Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Zitate
    1. Personenverzeichnis
    2. Prolog
  7. Teil 1
    1. 1
    2. 2
    3. 3
    4. 4
    5. 5
    6. 6
    7. 7
    8. 8
    9. 9
    10. 10
    11. 11
    12. 12
    13. 13
    14. 14
    15. 15
    16. 16
    17. 17
    18. 18
    19. 19
    20. 20
    21. 21
  8. Teil 2
    1. 22
    2. 23
    3. 24
    4. 25
    5. 26
    6. 27
    7. 28
    8. 29
  9. Teil 3
    1. 30
    2. 31
    3. 32
    4. 33
    5. 34
    6. 35
    7. 36
    8. 37
    9. 38
    10. 39
    11. 40
    12. 41
    13. 42
    14. 43
    15. 44
    16. 45
    17. 46
    18. 47
    19. 48
    20. 49
    21. 50
    22. 51
    23. 52
    24. 53
    25. 54
    26. 55
    27. 56
    28. 57
    29. 58
    30. 59
    31. 60
    32. 61
    33. 62
    34. 63
    35. 64
  10. Teil 4
    1. 65
    2. 66
    3. 67
    4. 68
    5. 69
    6. 70
    7. 71
    8. Epilog
  11. Karte: Die Niederlande um 1600
    1. Glossar
    2. Anmerkung und Dank

Über das Buch

Ein großer Historischer Roman über den Ausbau Amsterdams zur Weltmetropole, über Liebe und Hass und den Drang, die Welt zu einem besseren Ort zu machen

Vincent will als Architekt prächtige Stadthäuser bauen. Ruben sehnt sich nach Abenteuern auf hoher See. Betje ist eine begnadete Köchin. Zusammen sind die Geschwister in Amsterdam gestrandet, einem Ort der märchenhaften Möglichkeiten. Doch es ist auch die Zeit der großen Auseinandersetzungen. Katholiken und Calvinisten streiten um den rechten Glauben, Engländer und Spanier um den Einfluss auf das Land am Meer, Kaufleute um die wirtschaftliche Macht. Können sich die Geschwister in dieser schwierigen Situation behaupten?

Folgen Sie Sabine Weiß’ Helden ins spannende 16. Jahrhundert, und erleben Sie Amsterdam, wie Sie es noch nie gesehen haben!

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, »Schwarze Brandung«. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.

Sabine Weiß

KRONE DER WELT

Historischer Roman

Der Mensch ist das Maß aller Dinge.

Protagoras, ca. 490 v. Christus

Das Schöpferische überlebt, alles andere ist des Todes.

Virgil Solis, Walther Ryff

Personenverzeichnis

AMSTERDAM

Wim Aardzoon, Zimmermann und Festungsbauer aus Antwerpen

Vincent, sein Sohn, Architekt

Ruben, ebenfalls sein Sohn, Seemann

Betje, seine Tochter, Köchin

Federigo Giambelli*, italienischer Ingenieur und Sprengstoffexperte

Nathan Sanders, Gehilfe des niederländischen Gesandten in England und später des Politikers Johan van Oldenbarnevelt

