Hätte nur seine Frau ihm beigestanden, oder wäre sein alter Vater noch am Leben. Aber Wilhelm war ganz alleine und elend mit seinen Gebeten. Es war nur gut, dass in Scholmerbach so wenige Häuser standen, da würden alle Hannes’ Schreie hören und Wilhelm stünde da als strenger und treusorgender Vater.
Am nächsten Morgen war Wilhelm schon wach beim ersten Hahnenschrei, stand auf, schüttete sich einen Krug voller Brunnenwasser über und betete.
Der Herr sollte seine Hand führen, wenn er dem schlafenden Hannes den Ochsenziemer überzog. Stark wollte er sein und ohne Gnade.
Noch schlief Hannes tief und fest, man hörte sein sattes, zufriedenes Schnarchen, Wilhelm sah durch die Tür im Ern, dem Hausflur, wie sein Bein aus dem Bett ragte und seine offene Hand auf der Decke aus Spreu lag, als erwartete er, dass man einen Gulden hineinlegte. Wilhelm wollte nicht mehr warten, er zog seine Hose an, nahm den Ochsenziemer mit den knotigen, schwarzen Lederstriemen und betrat die Stube. Hannes drehte sich gerade im Schlaf um und seine Nase glänzte unter den dunklen Haaren ein wenig speckig. Wilhelm zauderte. Doch dann hörte er sich wie von Ferne schreien:
»Wirst dou Gott, unsern Herrn, fürchte und ihm gehorsam sein??«
Kaum hatte Hannes ein wenig geblinzelt, versetzte sein Vater ihm so einen furchtbaren Schlag, dass dieser aufjaulte, die Augen aufriss und sich auf den Bauch drehte.
»Dou host kein Achtung vor den Gesetzen des Herrn!«, schrie Wilhelm und schlug noch einmal zu, und er merkte, wie die Wut über Hannes’ gesammelte Missetaten wieder in ihm emporstieg, wie er sich vergaß, wie das Hohngelächter des Dorfes in seinem Ohr hallte. Wilhelm drosch auf seinen Sohn ein, um ihn auf den Weg Gottes zurückzubringen, um ihn zu züchtigen im Namen des Herrn, und draußen auf dem Weg sollten alle hören, wie er den Sohn strafte für seine ungebührlichen Taten, seine Frechheiten, seine Rohheit, seinen Hohn. Gleichzeitig schlug er zu, voller Wut über sein eigenes Leben und über seine Frau, die glotzäugig und schniefend im Bett lag und nicht lebte und nicht starb, und voller Wut über alle, die sich lustig machten über ihn und seine Schwäche und seine Frömmigkeit und Jämmerlichkeit. Er konnte auch anders. Das merkte er gerade, er konnte auch anders, er schlug und schlug immer weiter zu, als dem schreienden Hannes schon das Blut aus dem zerissenen Hemd lief und er sich wie ein Tier in den platzenden Strohsack vergrub, als die Nachbarn auf Holzschuhen gerannt kamen und schrien und ihm den Ochsenziemer aus der Hand rissen:
»Et reicht, Wilhelm! Et is genug! Willst dou ihn umbringen??«
Da erst kam er langsam zu sich und sah sein Töchterchen Liesel in der Ecke stehen und weinen.
»Der Hannes war böse«, sagte er. »Da musste eysch den bestrafe.« Liesel aber rannte fort und versteckte sich nebenan bei der alten Berthe.
Hannes war das Lachen vergangen, sein Gesicht war gezeichnet von Striemen, und die Wange war aufgeplatzt, das Blut mischte sich mit Rotz und Wasser, und der Speichel lief ihm aus dem Mund.
»Dou sollst anständig werden«, sagte Wilhelm beinahe weinend. »Dou sollst – gehorsam sein und die Leute net ärgern, machs mich überall zum Gespött, kein Gott und kein Gebot.«
»Es gut jetz«, sagte der Hanjokeb, »jetz komm mal raus aus der Stube, mir trinken mal einen, etz müssen wir erstmal alle zur Besinnung kommen …«
Nebenan hörte man Wilhelms Alte laut weinen.
