Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Zitat
  7. 1 Die Erbschaft
  8. 2 Die Reise
  9. 3 Die Kamelieninsel
  10. 4 Der Investor
  11. 5 Die Vertrauensfrage
  12. 6 Der Zauber der Insel
  13. 7 Die Wahrheit
  14. 8 Der Sturm
  15. 9 Die Versöhnung
  16. 10 Der Termin
  17. 11 Der Exodus
  18. 12 Lucies Vermächtnis
  19. 13 Die Demonstration
  20. 14 Der Engländer
  21. 15 Die Rückkehr
  22. 16 Das Wiedersehen
  23. Epilog Sylviana
  24. Danksagung

Tabea Bach

DIE
KAMELIEN-
INSEL

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

 

Für meine Mutter,
die mir zeigte, was es bedeutet,
bedingungslos zu lieben.

 

Ein Tropfen Liebe ist mehr
als ein Ozean Verstand.

Blaise Pascal

1
Die Erbschaft

Der Himmel glühte in feurigen Farben und spiegelte sich tausendfach im Lack der Fahrzeuge, die sich in einer endlosen Kolonne auf der Schnellstraße Zentimeter für Zentimeter voranschoben. Sylvia, die mitten darin in einem Taxi festsaß, konnte das Schauspiel der fedrigen Wolkenformationen, die jeden Augenblick in einem anderen Gelborangeton aufleuchteten, allerdings nicht genießen. Zum hundertsten Mal sah sie auf ihre Armbanduhr, sich darüber bewusst, dass die Zeit unerbittlich weiterlief. Und dass sie es mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffen würde.

Sylvia seufzte. Es war jener Freitag, an den ihr Mann Holger sie immer wieder erinnert hatte. Und wie außerordentlich wichtig der Termin dort draußen am Starnberger See für ihn sei. Und dass sie sich unter keinen Umständen verspäten dürfe. Sie hatte extra einen Flug früher genommen, hatte den Termin mit ihrem Auftraggeber fast schon unhöflich kurz gehalten, war zum Flughafen geeilt, hatte eingecheckt und war an Bord gegangen, nur um dort gemeinsam mit den übrigen Passagieren startbereit und angeschnallt mehr als eine Stunde warten zu müssen. In regelmäßigen Abständen hatte sie der Flugkapitän darüber informiert, dass sie die Genehmigung zum Starten noch immer nicht erhalten hatten. Und jetzt standen sie im Stau auf dem Weg in die Münchener Innenstadt.

In diesem Moment hörte man ein Martinshorn, dann ein zweites, ein drittes. Die zweispurige Autokolonne schob sich scheinbar widerstrebend auseinander, um Platz für Polizei und Rettungswagen zu machen.

»Was meinen Sie?«, fragte Sylvia, »könnten Sie sich an den dranhängen?« Der Fahrer riss das Steuer herum, trat aufs Gaspedal, sodass Sylvia unsanft gegen ihre Rückenlehne gedrückt wurde, und folgte den Rettungswagen, als gehörte er zu einer Spezialeinheit. Auf einmal ging alles ganz schnell. Unbehelligt passierten sie auf dem Seitenstreifen die Unfallstelle, und zehn Minuten später hielt das Taxi in der Königinstraße. »Das haben Sie großartig gemacht«, sagte Sylvia, bezahlte die Rechnung, gab ein großzügiges Trinkgeld und bestellte den Fahrer für den nächsten Morgen um Viertel nach sieben.

»Wo soll die Fahrt hingehen?«

»Wieder zum Flughafen«, antwortete Sylvia und lachte, als sie das verdutzte Gesicht des Taxifahrers sah.

Am überquellenden Briefkasten erkannte sie erleichtert, dass ihr Mann noch nicht nach Hause gekommen war. Im Fahrstuhl sah sie den Poststapel kurz durch. Unter dem weißgrauen Einerlei der Geschäftspost stach eine Postkarte aus Venedig mit einer Ansicht der Seufzerbrücke hervor. Sylvia drehte sie um und musste lachen.

Liebste Sylvia, stand da in einer ausdrucksvollen Frauenhandschrift, bereu es ruhig, dass du nicht mitgekommen bist. Ich trinke einen Spritz für dich mit. Baci, Veronika.

Mit einem leisen Klingelton kam der Fahrstuhl zum Stehen. Veronika hatte gut spotten – als Übersetzerin technischer Texte konnte sich ihre Studienfreundin die Arbeit einteilen. Immer wieder quälte sie Sylvia mit den verrücktesten Ideen: Lass uns doch mal nach Venedig fahren und Spaß haben! Bitte, bitte! Nur ein einziges verlängertes Wochenende!

Dass auch Sylvia in der Lage wäre, ihre Arbeitszeiten selbst zu bestimmen, wie Veronika immer wieder völlig richtig bemerkte, war nur in der Theorie der Fall. Tatsächlich schaffte sie es schon seit zwei Jahren nicht mehr, sich auch nur eine einzige Woche freizunehmen.

Während sie die Tür zu ihrer Wohnung, einem großzügigen Penthouse direkt am Englischen Garten, aufschloss, fiel ihr zum Glück noch ein, dass sie Sandra herbestellt hatte. Sie waren einst im selben Mietshaus groß geworden und sozusagen Freundinnen aus Kindertagen. Sandra war Visagistin geworden, und nun half sie Sylvia gelegentlich, sich für die Partys und Empfänge zu stylen, die diese mit ihrem Mann, der ein erfolgreicher Immobilienmakler war, immer wieder zu besuchen hatte. Sandra hatte einen Wohnungsschlüssel und kam ihr schon entgegen.

»Da bist du ja endlich«, rief sie und strahlte Sylvia an. »Lass mich raten: Der Flug hatte Verspätung? Du Ärmste!«

»Es war zudem noch die Hölle auf der Straße …« Sylvia seufzte und verfrachtete ihren Aktenkoffer ins Arbeitszimmer, hängte ihren Mantel an die Garderobe und streifte die hochhackigen Pumps ab. »Freitagabend eben.«

»Na, da wird dir eine schöne Wohlfühlmassage guttun«, bemerkte Sandra. »Ich hab schon alles vorbereitet. Welches Öl magst du lieber: Rose oder Limette?«

Das nun fast violett schimmernde Abendlicht fiel durch die große Fensterfront in Sylvias Schlafzimmer, wo Sandra bereits die Massageliege aufgebaut und ihren Make-up-Koffer bereitgestellt hatte. Über den Dächern von Schwabing stand noch die Sonne, während in den Baumwipfeln des Englischen Gartens bereits die Schatten hingen. Doch Sylvia hatte keinen Blick für die Schönheiten der Umgebung.

»Für eine Massage hab ich keine Zeit, Sandra. In einer halben Stunde muss ich gestiefelt und gespornt sein, das hab ich Holger versprochen. Hilfst du mir?«

Zwanzig Minuten später war Sylvia geduscht, Sandra hatte ihr halblanges dunkelblondes Haar zu einer eleganten Frisur hochgesteckt und sie perfekt geschminkt.

»Was ziehst du an?«, fragte Sandra.