Sandrine Kuipers, Malerin und Kupferstecherin

Lysbeth Kuipers, ihre Schwester

Kaufleute und Regenten

Dircks Jansz de Graeff*

Jacob de Graeff*

Cornelis Hooft*

Dirck van Os*

Reinier Pauw*

Jan Poppen*

Architekten und Baufachleute

Joost Jansz Bilhamer*

Cornelis Bloemaert*

Cornelis Danckerts*

Hendrick de Keyser*

Frans Hendricks Oetgens*

Henk Jakobsz Staets*

Politiker und Gelehrte

Petrus Plancius*

Hugo Grotius*

Joost de Hondt*

Seeleute

Piet Heyn*

Jan Molenaar*



S’GRAVENHAGE

Moritz, Graf von Nassau-Dillenburg*, Sohn von Wilhelm von Oranien

Friedrich-Heinrich*, Sohn von Wilhelm von Oranien,

Louise de Coligny*, Witwe von Wilhelm von Oranien

Johan van Oldenbarnevelt*, niederländischer Staatsmann

Katholisches Lager

Aldo van Vleet, Kaufmann in Amsterdam, mit seiner Frau Hannah

Aletta, seine Tochter

Pijke, sein Sohn

König Philipp II.*

Infanta Isabella Clara Eugenia von Spanien*

Alessandro Farnese*, Feldherr und Statthalter der Spanischen Niederlande

Lazarus van de Hedecop, holländischer Landadeliger

* historische Persönlichkeiten

Prolog

Amsterdam, Februar 1617

Kristallklar floss die Februarsonne in die Gracht. Sie war ein Fingerzeig aus Licht, der die Schönheit des neuen Stadtviertels enthüllte. An dem sanften Bogen, den die Kanalstraße formte, standen die Grachtenhäuser Spalier. In der glatten Oberfläche der Amstel schienen die Häuser sich wie in einem Spiegel zu bewundern. Mit ihren kunstvoll gestalteten Fassaden und den hellen Ziergiebeln, die sich wie blitzsaubere Häubchen in den schneeschweren Himmel reckten, war jedes Gebäude einzigartig.

Auch die Menschen hatten sich herausgeputzt. Familien spazierten nach dem sonntäglichen Kirchenbesuch am Grachtengürtel entlang. Die Eltern vorweg, mit gestärkten Halskrausen, auf denen ihr Kopf wie auf einem Tablett thronte. Die Kinder tobten hinterher, warfen von der Kanalkante aus mit Steinen auf die Eisschollen, die von den Mauern in den Fluss hineinkrochen, nur milde ermahnt von ihren Vätern.

Der Duft von Sonntagsbraten und Torffeuer stieg dem Architekten in die Nase, als er die Hausreihe passierte. Aus einem offenen Fenster drang das Trillern eines Singvogels; in seinem Käfig schien er den Frühling herbeizusehnen. Wie ruhig Amsterdam sonntags war, wenn das Donnern der Rammen, das den Takt dieser Stadt vorgab, verstummt war, wenn kein Baulärm durch die Gassen dröhnte und kein Höker lautstark seine Waren anpries! Indes: Friedlich war es in Amsterdam derzeit nicht. Besorgt dachte der Architekt an die Diskussionen, die nach dem Gottesdienstbesuch geführt worden waren. Reichte es nicht, dass in den Ländern um sie herum Zwietracht herrschte und der Waffenstillstand mit ihrem Erzfeind Spanien brüchig war? Musste auch innerhalb der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen gestritten werden?

Auf den ersten Blick schien die Frage, um die der Streit entbrannt war, eine Spitzfindigkeit von Geistlichen zu sein. Genau betrachtet ging es aber um jedermanns Seelenheil und um die Rechtmäßigkeit von Reichtum und Elend. Freundschaften und Geschäftsbeziehungen drohten in diesem Streit zermahlen zu werden. Selbst in seiner Familie waren die Gespräche beim Sonntagsmahl hitzig geworden. Doch das war nicht das Einzige, was ihn aus dem Haus getrieben hatte. Entschlossen verbannte er die Gedanken, die in ihm aufstiegen.

»Mijnheer Aardzoon?«

Der Architekt war so vertieft gewesen, dass er erst jetzt den Poorter bemerkte, der ihn grüßte. Wie er trug der Mann einen breitkrempigen Hut mit Feder, einen modischen Spitzenkragen und Spitzenmanschetten unter dem Samtumhang. Seine schwarze Kleidung sollte Bescheidenheit signalisieren und verriet doch durch die Kostbarkeit der Stoffe seinen Reichtum, genau wie die Goldspitzen an seinen Seidenstrümpfen. Kurz plauderten sie über die Predigt und das günstige Winterwetter. Noch war der Warenverkehr nicht durch Eis und Schnee in Mitleidenschaft gezogen worden. Sogar das Holz für Aardzoons wichtigste Baustelle war früher als erwartet im Hafen angelandet worden. Ehe der Gedanke an das Risiko, das er einging, seine Stimmung weiter trüben konnte, wünschten sie einander einen gesegneten Sonntag.