Kaum hatte Hannes einigermaßen Luft geholt, ungläubig sein Gesicht abgetastet, seinen Kiefer zurechtgerückt und einen Lumpen auf die blutenden Wunden gedrückt, da wollte er sich schon aufraffen und dieses unselige Haus verlassen. Nur weg hier. Die anderen Burschen von Scholmerbach würden ihm wohl helfen und ihn verstecken in irgendeiner Scheune. Er brauchte ein Hemd, er brauchte Branntwein, um die Wunden auszuwaschen, er taumelte aus dem Haus und fiel in den Hof, allen Leuten vor die Füße, in die Brühe vor dem fünften Misthaufen. Während sich die anderen Kinder vor seinem Anblick fürchteten, rief Gertraud:
»Hannes! Ei Hannes!« Sie lief im Nachthemd zu ihm und wollte ihn aus der Brühe zerren.
»Mein Gott«, sagten die Leute. »Der hat ihn jo halbdot geschlagen … draufgeschlagen wie off en Säuschwarte, Allmächtiger, schon morgens vor Tag.«
»Komm, Kerlchen«, sagte die alte Berthe, »komm, auf, eysch helf dir, komm zou mir, da legst dou dich off die Küchenbank, dou bist ja schwer zugerichtet, hier komm her, helft dem doch mal einer auf! Komm, eysch wasch dir dat Blut ab, mal sehen, wat heil gebliebe ist … und richt dich wieder her. Dou hast et ja auch immer zu weit getrieben.«
Hannes wurde vom alten Franz und vom Hanjokeb aufgerichtet und humpelnd zur Berthe geführt, und an dem blutenden Rücken klebten ihm noch die Hühnerfedern.
Paulinchens Wilhelm aber blieb in seinem Haus unter dem Kreuz und fragte den Herrgott:
»War dat jetzt recht getan? Eysch hatt mich vergessen, Herrgott im Himmel.« Und er sagte alle Gebete, die er kannte, vom Vaterunser bis zum Herr dir leb ich, dir sterb ich, dein bin ich, tot und lebendig, bis in alle Ewigkeit.
Aber vom Herrgott schien kein Trost zu kommen, die Alte schrie, das Lieschen war fortgelaufen und Gertraud warf ihm Steine durch das Fenster in die Stube. Wilhelm fühlte sich gotteserbärmlich.
»Eysch hab ihn gezüchtigt«, sagte er, »et musste sein.«
Aber es war ihm, als hätte nicht Gott seine Hand geführt, sondern der Teufel. Ob sich jetzt der Hannes eines Besseren besann und arbeitete und parierte?
Er hörte draußen die Leute reden und dazwischen Hannes’ Schreie, als die alte Berthe ihm die Wunden mit Schnaps ausrieb, und er zuckte zusammen. Er bereute seine Schläge, er bereute alles, was der Herr ihm befohlen hatte. Er hatte doch nur Hannes’ Seele vor der Verdammnis bewahren wollen. Der Herr war sein Zeuge.
Am nächsten Morgen war Hannes verschwunden.
Sie fanden nur noch sein zerissenes Hemd und ein paar Blutsflecken auf dem Boden. Vor dem Feuer lag ein bräunlich verklumptes Sacktuch, es fehlten ein Stück Brot und Käse, und Berthe suchte nach dem Notgroschen, den sie im Krug aufbewahrt hatte. Sie fluchte vor sich hin. Da nahm man diesen Kerl auf, und dann wühlte er alles durch und nahm den Notgroschen. Der Hannes war ungeraten, da konnte der Wilhelm ihn noch so verdreschen, er hatte ihm den Teufel nicht aus dem Leib getrieben. Vielleicht war es gut, dass er fort war, fort von Scholmerbach, er hatte alles durcheinandergebracht, die Kinder aufsässig gemacht und nur Unruhe gestiftet im Dorf überall, vor allem aber dort, wo die Misthaufen so eng beieinanderstanden, unten in der Siebenmistjesecke.
Gertrauds vielen dünnen Geschwistern sah man an, dass sie ihnen immer alles weggegessen hatte, denn Gertraud selbst war recht drall und ihr ewig schief sitzendes Leibchen schien fast die Schnüre zu sprengen. Mit ihren bald dreizehn Jahren war sie schon zu kräftig für ihr Kinderkleidchen. Ihre speckigen schwarzen Locken sprangen ihr um den Kopf herum, ihre roten Wangen leuchteten, und sie hatte eine Himmelfahrtsnase wie nachträglich noch ins Gesicht gedrückt.
