SAVE ME
Roman
Geld, Luxus, Partys, Macht – all das könnte die 17-jährige Ruby Bell nicht weniger interessieren. Schon seit sie sieben Jahre alt ist, hat sie nur einen einzigen Wunsch: an der University of Oxford zu studieren. Jetzt, kurz vor ihrem Abschluss, ist ihr Traum zum Greifen nahe. Alles, was sie tun muss, ist, noch ein weiteres Jahr am Maxton Hall College zu überstehen – die renommierteste und teuerste Privatschule Englands. Seit sie eines der begehrten Stipendien ergattert hat, versucht sie unsichtbar zu sein und ihren Mitschülern so wenig wie möglich aufzufallen. Vor allem von James Beaufort, dem heimlichen Anführer des Colleges, hält sie sich fern. Er ist zu arrogant, zu reich, zu attraktiv, und er verkörpert alles, was Ruby an der High Society Englands nicht ausstehen kann. Zum Glück hat er keine Ahnung, dass Ruby überhaupt existiert – zumindest bis jetzt. Denn als Ruby etwas sieht, was sie nicht hätte sehen dürfen, ist ihr Tarnumhang von einem Moment auf den anderen verschwunden. Mit einem Mal weiß James ganz genau, wer sie ist, und setzt alles daran, sicherzustellen, dass sie den Ruf seiner Familie nicht zerstören wird. Ruby ist irritiert – zum einen, weil James plötzlich überall zu sein scheint, wo sie auch ist, vor allem aber, weil es ihr zunehmend schwerer fällt, das heftige Knistern, das zwischen ihnen herrscht, zu ignorieren. Dabei ist James Beaufort der letzte Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlen sollte. Das weiß Ruby. Und doch lässt ihr Herz ihr schon bald keine andere Wahl …
Für Lucie
I was the city that I never wanted to see,
I was the storm that I never wanted to be.
GERSEY, ENDLESSNESS
Ruby
Mein Leben ist in Farben unterteilt:
Grün – Wichtig!
Türkis – Schule
Pink – Maxton-Hall-Veranstaltungskomitee
Lila – Familie
Orange – Ernährung und Sport
Lila (Embers Outfitbilder machen), Grün (neue Textmarker besorgen) und Türkis (Mrs Wakefield nach dem Lernstoff für die Arbeit in Mathematik fragen) habe ich heute bereits erledigt. Es ist das mit Abstand beste Gefühl der Welt, einen Punkt auf meiner To-do-Liste abzuhaken. Manchmal schreibe ich sogar Aufgaben auf, die ich längst abgeschlossen habe, nur um sie direkt im Anschluss durchstreichen zu können – dann allerdings in einem unauffälligen Hellgrau, damit ich mir nicht ganz so sehr wie eine Schummlerin vorkomme.
Wenn man mein Bullet Journal aufschlägt, erkennt man auf den ersten Blick, dass sich mein Alltag zum größten Teil aus Grün, Türkis und Pink zusammensetzt. Doch vor knapp einer Woche, zu Beginn des neuen Schuljahres, kam eine neue Farbe zum Einsatz:
Gold – Oxford
Die erste Aufgabe, die ich mit dem neuen Stift notiert habe, lautet:
Empfehlungsschreiben bei Mr Sutton abholen
Ich fahre mit dem Finger über die metallisch schimmernden Buchstaben.
Nur noch ein Jahr. Ein letztes Jahr am Maxton Hall College. Es kommt mir beinahe unwirklich vor, dass es jetzt endlich losgeht. Vielleicht sitze ich schon in dreihundertfünfundsechzig Tagen in einem Seminar über Politik und werde von den intelligentesten Menschen der Welt unterrichtet.
Alles in mir kribbelt vor Aufregung, wenn ich darüber nachdenke, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich weiß, ob mein größter Wunsch in Erfüllung geht. Ob ich es wirklich geschafft habe und studieren kann. In Oxford.