Bald hatte der Architekt die wenigen Baulücken in der Keizersgracht erreicht. Seine Stiefel sanken knisternd in das frostige Erdreich ein, das noch kein Pfahlgerüst verdichtet hatte. Gebannt hielt er inne. Der Anblick war atemberaubend, ein einziges, grandioses Versprechen. Amsterdam wuchs und wuchs. Als er in die Stadt gekommen war, hatte diese sich wie ein schmaler Kegel vom IJ aus, einer Bucht im Südwesten der Zuidersee, ins Land geschoben. Nur einige wenige Kanäle hatte es zwischen dem Meeresarm und dem Fluss Amstel gegeben. Vielleicht dreißigtausend Menschen hatten damals in Amsterdam gewohnt, heute waren es dreimal so viele – und die Stadt dehnte sich weiter aus. Inzwischen legten sich die Grachten wie schützende Arme um Häuser und Bewohner. Lebensadern aus Holz und Stein, die Amsterdam mit dem Rest der Welt verbanden.

Für einen Augenblick erfüllte ihn Stolz. Baumeister wie er rangen dem sumpfigen Boden das neue Land ab oder schufen künstliche Inseln. Der Ausbau der Stadt war noch lange nicht abgeschlossen, die Vollkommenheit des Stadtbilds nicht erreicht. Eines Tages aber würde der Grachtengürtel einen perfekten Halbkreis am IJ-Ufer bilden. Als Baumeister strebte er nach Harmonie, er konnte nicht anders. Wenn er nur nicht so unter dem Hässlichen, dem Falschen litte!

Auf den fremden Baustellen sah er keine Schönheit, sondern nur Fehler: nachlässig zusammengestoppelte Holzgerüste, schlecht behauene Steine, schnell hochgezogene Mauern, Krummholz, das man ungenügend gewässert hatte. Auf seinem Baugrund hingegen war alles, wie es sich gehörte. Die Holzstämme lagen säuberlich gestapelt, genau wie die Bauteile für Kran und Stellage. Auch für den Marmor, den er in Carrara bestellt hatte und der demnächst eintreffen würde, gab es Platz. Mit treuen Helfern wie Gerrit an seiner Seite würde das bisher größte Unterfangen seiner Laufbahn gelingen. Allerdings war sein Baustellenwächter allein – und das, obwohl der Diebstahl von Baumaterialien in Amsterdam an der Tagesordnung war.

Gerrit wärmte sich vor der Bauhütte an einem Lagerfeuer. »Mijnheer Aardzoon, was treibt Euch denn heute hierher?«, fragte der alte Mann und erhob sich trocken hustend von seinem Schemel.

Der Architekt zog sich die Lederhandschuhe aus und reichte ihm die Hand. »Bleib am Feuer, Gerrit, ich will dich an deinem freien Tag nicht lange stören«, sagte er. »Ein Kunde bat mich, ihn hier zu einer Begehung des Baugrunds zu treffen.«

»Am heiligen Sonntag?«

»Nur ein kurzer Spaziergang, eine kleine Plauderei«, versicherte Aardzoon. Natürlich war er Gerrit keine Rechenschaft schuldig, aber in diesem Land gab man aufeinander acht – und das war ja auch gut so. Seine wahren Beweggründe für dieses Treffen hatte er selbst seiner Familie verschwiegen: Es drängte ihn, Mijnheer van Noort an die offene Rechnung zu erinnern. Noch nie war er für einen Bau so weit in Vorleistung gegangen. Auch deshalb hing sein Haussegen schief. Dennoch war er überzeugt, dass sich die Investition lohnte. Mit dem Bau des imposanten Doppelhauses würde er endgültig in die Riege der besten Architekten der Stadt vorstoßen. »Bist du allein? Wo ist dein Enkel?«, fragte er.