»Geh mal rüwwer zur Wilhelms Lina«, sagte Hannebambels Trine. »Wasch ihr dat Gesicht und gib ihr wat zu trinken. Und sieh mal, wat dat kleine Lieschen macht.«
Unschlüssig stand Gertraud in der Tür und sah ihrer Mutter beim Feuermachen zu.
»No, wird’s bald?«, fragte Trine.
»Ei, die stinkt.«
»Et ist ein armer Christenmensch! Und der Wilhelm packt et net allein. Jetz geh!«
»Hör, wat dei Mamme sagt!«, rief aus der Stube ihr Vater, der schon einen Korn gezischt hatte, auf nüchternen Magen. Gertraud trollte sich, verließ das Haus durch die Stalltür, stapfte zwischen den gackernden Hühnern hindurch, am Brunnen vorbei und zu Wilhelms offener Tür hinein.
»Tande Lina?«, rief sie und hörte ein langes Klagen, wie eine kalbende Kuh. Sie schaute verstohlen um die Ecke hinter die Stiege, wo Hannes gelegen hatte, sah noch das zerrissene Strohbett und an der Lehmwand die Blutspritzer.
»Der orme, orme Hannes«, flüsterte sie. »Wo werd er jetzt sein? Ohne wat zu essen, ohne wat zu trinken, irgendwo, ohne Vadder, ohne Mudder, mit zerschlagene Knochen«, und sie musste daran denken, wie er mal mit ihr um die Misthaufen getanzt war und sie gescheucht hatte bis in den Schweinestall. Gut, er hatte sie mit der Sau Berta eingesperrt, aber es war doch ein großer Spaß gewesen. Hannes hatte immer nur Spaß gemacht. Jetzt war er fort, und Gertraud grollte dem Wilhelm über alle Maßen.
»Goude Dag«, sagte sie und betrat die Stube; die kranke Mutter saß aufrecht im Bett und blickte ihr trübe entgegen. Wilhelm war auf dem Feld, oder er war zur Liebfrauenkirche nach Heyroh zum Beten gegangen, Lieselchen war bei der alten Berthe. Missmutig nahm Gertraud einen Lappen, tauchte ihn in Wasser und näherte sich damit dem aufgetriebenen Gesicht, aus dem ihr Krankheit, Not und Blödigkeit entgegensahen.
»Eysch weiß net, ob dat der richtige Lappen es«, sagte Gertraud. »Vielleicht wascht ihr damit auch dat Geschirr. Aber ich sehe keinen anderen. Und Tande Lina, dou has schon wieder Rotz am Backen.«
Gertraud schrubbte ihr das Gesicht, als müsste sie Stiefel putzen, und wischte den Rotz hin und her. Als ob Lina das gefiele, gab sie ein Gluckern von sich und ein Seufzen, es brodelte in ihrem Bauch, und ein kleiner Schwall aus Linas Eingeweiden schien in das nasse Stroh zu schwappen.
»Äh«, schimpfte Gertraud. »Tande Lina, has dou ins Bett geschissen? Näh!«
Wilhelms Lina strahlte selig.
»Näh, Tande Lina! Dat mach ich net weg! Tande Lina, näh! Bäh, dou stinkst! Det nächste Mal komm eysch nicht mehr!«
Unschlüssig blieb Gertraud stehen. Lina war ja nicht ihre leibliche Tante. Alle Kinder nannten alle Frauen im Dorf Tante und jeden Mann Onkel. Sie wollte rasch das Haus verlassen, und niemand würde wissen, wann Lina ins Stroh gemacht hatte. Aber dann überwand sie sich doch.
»Ey, Tande Lina. Eysch mach dat jetz weg, aber dou musst aach mithelfen, dreh dich mal um, äh pfui!«
Gertraud drehte die friedliche, schwachsinnige Tante auf die Seite, nahm ein Bündel Stroh, rieb ihr damit den Hintern sauber und warf es dann in den Stall.
»Dat Hemd is auch voll, bäh, Tande, schäm dich, dou has doch nur zwei Hemden, wer soll dat denn alles waschen! Eysch stelle mich net an de Bach!«
Schließlich schrubbte sie das angeschmutzte Hemd ein wenig sauber und ließ dann die Tante auf der Seite liegen.