In meiner Familie hat noch nie jemand studiert, und ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass meine Eltern nicht nur müde gelächelt haben, als ich ihnen zum ersten Mal verkündet habe, dass ich Philosophie, Politologie und Ökonomie in Oxford studieren möchte. Damals war ich sieben.
Aber auch jetzt – zehn Jahre später – hat sich daran nichts geändert, außer dass mein Ziel zum Greifen nah ist. Nach wie vor kommt es mir vor wie ein Traum, dass ich es überhaupt so weit geschafft habe. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Angst habe, plötzlich aufzuwachen und festzustellen, dass ich doch noch an meine alte Schule gehe und nicht an die Maxton Hall – eine der renommiertesten Privatschulen Englands.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr, die über der wuchtigen Holztür des Klassenzimmers hängt. Noch drei Minuten. Die Aufgaben, die wir bearbeiten sollen, habe ich gestern Abend schon fertig gemacht, und jetzt habe ich nichts anderes zu tun, als darauf zu warten, dass diese Stunde endlich zu Ende geht. Ich wippe ungeduldig mit dem Bein, wofür ich augenblicklich einen Hieb in die Seite ernte.
»Autsch«, zische ich und will zurückhauen, aber Lin ist schneller und weicht aus. Ihre Reflexe sind unglaublich. Ich vermute, dass das an der Tatsache liegt, dass sie seit der Grundschule Unterricht im Fechten nimmt. Da muss man schließlich auch schnell wie eine Kobra zustechen können.
»Hör auf, so hibbelig zu sein«, gibt sie zurück, ohne den Blick von ihrem vollgeschriebenen Blatt zu nehmen. »Du machst mich nervös.«
Das lässt mich stutzen. Lin ist nie nervös. Zumindest nicht so, dass sie es zugeben oder zeigen würde. Doch in diesem Moment erkenne ich tatsächlich einen Anflug von Beunruhigung in ihren Augen.
»Tut mir leid. Ich kann nicht anders.« Wieder fahre ich die Buchstaben mit den Fingern nach. In den letzten zwei Jahren habe ich alles getan, um mit meinen Mitschülern mithalten zu können. Um besser zu werden. Um allen zu beweisen, dass ich zu Recht auf die Maxton Hall gehe. Und jetzt, wo der Bewerbungsprozess für die Universitäten beginnt, bringt die Aufregung mich fast um. Selbst wenn ich wollte, könnte ich dagegen nichts machen. Dass es Lin ähnlich zu gehen scheint, beruhigt mich allerdings etwas.
»Sind die Plakate eigentlich schon angekommen?«, fragt Lin. Sie schielt zu mir rüber, und eine Strähne ihrer schulterlangen schwarzen Haare fällt ihr ins Gesicht. Sie streicht sie sich ungeduldig aus der Stirn.
Ich schüttle den Kopf. »Noch nicht. Bestimmt heute Nachmittag.«
»Okay. Morgen nach Bio verteilen wir sie, oder?«
Ich deute auf die entsprechende pinkfarbene Zeile in meinem Bullet Journal, und Lin nickt zufrieden. Wieder schaue ich auf die Uhr. Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, erneut mit den Beinen zu wippen. Stattdessen fange ich möglichst unauffällig an, meine Stifte einzupacken. Sie müssen mit der Feder alle in dieselbe Richtung zeigen, deshalb brauche ich ohnehin länger dafür.
Den goldenen Stift jedoch packe ich nicht ein, sondern stecke ihn feierlich in das schmale Gummiband meines Planers. Ich drehe die Kappe so, dass sie nach vorne zeigt. Nur so fühlt es sich richtig an.
Als es schließlich klingelt, schießt Lin schneller von ihrem Stuhl hoch, als ich es für menschlich möglich gehalten hätte. Mit hochgezogenen Brauen schaue ich sie an.