Sylvia ging zu ihrem Schrank, griff vorsichtig nach einem rauchblauen Seidenkleid und hielt es vor sich. »Wie findest du das?«

Sandra nahm das Kleid, öffnete den Reißverschluss und half Sylvia hinein. »Das ist vielleicht mal ein raffinierter Schnitt«, sagte sie anerkennend und zog den Rückenverschluss vorsichtig zu. »Was für eine tolle Figur du hast, Sylvia! Und die Farbe bringt deine Augen richtig zum Leuchten! Das Kleid ist wie für dich gemacht.«

»Schau mal, dazu passen die doch gut, oder?«

Sylvia holte eine Schmuckschatulle aus der Schublade ihrer Kommode und öffnete sie. Zum Vorschein kamen zwei prächtige Diamantohrgehänge.

»Wahnsinn! Sind das die, die dir Holger zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hat?«, fragte Sandra. »Sylvia, du … du bist die glücklichste Frau, die ich kenne.«

Sylvia schwieg verlegen, während Sandra ihr half, die Ohrringe anzulegen. Sie wusste, dass ihre Freundin, die seit einem halben Jahr geschieden war, sie beneidete. Zwischen ihr und ihrem Ex Martin tobte ein erbitterter Kampf um das Reihenhaus draußen in Ismaning, das sie gemeinsam bewohnt hatten, und um jeden weiteren Cent. Während Martin mit seiner viel jüngeren neuen Partnerin eine Weltreise machte, musste Sandra sehen, wie sie über die Runden kam. Sie war selbstständig, und das Geschäft lief nicht sonderlich gut.

Auch das war ein Grund, warum Sylvia Sandra so oft wie möglich buchte, selbst wenn sie am Ende nie die Zeit hatte, das volle Wohlfühlprogramm in Anspruch zu nehmen. Sylvia wusste aus eigener Erfahrung, wie es war, jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen, ehe man ihn ausgab. Der Wohlstand, in dem sie mit Holger heute lebte, war ihr keineswegs in die Wiege gelegt worden. Auch sie hatte schon andere Zeiten durchgemacht und erlebte Tag für Tag während der Arbeit, wie sich durch ein paar wenige unglückliche Entscheidungen ein Leben vollständig wenden konnte. Und eines wollte Sylvia nie wieder werden: arm. Deshalb half sie Sandra gern aus und bezahlte sie großzügig.

»Allein diese Partys«, schwärmte Sandra weiter. »Wie sehr ich dich darum beneide. All die Promis, die du dort triffst. Und alle engagieren sie Holger, wenn sie eine Villa suchen …«

Wie aufs Stichwort stürmte Sylvias Mann zur Tür herein.

»Bist du fertig, Sylvia?«, rief er, während er sich seine Krawatte band. Wie immer sah er ausgesprochen gut aus, seine schlanke, durchtrainierte Golferfigur steckte in einem schwarzen Maßanzug.

»Das kann man sagen«, antwortete Sylvia. »Aber wie wär’s zuerst mit einer Begrüßung?«

Holger warf über Sylvias Schulter hinweg einen prüfenden Blick auf sein Spiegelbild. Dann nickte er Sandra kurz zu und sah Sylvia zum ersten Mal richtig an.

»Entschuldige, mein Schatz«, sagte er und gab ihr von hinten einen Kuss auf die Wange. »Du siehst toll aus. Können wir los?«

Fünf Minuten später saß Sylvia neben ihrem Mann in dessen Porsche Spyder. Holger steuerte den schnittigen Wagen aus der Stadt und über die E533 in Richtung Starnberg. Ein paar Kilometer weiter, in der Nähe von Bernried, hatte der Schauspieler Sebastian Schnell zur Housewarming Party in seine frisch über Holgers Immobilienfirma erworbene Traumvilla geladen, und zwar die Schönsten und Reichsten der Republik samt der Prominenz aus Film und Fernsehen. Keiner außer dem Gastgeber, Holger und ihr wusste, dass sich der Schauspieler vertraglich zu dieser Party verpflichtet hatte, um der Immobilienfirma potenziell kaufkräftige Kunden zuzuführen. Dafür hatte Holger ihm einen Teil des Kaufpreises erlassen. Die Gäste ahnten natürlich auch nicht, dass keineswegs Sebastian Schnell selbst, sondern Holger die Party finanzierte.

»Dafür muss dieser Abend aber mindestens drei Neukunden bringen«, hatte Sylvia ihrem Mann bei einem Sonntagmorgenfrühstück, einer der seltenen gemeinsamen Mahlzeiten, vorgerechnet, »sonst zahlst du drauf.« Nicht umsonst war sie Unternehmensberaterin. Sie fand es bedauerlich, dass ihr eigener Mann ihre Kompetenzen nie in Anspruch nahm, aber vielleicht war es besser so. Ein Mann, der auf den professionellen Rat der eigenen Frau hörte, musste wohl erst noch geboren werden. Und schließlich hatten sie von Anfang an eine klare Abmachung getroffen: Keiner mischte sich in die Geschäfte des anderen ein, es sei denn, der andere fragte ihn um seinen Rat. Oder um »Beistand«, so wie Holger, wenn er Sylvia bat, ihn zu den mondänen Anlässen seiner Kunden zu begleiten.

Die nächsten Stunden stand Sylvia strahlend neben ihrem Mann, begrüßte Menschen, die sie allenfalls im Fernsehen oder auf der Kinoleinwand gesehen hatte, und tauschte persönlich klingende Unverbindlichkeiten mit ihnen aus. Holger wusste genau, warum er seine Frau bei diesen Gelegenheiten unbedingt dabeihaben wollte. Sylvia sprach fließend Englisch, Französisch und Italienisch und verstand es außerdem, Menschen, die sie selbst nicht kannte, miteinander bekannt zu machen, ja sogar hartnäckige Einzelgänger zu integrieren. Sie hatte das Gespür, die Gäste zum richtigen Zeitpunkt zum Lachen zu bringen oder sich selbst fast unsichtbar zu machen. Sie wurde auch angesichts von Weltstars nicht verlegen, behandelte jeden mit derselben natürlichen Freundlichkeit und war deswegen sehr beliebt.

Auch dieser Abend verlief ganz zu Holgers Zufriedenheit. Der offizielle Gastgeber, Sebastian Schnell, sonnte sich im Licht seiner neuen Villa mit Seegrundstück samt Bootshaus, und Holger überreichte Visitenkarte um Visitenkarte, sprach hinter vorgehaltener Hand von Traumobjekten in der Toskana, im Tessin, in Cornwall, an der Loire oder auf Sylt, einzigartige Perlen, die angeblich so gut wie nie auf den Markt kamen und die er nur für ganz besondere Kunden reserviert hielt.

Als Sylvia später am Abend sah, dass ihr Mann in seinem Element war und die verbliebenen Gäste zufrieden in kleinen Gruppen beieinandersaßen, folgte sie einem Impuls und verließ unauffällig die Party. Sie überquerte die verlassene Terrasse, zog ihre Schuhe aus und ging barfuß in der Dunkelheit hinunter bis ans Ende des Bootsstegs. Ein Ruderboot dümpelte im Wasser, das glucksend gegen die Bohlen platschte. Am gegenüberliegenden Ufer glitzerten die Lichter von Ambach. Dann plötzlich, so als hätte jemand eine riesige Laterne entzündet, kam der volle Mond hinter einer Wolke hervor und tauchte den See, das Ufer und Sylvia in sein silbernes Licht.