»Jan holt uns gerade ein paar Scheiben Schweinsbraten vom Garbräter, der muss heute ein bisschen weiter laufen als alltags.«

Nicht jeder nahm es in Amsterdam mit der Sonntagsruhe genau, was durchaus Vorteile hatte, wie Aardzoon fand. Jüdische Läden hatten ebenso geöffnet wie Gaststätten oder die Läden derjenigen, die keiner Religion angehörten – und das waren etliche. Gedogen, das war die Maxime vieler Amsterdamer: Etwas war verboten, aber man duldete es, drückte ein Auge zu, manchmal auch zwei. Für Aardzoon war diese Toleranz anfangs ungewohnt gewesen, für Strenggläubige war sie unerträglich. Auch daran hatte sich der Streit entzündet.

Gerrit riss ihn aus seinen Gedanken. Der Alte schlurfte ans Feuer zurück und hielt die Hände, um die er Lumpen gewickelt hatte, vor die Flammen. »Geht einem durch Mark und Bein, die feuchte Kälte. Hab nichts gegen Eis und Schnee, Gott bewahre, aber diese Feuchtigkeit! An Tagen wie diesen spürt man, dass wir Amsterdam dem Wasser abgerungen haben. Wenn der Mensch nicht wäre, wäre die halbe Stadt überspült, weil das Land so tief liegt, das darf man nicht vergessen.« Mit einem erstickten Stöhnen massierte er sich die Knöchel. »Gleich fängt’s an zu grieseln. Ich spür den Schneeregen schon in den Knochen. Irgendwann wachsen mir noch Schwimmhäute.«

Die Mundwinkel des Baumeisters hoben sich zu einem Lächeln. »Das wäre sicher auch nicht übel. Irgendein findiger Ingenieur würde eine Einsatzmöglichkeit für dich finden. Oder dich für seine Wunderkammer ausstopfen.«

Gerrit kicherte. »Wie den Basilisken, den ein Schiff aus Batavia mitgebracht hat.«

»Du solltest nicht alles glauben, was auf den Straßen Amsterdams geredet wird.«

»Und doch ist’s wahr, Mijnhe…« Erneuter Husten machte Gerrits Worten ein Ende.

Das klingt gar nicht gut, dachte der Architekt besorgt. Er kannte den Alten schon seit seiner Jugend und brachte es nicht übers Herz, Gerrit gegen einen jüngeren Wächter auszutauschen. »Du weißt, dass du ins Oudemanhuis oder in eines der Hofjes ziehen könntest. Ich würde dich unterstützen«, sagte er beiläufig.

Gerrit straffte sich empört. »Was soll ich bei den Greisen? Ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen, das wisst Ihr doch, Mijnheer!«

Der Architekt hatte nichts anderes erwartet. Er holte ein Fläschchen aus seinem pelzgefütterten Mantel und reichte es dem Alten. »Ich habe dir etwas Gutes mitgebracht.«

Gerrit zog den Korken ab und sog den leichten Wacholderduft ein. »Ah, wat lekker«, sagte er voller Vorfreude. »Besten Dank, der Allmächtige möge es Euch vergelten.«

Es zischte leise, als die ersten Eisregentropfen in die Flammen fielen. Aardzoon zog sich mit Gerrit unter das Vordach der Hütte zurück. Aus der Ferne waren Rufe zu hören. Die Oude Kerk läutete das stündliche Glockenkonzert der Amsterdamer Kirchen ein. Wo blieb sein Auftraggeber? Er hatte nicht ewig Zeit.

»Werden die Bauarbeiten nächste Woche beginnen?«, wollte Gerrit wissen.