»Guck nicht so«, sagt sie, während sie sich ihre Tasche über die Schulter schiebt. »Du hast angefangen!«
Ich erwidere nichts, sondern verstaue nur grinsend den Rest meiner Sachen.
Lin und ich sind die Ersten, die den Raum verlassen. Mit schnellen Schritten durchqueren wir den Westflügel von Maxton Hall und biegen bei der nächsten Abzweigung nach links ab.
In den ersten Wochen habe ich mich in dem riesigen Gebäude ständig verlaufen und bin mehr als einmal zu spät zu den Unterrichtsstunden gekommen. Mir war das unendlich peinlich, auch wenn die Lehrer nicht müde wurden, mir zu versichern, dass es den meisten Neuankömmlingen in Maxton Hall so geht wie mir. Die Schule gleicht einem Schloss: Sie hat fünf Stockwerke, einen Süd-, West- und Ostflügel und drei Nebengebäude, in denen Fächer wie Musik und Informatik unterrichtet werden. Die Abzweigungen und Wege, auf denen man sich verirren kann, sind unzählig, und dass nicht jede Treppe automatisch auch in jedes Stockwerk führt, kann einen in die Verzweiflung treiben.
Doch während ich am Anfang vollkommen verloren war, kenne ich das Gebäude inzwischen wie meine Westentasche. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich den Weg zu Mr Suttons Büro auch mit verbundenen Augen finden würde.
»Ich hätte mir mein Empfehlungsschreiben auch von Sutton schreiben lassen sollen«, grummelt Lin, während wir den Flur entlanggehen. Venezianische Masken zieren die hohen Wände zu unserer Rechten – ein Kunstprojekt des letzten Abschlussjahrgangs. Ich bin schon das eine oder andere Mal davor stehen geblieben und habe die verspielten Details bewundert.
»Wieso?«, frage ich und notiere mir in Gedanken, unserem Hausmeister zu sagen, dass er die Masken in Sicherheit bringen muss, bevor hier am Wochenende die Back-to-School-Party steigt.
»Weil er uns mag, seit wir die Abschlussfeier letztes Jahr gemeinsam organisiert haben, und er weiß, wie engagiert wir sind und wie hart wir arbeiten. Außerdem ist er jung, ambitioniert und hat selbst gerade erst seinen Abschluss in Oxford gemacht. Gott, ich könnte mich echt ohrfeigen, weil ich nicht auch auf die Idee gekommen bin.«
Ich tätschele Lins Arm. »Mrs Marr hat auch in Oxford studiert. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es besser ankommt, wenn man von jemandem empfohlen wird, der schon ein bisschen mehr Berufserfahrung hat als Mr Sutton.«
Skeptisch sieht sie mich an. »Bereust du etwa, dass du ihn gefragt hast?«
Ich zucke bloß mit den Schultern. Mr Sutton hat Ende des letzten Schuljahres zufällig mitbekommen, wie sehr ich mir wünsche, nach Oxford zu gehen, und mir daraufhin angeboten, ihn über alles, was ich wissen möchte, auszuquetschen. Auch wenn er ein anderes Fach studiert hat, als ich es vorhabe, konnte er mich mit einer ganzen Menge Insiderinformationen versorgen, die ich alle gierig aufgesaugt und später sorgfältig in meinem Planer notiert habe.
»Nein«, antworte ich schließlich. »Ich bin mir sicher, dass er weiß, worauf es in der Empfehlung ankommt.«
Am Ende des Flurs muss Lin links abbiegen. Wir vereinbaren, später noch mal zu telefonieren, und verabschieden uns dann schnell voneinander. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr – fünf vor halb zwei – und lege an Tempo zu. Mein Termin mit Sutton ist um halb zwei, und ich will mich auf keinen Fall verspäten. Ich rausche an den hohen Renaissance-Fenstern vorbei, durch die goldenes Septemberlicht in den Flur geworfen wird, und zwänge mich durch eine Gruppe von Schülern, die in der gleichen royalblauen Schuluniform stecken wie ich.