Sylvia hielt den Atem an. Es waren solche Momente, die ihr immer wieder Kraft gaben, die Kraft, die sie benötigte, um in der Hektik ihres Berufsalltags den Anforderungen, die von allen Seiten an sie gestellt wurden, gerecht zu werden. Und genau so wollte sie es auch. Während das Mondlicht auf den gekräuselten Wellen des Sees zu zittern schien, atmete Sylvia tief aus. Ein Gefühl von Zufriedenheit durchströmte sie. Sie hatte mit ihren fünfunddreißig Jahren alles erreicht, was sie sich bereits als kleines Mädchen vorgenommen hatte. Sie hatte einen wunderbaren Mann und einen Beruf, der ihr gutes Geld einbrachte und sie vor finanziellen Sorgen bewahrte …

»Sylvia!«, ertönte Holgers Stimme von der Terrasse.

Sylvia schreckte auf, zog ihre Schuhe wieder an, lief den Steg entlang und zum Grundstück zurück. Dort fand sie ihren Mann in einer lebhaften Diskussion mit Thomas Waldner, ihrem guten Freund, Anwalt und Steuerberater.

»Hier bin ich«, rief sie und ging auf die beiden zu.

Holger fuhr bei ihrem Anblick zusammen und verstummte mitten im Satz. »Wo bist du gewesen?«, fragte er schroff.

»Ich hab mir den Mond angesehen, sieh doch nur …«

Doch Holger wandte nicht einmal den Kopf.

»Wir sollten dringend einen Termin machen, Sylvia«, sagte Thomas, »und zwar zu dritt.«

»Gern«, antwortete Sylvia. »Das ist wahrscheinlich längst einmal wieder fällig.« Und als sie Thomas’ ernstes Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Gibt es Probleme?«

»Nein. Wie kommst du darauf?«, antwortete Holger rasch und nahm ihren Arm. »Thomas hat alles im Griff. Wie immer. Komm, lass uns die Abschiedsrunde einläuten.« Und damit zog er sie zurück in die Villa.

Sebastian Schnell hatte mehr getrunken, als ihm guttat, und gerade als sie sich von ihm verabschieden wollten, verfiel er auf die Idee, sie alle könnten doch noch ein Mitternachtsbad im See nehmen. »Im Adams- und Evakostüm, so wie der Herr Regisseur im Himmel uns erschaffen hat.«

Es dauerte eine weitere Stunde, bis Holger ihn davon abbringen konnte. Er sorgte dafür, dass Schnell nicht im letzten Moment den Abend noch ruinierte, sondern sich in seine Privaträume zurückzog, um zu Bett zu gehen. Das tue er nur, wie er Holger mindestens ein Dutzend Mal versicherte, und ausschließlich nur der reizenden Gattin Sylvia zuliebe, die ein Engel sei und die er, der Halsabschneider Holger von Gaden, auf keinen Fall verdient habe.

Es war schließlich zwei Uhr, als Sylvia wie immer den Autoschlüssel in Empfang nahm, um ihren Mann, der an solchen Abenden natürlich mit viel zu vielen Menschen anstoßen musste und sich besser nicht mehr hinters Steuer setzte, nach München zurückzufahren, und schon fast drei Uhr, bis sie endlich ihr Make-up und alle Nadeln aus ihrer Hochsteckfrisur entfernt hatte. Sie packte ihren Aktenkoffer und die Reisetasche für das Wochenendtraining, zu dem einer ihrer besten Kunden, der Manager eines Global Players, seine Mitarbeiter verdonnert hatte, und stellte den Wecker auf sechs Uhr dreißig. Dann sank sie in die Kissen und fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.

»Weißt du eigentlich«, sagte Holger beim Sonntagsfrühstück eine gute Woche später, »dass du geerbt hast?« Er köpfte gerade sein Ei mit einer Akkuratesse, die Sylvia zusammenzucken ließ.

»Geerbt? Ich? Machst du Scherze?«

Holger streute sorgfältig Salz auf sein Ei und bohrte seinen Perlmutteierlöffel dann in den Dotter. »Du hast mir nie von Lucie Hofstetter erzählt.«

Sylvia ließ ihre Tasse sinken. »Was ist mit Tante Lucie?«

Holger blickte auf und hob die Augenbrauen. »Sie ist gestorben, und du bist ihre Erbin.«

»Sie ist gestorben?«

»Sieh an«, feixte Holger. »Da kennt man sich eine halbe Ewigkeit, ist seit zehn Jahren miteinander verheiratet und hat doch noch Geheimnisse voreinander. In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis standest du zu ihr?«

»Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter.«

»Bei unserer Hochzeit war sie nicht, oder? Und auch sonst hast du nie von einer Tante Lucie erzählt.«

Sylvia schwieg betroffen. Holger hatte recht. Seit vielen Jahren hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Tante gehabt. Sylvia war ein kleines Mädchen gewesen, als sie Lucie das letzte Mal gesehen hatte. Damals hatte es irgendeinen schrecklichen Streit in der Familie gegeben, danach war der Name Lucie Hofstetter nie wieder erwähnt worden. Sie war selbst dabei gewesen, als es jemand dennoch gewagt hatte. Ihr Großvater hatte einen solchen Tobsuchtsanfall erlitten, dass ihn fast der Schlag getroffen hätte.

Worum war es bei diesem Familienskandal eigentlich gegangen?

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Sylvia blickte auf und direkt in Holgers dunkle, vorwurfsvolle Augen.

»Ent … entschuldige«, stammelte sie, »es kommt nur so … so überraschend. Woher weißt du das alles?«

»Aus dem Schreiben eines französischen Nachlassgerichts. Deine Tante hat dir einen Trümmerhaufen vermacht, am Ende der Welt.«

»Einen Trümmerhaufen?«

»Eine Gärtnerei. Total heruntergekommen. Ich hab sie mir angeschaut vergangene Woche. Ich war ja ohnehin in Frankreich. Die Schwester deiner Mutter mag eine reizende Dame gewesen sein, aber wirtschaften konnte sie nicht. Jedenfalls hast du dein Talent nicht von ihr geerbt. Sie war bankrott und hat dir jede Menge Schulden hinterlassen.«

In Sylvias Kopf drehte sich alles. Da sie beide so viel reisten, kümmerte sich der, der gerade zu Hause war, um die Post. In der Regel informierten sie den jeweils anderen über das Wichtigste.

