Frauen sind wehrlos, sie leiden, sie dulden, sie verzeihen. Doch wenn die Psychopathie in ihrer Seele sich Bahn bricht, töten sie ebenso grausam und skrupellos wie Männer. Lydia Benecke analysiert neueste Forschungsergebnisse zum Thema weibliche Psychopathie und zeigt an aktuellen und historischen Fällen, wie sich Psychopathinnen die Rollenklischees von Frauen zunutze machen. Denn Frauen planen ihre Verbrechen nicht nur eiskalt, sie bleiben auch länger unentdeckt. Besonders gruselig: Die Taten von Psychopathinnen richten sich besonders häufig gegen die eigene Familie ...
Lydia Benecke arbeitet als selbstständige Psychologin und als Therapeutin, unter anderem in einer Sozialtherapeutischen Einrichtung des Strafvollzugs mit schweren Straftätern. Sie hält regelmäßig Vorträge für ein breites Publikum und hat ebenfalls bereits mehrere Bücher geschrieben. Mehr über sie unter www.benecke-psychology.com
Psychopathinnen
Die Psychologie des weiblichen Bösen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Angela Kuepper, München; Valerie Thieme
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Einband-/Umschlagmotiv: © Manfred Esser, Bergisch Gladbach
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-4965-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Sara Noxx und Little Noxx.
Frauen sind anders als Männer – wahrlich keine neue Erkenntnis –, aber sind sie auch anders bei der Begehung von Straftaten?
Dieser spannenden Frage geht Lydia Benecke in ihrem aktuellen Buch nach. Sie setzt sich damit dankenswerterweise mit einem Themenfeld auseinander, welches in der Kriminologie bisher doch eher stiefmütterlich behandelt wurde. Möglicherweise nur deshalb, weil bei der Betrachtung der Gesamtkriminalität weibliche Straftäter in der Regel deutlich weniger Straftaten begehen als männliche.
Dies ist allerdings zu kurz gesprungen. Schließlich ist das Wissen um den Täter/die Täterin, sein/ihr Handeln, seine/ihre Motivation für die (kriminal)polizeiliche Arbeit elementar wichtig. Insofern ist den Tätern und Täterinnen in der kriminalpolizeilichen Praxis, aber auch in der kriminologischen Forschung ein hoher Stellenwert einzuräumen.
Zu wenige kriminalpolizeiliche Ermittler und starke Vorgangsbelastungen führen aber leider vermehrt dazu, dass sich die »Arbeit« mit den Tätern und Täterinnen, insbesondere bei Vernehmungen, oft auf das Notwendigste reduziert. Damit wird häufig bedauerlicherweise die wichtige Chance vertan, noch mehr über den Straftäter/die Straftäterin zu erfahren und bestenfalls von ihm/ihr »zu lernen«, was Arbeitsweise, Motivation usw. angeht.
Aber auch die kriminologische Forschung hat deutlichen Nachholbedarf. Viele Täter-/Straftatenstudien sind etliche Jahre alt.
Lydia Benecke gilt insofern mein besonderer Dank dafür, dass sie vorliegend ganz aktuell sehr genau hingesehen hat, was das Thema weibliche Straftäter angeht. Viele spannende Erkenntnisse sind das zwangsläufige Ergebnis ihrer intensiven Untersuchungen und Recherchen.
Rüdiger Thust
Langjähriger Vorsitzender
des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Bezirksverband Köln, und Erster Kriminalhauptkommissar a.D.
Ermittler bei der Befragung seiner rauchenden Tatverdächtigen: »Das Rauchen ist in diesem Gebäude verboten, Fräulein Tramell.«
Catherine Tramell: »Was wollen Sie jetzt tun, mich wegen Rauchens einsperren?«
Aus: »Basic Instinct«
Psychopathie ist ein wirkungsvolles Wort, das Aufmerksamkeit erzeugt und für viele mit einer gewissen Faszination einhergeht. Es ist die Faszination für Menschen, die sich außerhalb der Normen bewegen, welche für die meisten anderen selbstverständlich sind. Dies fällt ihnen leicht, da sie weder Furcht noch Scham noch eine Gewissensinstanz davor zurückhalten, einfach das zu tun, wonach ihnen gerade ist. Aufsehenerregende Fälle psychopathischer Serienmörder, über die zunächst vor allem im US-amerikanischen Raum umfassend berichtet wurde, führten zum »Mythos Psychopathie«, der bis heute anhält. An Forschungsergebnissen zu dem Thema orientierten sich bald auch Romanautoren und Drehbuchschreiber.
Durch die Erfindung der Romanfigur Hannibal Lecter in der Romanserie von Thomas Harris wurden Psychopathen als interessante Protagonisten in fiktiven Werken populär. Bis heute ist Lecter einer der bekanntesten und beliebtesten fiktiven Bösewichte der Welt. Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts erfreute sich das Thema besonders großer Beliebtheit. 1988 erschien Harris’ Bestseller »Das Schweigen der Lämmer«, der Nachfolgeroman des 1981 erschienenen Romans »Roter Drache«, in dem Lecter als Figur sein erfolgreiches Debüt hatte. 1991 folgte die enorm erfolgreiche Verfilmung von »Das Schweigen der Lämmer« mit Jodie Foster und Anthony Hopkins in den Hauptrollen. Im selben Jahr erschien der umstrittene Roman »American Psycho« von Bret Easton Ellis, in dem mit schockierendem Detailreichtum die Mordserie des psychopathischen und sexuell sadistischen New Yorker Bankers Patrick Bateman beschrieben wird. Ein Jahr später kam »Basic Instinct« in die Kinos. Die Protagonistin des Films, Catherine Tramell, ist das weibliche Gegenstück zur Figur des Hannibal Lecter: eine hochintelligente, wohlhabende Romanautorin, die in ihrer Freizeit gerne Katz und Maus mit ihren Mitmenschen spielt und Morde als eine unterhaltsame Freizeitbeschäftigung ansieht.