Niemand nimmt Notiz von mir. So läuft das in Maxton Hall. Obwohl wir alle die gleiche Uniform tragen – blau-grün karierte Röcke für die Mädchen, beige Hosen für die Jungs und maßgeschneiderte dunkelblaue Jacketts für alle –, ist nicht zu übersehen, dass ich hier eigentlich nicht hingehöre. Während meine Mitschüler mit teuren Designertaschen in die Schule kommen, ist der Stoff meines khakigrünen Rucksacks an manchen Stellen mittlerweile so dünn, dass ich jeden Tag damit rechne, dass er reißen wird. Ich versuche mich davon nicht einschüchtern zu lassen, auch nicht von der Tatsache, dass sich manche hier benehmen, als würde ihnen die Schule gehören, nur weil sie aus wohlhabenden Familien stammen. Für sie bin ich unsichtbar, und ich tue alles dafür, dass das auch so bleibt. Bloß nicht auffallen. Bis jetzt hat das gut funktioniert.
Ich dränge mich mit gesenktem Blick an den restlichen Schülern vorbei und biege ein letztes Mal rechts ab. Die dritte Tür auf der linken Seite ist die von Mr Sutton. Zwischen seinem und dem Büro davor steht eine schwere Holzbank, und ich lasse meinen Blick von ihr zu meiner Uhr und wieder zurück wandern. Noch zwei Minuten.
Ich halte es keine Sekunde länger aus. Entschlossen streiche ich meinen Rock glatt, richte mein Jackett und überprüfe, ob meine Krawatte noch an Ort und Stelle sitzt. Dann trete ich an die Tür und klopfe.
Keine Antwort.
Seufzend nehme ich doch auf der Bank Platz und schaue in beide Richtungen des Flurs. Vielleicht holt er sich noch schnell etwas zu essen. Oder einen Tee. Oder Kaffee. Was mich daran denken lässt, dass ich heute besser keinen hätte trinken sollen. Ich war ohnehin schon aufgeregt genug, aber Mum hatte zu viel gekocht, und ich hatte ihn nicht wegkippen wollen. Jetzt zittern meine Hände leicht, als ich einen erneuten Blick auf meine Armbanduhr werfe.
Es ist halb zwei. Auf die Minute genau.
Erneut blicke ich den Gang entlang. Niemand in Sicht.
Vielleicht habe ich nicht laut genug geklopft. Oder – und der Gedanke treibt meinen Puls in die Höhe – ich habe mich vertan. Vielleicht ist unser Termin nicht heute, sondern morgen. Ich zerre hektisch am Reißverschluss meines Rucksacks und hole meinen Planer heraus. Aber als ich hineinschaue, ist alles richtig. Richtiges Datum, richtige Uhrzeit.
Kopfschüttelnd schließe ich meinen Rucksack wieder. Normalerweise bin ich nicht so durch den Wind, aber der Gedanke, dass bei meiner Bewerbung irgendetwas schiefgehen und ich deshalb nicht in Oxford angenommen werden könnte, lässt mich beinahe durchdrehen.
Ich ermahne mich selbst, wieder runterzukommen. Entschlossen stehe ich auf, gehe zur Tür und klopfe erneut.
Diesmal höre ich ein Geräusch. Es klingt, als wäre etwas zu Boden gefallen. Vorsichtig öffne ich die Tür und spähe in das Zimmer.
Mein Herz setzt aus.
Ich habe richtig gehört.
Mr Sutton ist da.
Aber … er ist nicht allein.