»Du warst sogar schon dort?«, wunderte sie sich. »Aber … warum erfahr ich das erst jetzt?«

»Du warst doch in Hamburg. Und kaum zu erreichen. Und danach hatte ich wie gesagt an der Loire zu tun. Ich dachte, ich tu dir einen Gefallen, wenn ich mich darum kümmre. Das Schreiben sah so offiziell aus. Ich hab’s gut gemeint. Ich wollte dir das abnehmen. Tut mir leid, wenn es dir nicht recht ist …«

»Natürlich ist es mir recht«, lenkte Sylvia ein. »Das ist wirklich lieb von dir, Holger. Ich bin nur … Na ja, sie war meine Tante. Auch wenn wir keinen Kontakt mehr hatten … war sie doch meine letzte Verwandte, nachdem Mama gestorben war …«

»Das haben die Ämter dort auch herausgefunden. Hat wohl eine Weile gedauert, deine Tante Lucie Hofstetter ist schon seit einigen Monaten tot …«

Tante Lucie … Auf einmal war sie da, die Erinnerung, so frisch wie jener Morgen am Meer. Sylvia war damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen, und auf einmal sah sie alles wieder ganz deutlich vor sich: Sie trug ein Kleid mit mauvefarbenen Blüten, das aus demselben Stoff genäht war wie Lucies Kleid. Ihre Tante war noch jung, Mitte zwanzig ungefähr, und gemeinsam liefen sie einen Strand entlang, lachend, einander jagend. Lucie hatte dasselbe dunkelblonde Haar wie sie heute, dieselben kornblumenblauen Augen, dasselbe Lachen. Auf einmal wurde Sylvia bewusst, dass jenes kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, Lucie sehr gemocht hatte, damals, in jenem Sommer am Meer. Sie hörte ihre Stimme: Komm, Sylvie, komm schneller! Sie nahm den Duft ihrer Haut wahr, spürte die Berührung ihres Armes, wenn sie den eigenen, so viel kleineren, dagegenpresste, um zu prüfen, wer von ihnen beiden gebräunter war. Und sie fühlte sich wieder hochgehoben, hörte sich juchzen und schreien und darum betteln, die Tante möge sie wieder und wieder in die Lüfte werfen …

»Sylvia«, riss Holger sie aus ihrer Erinnerung, »ist alles in Ordnung mit dir?«

Sylvia fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Was? Ja … alles in Ordnung«, versicherte sie. »Ich bin dir wirklich dankbar, dass du das in die Hand genommen hast. Was … was wollen wir wegen der Schulden unternehmen?«

Holger nahm einen Schluck Kaffee und wischte sich danach mit seiner Serviette sorgfältig den Mund ab.

»Zum Glück«, fuhr er fort, »gehört ziemlich viel Land zu der Gärtnerei. Ich hab eine Idee, wem ich es zum Kauf anbieten könnte. Einer meiner Kunden sucht schon lange ein Objekt in der Art. Ich bin sicher, er wird begeistert sein. Wenn er interessiert ist und du einverstanden bist, können wir das Grundstück zu Geld machen. Du könntest die Schulden damit begleichen. Darüber hinaus würde dir sicher noch ein schönes Sümmchen bleiben. Quasi als Erinnerung an deine Tante Lucie.«

Eine Gärtnerei, das sah Lucie ähnlich. Sylvia erinnerte sich jetzt auch daran, dass ihre Tante sich schon damals für Blumen und Pflanzen interessiert hatte. Wie schade, dass sie offenbar geschäftlich gescheitert war. Sylvias Mutter hatte jedes Mal die Lippen zusammengepresst, wenn die Rede auf ihre jüngere Schwester gekommen war. Und sich geweigert, auch nur ein Wort zu dem verhängnisvollen Skandal zu sagen. Und so hatte Sylvia ihre junge Tante mit der Zeit vergessen. Hatte die Briefe, die sie in den Jahren nach den Geschehnissen von ihr erhalten hatte, unbeantwortet gelassen. Nicht weil sie keinen Kontakt gewollt hatte, sondern weil sie zuerst noch zu klein und dann immer zu beschäftigt gewesen war. Abitur, Studium … Sie hatte Betriebswirtschaft studiert und war gleichzeitig auf die Übersetzerschule gegangen. Nun war sie nicht nur Unternehmensberaterin, sondern auch staatlich geprüfte Übersetzerin für Englisch, Französisch und Italienisch. Da hatte vieles zurückstehen müssen.

Sylvia war noch ein Baby gewesen, als ihr Vater gestorben war, und ihre Mutter hatte sie nicht finanziell unterstützen können. Deswegen musste sich Sylvia ihren Lebensunterhalt immer selbst verdienen, was sie nicht daran hinderte, ausgezeichnete Universitätsabschlüsse abzulegen. Danach war sie in die USA gegangen, um ihren Master zu machen und nebenher in renommierten Unternehmensberatungsfirmen zu arbeiten. In Los Angeles hatte sie auf einem Empfang Holger kennengelernt. Der hatte mit sanfter Hartnäckigkeit um sie geworben, sodass sie schließlich nachgegeben und das verlockende Angebot, in eine weltberühmte Consultingkanzlei einzusteigen, ausgeschlagen hatte, um nach München zurückzukehren und sich selbstständig zu machen. Für ihre Tante war kein Platz mehr in ihrem geschäftigen Leben gewesen.

Jetzt war es zu spät. Lucie war tot. Sylvia würde nie erfahren, warum die Familie Hofstetter sie damals so herzlos ausgestoßen hatte.

»Dann bist du einverstanden?« Sylvia hob den Kopf und blickte Holger verwirrt an. »Ich meine, möchtest du, dass ich den Verkauf in deinem Namen tätige, falls ich meinen Kunden überzeugen kann?«

»Ja«, sagte Sylvia. Sie fühlte, wie plötzlich alles von ihr abfiel: die Kindheitserinnerungen an die junge Lucie, die Reue über die verpassten Gelegenheiten, die ungenutzten Chancen eines Wiedersehens. »Ich denke, das wird das Beste sein. Danke, dass du dich darum kümmerst.«

Als Holger ihr nach dem Frühstück die Vollmachten vorlegte, unterschrieb Sylvia, ohne zu zögern, alle notwendigen Dokumente.

Die folgenden zwei Wochen vergingen wie im Flug. Sylvias Terminkalender war eine einzige logistische Herausforderung. Von einem Mitarbeitertraining in einem Frankfurter Versicherungsunternehmen flog sie direkt nach Berlin, wo sie die Personalstrukturen eines Zeitungsverlags unter die Lupe nahm. Zwischen zwei Terminen in Stuttgart schaffte sie sogar noch einen »Feuerwehreinsatz«, wie sie kurzfristige, brisante Krisensitzungen nannte. Ein Unternehmer und dessen Sohn taten sich mit dem Generationswechsel schon seit Monaten schwer und brauchten dringend professionelle Unterstützung.

Als sie nach diesem Gespräch zufrieden, aber erschöpft zu Hause eintraf, wartete zu ihrer Überraschung Holger schon auf sie.

»Zieh dir was Schönes an«, bat er sie und nahm sie in die Arme, »heute gehen wir aus.«

Sylvia lachte. »Lass mich doch erst mal ankommen. Ich bin total erledigt. Zu welchem Kunden geht es dieses Mal?«

»Zu keinem Kunden«, sagte Holger ernst. »Heute Abend feiern wir uns selbst.«

Sylvia sah ihren Mann überrascht an. Dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht. Das hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Sich selbst zu feiern – das war früher für sie beide ein festes Ritual gewesen. Es bedeutete, dass sie miteinander ausgingen, einfach so, ohne beruflichen Anlass.

»Gib mir eine halbe Stunde«, sagte sie begeistert, »dann bin ich zu allem bereit.«

Als sie später in dem Restaurant, in das Holger sonst nur seine besten Kunden einlud, bei Kerzenschein einander gegenübersaßen und der Kellner die Empfehlungen des Tages aufzählte, fühlte Sylvia auf einmal die Müdigkeit der vergangenen Wochen, ja, Monate. Sie war so erschöpft, dass für einen kurzen Augenblick das Gesicht des jungen Kellners zu flimmern schien und sie gar nicht aufnehmen konnte, was er sagte. Dann schwieg er und sah sie erwartungsvoll an, doch da war der Moment der Schwäche auch schon vorbei.