In den Figuren Hannibal Lecter und Catherine Tramell wurden tatsächlich zahlreiche typisch psychopathische Eigenschaften verarbeitet, auch wenn einige Elemente in ihrer Gesamtdarstellung hollywoodesk übersteigert wurden. Besonders der beiden innewohnende Tötungsdrang ist keineswegs ein typisches Merkmal psychopathischer Menschen. Viele von ihnen hätten zwar weniger Hemmungen als andere, einen Menschen zu töten, wenn es ihnen erforderlich erschiene, doch die allermeisten verspüren kein tief sitzendes Bedürfnis danach. Die weit verbreitete Fehlannahme, Psychopathen seien prinzipiell von einem Tötungsdrang getrieben, basiert teilweise auf der umfassenden Berichterstattung über psychopathische Serienmörder. Durch derlei Berichte wurde in der Wahrnehmung der Allgemeinbevölkerung ein direkter Zusammenhang hergestellt zwischen dem psychologischen Phänomen der Psychopathie und dem Verhalten, Serienmorde zu begehen, welcher in Wirklichkeit in dieser Form nicht besteht. Serienmörder haben zwar tatsächlich häufig deutlich mehr psychopathische Eigenschaften als der Durchschnittsbürger, doch nur die wenigsten psychopathischen Menschen sind Serienmörder.
Stellt man die Figuren Lecter und Tramell gegenüber, so fällt auf, dass sie zwar einige Gemeinsamkeiten haben, aber auch sehr deutliche Unterschiede aufweisen. Beide sind frei von Mitgefühl, Schuldgefühlen und Angst, beide sind besessen von Macht über ihre Mitmenschen und genießen es, diese gezielt und sehr effektiv zu manipulieren. Beide mögen keine Monotonie, pflegen einen sehr abwechslungsreichen Lebensstil und nutzen Morde zur Freizeitunterhaltung sowie Selbstaufwertung und Aggressionsabfuhr. Doch die Ausgestaltung der Manipulation und die Umsetzung des intensiven, abwechslungsreichen Lebensstils unterscheidet sich bei Lecter und Tramell deutlich. Catherine Tramell nutzt ebenso wie Lecter ihre überdurchschnittliche Intelligenz zur Erreichung ihrer Ziele, doch sie manipuliert auf der Handlungsebene hauptsächlich über sexuelle Verführung sowie über persönliche Beziehungen wie Freundschaften und Liebesbeziehungen. Hannibal Lecter manipuliert stärker auf der Ebene des Machtgefälles zwischen ihm als psychiatrischem Fachmann sowie hochintelligentem Analytiker und den ihm zumeist intellektuell unterlegenen Mitmenschen. Lecter lebt sein Bedürfnis nach Abwechslung und intensiven Erlebnissen unter anderem durch seine Vorliebe für Reisen, kulturelle Anregungen und hochkarätige Kochkünste aus, Tramell nutzt stärker wilde Partys, Drogenkonsum und abwechslungsreiche Sexualpraktiken mit möglichst vielen unterschiedlichen Partnern.
Natürlich darf man beide Figuren nicht als realistische Quintessenz weiblicher und männlicher Psychopathie ansehen. Dennoch sind sowohl ihre Gemeinsamkeiten als auch ihre Unterschiede angelehnt an den damaligen Forschungsstand. Besonders im Bereich der weiblichen Psychopathie waren seinerzeit noch recht wenig wissenschaftlich fundierte Informationen vorhanden. Zwei der Anfang der Neunzigerjahre wichtigsten Fallbeschreibungen weiblicher Psychopathie – »Roberta« und »Anna« des US-amerikanischen Psychiaters Hervey Cleckley – waren zum damaligen Zeitpunkt bereits ein halbes Jahrhundert alt. In beiden spielen promiskuitive Verhaltensweisen sowie die Manipulation über zwischenmenschliche Beziehungen eine wichtige Rolle. Sicherlich haben diese Fallbeispiele die Entwicklung der Figur Catherine Tramell maßgeblich beeinflusst. Wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse inzwischen belegen, sind ebendiese Verhaltensauffälligkeiten durchaus typisch für weibliche Psychopathie. Ein aufsehenerregender Kriminalfall aus dem echten Leben, in dem genau diese Auffälligkeiten eine entscheidende Rolle spielten, ist der Fall von Diane Downs. Bei der Erarbeitung dieser Falldarstellung habe ich die zeitlichen Abläufe der Tatnacht unter Einbeziehung der geografischen Informationen möglichst minutengenau rekonstruiert, um die psychologischen Vorgänge im Erleben der Täterin so exakt wie möglich darstellbar zu machen.
Die folgende Beschreibung der Ereignisse in diesem und allen anderen im Buch dargestellten Kriminalfällen basiert auf den umfassend im Rahmen der Gerichtsverhandlungen bekanntgewordenen sowie in unterschiedlichen Medien wiedergegebenen Informationen. Die in diesem Buch beschriebenen Hypothesen zur Gedanken- und Gefühlswelt der Täterinnen sowie den hiermit zusammenhängenden Verhaltensweisen basiert auf meinen langjährigen Erfahrungen durch die Arbeit mit und Befragung von Straftätern sowie nicht straffällig gewordenen Personen, die von Persönlichkeitsstörungen betroffen sind. Besonders die Beschreibungen der genauen Tatsituationen sind meine Interpretation der Ereignisse, welche aus meiner Sicht am wahrscheinlichsten auf diese Weise abgelaufenen sein dürften. Im Fall von Diane Downs wurde die Tatwaffe niemals gefunden. Nach Beratung über den Fall mit befreundeten Polizeibeamten bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sie die Tatwaffe am wahrscheinlichsten an einer bestimmten Stelle im Fluss versenkt hat. Einen letztendlichen Beweis hierfür gibt es allerdings nicht.
Du gehst in dein Inneres.
Das ist dasselbe wie Ausblenden.
Du schreist – eingeschlossen im Inneren.