Auf seinem Schreibtisch sitzt eine Frau, die ihn leidenschaftlich küsst. Er steht zwischen ihren Beinen, beide Hände um ihre Schenkel gelegt. Im nächsten Moment packt er sie fester und zieht sie nach vorne auf die Tischkante. Sie stöhnt leise in seinen Mund, als ihre Lippen erneut miteinander verschmelzen, und vergräbt die Hände in seinem dunklen Haar. Ich kann nicht erkennen, wo der eine von ihnen anfängt und der andere aufhört.
Ich wünschte, ich könnte meinen Blick von den beiden abwenden. Aber ich schaffe es nicht. Nicht, als er seine Hände noch weiter unter ihren Rock schiebt. Nicht, als ich seinen schweren Atem höre und sie leise »Gott, Graham« seufzt.
Als ich mich endlich aus meiner Schockstarre befreie, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Beine funktionieren. Ich stolpere über die Türschwelle, und die Tür geht so schwungvoll auf, dass sie gegen die Wand knallt. Mr Sutton und die Frau springen auseinander. Er reißt den Kopf herum und sieht mich im Türrahmen. Ich öffne den Mund, um mich zu entschuldigen, aber alles, was ich hervorbringe, ist ein trockenes Keuchen.
»Ruby«, sagt Mr Sutton atemlos. Seine Haare sind völlig zerzaust, die oberen Knöpfe seines Hemds geöffnet, und sein Gesicht ist gerötet. Er kommt mir fremd vor, gar nicht mehr wie mein Lehrer.
Ich spüre, wie mir eine mörderische Hitze in die Wangen jagt. »Ich … tut mir leid. Ich dachte, wir hätten einen …«
Da dreht sich die junge Frau um, und der Rest des Satzes bleibt mir im Hals stecken. Mein Mund klappt auf, und eisige Kälte breitet sich in meinem Körper aus. Ich starre das Mädchen an. Ihre türkisblauen Augen sind mindestens genauso weit aufgerissen wie meine eigenen. Ruckartig wendet sie den Blick ab, senkt ihn auf ihre teuren High Heels, lässt ihn über den Boden schweifen und sieht dann Mr Sutton – Graham, wie sie eben noch geseufzt hat – hilflos an.
Ich kenne sie. Insbesondere kenne ich ihren rotblonden, perfekt gewellten Pferdeschwanz, der in Geschichte immer vor mir baumelt.
In Mr Suttons Unterricht.
Das Mädchen, das hier eben mit meinem Lehrer geknutscht hat, ist Lydia Beaufort.
Mir wird schwindelig. Außerdem bin ich mir sicher, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
Ich starre die beiden an und versuche alles, um die letzten Minuten aus meinem Kopf zu löschen – aber es ist unmöglich. Ich weiß es, und Mr Sutton und Lydia wissen es auch, das kann ich deutlich an ihren schockierten Mienen erkennen. Ich mache einen Schritt zurück, Mr Sutton mit ausgestreckter Hand einen auf mich zu. Ich stolpere erneut über die Türschwelle und kann mich gerade so fangen.
»Ruby …«, fängt er an, aber das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter.
Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne los. Hinter mir kann ich hören, wie Mr Sutton erneut meinen Namen sagt, diesmal deutlich lauter.
Aber ich laufe einfach weiter. Und weiter.
James
Jemand malträtiert mit einem Presslufthammer meinen Schädel.
Das ist das Erste, was ich realisiere, als ich langsam wach werde. Das Zweite ist der nackte warme Körper, der halb auf meinem liegt.
Ich werfe einen Blick zur Seite, aber alles, was ich erkenne, ist eine honigblonde Haarmähne. Ich kann mich nicht daran erinnern, Wrens Party mit jemandem verlassen zu haben. Wenn ich ehrlich sein soll, kann ich mich gar nicht daran erinnern, die Party verlassen zu haben. Ich schließe die Augen wieder und versuche, Bilder vom letzten Abend hervorzurufen, aber alles, was ich noch weiß, sind ein paar unzusammenhängende Gedankenfetzen: Ich, betrunken auf einem Tisch. Wrens lautes Lachen, als ich hinunterstürze und vor seinen Füßen auf dem Boden lande. Alistairs warnender Blick, als ich eng mit seiner großen Schwester tanze und mich fest gegen ihre Rückseite presse.