»So bleib jetzt, damit dat Hemd trocknen kann. Mir han kein neues, mir sin ja net der Graf von Weilbursch!«
Als wäre das ein besonders guter Witz, fing Lina keckernd an zu lachen.
»Mit dir macht man wat mit«, sagte Gertraud. »Aber, noja, dou kannst ja nix dafür.«
Sie drehte sich um und wollte gehen, da fiel ihr Blick auf den Herrgottswinkel mit dem Holzkreuz und den Blumen, die die alte Berthe davorgestellt hatte.
»Komm«, sagte Gertraud. »Mir machen dich mal ein bisjen fein, damit der Onkel Wilhelm mal wat Hübsches sieht!«
Und sie stopfte die Margariten und Kornblumen in Linas dünne Zöpfe hinein und steckte noch einige kreuz und quer um den Scheitel und hinter die Ohren.
»So, Lina, etz bist dou wieder schön. Et stinkt immer noch. Aber ich hab dir geholfen. Wenn dat der Hannes wüsste, wie ich mich um sein Mutter kümmer! Jesses, wo wird der nur sein?«
Tagelang war Hannes umhergelaufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Nach vielen abgeholzten Flächen kamen in der Montebäurer Gegend wieder große Wälder mit Schatten und Beeren und sprudelnden Bächen.
Immer wenn Hannes durch raschelndes Laub, Kiefernbüsche und Dornschlehenhecken hindurch einen Hügel erklommen hatte, hoffte er in der Ferne den Rhein zu erblicken und das Tal von Kobelenz. Kobelenz, an Rhein und Mosel, wo die vielen Schiffe lagen und wo er den Schiffern helfen konnte. Bei denen konnte man als Tagelöhner arbeiten, er wollte sich verdingen und einmal als reicher Mann zurückkehren.
Noch immer spürte er den Riemen, den ihm der böse Vater übergezogen hatte, die Kloppelbartsch, mit der man Ochsen züchtigte. War denn der eigene Sohn schlimmer wie das Vieh? Das sollte er bereuen, der überfromme Christenmensch.
Doch es war niemals der Rhein, den Hannes funkeln sah. Schließlich war er so elend, dass er sich unter eine Tanne hockte und den Kopf aufstützte.
Gewiss, der Herrgott war auf der Seite seines Vaters, des frommen Wilhelms. Also brauchte er Gott auch nicht um Hilfe zu bitten. So ein Gott konnte ihm gestohlen bleiben.
»Eysch gien nemmie heim«, murmelte Hannes. »Und wenn eysch Hungers verrecke.«
Der Schorf in den langen Striemen auf seinem Rücken löste sich und Schweiß brannte in den Wunden. »Verdammtsakremint, bös Kreuz.«
Der Herrgott an seinem verfluchten Kreuz schien ihm aber doch ein wenig zu helfen, denn ein Sonnenstrahl traf den Baum und beleuchtete einen Flecken Harz. Hannes leckte daran und biss sich fest an der Rinde, lutschte, kaute und genoss den würzigen Geschmack.
Es musste weitergehen, immer weiter. Herrgottsakrament, Dunnerkeil. Der Vater sollte selber in eine Jauchegrube fallen und sich darin wälzen. Was nützte ihm denn all seine Gottesfurcht? Welches seiner abertausend Gebete hatte der da oben je erhört? Während Hannes’ Mutter krepierte, allmählich, und einen Geruch ausströmte, der sie alle aus dem Haus trieb? Der Vater hatte vor lauter Beten den Verstand verloren.
Aber Scholmerbach, Scholmerbach war doch sein Daheim.
Das Heimweh fuhr ihm in die Gedärme, als wohnte dort die Erinnerung, Scholmerbach in den Eingeweiden, verfluchtes Kreuz. Hannes stolperte wie der Leibhaftige herum und schlug in die Äste.
Der Rhein! Irgendwann musste der doch kommen. Hannes war doch genau so gegangen, wie es ihm ein alter Mann vor Montabaur gesagt hatte. In Koblenz, als Tagelöhner, im Hafen, oder bei den Blaufärbern wollte er arbeiten. Er war ein kräftiger junger Mann, jemand musste ihm doch etwas geben dafür, dass er ordentlich zupackte. Sogar auf ein Schiff konnte er gehen und bis Holland fahren!