»Ich nehme den Fisch«, sagte sie mit fester Stimme, darauf vertrauend, dass wie immer auch ein Fischgericht auf der Tageskarte stand.

»Den Loup de Mer oder den Zander?«, frage der Kellner höflich.

»Den Loup de Mer.«

Während ein Amuse Gueule gereicht wurde, die Aufmerksamkeit des Hauses – ein herzförmiges kleines Omelette, belegt mit einem Hauch von Beluga-Kaviar –, und der Sommelier ihnen beiden ein wenig von dem Wein ins Glas schenkte, den sie zuvor ausgesucht hatten, versuchte Sylvia sich in ihr jüngeres Selbst hineinzuversetzen und dieselbe Freude und Aufregung zu verspüren, die sie in den ersten Jahren ihrer Ehe bei solchen Gelegenheiten empfunden hatte. Sie nahm ihr Glas und atmete tief das zarte Bouquet des vorzüglichen Chardonnay ein. Ihre Augen suchten Holgers Blick, doch der verzog das Gesicht.

»Bitte bringen Sie uns eine neue Flasche«, sagte er. »Dieser hier schmeckt nach Korken.«

Der Mann verneigte sich leicht, nahm die Flasche und verschwand. Wenig später kam er mit einer neuen und mit sauberen Gläsern zurück und zeigte Holger das Etikett. Der nickte. Der Kellner öffnete die Flasche mit wenigen, fachmännischen Griffen und schenkte Holger ein wenig davon ein. Der nahm das Glas, ließ die Flüssigkeit darin kreisen, roch ausgiebig daran, nahm endlich einen Schluck und behielt ihn eine Weile auf der Zunge. Sylvia fühlte sich während dieser betont langsam durchgeführten Prozedur unangenehm berührt. Nach und nach schwanden ihre romantischen Gefühle.

»Ist in Ordnung«, sagte Holger schließlich zu dem geduldig wartenden Kellner. Der schenkte ihm nach, dann füllte er Sylvias Glas.

»Danke«, sagte sie.

Der Sommelier verzog keine Miene, verneigte sich erneut und zog sich zurück.

Holger sah sie an, als erwartete er ein Lob.

Der Wein schmeckte nicht nach Korken, wollte Sylvia sagen, er schmeckte ausgezeichnet. Doch genau wie all die Jahre zuvor schwieg sie lieber. Das Geheimnis einer guten Ehe ist die Selbstbeherrschung der Ehefrau, hatte ihre Mutter immer gesagt. Eine Frau, die alles besser weiß, muss sich nicht wundern, wenn sie verlassen wird. Damals hatte sie die Augen verdreht und im Stillen gedacht, dass sie es einmal ganz anders machen würde. Sie würde immer sagen, was sie dachte. Nun musste sie erkennen, dass sie das Mantra ihrer Mutter bis ins Letzte verinnerlicht hatte.

Vielleicht hatte es ja an ihr gelegen, dass der Abend nach dieser kleinen, unangenehmen Episode nicht mehr so richtig in Schwung gekommen war. Dass sie zwischen den Gängen lieber geschwiegen hatten, weil Sylvia nichts eingefallen war, worüber sie mit ihrem Mann hätte sprechen wollen. Vielleicht war sie überarbeitet und konnte deshalb nicht richtig entspannen, als sich später gegen ihre Gewohnheit nicht jeder in sein eigenes Schlafzimmer zurückzog, sondern sie sich gegenseitig auszogen, wobei Holger sich alle Mühe zu geben schien, nicht hastig zu wirken. Vielleicht war sie zu verspannt, als dass sie sich seinen Händen mit derselben Leidenschaft hätte hingeben können wie früher, als sie übereinander hergefallen waren und nicht schnell genug aus den Kleidern hatten kommen können. An diesem Abend ging Sylvia alles zu rasch. Sie fühlte sich noch nicht wirklich bereit, als Holger in sie eindrang, sie versuchte, seiner Lust hinterherzukommen, und doch war dann alles viel zu früh zu Ende.

Vielleicht brauche ich eine Auszeit, dachte Sylvia, während Holger neben ihr tief und fest schlief, einen Arm über ihre Brust gelegt, eine Geste, die sie als besitzergreifend empfand und es doch nicht wagte, sich zu befreien, aus Furcht, ihn aufzuwecken.

Meine Freundinnen beneiden mich um diesen Mann, dachte sie. Was ist nur los mit mir? Holger sah gut aus, er war erfolgreich, wenn auch manchmal etwas schroff. Sie waren sich doch immer einig, vor allem in den wirklich wichtigen Dingen, zum Beispiel, dass sie keine Kinder wollten, dass bei ihnen beiden die berufliche Karriere an erster Stelle stand. »Ich liebe dich«, hatte Holger vorhin über ihr stöhnend ausgestoßen, wieder und wieder, und war mit einer Wucht gekommen, die von großer Leidenschaft zeugte. Oder nicht?

Was ist los mit mir?, fragte sich Sylvia erneut und atmete erleichtert auf, als Holger sich im Schlaf umdrehte und den Arm von ihr nahm.

2
Die Reise

Die folgende Woche verging wie im Flug. Als Sylvia eines Abends von einer ausgedehnten Geschäftsreise nach Hause zurückkam, fand sie auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von ihrem Freund Thomas vor, der sie bat, ihn dringend zurückzurufen. Holger war verreist, irgendwo auf der Suche nach einzigartigen Immobilien. Sylvia versuchte vergeblich, sich zu erinnern, in welchem Winkel Europas.

Sie nahm eine Dusche und fuhr dann den Computer hoch, um ihre Mails durchzusehen. Erschrocken stellte sie fest, dass es bereits sieben Uhr abends war, zu spät, um bei Thomas Waldner in der Kanzlei anzurufen. Morgen früh, nahm sie sich fest vor. Ein Blick in ihren Terminkalender erinnerte sie daran, dass sie bereits mit dem 14-Uhr-Flug weiter nach Zürich musste zu einem neuen Klienten, der sie nach dem ersten Kennenlernen vier Monate zuvor gleich für den gesamten Monat Mai gebucht hatte.

Sylvia lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen. Eigentlich brauchte sie dringend Erholung. Doch immer, wenn sie ein paar freie Wochen einplanen wollte, kam eine Anfrage dazwischen, und sie konnte es sich einfach noch nicht leisten, Klienten mit einem Nein zu verprellen. Jedenfalls glaubte sie das.