Oh, fuck.
Vorsichtig hebe ich die Hand und streiche dem Mädchen das Haar aus der Stirn.
Doppel-fuck.
Alistair wird mich umbringen.
Ruckartig setze ich mich auf. Ein stechender Schmerz schießt durch meinen Kopf, und einen Moment lang ist mir schwarz vor Augen. Neben mir grummelt Elaine etwas Unverständliches und dreht sich auf die andere Seite. Gleichzeitig stelle ich fest, dass es sich bei dem Presslufthammer um mein Handy handelt, das auf dem Nachttisch liegt und vibriert. Ich ignoriere es und suche den Boden nach meiner Kleidung ab. Einen Schuh finde ich in der Nähe vom Bett, den anderen direkt vor der Tür unter meiner schwarzen Hose und dem dazugehörigen Gürtel. Mein Hemd liegt über dem braunen Ledersessel. Als ich es überstreife und zumachen will, merke ich, dass ein paar Knöpfe fehlen. Ich stöhne auf und hoffe inständig, dass Alistair nicht mehr da ist. Er braucht weder das zerstörte Hemd zu sehen, noch die roten Kratzer, die Elaine mit ihren pink lackierten Fingernägeln auf meiner Brust hinterlassen hat.
Mein Handy beginnt erneut zu vibrieren. Ich werfe einen Blick auf das Display, und der Name meines Vaters leuchtet mir entgegen. Großartig. Es ist kurz vor zwei an einem Schultag, mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment platzen, und ich hatte mit ziemlicher Sicherheit Sex mit Elaine Ellington. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist die Stimme meines Vaters in meinem Ohr. Entschlossen drücke ich ihn weg.
Was ich jedoch brauche, ist eine Dusche. Und frische Klamotten. Ich schleiche mich aus Wrens Gästezimmer und schließe so leise wie möglich die Tür hinter mir. Auf dem Weg nach unten begegnen mir die Überreste der letzten Nacht – ein BH und mehrere andere Kleidungsstücke hängen über dem Treppengeländer, überall im Foyer sind Becher, Gläser und Teller mit Essensresten verteilt. Der Geruch von Alkohol und Rauch liegt in der Luft. Es ist nicht zu übersehen, dass hier bis vor wenigen Stunden eine Party gefeiert wurde.
Im Salon finde ich Cyril und Keshav. Cyril pennt auf dem teuren weißen Sofa von Wrens Eltern, und Kesh sitzt auf dem Sessel beim Kamin. Auf seinem Schoß hat es sich ein Mädchen bequem gemacht, das die Hände in seinem langen schwarzen Haar vergräbt und ihn leidenschaftlich küsst. Die beiden sehen aus, als würde die Party gerade wieder losgehen. Als Kesh sich kurz von ihr löst und mich entdeckt, wirft er den Kopf in den Nacken und lacht los. Ich zeige ihm im Vorbeigehen den Mittelfinger.
Die opulenten Glastüren, die in den Garten der Fitzgeralds führen, sind weit geöffnet. Ich trete hinaus und muss die Augen zusammenkneifen. Das Sonnenlicht ist nicht sonderlich grell, fühlt sich aber trotzdem an wie ein Stich direkt in meine Schläfe. Vorsichtig blicke ich mich um. Hier draußen sieht es nicht besser aus als im Haus. Eher im Gegenteil.
Auf den Liegen beim Pool finde ich Wren und Alistair. Sie haben ihre Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen. Ich zögere nur einen Moment, dann schlendere ich zu ihnen.