Elizabeth Diane Downs
An einem heißen Sommerabend im Jahr 1955 bringt Willadene Ruth Frederickson in Phoenix eine Tochter zur Welt. Willadene ist erst siebzehn und bereits verheiratet. Ihr acht Jahre älterer Mann Wes ist ein attraktiver, selbstsicherer Typ. Ebenso wie Willadene gehört er der South Baptist Church an. Beide sind im streng christlichen, selbst für die damalige Zeit erzkonservativen Glauben erzogen worden und haben früh gelernt, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Wes wuchs als zweitältestes von sechs Kindern auf, Willadene als ältestes von fünf. Ihre Eltern verlangten von ihnen, sie im Haushalt und bei der Betreuung der jüngeren Geschwister zu unterstützen und die traditionellen, ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen zu erfüllen.
So lernte Wes bereits als großer Bruder, eine dominante Rolle gegenüber den vier jüngeren Geschwistern einzunehmen. Willadene, als die älteste Schwester in ihrem Haushalt, lernte, fleißig zu sein und die kleinen Geschwister zu versorgen. Sie wuchs zu einer schüchternen, sich schnell unterordnenden jungen Frau heran. Diese Eigenschaften fand Wes anziehend. Als gerade er sie zu seiner Braut erwählt, fühlt sich Willadene geschmeichelt.
Dass Willadene noch so jung ist, stört Wes nicht. Im Gegenteil, so kann er seinen Vorsprung an Lebenserfahrung nutzen, um sie zu beeindrucken und zu dominieren. Außerdem kennt er eine solche Konstellation bereits aus dem eigenen Elternhaus: Seine Mutter heiratete selbst noch minderjährig ihren vierzehn Jahre älteren Partner und war mit achtzehn schon zweifache Mutter.
Willadene wechselt, selbst noch fast ein Kind, praktisch nahtlos von einem Haushalt in den nächsten. Viel ändert sich in ihrem Alltag nicht. Nun ist es nicht mehr ihr Vater, sondern ihr Ehemann, dem sie gehorcht und den sie um jeden Preis zufriedenzustellen versucht. Nicht mehr die Geschwister sind zu versorgen, sondern ihre eigene kleine Tochter: Elizabeth Diane. Willadene weiß, wie sie sich um Kinder kümmern muss, doch eine mütterliche Bindung zu ihrer Tochter aufzubauen gelingt ihr nicht. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht die Zufriedenheit ihres Mannes, in den sie auf eine jugendlich-naive Art verliebt ist. Das Haus muss sauber sein, und sie will Wes gefallen, für ihn attraktiv sein und ihn in jeder Hinsicht befriedigen. Nach wenigen Monaten ist sie wieder schwanger. Diane ist ein Jahr alt, als John zur Welt kommt. Gerade achtzehnjährig, wird die Erfüllung aller Pflichten zunehmend anstrengender für Willadene. Zwei Jahre nach John bekommt sie Kathy.
Wes regiert die kleine Familie mit der ausgeprägten Dominanz, die Willadene von Anfang an bewundert hat. Die Kinder sollen ruhig sein, wenn er von der Arbeit heimkommt. Mit Strenge und Disziplin werden sie zu dem gleichen Gehorsam erzogen, den Willadene in Perfektion von ihrer Herkunftsfamilie eingetrichtert bekommen hat. Obwohl sie mit den bereits vorhandenen drei kleinen Kindern überfordert ist, fügt sie sich Gottes Gebot: »Seid fruchtbar und mehret euch«, heißt es in der Bibel. Ein Jahr auf Kathy folgt James. Wes nimmt unterschiedliche Jobs an, doch keiner ist von Dauer. Wo sich ein Jobangebot auftut, dort zieht die Familie hin. Dies endet erst, als Wes eine Festanstellung bei der Post findet.
Diane nimmt als Älteste die Rolle ein, welche bereits ihre Mutter vor ihr seit ihrer Kindheit innegehabt hat. Es ist ihre Aufgabe, ihren Eltern selbst keine Arbeit zu machen, sondern bei der Versorgung der Geschwister tatkräftig mitzuhelfen. Diane hasst dies von Anfang an. Sie wünscht sich eine Mutter, doch die findet sie in Willadene nicht. Willadene ist eher wie eine große Schwester, die Diane sagt, was zu tun ist, und mit ihr um die Liebe des Vaters in der Familie konkurriert. Diane sieht Wes ähnlich, doch dies ist kein Vorteil, um seine Gunst zu erlangen. Wes empfindet die Kinder im Alltag eher als lästig. Er ist für das Aufstellen von Regeln und die Durchführung von Bestrafungen da, Willadene soll den Rest erledigen. Wes erwartet von den Kindern schon sehr früh, dass sie ihm nicht auf die Nerven gehen. Eine Verhaltensweise seiner Kinder, von der er sich besonders gestört fühlt und die er daher verbietet, ist ihr Weinen. Zur Bestrafung, wenn die Kinder weinen, schreit und schlägt er sie so lange, bis sie aufhören. Sie sollen keine Memmen sein. So lernt Diane früh zu lächeln, egal wie es ihr wirklich geht. Sie lernt, sich in ihr Inneres zurückzuziehen und eine Fassade nach außen aufzubauen, durch die niemand hindurchschauen kann.
Die einzige regelmäßige Familienaktivität ist der zweimal wöchentlich stattfindende Kirchenbesuch. Ansonsten lebt die Familie zwar zusammen, doch verbindende, gefühlvolle Momente gibt es keine. Diane wünscht sich so sehr, ihre Mutter möge Zeit nur für sie erübrigen und ihr manchmal zuhören, doch das geschieht nie. Die einzig »familiären« Momente mit ihrer Mutter sind seltene Kinobesuche gemeinsam mit den anderen Geschwistern, ein Familienspaziergang durch die Nachbarschaft an Halloween und der zu Hause abgehaltene »Unterricht« in Haushaltsfertigkeiten wie Nähen und Kochen.