»Wenn das Wetter mitspielt, schon. Das Erdreich ist nicht sehr tief gefroren, sodass das Fundament gelegt werden kann.«

»Op staal oder op kleef?«

»Weder noch. Wir fundieren op stuit. Das Material für Mast und Ramme liegt schon bereit.«

Skeptisch blickte Gerrit ihn an.

»Für diese Konstruktion sind weniger Pfosten nötig, und wir brauchen kein Rost«, hob Aardzoon zu einer Erklärung an. »Stattdessen rammen wir die Pfähle zu Paaren in den Grund und verbinden sie mit einem harten Querholz.« Obgleich er nichts dagegen hatte, ein wenig zu fachsimpeln, war er jetzt entschieden unruhig geworden. Auftraggeber hin oder her – was bildete van Noort sich ein, ihn am Sonntag hierherzubitten und ihn dann stehenzulassen!

Gerrit holte zwei Holzbecher aus der Hütte. »Trinkt Ihr einen Schluck Jenever mit mir, Mijnheer?«, fragte er.

Der Architekt lehnte ab. »Beim nächsten Mal. Ich werde in der Schutterij erwartet.«

Dem Alten schien es recht zu sein, nicht teilen zu müssen. Er prostete ihm zu. »Bin froh, dass Ihr ein Auge auf die Stadt habt. Die Schützengilden sind Schutz und Schirm Amsterdams. Ehrenwerte Männer, auf die man sich verlassen kann.« Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Sind schlimme Zeiten, Mijnheer. Wir zerfleischen uns von innen heraus, dabei warten unsere Feinde nur darauf, dass wir uns schwächen, damit sie wieder zuschlagen können. Vorhin war Richtung Damrak ein Geschrei. Gott sei Dank kam niemand hierher. Plünderer oder Diebe hätten es aber auch mit mir zu tun bekommen!« Kämpferisch wies er auf den Bottich mit dem schweren Eisenhammer, der neben seinem Schemel stand. »Ich schlage sofort Alarm, darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

»Ich bin froh, dass ich in dir und deinem Enkel so zuverlässige Helfer habe. Wo bleibt Jan denn wohl?«

»Keine Sorge. Der Bursche schäkert sicher wieder mit der Ofenmagd.«

Der Nacken des Architekten versteifte, und er rollte kurz mit den Schultern. In seinen Ärger über die Verspätung seines Auftraggebers mischte sich ein ungutes Gefühl. Gab es einen Grund dafür, dass er versetzt worden war? Es wurde Zeit, dass er zur Schützendoele kam – auch, um Neuigkeiten aus der Stadt zu erfahren.

Tief zog Aardzoon die Krempe seines Hutes ins Gesicht, als er sich auf den Weg machte. Ein wenig kleckerte der Eisregen noch, dann hörte er auf. Die Aussicht auf körperliche Betätigung und gute Gespräche trieb ihn an. Im Gegensatz zu manchem reichen Poorter dachte er nicht daran, einen Vertreter für den Wachtdienst anzuheuern. Für ihn war es eine Ehre, einer der Amsterdamer Schützenkompanien anzugehören. Zumal sich die Bürgerkompanie des Bezirks IX., deren Mitglied er war, demnächst porträtieren lassen wollte. Sie waren sich nur noch nicht einig, welcher der vielen ausgezeichneten Kunstmaler, die in Amsterdam lebten, dieses Schützenstück ins Werk setzen sollte.

Er überquerte Koningsplein und Herengracht mit ihren imposanten Stadtpalästen. Gleich darauf hatte er die Voetboogdoelen an der Koningsgracht, wie man den Singel neuerdings nannte, erreicht. Alle drei Schützenhäuser lagen zentral im alten Stadtzentrum. Das Versammlungshaus der Armbruster befand sich an der Ecke vom Heiligeweg. An die Voetboogdoelen grenzte das städtische Waffenlager, an dessen Bau Aardzoon einst mitgearbeitet hatte, daneben befand sich in einem breiten Giebelhaus die Schützendiele der Langbogner. Die Hakenbüchsen-Schützen übten sich am Kloveniersburgwal.