»Beaufort«, sagt Wren erfreut und schiebt die Brille hoch, sodass sie auf seinem krausen schwarzen Haar sitzt. Zwar grinst er breit, aber ich kann trotzdem erkennen, wie fahl seine dunkelbraune Haut wirkt. Er muss einen ziemlichen Kater haben, genau wie ich. »Nette Nacht gehabt?«
»Kann mich nicht richtig erinnern«, antworte ich und wage einen Blick in Alistairs Richtung.
»Fick dich, Beaufort«, sagt dieser, ohne mich anzusehen. Sein Haar schimmert golden in der Mittagssonne. »Ich habe dir gesagt, dass du deine Finger von meiner Schwester lassen sollst.«
Mit dieser Reaktion habe ich gerechnet. Unbeeindruckt hebe ich eine Braue. »Ich habe sie nicht in mein Bett gezwungen. Tu nicht so, als könnte sie nicht selbst entscheiden, mit wem sie Sex haben will.«
Alistair verzieht gequält das Gesicht und gibt ein unverständliches Brummen von sich.
Ich hoffe, dass er sich wieder einkriegen und mir die Sache nicht ewig nachtragen wird, schließlich kann ich es nicht mehr rückgängig machen. Und eigentlich habe ich auch keine Lust, mich vor meinen Freunden zu rechtfertigen. Das muss ich zu Hause schon oft genug.
»Wehe, du brichst ihr das Herz«, sagt Alistair nach einer Weile und sieht mich durch die spiegelnden Gläser seiner Pilotenbrille an. Obwohl ich seine Augen nicht erkennen kann, weiß ich, dass sein Blick nicht wütend, sondern eher resigniert ist.
»Elaine kennt James, seit sie fünf ist«, wirft Wren ein. »Sie weiß genau, was sie von ihm zu erwarten hat.«
Wren hat recht. Elaine und ich wussten gestern beide, worauf wir uns einlassen. Und auch wenn ich mich an kaum etwas erinnern kann, habe ich ihre atemlose Stimme noch deutlich im Ohr: Das passiert nur ein Mal, James. Ein einziges Mal.
Alistair will es nicht wahrhaben, aber seine Schwester ist genauso wenig ein Kind von Traurigkeit wie ich.
»Wenn deine Eltern das erfahren, werden sie augenblicklich eure Verlobung ankündigen«, fügt Wren nach einer Weile amüsiert hinzu.
Ich verziehe die Mundwinkel missmutig. Meine Eltern sind schon seit Jahren scharf darauf, mich mit Elaine Ellington zu verloben – oder irgendeiner anderen Tochter einer wohlhabenden Familie mit riesigem Erbe. Aber mit achtzehn habe ich deutlich Besseres zu tun, als auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was oder wer nach meinem Schulabschluss auf mich zukommt.
Auch Alistair schnaubt verächtlich. Er scheint genauso wenig angetan zu sein von der Idee, mich demnächst als neues Mitglied seiner Familie begrüßen zu dürfen. Gespielt gekränkt drücke ich mir die Hand auf die Brust. »Das klingt ja fast, als möchtest du nicht, dass ich dein Schwager werde.«
Jetzt schiebt er die Brille hoch in sein gewelltes Haar und funkelt mich aus dunklen Augen an. Langsam wie ein Raubtier erhebt er sich von der Liege. Obwohl er eine schlanke Figur hat, weiß ich, wie stark und schnell er sein kann. Das habe ich beim Training oft genug am eigenen Leib erfahren.
Der Blick, mit dem er mich ansieht, lässt mich erahnen, was er vorhat.
»Ich warne dich, Alistair«, knurre ich und mache einen Schritt nach hinten.
Es geht schneller, als ich blinzeln kann. Plötzlich steht er direkt vor mir. »Ich habe dich auch gewarnt«, erwidert er. »Hat dich leider nicht interessiert.«
Im nächsten Moment versetzt er mir einen heftigen Stoß vor die Brust. Ich stolpere nach hinten, direkt in den Pool. Der Aufprall treibt mir die Luft aus der Lunge, und einen Moment lang weiß ich nicht, wo oben und unten ist. Das Wasser rauscht in meinen Ohren, die pochenden Kopfschmerzen kommen mir unter Wasser noch viel schlimmer vor.