Aus dem Wunsch, vielleicht irgendwann vom Vater Zuwendung zu bekommen, wird aufgrund seiner ständigen Wutausbrüche zunehmend Abneigung ihm gegenüber. Schreit er Diane nicht an, dann ignoriert er sie schlicht. Ihre kleinen Geschwister sind eine Bürde für Diane, die schon früh in die Rolle des Babysitters gedrängt wird. Paul kommt acht Jahre nach ihr als letztes Geschwisterkind zur Welt. Mit dem neuesten Säugling beschäftigt, zählt Willadene nun besonders auf die Entlastung durch ihre älteste Tochter. Wenn die Kleinen unter ihrer Aufsicht etwas Unerlaubtes tun, wird Diane dafür bestraft. Ihr selbst ist es verboten, Bestrafungen an den Geschwistern vorzunehmen. Beschwert sie sich beim Vater, dass die Geschwister sich ihren Anweisungen widersetzt hätten, so rügt er sie dafür, eine Petze zu sein.
Es scheint keine Möglichkeit für Diane zu geben, Strafen zu entgehen. Sie lernt nie, den Zusammenhang von erwünschtem und unerwünschtem Verhalten mit positiven oder negativen Konsequenzen zu verbinden. Dies wäre im Normalfall die Grundlage einer funktionierenden Erziehung. Sie lernt vielmehr, dass, egal wie sie sich verhält, zwangsläufig immer wieder für sie unkontrollierbar negative Konsequenzen in Form von Wut ihrer Eltern und Bestrafungen folgen. Die hiermit einhergehende Lernerfahrung »richtig« und »falsch« ist irrelevant, denn negative Konsequenzen folgen nach jeder Art von Verhalten willkürlich.
In der Schule ist Diane sehr schüchtern und zurückhaltend. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern trägt sie altmodische Kleidung, lange Röcke, braune Schuhe, weiße Söckchen. Ihre Kleidung, die Unsicherheit und die buschigen Augenbrauen machen sie zur Zielscheibe für den Spott ihrer Mitschüler. So wie in ihrer Familie fühlt sie sich auch unter Gleichaltrigen: verletzt, ausgegrenzt und einsam. Pausen sind für sie ein Spießrutenlauf. Im Sportunterricht wird sie immer als Letzte gewählt. Zu Geburtstagsfeiern lädt sie nie jemand ein. Immerhin sind ihre Schulleistungen sehr gut, ihre intellektuelle Begabung zeigt sich schon früh. Bei den Lehrern ist sie beliebt. Für Wes und Willadene ist es selbstverständlich, dass Diane eine gute Schülerin ist. Besondere Zuwendung oder Stolz bringt es ihr nicht ein. Wes achtet streng darauf, dass die Kinder sich auch zu Hause für die Schule anstrengen. Haben sie keine oder nur wenige Hausaufgaben auf, so stellt er an sie die Aufgabe, das Wörterbuch aufmerksam zu lesen. Diane liest in ihrer Freizeit gerne Bücher. Sie entdeckt früh, dass Bücher einen Ausweg aus dem trostlosen Alltag aufzeigen. Während sie liest, träumt sie sich in andere Welten, in andere Leben. Das macht den Rückzug ins Innere leichter und lässt den Schmerz des Alltags wenigstens vorübergehend verschwinden. Damals entstehen ihre Träume von einer Zukunft, in der alles perfekt sein soll: Sie wird eine angesehene Ärztin werden, viel Geld haben und in einem prächtigen Haus wohnen. Alle, die sie jetzt verspotten, werden sie dann beneiden.
Mein Dad sagte,
wenn ich es jemandem erzählen würde,
würde mich jeder hassen.
Elizabeth Diane Downs
Diane ist zwölf Jahre alt, als ihre Mutter wieder eine Berufstätigkeit annimmt. Das jüngste Kind, Paul, ist vier. Wes hat Willadene eine Stelle bei der Post besorgt. Um sich weiter um den Haushalt und die Kinder kümmern zu können, arbeitet sie häufiger in der Spätschicht, wodurch sie nachts nicht zu Hause ist. Dann übernimmt Wes allein die Aufsicht der Kinder. Wes beginnt in dieser Zeit, sich Diane gegenüber anders zu verhalten. Wenn Willadene nicht da ist, ist Wes freundlicher zu seiner Tochter, sucht ihre Nähe. Er scheint sich zum ersten Mal für sie zu interessieren, redet von sich aus mit ihr. Abends setzt er sich neben ihr Bett und beginnt, sie zu streicheln. Zunächst glaubt Diane, es sei die Zuwendung, welche sie sich all die Jahre über gewünscht hätte. Doch es bleibt nicht bei väterlicher Nähe. Wes beginnt, seine Tochter in seine Vorstellungen von Sexualität einzuführen. Sie versteht nicht, was er da tut. Wie aus einem angenehmen Gefühl ein unangenehmes wird. Angenehm und unangenehm, alles gleichzeitig. Einerseits hat sie schon vor dem Missbrauch Verachtung für ihn empfunden. Andererseits aber hat sie sich all die Jahre nach elterlicher Zuneigung gesehnt. Sie ekelt sich vor dem, was Wes mit ihr tut. Doch weil er ihr Vater ist, liebt sie ihn trotzdem. Später sagt sie darüber: »Er zwang mich zu früh, erwachsen zu werden. Ich begreife heute, dass es sehr viel ernster war, als ich es damals verstanden habe. Damals habe ich Sex nicht verstanden.«
Den Tagvater habe ich geliebt,
den Nachtvater gehasst.