Wenn er bloß durchhielt bis dahin. Er hatte das Maul zu voll genommen. Nach Holland wollen, wenn er sich doch schon im Land der Kannenbäcker verirrte.
Schließlich wurden ihm die Knie weich und er sank an einen Baum, wo ihm die Rinde in die aufgegangenen Wunden fuhr. Stöhnend rollte er sich auf die Seite.
Wie lange er so gelegen hatte, wusste er nicht. Doch glaubte er, vor sich eine Gestalt zu sehen, einen Albdruck, einen Gnom vielleicht. Hannes blinzelte vor Schrecken und wagte kaum zu atmen, als er ein altes Weib sagen hörte:
»Wat is mit dir? Bist du krank, Bürschlein?«
Hannes setzte sich auf, verschreckt und benommen, und er wusste nicht, ob er lachen oder fortlaufen sollte. Das konnte eine Hexe sein, eine Hexe! In jedem Wald wohnte eine, das wusste doch jeder! Darum durfte man sich nicht im Walde verirren – und doch sah sie freundlich aus. Sie reichte ihm Wasser in einem Lederbeutel und ein Stückchen Brot. Hannes war so hungrig, dass er sofort aß und trank.
»Eysch danke schön«, sagte er. »Kannst dou mir den Weg weisen nach Kobelenz? Wo geht et an den Rhein?«
»Oh«, sagte sie und lachte, und die Runzeln in ihrem rußgeschwärzten Gesicht kräuselten sich beinahe.
»Dat is noch en weite Weg, du bist näher an Neuwied!«
Hannes nickte und schlug unversehens das Kreuz. Der Herrgott war zwar für seinen Vater und nicht für ihn, aber er sollte ihn doch vor dem Teufel bewahren, oder vor dieser Hexe.
»Komm mit«, sagte die alte Frau freundlich. »Ich will dir eine Salbe geben, du bist ja ganz zerschlagen, die Suppe wird dir helfen, es ist auch ein Stückchen Fleisch darin, komm, et es net weit.«
Hannes konnte sich nicht wehren, die Stimme war so gütig, mit Koblenzer Singsang. Vielleicht gab es da noch mehr als ein Stück Fleisch. Und wenn sie auch eine Hexe war, so sei’s drum, vielleicht brauchte sie einen Knecht. Ihm war es, als hätte er niemals eine freundlichere Stimme gehört. Vielleicht konnte sie ihm helfen, sie schien sich hier auszukennen, und das Verlangen nach Suppe mit Fleisch wurde übermächtig.
Wenn er nicht mit ihr ging, würde er vielleicht umkommen.
Sie hat keinen Buckel, dachte er. Und auch keinen Kater auf der Schulter, sie sieht aus wie die alte Hanjokebs Hanne, nur schmutziger. Also stand er auf und sah, wie klein die Alte war. Einer Hexe musste man helfen, hatte er in Scholmerbach gehört, sonst konnte sie einem einen bösen Zauber antun. Also nahm er das Bündel Holz, das sie gesammelt hatte, und legte es sich auf die heile Schulter.
So gelangten sie hinter dem nächsten Hügel in einen lichten Eichenwald mit schweren moosbewachsenen Wackersteinen und auf einen von Eselsspuren übersäten Weg zu einem Häuschen am Fuße eines schweren Felsbrockens.
»Hier herein«, sagte die Alte. »Et geschieht dir nix, du willst doch en Süppche?«
Hannes hatte Angst. Einmal drin, kam er vielleicht nicht lebend heraus, oder wenn doch, dann mit einem Klumpfuß oder einem Eselskopf.
Das Häuschen war verwittert, die Tür hing schief in den Angeln. Doch die warme Suppe, die darin an einem Haken über dem Feuer hing, roch bis zu ihnen, und Hannes tat unversehens einen Schritt nach dem anderen. Vielleicht war er ja schon verhext, aber trotzdem hatte er noch viel Kraft; schließlich war er aus Scholmerbach. Er konnte die ganze Hütte kurz und klein hauen und die Alte ins Tal schmeißen … schon war er über die Schwelle.
Die Alte schob ihn weiter, und die Tür schwang knarrend hinter ihm zu, und die Frau hängte noch einen Kartoffelsack davor und stopfte ihn fest.