Ihre Freundin Veronika sah das ganz anders. Schon im Studium hatte die lebensfrohe Vero mit den Sommersprossen und den widerspenstigen roten Locken über Sylvia, die zwischen ihren beiden Studiengängen hin und her gehetzt war, liebevoll gespottet. Heute machte sie sich Sorgen um ihre Freundin. Doch Veronika war auch nicht unter so schwierigen Verhältnissen aufgewachsen wie sie. Die gemütliche Dreizimmeraltbauwohnung im Lehel hatte Veronikas Vater seiner Tochter zum Studienbeginn geschenkt, als der Stadtteil noch längst nicht so angesagt war wie heute. Sylvia hatte sich aus Kostengründen weiterhin eine kleine Wohnung mit ihrer Mutter geteilt. Und während es mit Sylvias Karriere ständig bergauf ging, begnügte sich ihre Freundin mit dem, was sie als Übersetzerin verdiente. Sie hatte ihre Wohnung behalten, fuhr mit Leidenschaft Mini Cooper und sah überhaupt keine Veranlassung, mehr zu arbeiten als unbedingt notwendig. Veronika verstand es, das Leben zu genießen.

Sylvia seufzte und begann, ihre Arbeitsunterlagen für den Termin in Zürich vorzubereiten. Es war Mitternacht, als sie ihren Koffer packte. Dann ging sie endlich schlafen.

Als sie am nächsten Morgen ihre Mails checkte, fand Sylvia eine Nachricht des Züricher Klienten vor. Leider müssen wir aus innerbetrieblichen Gründen alle bei Ihnen gebuchten Leistungen stornieren, las sie zu ihrer Bestürzung. So etwas war ihr schon lange nicht mehr passiert. Zum Glück hatte sie Stornogebühren vereinbart, und falls die Firma nicht etwa schon insolvent war, würde sie diese auch bekommen. Sylvia sah in die Unterlagen, die sie bis spät in die Nacht noch vorbereitet hatte. Ihr Blick fiel auf das Flugticket. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie freihatte. Für den kommenden Monat war kein anderes Projekt geplant. Bei dem Gedanken wurde ihr fast schwindlig.

Sylvia packte den Koffer wieder aus und räumte ihren Schreibtisch auf. Dann ging sie in die Küche und fand den Kühlschrank leer. Was tat man, wenn man freihatte? Kurz entschlossen rief sie Veronika an.

»Stell dir vor«, sagte sie, »ich hab nichts zu tun in den kommenden vier Wochen.«

»Bist du sicher, dass du dich nicht vertust?«, klang die fröhliche Stimme ihrer Freundin an ihr Ohr. »Ich meine, du und frei? Du bist doch nicht etwa krank?«

»Nein!« Sylvia lachte. »Ich bin kerngesund. Ein Kunde hat im letzten Moment abgesagt. Ich kann es immer noch nicht fassen. Was soll ich denn jetzt bloß machen?«

Am anderen Ende der Leitung brach Jubel aus. »Wir gehen erst einmal frühstücken«, bestimmte Veronika. »Und dann gebe ich dir Nachhilfe in Sachen Freizeit. Was hältst du davon?«

Eine Viertelstunde später saßen die beiden im XII Apostel, Veronikas Lieblingslokal, und bestellten Kaffee und Croissants.

»Das ist also dein erster freier Tag seit wie lange?«, wollte Veronika wissen.

»Na ja«, meinte Sylvia, »es ist ja nicht so, dass ich nie einen Tag freihätte. Erst am vorletzten Sonntag …«

»Ah …«, Veronika grinste, »am vorletzten Sonntag. Na, das ist ja üppig. Und wo geht es morgen hin?«

»Das ist es ja«, meinte Sylvia und betrachtete versonnen ihr Frühstückshörnchen. »Ich hab den ganzen Monat frei. Stell dir vor, den ganzen Mai.«

Veronika hätte sich beinahe an ihrem Kaffee verschluckt.

»Ach du lieber Himmel«, rief sie, »und jetzt hast du Sorge, dass du das finanziell nicht verkraftest, was?«

»Nein.« Sylvia lachte. »Natürlich nicht. Ich weiß nur nicht … Ich meine, ich wollte das ja schon längst mal machen. Aber es hat nie geklappt. Und jetzt so von einem Moment auf den anderen … In zwei Stunden wäre mein Flieger gegangen, verstehst du, ich weiß überhaupt nicht, wie mir geschieht.«

Veronika grinste. »Glaub mir«, sagte sie, »Freizeit zu haben ist nichts Schlimmes, überhaupt nicht. Wir können miteinander einen Wellnesstag machen, mit Sauna, Dampfbad, Massage, das ganze Programm. Dann schläfst du erst mal drei Tage, das schwör ich dir, so ausgepowert, wie du bist, kannst du das brauchen. Wenn du willst, fahren wir zusammen nach Baden-Baden und machen so richtig einen drauf: tagsüber Thermen und abends Casino. Oder wir holen uns Karten fürs Festspielhaus. Oder wir fliegen nach Paris und gehen so richtig toll shoppen. Oder willst du lieber nach New York? Mensch, Sylvia, endlich hast du Zeit, das viele Geld, das du verdienst, auch auszugeben!« Sylvia lächelte und lehnte sich zurück. Veronika hatte recht. Und doch war es nicht das, was sie jetzt wollte. Nicht Paris, nicht Mailand und nicht New York. Sylvia schloss die Augen und sah Wasser vor sich. Wellen. Das Meer. Himmel. Ein paar Möwen, die durch das Blau segelten. Vielleicht sollte sie ans Meer fahren, an die Ostsee. Oder an den Atlantik. Sie würde es herausfinden. »Wenn du einen ganzen Monat Zeit hast«, sagte Veronika gerade, der der Stimmungswechsel ihrer Freundin nicht entgangen war, »dann musst du dich ja nicht gleich heute entscheiden. Lass es auf dich zukommen. Du lebst doch sonst immer nach festem Plan. Ich bin hier, und wann immer du Lust hast, etwas zu unternehmen, ruf einfach an.« Und dann erzählte Veronika von ihrer Venedig-Reise und dem aufregenden Juristen aus München, den sie dort rein zufällig kennengelernt hatte, just in dem Moment, als sie die Ansichtskarte an Sylvia schrieb. »Er wollte wissen«, Veronika lächelte, »warum ich zwei Gläser Spritz vor mir stehen hätte, ob davon eines eventuell für ihn sei. Und weißt du was? Ich hab mich sofort in ihn verliebt.«

Sylvia lachte. Veronika hatte immer einen Verehrer, einen Geliebten oder Freund. »Nur dauerhaft ins Haus«, so pflegte sie zu sagen, »kommt mir kein Mann.«

Aus dem gemütlichen Frühstück wurde ein ausgedehnter Brunch, dann überredete Veronika ihre Freundin zu einem Spaziergang im Englischen Garten. Veronikas Einladung, am Abend mit ihrem neuen Lover und ihr ins Theater zu gehen, lehnte Sylvia dankend ab.

»Ich werde ihn schon irgendwann kennenlernen«, sagte sie, »wenn er bis dahin noch aktuell sein sollte.« Auf einmal fühlte sie sich schrecklich müde. »Freimachen ist ganz schön anstrengend«, gestand sie und stöhnte. »Ich bin weit weniger kaputt, wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe.«

Veronika lachte. »Na«, meinte sie, »da gewöhnst du dich schon noch dran! Also, du weißt Bescheid. Wenn dir nach Gesellschaft ist, ruf einfach an!«

An diesem Abend ging Sylvia früh zu Bett. Sie nahm ein Buch mit, das sie seit Wochen lesen wollte, doch schon auf der ersten Seite wurden ihr die Lider schwer. Sylvia wachte am nächsten Morgen erst um halb zehn wieder auf. Sie hatte dreizehn Stunden wie eine Tote geschlafen. Und jetzt fühlte sie sich wie neu geboren.