Aussage eines Missbrauchsopfers
Viele Eltern haben Angst davor, ihr Kind könne von einem fremden Mann sexuell missbraucht werden. Vorstellungen von einem Mann, der sich Kindern mit Süßigkeiten nähert und sie an abgelegene Orte lockt, sind bis heute weit verbreitet. Dabei verkennen die meisten Menschen, dass die überwiegende Mehrzahl sexueller Missbrauchshandlungen an Kindern nicht von Fremden begangen wird, sondern von Menschen, die den Opfern bekannt sind und häufig sogar nahestehen. Dies ist nicht die einzige Fehlannahme in der Bevölkerung bezüglich des Phänomens des sexuellen Kindesmissbrauchs. Unter sexuellem Kindesmissbrauch werden alle Arten sexueller Handlungen an oder mit einem Kind verstanden. Hierzu zählt nicht nur, wenn der Täter das Kind intim berührt oder sich selbst von dem Kind intim berühren lässt, sondern auch, wenn er das Kind auffordert, sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen. Sehr weit verbreitet ist die Annahme, dass alle Kindesmissbrauchstäter pädophil seien und alle pädophilen Menschen automatisch auch Kinder missbrauchen würden. Beide Teilaspekte dieser Annahme sind falsch.
Es gibt eine unbekannte Anzahl von Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und niemals Missbrauchstaten begehen. Entsprechende Betroffene äußern, ihnen sei bewusst, dass die Umsetzung ihrer Fantasie ein Kind schädigen und eine strafbare Handlung darstellen würde. Da sie weder ein Kind schädigen noch eine Straftat begehen wollen, leben sie ihre entsprechende sexuelle Neigung nur in ihrer Vorstellung aus und kontrollieren sich im alltäglichen Verhalten. Um solche Menschen dabei zu unterstützen, trotz ihrer Neigung dauerhaft ein straffreies Leben führen zu können, gibt es in Deutschland seit 2005 das Projekt »Kein Täter werden«. Manche der Betroffenen sind in ihrem sexuellen Interesse ausschließlich auf Kinder ausgerichtet, andere fühlen sich sowohl zu Kindern als auch zu Erwachsenen sexuell hingezogen. Bei der Neigung der ersten Gruppe spricht man von »Kernpädophilie«, bei der zweiten von einer »pädophilen Nebenströmung«.
Im Unterschied zu diesen nicht missbrauchenden, pädophil empfindenden Menschen gibt es auch solche, die ihre entsprechenden sexuellen Fantasien als Handlungsgrundlage benutzen und Kinder tatsächlich sexuell missbrauchen. Die durch ihre pädophile Neigung motivierten Täter machen weniger als die Hälfte aller Missbrauchstäter aus. Hierbei sind sowohl die Kernpädophilen als auch die Täter mit einer pädophilen Nebenströmung eingerechnet. Es sind also bei Weitem nicht die meisten Missbrauchstäter von einem grundsätzlichen sexuellen Interesse an Kindern angetrieben, und nicht alle Menschen mit entsprechender Neigung werden jemals zu Tätern.
Mehr als die Hälfte aller Kindesmissbrauchstaten wird von Menschen begangen, deren sexuelles Interesse eigentlich Erwachsenen gilt. Häufig erleben diese Täter Frustrationen in Beziehungen mit Erwachsenen, können Konflikte nicht angemessen thematisieren und konstruktiv lösen. Einige scheitern auch daran, überhaupt einen erwachsenen Partner für eine romantische und sexuelle Beziehung zu finden. Diese Täter missbrauchen Kinder im Sinne einer sogenannten Ersatzhandlung. Eigentlich würden sie gerne Nähe und sexuelle Befriedigung mit einem erwachsenen Partner erleben. Doch der Mangel an einem geeigneten Partner oder ständig schwelende Konflikte und Stresssituationen erzeugen bei solchen Tätern latente Unzufriedenheit. In dieser Situation beginnen sie – typischerweise für sie selbst überraschend – ein sexuelles Interesse an einem in ihrer Nähe befindlichen Kind oder Jugendlichen zu entwickeln.
Häufig, aber nicht immer, ist der Täter in derartigen Konstellationen der Stiefvater oder biologische Vater des Opfers. Ersatzhandlungstäter neigen dazu, in ihrer Wahrnehmung das Opfer auf ihre Entwicklungsstufe zu heben. Sie sagen zu sich selbst beispielsweise, das Opfer sei »schon eine kleine Frau« und »weiter als andere in diesem Alter«. Hiermit versuchen sie sich selbst unbewusst darüber hinwegzutäuschen, was sie eigentlich tun, wenn sie das Kind missbrauchen. Häufig berichten solche Täter, dass ihr minderjähriges Opfer ihnen die bedingungslose Liebe und Zuneigung geschenkt habe, welche sie sich eigentlich von einer erwachsenen Partnerin gewünscht hätten, aber mit einer solchen nicht herzustellen in der Lage waren. Manche dieser Täter nehmen entsprechend auch eine aus ihrer Perspektive vermeintlich bestehende, romantische Liebesbeziehung mit ihrem Opfer wahr. Sie verkennen dabei das völlig asymmetrische Machtgefälle in der Situation und auch den Schaden, den sie in der Psyche ihres Opfers anrichten.
Diese Täter verwechseln die Liebe eines Kindes zu seiner Bezugsperson mit ihrer eigenen, erwachsenen Vorstellung von romantischer Liebe und/oder sexuellem Interesse. Sie drängen ihre Bedürfnisse dem minderjährigen Opfer auf, das natürlich seine Bezugsperson nicht enttäuschen oder verlieren will und daher tut, was diese verlangt. Das wiederum interpretiert der Täter in seinem Sinne als Zustimmung des Opfers und sogar als Eigeninteresse. Dass der Täter die emotionale Bindung des Kindes instrumentalisiert, um durchzusetzen, was er für seine Bedürfnisbefriedigung will, leugnet er häufig lange vor sich selbst. Die Opfer in solchen Konstellationen schweigen oft über den Missbrauch, weil sie Angst davor haben, ihre missbrauchende Bezugsperson zu verlieren und ihre Familie durch die Thematisierung des Missbrauchs zu zerstören. Denn trotz allem lieben sie ihre missbrauchende Bezugsperson und ihre Familie.