Dennoch tauche ich nicht sofort auf. Ich lasse meinen Körper schlaff werden und verharre in derselben Position, mit dem Gesicht nach unten. Ich starre auf die Kacheln des Pools, die ich von hier nur verschwommen erkennen kann, und zähle in Gedanken die Sekunden. Für einen Moment schließe ich die Augen. Es ist beinahe friedlich still. Nach einer halben Minute geht mir allmählich die Luft aus, und der Druck auf meiner Brust nimmt zu. Ich lasse eine letzte dramatische Luftblase nach oben steigen, warte weiter, und dann …
Alistair springt in den Pool und packt mich. Er reißt mich mit sich an die Oberfläche, und als ich die Augen aufmache und seinen geschockten Blick sehe, muss ich gleichzeitig losprusten und nach Luft schnappen.
»Beaufort!«, schreit er fassungslos und stürzt sich auf mich. Seine Faust landet in meiner Seite – verdammt, seine Schläge sind hart –, und er versucht, mich in den Schwitzkasten zu nehmen. Dadurch, dass er kleiner als ich ist, funktioniert das nicht so, wie er es sich erhofft hat. Wir rangeln einen Moment, dann bekomme ich ihn zu fassen. Mit Leichtigkeit hebe ich ihn hoch und schmeiße ihn so weit wie möglich von mir. Wrens Lachen dringt an mein Ohr, als Alistair mit einem lauten Platschen untergeht. Als er wieder auftaucht, starrt er mich einen Moment lang so wütend an, dass ich erneut losprusten muss. Alistair hat, wie alle Ellingtons, ein totales Engelsgesicht. Selbst wenn er bedrohlich aussehen will – seine hellbraunen Augen gepaart mit den blonden Locken und seinen scheißperfekten Gesichtszügen machen das einfach unmöglich.
»Du bist ein Wichser der übelsten Sorte«, sagt er und spritzt mir einen Schwall Wasser entgegen.
Ich wische mir mit der Hand übers Gesicht. »Tut mir leid, Mann.«
»Schon okay«, erwidert er, bespritzt mich aber weiter mit Wasser. Ich breite die Arme aus und lasse es über mich ergehen. Irgendwann hört er auf, und als ich ihn ansehe, schüttelt er nur lachend den Kopf.
Da weiß ich, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.
»James?«, erklingt eine vertraute Stimme.
Ich wirble herum. Meine Zwillingsschwester steht am Beckenrand und verdeckt die Sonne. Sie war gestern nicht auf der Party, und einen Moment lang glaube ich, dass sie mir die Hölle heißmachen will, weil ich mit den Jungs heute den Unterricht geschwänzt habe. Aber dann schaue ich richtig hin, und mir wird eiskalt: Ihre Schultern sind schlaff, die Arme hängen kraftlos neben ihrem Körper. Unsere Blicke meidend, starrt sie auf ihre Füße.
So schnell ich kann, schwimme ich zu ihr und steige aus dem Pool. Mir ist egal, wie nass ich bin, ich fasse sie bei den Oberarmen und zwinge sie, den Kopf zu heben und mich anzusehen. Mein Magen macht einen Salto. Lydias Gesicht ist rot und geschwollen. Sie muss geweint haben.
»Was ist los?«, frage ich und halte sie ein bisschen fester an den Armen. Sie will den Kopf wegdrehen, aber das lasse ich nicht zu. Ich umfasse ihr Kinn, damit sie meinem Blick nicht ausweichen kann.
In ihren Augen schimmern Tränen. Meine Kehle wird trocken.
»James«, flüstert sie heiser. »Ich habe Mist gebaut.«