Kaum hatte er die Tür des Schützenhauses aufgestoßen, hörte er das Klirren der Gläser, Gelächter und Gesang. Auch hier nahm man es mit der Sonntagsruhe nicht genau; kein Wunder, dass ein englischer Besucher erst kürzlich ein Schützenhaus für eine Taverne gehalten hatte.

Das Gebäude war lang und schmal. Im Hinterhof befand sich ein Schießplatz. Einige Männer übten sich im Umgang mit den Armbrüsten, die meisten aber saßen tafelnd und zechend im Festsaal. Vom Wein gerötete Gesichter, geöffnete Wämser, Bäuche, die gemütlich über den Hosenbund hingen. Kein Vergleich mit den schneidigen Kerlen, die sie von den Schützengemälden an der Wand aus zu mustern schienen.

Lautstark wurde der Architekt begrüßt. Nur Antonie und Bertold ignorierten ihn wie üblich. Aardzoon hatte es längst aufgegeben, sich über die Verachtung zu ärgern, die sie ihm entgegenbrachten.

»Aardzoon, endlich ein würdiger Gegner! Einer der besten Schützen und Ringer meiner Kompanie – nach mir, versteht sich!«, rief Abraham Boom, der Spross eines alten Patriziergeschlechts und Hauptmann der Bürgergarde. Er lachte laut und schlug Aardzoon mit der Hand auf die Schulter. Was er sagte, war nicht gelogen. Sie waren etwa gleich alt, beide von hochgewachsener Statur und ausgezeichnete Kämpfer.

Den Architekten drängte es, die Spannung loszuwerden, die sich in seinem Körper aufgebaut hatte, gleichzeitig wollte er wissen, was auf den Straßen der Stadt los war.

»Erst der Wettstreit, dann das Geplauder!«, unterband Abraham Boom seine Fragen.

Die Männer gingen in den großen Saal, wo andere bereits ihre Armbrüste ölten, kämpften oder auf Zielscheiben schossen. Einige Zeit lang rangen sie miteinander und maßen sich mit ihren Arbalesten im Schießen. Zwei Schüsse pro Minute konnte man mit den Armbrüsten abgeben, wenn man geschickt war – die Kunst war lediglich, bei dieser Schnelligkeit auch das Ziel zu treffen.

Anschließend setzten sie sich zu den anderen an die Tafel. Einige Mitglieder der Kompanie waren bereits bezecht. Aardzoon ließ sich von dem Schankweib ein Vaasje Bier bringen. Dann endlich berichtete Abraham Boom, was los war. Offenbar hatte es morgens erneut eine Zusammenrottung von Randalierern gegeben, die gegen Andersgläubige Stimmung gemacht hatten. Die Wache hatten die Menge jedoch schnell zerstreuen können.

»Wenn Ihr mich fragt, müssten die Stadtregenten sich deutlich gegen diese Aufrührer aussprechen«, meinte Aardzoon.

»Euch fragt aber niemand«, mischte Bertold sich ein. »Oder seid Ihr neuerdings auch noch Diplomat oder gar Regent?«

Weder der Architekt noch Abraham Boom reagierten auf diesen Einwurf. »Das ist ja das Problem: Bei den Regenten herrscht ebenfalls keine Einigkeit. Jeder denkt nur an sein eigenes Seelenheil, an sein eigenes Fortkommen. Mit einer Parteinahme könnte man ja Kunden oder Geschäftspartner verprellen«, sagte Abraham Boom bitter.

In diesem Augenblick wandte sich Antonie zu ihnen. Er war ein dicklicher, eitler Mann von etwa dreißig Jahren, dessen Augen unergründlich funkelten. »Manchmal gereicht es einem auch zum Vorteil, wenn man einen Geschäftspartner verliert«, sagte er und schob die Zunge über die Schneidezähne. »Wenn ich beispielsweise an diesen van Noort denke …«

Aardzoon schwieg. Er wollte diesen Streit um keinen Preis neu entfachen.