Diane Downs wurde offenbar Opfer genau solch einer Missbrauchskonstellation. Ihre Schilderungen der Missbrauchserlebnisse und ihrer Reaktionen darauf wirken sehr authentisch. Auch der Beginn des Missbrauchs kurz nach Einsetzen ihrer Pubertät macht in diesem Kontext Sinn. Viele Ersatzhandlungstäter, die gleichzeitig Väter ihrer Opfer sind, beginnen mit dem Missbrauch, kurz nachdem sie bei ihrer Tochter durch die Pubertät bewirkte, erste körperliche Veränderungen feststellen. Da sie eigentlich unbewusst nach einem Ersatz für eine erwachsene Frau suchen, können sie sich durch die wahrgenommenen Körperveränderungen eher einreden, das Mädchen sei ja bereits »fast« eine Frau. Dianes Vater ist zur Zeit des Missbrauchs ein herrschsüchtiger, sexuell sehr aktiver Mann. Seine Ehefrau, die er jung heiratete, hat durch die zahlreichen Geburten und den allgemeinen Familienstress in seinen Augen kontinuierlich an Attraktivität verloren. Parallel hierzu wird ihm die körperliche Veränderung seiner Tochter bewusst, die er als erregend wahrzunehmen beginnt.
Die abendliche Berufstätigkeit seiner Frau bietet ihm schließlich die optimale Gelegenheit zur Umsetzung seiner sexuellen Bedürfnisse an seiner Tochter. Er bringt ihr vorübergehend mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Freundlichkeit als je zuvor entgegen, doch nur, um an sein Ziel der sexuellen Befriedigung zu gelangen. Hierdurch prägt er Diane auf eine extrem negative Weise, die den Rest ihres Lebens beeinflussen wird. Er bringt ihr bei, sich nur liebenswert zu fühlen, wenn sie einem Mann sexuelle Befriedigung verschafft. Er bringt ihr bei, dass geliebt zu werden gleichbedeutend ist mit verletzt zu werden und dass die konservativen, christlichen Werte, die er zu leben vorgibt, nichts als eine Fassade sind. Während sie den Missbrauch erlebt, kann sie noch nicht ansatzweise begreifen, was ihr Vater mit ihr tut. Auch wie sehr sich ihre Persönlichkeit durch diese Erfahrung für den Rest ihres Lebens verändern wird, kann sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
Diane kann dem, was Wes ihr antut, nicht entgehen. Er ist die unantastbare Autorität im Haus. Ihre Mutter würde ihr nicht glauben. Selbst wenn doch, so hat Willadene ihren Mann immer über ihre Kinder und alles andere gestellt. Sie würde Diane niemals vor ihm beschützen. Die einzige andere erwachsene Bezugsperson ist ihre Großmutter. Vielleicht hätte Diane sich ihr anvertrauen können, wenn sie nicht die Mutter von Wes gewesen wäre. Es hätte ihr das Herz gebrochen, zu erfahren, was ihr Sohn da tut. Diane fühlt sich wie eine Gefangene in dieser ausweglosen Situation.
Immer, wenn der Vater nach Hause kommt und die Mutter sich für ihre Spätschicht fertig macht, fühlt sich Diane besonders traurig und ängstlich. Sie weiß, was nun folgen wird. Im verzweifelten Versuch, es zu verhindern, zieht sie beim Zubettgehen eine Jeanshose und ein Shirt an. Dann liegt sie angespannt im Dunkeln da, wartet und lauscht. Sie will nicht durch seine Berührungen im Schlaf überrascht werden. Die Anspannung hält sie lange wach, bei dem kleinsten Geräusch schreckt sie auf. Wes ignoriert, dass seine Tochter sich angewöhnt hat, in diesen Nächten voll bekleidet zu Bett zu gehen. Er setzt seinen Willen durch, wie er es bisher immer in allen Dingen getan hat. Diane schweigt und lässt alles über sich ergehen. Sie wehrt sich nicht, sie weint nicht. Sie ist das »brave Mädchen«, das er haben will. »Ich habe es einfach ausgeblendet. Es existierte nicht. Ich existierte nicht. Es ist wie ein Albtraum – nicht real«, berichtet sie viele Jahre später davon.
Diane versteht die Reaktionen ihrer Psyche auf den kontinuierlichen Missbrauch nicht. Sie entwickelt zunehmend depressive Symptome, ist ständig traurig, antriebsarm, kann kaum schlafen, ist den ganzen Tag in der Schule müde. In einem Jahr rennt sie fünfmal von zu Hause weg. Doch wenn sie Hunger hat und nicht weiß, wohin, kehrt sie zurück. Mit dreizehn beginnt sie, sich an ihrem linken Arm zu ritzen. Dies versteckt sie vor ihren Mitmenschen. Ihr Vater sieht es oder fühlt es manchmal, wenn er sie wieder auszieht, um sie zu missbrauchen. Er ignoriert es. Diane glaubt, dass ihre Mutter ahnt, was vor sich geht. Doch Willadene ist wie immer einzig darum bemüht, ihren Mann zufriedenzustellen und bei Laune zu halten. Dianes Veränderungen sind überdeutlich. Aber niemand in der Familie reagiert darauf, alle spielen das Theaterstück der Normalität.