Am Nachmittag kam Holger schlecht gelaunt von seiner Reise zurück. Sylvia war von ihm in dieser Hinsicht zwar einiges gewöhnt, doch so aufgebracht hatte sie ihn selten erlebt.

»Der hat doch tatsächlich den Notartermin im letzten Augenblick platzen lassen«, schnaubte er ohne eine weitere Erklärung und verschwand in seinem Arbeitszimmer.

Erst beim Abendessen erfuhr sie, dass er sich wegen des Verkaufs von Tante Lucies Grundstück so aufregte. Der Käufer hatte kurzfristig um einen neuen Termin gebeten, weil er verhindert gewesen war. Doch der wäre laut Holger frühestens in vier bis sechs Wochen möglich. Sylvia wunderte sich, dass sich in ihr ein Gefühl der Erleichterung ausbreitete. Sie empfand diese Wochen plötzlich als geschenkte Zeit.

»Weißt du was«, sagte sie spontan, »ich fahre hin, bevor wir es verkaufen.«

Holger sah sie an, als wäre sie nicht recht bei Trost.

»Wohin willst du fahren?«

»Nach Frankreich. Zu Tante Lucies Gärtnerei.«

»Wieso das denn?«, fuhr er sie barsch an. »Das ist reine Zeitverschwendung. Und überhaupt … Ich denke, du bist ausgebucht!« Ärger stieg in Sylvia auf, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass es sich nicht lohnte, mit Holger zu streiten. Auch wenn er immer wieder in einem Ton mit ihr sprach, der objektiv gesehen unmöglich war, so wusste sie doch, dass er es nicht böse meinte. An diesem Abend jedoch konnte sie nicht anders, als wütend zu werden. »Du hast doch keine Zeit für so etwas«, setzte Holger in schmeichelndem, etwas ruhigerem Ton nach. Offenbar hatte er gemerkt, dass er über das Ziel hinausgeschossen war. »Und glaub mir, es lohnt sich wirklich nicht. Was ist mit deinem neuen Klienten in Zürich?«

»Er hat den Auftrag gecancelt«, gab Sylvia kurz und knapp zur Antwort.

Wenn Holger in einer solchen Stimmung war, lohnte es sich nicht, mit ihm zu streiten. Und so schluckte sie ihren Ärger hinunter. Was allerdings nicht hieß, dass sie klein beigab. So weit käme es noch, dass er ihr Vorschriften machte. Sie würde sich Lucies Gärtnerei anschauen, ehe sie verkauft wurde. Und wenn Holger sich auf den Kopf stellte.

Am nächsten Morgen wartete Sylvia, bis ihr Mann die Wohnung verlassen hatte. Dann ging sie in ihr Büro und suchte die Kopie der Vollmachten heraus, mit der sie ihren Mann ermächtigt hatte, ihr Erbe zu veräußern. Sie fand die Adresse des Anwesens, fuhr ihren Computer hoch und gab sie in die Suchmaschine ein. Was sie erwartete, war ein Fleck mitten in der französischen Provinz, irgendwo im Nirgendwo. Umso mehr staunte sie, als der Bildschirm sich auf die äußerste Nordwestküste verengte.

»Bretagne?«, murmelte sie vor sich hin. So wie es aussah, lag die Gärtnerei direkt am Meer.

Eine Weile saß sie regungslos da und dachte an alles und nichts. Lucie … Dort hatte sie also gelebt, am anderen Ende Europas, mehr als tausend Kilometer entfernt. Während sie selbst in den vergangenen Jahren ihrer Karriere hinterhergehechelt war, hatte ihre Tante Pflanzen angebaut. Gemüse wahrscheinlich. Kohl und Rüben. Oder Artischocken. Dafür war die Bretagne doch berühmt.

Sylvia aktivierte den Routenplaner, um die genaue Entfernung berechnen zu können. Sie besaß kein Auto, weil man in einer Stadt wie München und mit einem Beruf wie dem ihren besser mit dem Taxi fuhr. Längere Strecken legte sie immer mit der Bahn oder dem Flugzeug zurück. Der nächstgelegene Flughafen war Brest. Von dort könnte sie einen Mietwagen nehmen …

Auf einmal zögerte sie. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie sich der Heimat ihrer verstorbenen Tante anders nähern sollte als ihren Klienten. Schon lange hatte sie davon geträumt, einmal quer durch Frankreich zu reisen. Warum nicht gleich hier einen Wagen mieten?, überlegte sie. Warum sich nicht Zeit lassen für die vierzehnhundert Kilometer? Sie hatte vier Wochen, vier Wochen ganz für sich allein. Ihr Herz schlug höher bei dem Gedanken, quer durch Frankreich gen Westen zu fahren, einfach so, bis sie an der Küste ankam.

Sylvia rief kurzerhand den Autohändler an, bei dem Holger seine Wagen zu kaufen pflegte. Sie waren auch privat befreundet.

»Für vier Wochen leih ich dir ein Fahrzeug, Sylvia«, sagte er sofort, »aber klar, überhaupt kein Problem. Das ist im Service mit drin bei so guten Kunden. Ich hab grad einen hübschen Boxster hier stehen, einen Jahreswagen, frisch überholt. Den kannst du haben. Wann soll es denn losgehen?«

»Morgen«, sagte Sylvia und erschrak vor sich selbst.

»Alles klar«, hörte sie die ruhige Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Wenn du willst, lass ich ihn dir gleich bringen. Ist dir das recht?«

»Natürlich«, sagte Sylvia. »Vielen Dank! Das ist wirklich sehr großzügig von dir.«

»Um fünf steht er bei euch vor der Tür. Schlüssel und Papiere lass ich in den Briefkasten werfen. Gute Reise, Sylvia! Und fahr nicht zu schnell! Der Kleine hat immerhin 265 PS.«

Sie lachte, bedankte sich noch einmal und legte auf. Was hatte sie nur für ein unverschämtes Glück.

Wie bringe ich es Holger bei?, ging es Sylvia durch den Kopf, während sie einmal mehr ihren Koffer packte. Dieses Mal konnte sie die Businesskostüme im Schrank hängen lassen. Sie entschied sich für bequeme Jeans, großzügig fallende Blusen aus Leinen, zwei Kleider, obwohl sie nicht glaubte, dass sie sie brauchen würde, ein paar dicke Pullover und seidene Tücher, immer noch in Gedanken bei dem seltsamen Streit, dessen Eskalation sie am Abend zuvor nur mit Mühe hatte verhindern können.

Doch dann besann sie sich. Es widerstrebte ihr, im Streit loszufahren, aber musste sie sich rechtfertigen, weil sie den Ort, an dem ihre Tante gelebt hatte, vor dem Verkauf besuchen wollte? Das war ja geradezu lächerlich.

Umso erleichterter war sie, als Holger ihr eine SMS schickte. Muss heute noch für 3 Tage in die Toskana. Kannst du mir meinen Koffer packen – ausnahmsweise? Mein Flieger geht um 15 Uhr. Lena holt ihn. Du bist ein Schatz, H. Im Nu hatte sie das Gepäck bereitgestellt. Als Holgers Sekretärin Lena Weinhalter klingelte, eine pummlige Fünfzigjährige mit Brillengläsern so dick wie Panzerglas, war alles fertig. Selbst wenn Sylvia gewollt hätte, es gab keine Gelegenheit, ihren Mann über ihre genauen Pläne zu informieren.