Antonie suchte seinen Blick. Seine nächsten Worte ließen den Baumeister erstarren. »Habt Ihr es denn nicht gehört? Pleite soll van Noort sein. Schiffbruch in der Batavischen See. Alle Waren weg, wie so oft – der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.«

Der Architekt versteifte sich. War das der Grund, warum Mijnheer van Noort nicht zum vereinbarten Treffen erschienen war?

Ehe er nachfragen konnte, flog die Tür auf. Eine Magd stürzte in die Schützendiele. Ihr Gesicht war tränennass, die Kleidung zerrissen. Der Kapitän der Armbrustgilde sprang auf. Auch Aardzoon ging ihr entgegen.

»Was ist los?«, fragte Abraham Boom.

»Bitte, Mijnheers …«, brachte sie keuchend hervor. »Ihr müsst helfen. Das Haus … meines Herrn am anderen Ende der … Koningsgracht wird angegriffen.« Sie rang um Atem. »Die Unruhestifter denken … bei uns findet ein geheimer Gottesdienst statt. Sie wollen meinen Herrn und … alle, die im Haus sind, töten!«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Aardzoon.

»Das rufen sie die ganze Zeit. Außerdem haben sie Knüppel, Messer und andere Waffen!«

»Wer ist dein Herr?«

»Mijnheer Bisschop.«

»Rem Egbertsz Bisschop, der Bruder des remonstrantischen Predigers?«

»Ebender, Mijnheer. Ich flehe Euch an, so helft!« Die Magd sah in die Runde.

Noch immer rührte sich keiner der Männer. Alle starrten betreten auf die Weinflecken auf dem Tischlaken, auf die abgenagten Knochen, die Brotkrümel und die leeren Weinkrüge. Offenbar wollte sich niemand in die religiösen Streitigkeiten einmischen, die die Ursache für den Aufruhr zu sein schienen.

»Es ist Sonntag und noch keine Zeit für die Nachtwache. Habt Ihr den Schout Willem van der Droes benachrichtigt?«, fragte Abraham Boom.

»Ja, den Schout, die Büttel, und den Bürgermeister auch.«

»Welchen?«, mischte Antonie sich ein, dessen Vater ebenfalls zum Bürgermeisterquartett Amsterdams gehörte.

»Mijnheer Pauw.«

Mit dieser Antwort war das Interesse des jungen Mannes erloschen. Er wandte sich ab. Die junge Magd sprach weiter: »Angeblich ist er auf dem Weg. Aber lange halten die Eingeschlossenen in dem Haus nicht mehr aus. Wer weiß, was der Mob ihnen antut …« Noch immer machte niemand Anstalten aufzubrechen. Die Magd sah sie flehend an. »Bitte, Ihr Herren, tut doch etwas!

Aardzoon machte die Lethargie seiner Mitstreiter wütend. »Wir können doch bei diesem Unrecht nicht zusehen! Was, wenn es als Nächstes einen von Euch träfe!«, rief er in die Runde.

»Oder Euch«, meinte Antonie.

Das kalte Blitzen in den Augen seines Widersachers ließ Aardzoon erschaudern. »Was meint Ihr damit?«, fragte er scharf.

Sein Gegenüber lächelte und enthüllte dabei seine gelben Schneidezähne. »Beruhigt Euch, Mijnheer, das war nur so dahergesagt.«

Der joviale Ton ließ den Architekten erst recht misstrauisch werden. Was führte der Mann im Schilde? Doch diese Frage würde warten müssen. Aardzoon legte seine rot-weiße Schärpe um und packte seine Waffe. »Wir müssen helfen! Wer begleitet mich?«

»Es ist eine reiche Nachbarschaft. Etliche Mitglieder der Vroedschap wohnen in Bisschops Nähe. Sie werden nicht zulassen, dass bei ihnen randaliert wird«, sagte der Leutnant.