Das Leben wird zunehmend unerträglich. Diane denkt über Suizid nach: »Es gab keinen Platz für mich in diesem Leben. Ich hatte niemanden, mit dem ich hätte sprechen können, auf den ich mich hätte verlassen können oder der sich um mich kümmerte. Es gab keinen Grund, um hier zu sein.«
Durch den andauernden Schlafentzug wird Diane auch körperlich krank. Weil die Lehrer in der Schule ihre Besorgnis ausdrücken, fährt Wes mit ihr schließlich zum Familienarzt. Dort sagt sie – wie es von ihr erwartet wird – lediglich, sie habe Schlafschwierigkeiten. Der Arzt geht dem nicht weiter nach. Nach dem Arztbesuch fährt Wes mit ihr in die nahe gelegene Wüste. Während sie die Schnellstraße entlangfahren, fordert er Diane auf, ihr Shirt auszuziehen. Als sie zögert, fügt er hinzu, ihr BH sei doch wie ein Bikinioberteil und es sei ja ein sehr heißer Tag. Diane will nicht, doch Wes besteht mit Nachdruck darauf, bis sie es tut. Vom Fahrersitz aus schaut er zufrieden zu ihr hinüber. Dann fordert er, sie solle auch den BH ausziehen. Diane sieht sein Grinsen. Die beiden sind nicht in ihrem dunklen Zimmer, wo sie sich automatisch ausklinkt, wenn er sich an ihr Bett setzt. Sie sieht sein Grinsen im strahlenden Sonnenschein. Es macht sie unglaublich wütend. »Du bringst mich um!«, schreit sie ihn an und beginnt zu weinen. Sie verliert jegliche Beherrschung. Er ignoriert es. Sie schreit weiter, während er einfach die abgelegene Straße entlangfährt, als sei alles in bester Ordnung. Als Diane plötzlich die Beifahrertür des fahrenden Wagens öffnet, um herauszuspringen, reagiert Wes doch. Mit seinem riesigen Arm ergreift er sie, stößt sie zurück auf ihren Sitz, knallt die Tür zu und blockiert diese. Dabei gerät der Wagen deutlich ins Schleudern.
Das fällt einem Autobahnpolizisten auf, der an diesem Tag für die Überwachung der Strecke zuständig ist. Er überholt den Wagen und fordert Wes zu einer Verkehrskontrolle auf. Diane zieht schnell ihr Shirt wieder an. Der Polizist – ein freundlicher, schon etwas älterer Mann – fragt sie, was passiert sei. Ihrem Gesicht ist deutlich anzusehen, wie heftig sie geweint hat, und sie kann auch jetzt die Tränen nicht zurückhalten. Doch so sympathisch der Polizist auch auf sie wirkt, Diane hat sehr deutlich die Folgen im Kopf, welche ihr Vater ihr immer wieder eingetrichtert hat, würde sie es wagen, ihn jemals zu verraten: »Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich musste mich und meine Mom und meine Brüder und Schwestern beschützen. Wenn mein Vater ins Gefängnis ging, würden wir kein Essen und kein Haus mehr haben. Ich sagte dem Polizisten, dass ich beim Arzt gewesen sei und eine Spritze bekommen hätte. Deshalb würde ich weinen.« Dies ist aus Dianes Sicht eine erforderliche Notlüge. Doch den Rest ihrer Lüge schmückt sie mit Teilen der Wahrheit über den elterlichen Haushalt aus. So begründet sie die Autofahrt durch die Wüste damit, dass es zu Hause verboten sei zu weinen, besonders in Anwesenheit von Besuch. Nun sei genau an diesem Tag Besuch da, und so habe ihr Vater beschlossen, mit ihr nach dem Arztbesuch so lange durch die Gegend zu fahren, bis sie sich beruhigt hätte. Diese Erklärung ist für sie so spontan möglich, da sie auf Alltagswissen zurückgreift; dadurch versucht sie gleichzeitig von dem, was eigentlich in dieser Situation relevant ist, abzulenken. Der erfahrene Polizist merkt dennoch, dass sie nicht die Wahrheit sagt. Er hakt nach, ob sie wirklich sicher sei, dass es so gewesen sei. Sie könne ihm sagen, wenn etwas nicht in Ordnung sei. Doch sie bleibt dabei. Um jeden Preis will sie ihre Familie schützen. Trotz allem.
Der Polizist ist offenbar ein lebenserfahrener Menschenkenner. Er nimmt Wes zur Seite, um unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Diane kann nicht hören, was er sagt, doch ihr Vater wirkt zum ersten Mal nicht dominant und selbstsicher. Er schaut beinahe beschämt und wird kleinlaut. Schließlich kehrt Wes mit gesenktem Blick zum Wagen zurück. Sie fahren direkt nach Hause, ohne ein Wort zu verlieren. Wes missbraucht seine Tochter von diesem Tag an nie wieder. Fünfzehn Jahre später versucht ein Gericht, den Polizisten ausfindig zu machen. Es stellt sich heraus, dass ein Mann, auf den die Beschreibung passt, tatsächlich damals Autobahnpolizist auf dieser Strecke war. Doch er ist längst verstorben, und es gibt keinen Aktenvermerk über den Vorfall.
Sie kann sich nicht verstecken, egal wie sehr sie es versucht.
verkleidet ihr Geheimnis hinter Lügen.
Und nachts weint sie ihren Stolz heraus.
Mit fest geschlossenen Augen
in ihr Inneres hineinstarrend.
Aus: »Carousel« von Linkin Park
Missbrauchserfahrungen haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Opfer. Hierbei spielen viele Faktoren eine Rolle, wie der Zeitpunkt des Beginns des Missbrauchs, die Dauer, die Art der Missbrauchshandlungen und die Beziehung zwischen Täter und Opfer. Auch genetische Faktoren und andere Umwelteinflüsse sind bei der Ausbildung unterschiedlicher Missbrauchsfolgen von Einfluss. Es gibt einige Merkmale im Rahmen sexueller Missbrauchshandlungen, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Missbrauch besonders schwerwiegende Folgen für die Psyche des Opfers haben wird: Je jünger das Kind am Anfang der Missbrauchshandlungen ist, je länger der Missbrauchszeitraum andauert, je stärker es unter Druck steht, den Missbrauch geheim zu halten, und wenn es keine stabilen, engen Bezugspersonen abgesehen vom Täter hat, desto potenziell gravierender können die Folgen sein. Als weitere erschwerende Merkmale gelten die Androhung oder Anwendung von körperlicher Gewalt während des Missbrauchs durch den Täter, ein besonders großer Altersunterschied und eine enge verwandtschaftliche Nähe zwischen Täter und Opfer. In Dianes Fall treffen viele dieser die Folgesymptomatik tendenziell erschwerender Faktoren zu.