Da hörte er in einem Raum hinter dem Ern Männerstimmen, und während die Suppe zum Greifen nah über dem Feuer hing, wurde er mit dem Stock der Alten weitergeschubst, und als er um die Ecke trat, sah Hannes lauter Kerle um einen Tisch sitzen. Räuber, dachte Hannes, er war in eine Räuberhöhle geraten!
Ihm wich alles Blut aus dem Gesicht und er hielt sein Bündel vor den Leib, in den ihn nun ein Messerstich treffen musste. Oder eine Keule würde gleich auf ihn niederschlagen – er wollte ein Gebet sagen und war doch wie gelähmt.
»Ich habe einen mitgebracht«, sagte die Alte und ging zum Feuer, um im Suppentopf zu rühren.
Die Kerle hatten langes Haar und Bärte, verschlissene Röcke oder Chamisolchen in Braun und Blau mit speckigen Westen. Keiner von ihnen trug wie Hannes den Westerwälder blauen Kittel.
»Ja, wer bist du denn?«, fragte einer, dessen lange Nase unter schwarzen Strähnen hervorragte.
»Ich habe ihn unten am Fuchstanz gefunden, ganz verhungert, ein Herumtreiber.«
»Eysch hatt mich nur verirrt, eysch wollt noo Kobelenz … mir Tagewerk suchen …«
»Nach Kobelenz«, die Männer lachten so laut, dass Hannes abermals schauderte. »Kobelenz!«, schrien sie. »Da bist du ja weit vom Schuss!«
»Der wollt sicher zum roosisch Nanettche!«
»Oder zum ranzisch Schlawinche!«
»Komm«, sagte einer mit blauem Rock und Chamisol und braunem Unterleibchen. »Setz dich. Mir tun dir nix.«
Die Alte stellte Hannes einen Teller Kohlsuppe mit Rüben und einem Stückchen Fleisch hin, und der Hunger ließ ihn alles vergessen. Er sank auf einen unbehauenen Klotz und nahm den Holzlöffel.
»Jo«, sagten die Kerle, »lasst ihn erstmal essen.«
Und Hannes aß, und es schien die beste Suppe seines Lebens zu sein. In Scholmerbach gab es Fleisch nur am Schlachtfest oder zu den Hohen Festen. Ach, was sollte ihm schon geschehen? Er war nochmal davongekommen. Wenigstens war er nicht vor Hunger gestorben, und später konnte er immer noch sterben wie ein Mann. Aber so schlimm sahen die Männer nicht aus, zwar waren sie schmutzig und die Haare hingen ihnen staubig oder ölig um das Gesicht, aber wer auf der Reise war, der konnte nicht alle Tage in einen Waschzuber steigen. Auch in Scholmerbach wuschen sie immer nur die Füße im Bach und den Kopf in einer Schüssel.
»Wer seid ihr?«, fragte Hannes schließlich.
»Wer mir sin?«, fragte der mit der langen Nase. »Wat glaubst du denn, wer mir sin?«
Hannes blickte in lauter Gesichter, die ihm nun doch freundlich vorkamen, nicht wie die von Räubern oder Galgenstricken.
»Noja«, sagte er. »Zuerst hatt eysch gedacht, ihr seid womöglich Diebe oder Strolche!«
»Nee«, grinste der mit der langen Nase. »Diebe sin mir net.«
»Kesselflicker und Scherenschleifer sin mir!«
Hannes tunkte ein Stück altes Brot in die Suppe.
»En Kesselflicker hot doch en Nageleisen und der Scherenschleifer en Schleifkarren …«, sagte er. »Wo habt ihr dann dat Zeug?«
»Im Schuppen«, sagte der im blauen Rock.
Da war kein Schuppen, dachte Hannes, aber er wagte es nicht zu sagen. Vielleicht hatte er ihn ja auch übersehen, so verwirrt, wie er gewesen war vor Hunger.
»Wat es dir denn widerfahren, datt du so mutterseelenallein durch de Wald irrst? Ich seh, du hast ordentlich de Peitsche gekriegt?«
Ein kaum verheilter Striemen vom Ochsenziemer malte sich am Hals von Hannes.
»Dat war meyn eigener Vater«, sagte Hannes. »So hat er meysch zugerichtet.«
Die Männer nickten. Sie schienen Hannes zu mögen, oder jedenfalls kam ihnen bekannt vor, was er da sagte.
»Noja«, meinte schließlich einer, der am Ende des groben Tisches vor der Stumpenkerze saß.