Punkt fünf Uhr nachmittags beobachtete Sylvia von ihrer Dachterrasse aus, wie ein junger Mann den Porsche in eine Parklücke vor ihrem Haus lenkte. Der Wagen war leuchtend rot, und Sylvia lächelte, als sie sich vorstellte, in diesem unglaublichen Fahrzeug durch Frankreich zu brausen. Wenig später holte sie Schlüssel und Papiere aus dem Briefkasten. Ihr Gepäck stand bereits im Flur, ein Hotelzimmer für die Übernachtung auf halber Strecke war gebucht.

Am liebsten wäre Sylvia sofort losgefahren. Doch es war Freitagabend, und sie widerstand dem Impuls, sich gleich in den roten Flitzer zu setzen und gen Westen aufzubrechen. Sie würde nur im Stau stehen, kein guter Start für ihre Auszeit und Spurensuche …

Spurensuche? Was versprach sie sich von dieser Reise? Sylvia war es gewohnt, die Motivationen ihrer Klienten sorgfältig zu hinterfragen. Es war wirklich Zeit, es bei sich selbst auch zu tun. Warum wollte sie überhaupt Lucies heruntergekommene Gärtnerei besuchen?

Eine Weile stand sie einfach nur da, regungslos, gedankenverloren. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer und scannte ihre Regalwand ab. Schließlich zog sie ganz oben, wo sie selten etwas suchte, ein altes Fotoalbum heraus, in grobes, beiges Leinen gebunden. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein, setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, schaltete die Stehlampe an, zog die Füße unter sich und schlug das Album auf. Die Fotos waren ihr wohlvertraut, auch wenn sie sie schon lange nicht mehr betrachtet hatte. An diesem Abend suchte sie gezielt nach dem Gesicht eines bestimmten Menschen, ihrer Tante Lucie, und sie war enttäuscht, es auf so wenigen Bildern zu finden. Es waren die von jenem Strandurlaub, an den sie sich noch gut erinnerte.

Lucie war eine ausgesprochene Schönheit gewesen, sehr schlank und mit einem hinreißenden Lachen. Neben ihr wirkte Sylvias Mutter Annie fast plump, obwohl auch sie zweifellos eine hübsche Frau gewesen war.

Vielleicht war der Grund für den Familienbann eine skandalöse Liebesgeschichte, überlegte Sylvia. So wie Lucie auf den Fotos aussah, hätte sie sicher jeden Mann verrückt machen können.

Sylvia stellte auf einmal fest, dass sie ihrer Tante verblüffend ähnlich sah – ganz so, als wäre sie Lucies Tochter, nicht die ihrer Schwester. Nur dass ich nicht so schön bin, dachte sie und blätterte weiter. Es folgten Bilder mit ihrem Großvater, einem streng dreinblickenden weißhaarigen Mann. Sylvia hatte wenige gute Erinnerungen an ihn und wendete rasch die folgenden Seiten um. Als sie das Album gerade zuklappen und weglegen wollte, stieß sie auf das Gruppenbild einer Hochzeit, vor dem Portal einer Kirche aufgenommen. Sie entdeckte sich selbst in einem weißen Spitzenkleid, die Füße in weißen Söckchen und weißen Lackschuhen, in der Hand ein Körbchen mit Blüten. Ihre Mutter stand hinter ihr, sie hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. Auf einmal war es Sylvia, als könnte sie diese Berührung immer noch spüren, schwer und belastend, es war dasselbe Gefühl, das sie immer hatte, wenn Holger seinen Arm auf ihrem Körper liegen ließ, während er einschlief.

Doch um welche Hochzeit handelte es sich hier? Sylvia konnte sich an dieses Fest überhaupt nicht erinnern.

Sie betrachtete den Bräutigam, der ihr völlig fremd erschien. Aber als sie das Gesicht der Braut genauer studierte, hätte sie vor Überraschung beinahe das Album fallen lassen: Es war ihre Tante Lucie.

Sylvia blätterte die letzten Seiten um, doch auf keinem weiteren Bild war ihre Tante mehr zu sehen. Als wäre sie mit ihrer Heirat aus dem Kreis der Familie ausgeschieden, dachte Sylvia und nahm erneut den Bräutigam in Augenschein. War am Ende er der Grund für das Zerwürfnis? Wieso stand hier dann die gesammelte Familie, auch der strenge Großvater, einträchtig um das Hochzeitspaar versammelt? Sylvia legte das Album beiseite und nahm einen Schluck Wein.

Und auf einmal wusste sie, warum sie in die Bretagne fahren wollte. Es war nicht die Gärtnerei, die sie interessierte, und auch nicht die Tatsache, dass Lucie offenbar keine gute Geschäftsfrau gewesen war. Sylvia war neugierig zu erfahren, was aus ihrer Tante nach ihrer Heirat geworden war. Sie hoffte, in ihrer Hinterlassenschaft Hinweise darauf zu finden, was für ein Mensch sie gewesen war. Vermutlich wünschte sie sich, ein wenig von dem nachholen zu können, was sie zu Lebzeiten ihrer Tante versäumt hatte – ein Stück ihrer eigenen Wurzeln wiederzufinden, jetzt, da niemand mehr lebte, den sie fragen konnte. Und natürlich lockte sie auch das Meer.

Am nächsten Morgen klingelte ihr Wecker um fünf. Sylvia war es gewohnt, früh aufzustehen, und sprang geradezu aus dem Bett. Eine Stunde später ging es los. Bald hatte sie die Autobahn erreicht, es war eine reine Freude, dem spritzigen Zweisitzer ein wenig Stoff zu geben. Zwischen Ulm und Stuttgart traf sie auf die üblichen Baustellen, doch es war ein Samstagmorgen außerhalb der Ferienzeit, und es gab kaum Verkehr. Gegen neun Uhr überquerte sie die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, und von da an war sie fast allein auf der Autobahn. Sie aß in der Nähe von Metz zu Mittag, als ihr Handy klingelte. Es war Veronika.

»Wo steckst du?«, klang die fröhliche Stimme ihrer Freundin an Sylvias Ohr. »Wollen wir bei diesem super Wetter nicht in die Berge fahren? Wie lange ist es her, dass du wandern warst?«

Sylvia lachte. »Ich bin in Frankreich, in der Nähe von Metz.«

Veronika ließ einen langen Seufzer hören. »Ein neuer Kunde?«

»Nein«, beeilte sich Sylvia zu antworten. »Ich bin … einfach so unterwegs.«

»Einfach so?«, fragte Veronika misstrauisch. »Das glaube ich dir nicht. Wo fährst du hin?«

»In die Bretagne«, sagte Sylvia. »Urlaub machen.«

Eine Weile war es still am anderen Ende der Leitung. Das kam selten vor bei Veronika.

»Komm schon, sei ehrlich«, bat sie dann.

»Na ja …«, antwortete Sylvia, der es falsch vorkam, ihre beste und einzige richtig gute Freundin anzulügen, »weißt du, eine Tante ist gestorben und hat mir was vererbt. In Frankreich.«