»Gott hat vorherbestimmt, was geschieht. Er wird es zum Besten richten«, meinte der Fähnrich.

Fassungslos schüttelte Aardzoon den Kopf. Er würde nicht zusehen, wenn Unrecht geschah – auch wenn er selbst dabei in Gefahr geriete. »Darauf können wir uns nicht verlassen. Wir sind es, die das Schicksal ändern können.« Er sah sich um. Immerhin begleitete Abraham Boom ihn. Der Hauptmann legte seinen Kürass an und schnappte sich den Sponton, denn die kurze Pike zeigte seinen Rang an. Zwei weitere Männer schlossen sich ihnen an.

Sie entschieden sich, den kürzeren Weg über den Rokin zu nehmen. Auf dem Dam herrschte viel Betrieb, aber die Spaziergänger machten den Schützen mit ihren Armbrüsten Platz. Schon ein wenig erschöpft bogen sie schließlich in die Koningsgracht ein. An den Kanalmauern dümpelten Schiffe und Ruderboote, Fässer warteten darauf, verladen zu werden. Aardzoons Herz klopfte noch ein wenig schneller, als er ihr Ziel entdeckte. Es war schlimmer, als er es erwartet hatte. Hunderte Menschen drängten sich vor dem Haus des Kaufmanns. Wie entfesselt brüllten sie, warfen mit Steinen die Scheiben ein. Auch andere Häuser waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Offenbar hatten die Unruhestifter die Tür von Bisschops Heim inzwischen aufgebrochen. Plünderer zerrte Möbelstücke auf die Straße. Bücher wurden zerfetzt, Gemälde zerschnitten. Schon jetzt trieb Hausrat im Fluss. Andere Aufrührer besoffen sich mit geraubtem Wein, fraßen gestohlene Spezereien oder versuchten, mithilfe der Überreste der zerbrochenen Tür Feuer an das Haus zu legen. Aus den oberen Fenstern drangen Hilferufe. Aardzoon sah, dass etliche junge Männer bereits an der Fassade emporkletterten, während andere versuchten, über das Dach einzudringen. Es war höchste Zeit einzugreifen. Abraham Boom hatte ebenfalls die Lage sondiert und rief erste Befehle.

In diesem Augenblick stürzte ein Jugendlicher zu Aardzoon; es war Jan. Warum bewachte der Junge nicht die Baustelle? »Endlich finde ich Euch, Mijnheer! Ich war in der Schützendiele … habe Euch da knapp … verpasst …«, brachte Jan stockend heraus. »Die Plünderer … die Baustelle … mein Großvater …«

Scharf durchfuhr es den Architekten. Er packte den jungen Mann an den Schultern. »Nun rede schon – was ist passiert?«

Mit brennenden Augen blickte der Junge ihn an. »Auch bei Eurer Baustelle … Plünderer … Alles kurz und klein schlagen wollen sie. Feuer wollen sie legen …«

Aardzoon war für einen Augenblick wie erstarrt. Die Worte trafen ihn wie ein Schlag. Eine uralte Angst drohte von ihm Besitz zu ergreifen. Nicht schon wieder! »Godverdomme!«, stieß er leise aus. Er atmete tief durch. Sein gesamtes Erspartes hatte er in diese Baustelle investiert. Wenn Antonie recht hatte und van Noort bankrott war, würde er auf dem Schaden sitzen bleiben. Er könnte alles verlieren.

»Grootvader …«, begann Jan von Neuem.

Aardzoon drängte die Angst zurück. »Was ist mit Gerrit?«

Der Junge sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Er hat Alarm geschlagen, aber sie … Ich wollte ihn nicht allein … Er hat mir befohlen, zu Euch …«

Aardzoon wog seine Waffe in der Hand. Er wurde hier gebraucht, aber genauso auf der Baustelle. Schon einmal hatte er erlebt, wozu Menschen fähig waren. Es war grauenvoll gewesen.

Entschlossen stürzte er los.

Teil 1

1585 bis 1588