»Mich nennen sie den Kanne-Jones. Wenn du willst, kannst du bei uns mitgehen. Wir gehen die Tage wieder auf Koblenz zu. Allein bist du im Wald verloren.«
Hannes blickte auf die Hand, mit der der Kerl im blauen Rock am Kerzendocht herumschnitt. Er sah eine Narbe ganz schrundig aus dem verschlissenen Hemdsärmel herausschauen.
»Wat is dat dann?«, fragte er.
»Wat soll ich sagen«, sagte der Blaurock. »Dat Leben is nicht immer gut zu einem. Man wird manchmal gestraft, wofür mer nit schuldisch is.«
Hannes nickte und wusste, dass der Mann schon mal in Eisen gelegen hatte.
»Wat is?«, fragte der Kanne-Jones. »Willste en paar Tage mit uns gehen? Kanns auch bei uns bleiwen. Bei uns kannsde wat lernen. Mir beherrschen unser Handwerk.«
Wieder lachten alle.
Die Alte scheppte ihm noch einen Teller Suppe auf und kochte dann für Hannes’ entzündete Wunden einen Kräutersud aus Kamille, Ringelblume und Gänsefingerkraut.
»Ja, wenn eysch mers recht überlege«, sagte Hannes. »Zurück kann eysch net. Eysch gehn erst zurück, wenn eysch en reicher Mann bin. Da wär ich froh … wenn ihr mich ein Stück mitnehmt. Der leybe Gott soll es euch danken.«
»Der lieber nicht!«, lachte der Langrock. »Kannst auch ohne den bei uns mittun.«
Hannes überlegte nicht lange. Wenn er unter die Räuber gefallen war, dann waren sie sehr freundlich zu ihm. Als wären sie von Scholmerbach. Also konnten sie keine richtigen Räuber sein, denn die waren nicht freundlich.
»Ei, dann geh eysch mal mit«, sagte Hannes. »Dat is besser als allein. Aber Kesselflicker wollt eysch eigentlich net werden.«
Wilhelm beschloss, eine Wallfahrt zu machen, nach Marienthal. Man hatte von vielen Wundern gehört, und vielleicht ging es seiner Frau dann besser, oder der Hannes kam bald wieder, wenn er noch lebte. Aber bestimmt lebte Hannes noch, er musste irgendwo sein auf der Welt mit seinem unruhigen Blut, das spürte Wilhelm. Lieselchen fragte immer wieder nach ihm, doch schon seit Wochen musste er ihr sagen:
»Er kommt bestimmt wieder heim. Er is auf Wanderschaft, et dauert nimmer lang.«
An einem schönen Augusttag packte Wilhelm in der Frühe sein Säckel. Er hatte sich vorgenommen, nach Marienthal zu wandern, das waren einundzwanzig Meilen, durch die Kroppacher Schweiz hindurch, das konnte er schaffen in zwei Tagesmärschen oder in dreien. Sein rechtes Bein hatte einen Ausschlag, gleich unter dem Knie; es juckte ihn, wenn er in der Sommersonne schwitzte und der Bund seiner Kniehose scheuerte. Aber Bocksersch Anna hatte ihm ein Fläschlein mit Kamillensud gegeben, um das Bein einzureiben, dann würde es wohl gehen. Er brauchte die Hilfe Gottes, und in Marienthal, so hieß es, vergaß man die ganze Welt, so schön war es dort. Vielleicht begegnete ihm auch jemand, den er nach Hannes fragen konnte; es hieß, der buckelige Jonas hätte ihn in der Frühe gesehen, wie er nach Ellingen hinaufgewandert war, und später hatte man ihn bei Hachenberge gesehen. Wenn Gott wollte, so traf er jemanden, der ihm weiterhelfen konnte.
Die Sonne war auf dem höchsten Stand und würde Wilhelm unbarmherzig brennen, aber das war ihm recht, denn es entsprach seiner Büßerstimmung. Er wollte büßen, immerzu büßen; das musste sich am Ende auszahlen, wenn nicht für ihn, dann doch vielleicht für seine Frau, für seinen Hannes, vielleicht sogar für ganz Scholmerbach. Also zog er seinen blauen Kittel an, das rote Halstuch und die Kniehose, die alten derben Schuhe und legte sich ein Säckel am Stock auf die Schulter.