Ihr Vater wendet allerdings – wie es die meisten Missbrauchstäter tun – stärker psychische als körperliche Gewalt an. Er manipuliert Diane durch Aufmerksamkeit, Zuwendung und ihre kindliche Liebe zu ihm, um sie zu den Handlungen zu bewegen, die er umsetzen will. Meist ist diese Form des emotionalen Drucks und der Manipulation das Mittel, welches Missbrauchstäter einsetzen. Dies bewirkt, dass die Opfer sich häufig im späteren Verlauf ihres Lebens schuldig fühlen, weil sie glauben, sie hätten sich vehement wehren müssen, anstatt zu tun, was der Täter von ihnen verlangte. Dabei ist ein Kind oder Jugendlicher in Wirklichkeit natürlich nicht in der Lage, sich der Manipulationen eines nahestehenden Täters zu erwehren und sich dem derartig gezielt ausgeübten emotionalen Druck durch den ihm wichtigen Menschen zu entziehen. Der emotionale Druck ist auf den ersten Blick zwar weniger offensichtlich als körperliche Gewalt, doch er ist nicht minder effektiv und schädlich.
Häufige Folgen von sexuellem Missbrauch sind Selbstwertprobleme, Schuldgefühle, Selbsthass und Ekel. Später kommen vermehrt Auffälligkeiten im Bereich der Gestaltung von Sexualität und Liebesbeziehungen hinzu. Manche Betroffenen können als Folge des Missbrauchs körperliche Nähe nicht gut zulassen, andere verhalten sich sexuell distanzlos und offensiv, weil sie glauben, sich mit sexuellem Verhalten Zuwendung »verdienen« zu müssen. Viele Betroffene entwickeln als Erwachsene unterschiedliche Schwierigkeiten bei der Gestaltung intimer Beziehungen und spüren auch nahestehenden Menschen gegenüber ein grundsätzliches Misstrauen. Manche Betroffenen vermeiden daher allzu enge Bindungen, während andere sich diese extrem wünschen und immer wieder daran scheitern, eine perfekte, möglichst enge Beziehung aufzubauen. Bei einigen Betroffenen entwickeln sich auch unterschiedliche andere psychische Probleme wie depressive Episoden, Panikattacken, Schlaf- und Essstörungen oder Suchtprobleme. Auch Stimmungsschwankungen, Wutanfälle, allgemein impulsives Verhalten, Selbstverletzung und Suizidalität können Auswirkungen sexueller Missbrauchserfahrungen sein.
Zusammenfassend gibt es eine Vielzahl möglicher negativer Folgen, welche sexueller Missbrauch nach sich ziehen kann, doch keine dieser Auffälligkeiten muss zwangsläufig auf sexuellen Missbrauch zurückgehen. All die genannten Symptome können auch aus anderen Gründen entstehen, sodass es nicht möglich ist, aus einem oder mehreren dieser Anzeichen sicher darauf zu schließen, dass die betroffene Person in ihrer Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht wurde. Dennoch haben Missbrauchsopfer häufiger als andere Menschen in ihrem späteren Leben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Eine qualifizierte psychotherapeutische Behandlung, die auf das jeweilige Symptombild ausgerichtet ist, kann eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität bringen und dabei helfen, die Erlebnisse zu verarbeiten.*
Für mich ist Sex der ultimative Weg,
einem geliebten Menschen zu zeigen,
dass man ihn liebt.
Elizabeth Diane Downs
Gleichzeitig mit dem Missbrauch endet auch jegliche Art von positiver Zuwendung, die Wes kurzzeitig gezeigt hat, um Diane zu manipulieren – so abrupt, wie sie begonnen hat. Emotionale Nähe sucht sie – wie schon seit früher Kindheit – bei Haustieren. In unterschiedlichen Phasen hat sie Hunde, Katzen, Schildkröten, Schmetterlinge und mit fünfzehn sogar ein Pferd. Die Tiere ersetzen menschliche Bezugspersonen, geben ihr Nähe und können gleichzeitig keine Bedrohung für sie werden. Später sagt sie über ihr Pferd: »Mein Hengst bedeutete für mich Freiheit, Kraft, ein Freund, mit dem ich sprechen konnte, der nicht seinerseits sprach. Er mochte auch keine Menschen. Ich war die Einzige, auf die er hörte. Er gab mir Kraft.«
Diane fühlt sich hässlich aufgrund der unzeitgemäßen Kleidung, der buschigen Augenbrauen und einer eher für Männer typischen Frisur, die ihr Vater ihr aufzwingt. In der Junior-Highschool himmelt sie heimlich Mitschüler an, schwelgt in romantischen Träumen, traut sich jedoch nie, einen der Jungen anzusprechen. Schließlich erlauben ihr die Eltern einen Kurs, in dem ihr beigebracht wird, sich geschmackvoll herzurichten und selbstsicher zu geben. Nach diesem Kurs verändert sich Dianes Verhalten drastisch. Sie kippt von einem Extrem ins andere.
Durch die zu ihrem Typ passende Kleidung, gezupfte Augenbrauen und das selbstsichere Auftreten ändern sich auch merklich die Reaktionen ihrer Umwelt auf sie. Plötzlich beginnen Jungen, sich für sie zu interessieren. Einer von ihnen ist ihr gleichaltriger Mitschüler und Nachbarsjunge Steve Downs. Er ist attraktiv, tritt selbstsicher auf, trägt die Haare lang. Für die fünfzehnjährige Diane ist er ein »Rebell«. Es ist schmeichelhaft für sie, wie er um sie wirbt. Außerdem befriedigt Steve in dieser Zeit eines von Dianes stärksten Bedürfnissen: das Bedürfnis, einem anderen Menschen wirklich wichtig zu sein. Doch auch der Wunsch, endlich dem verhassten Elternhaus zu entkommen, treibt sie in der Beziehung zu Steve an. Rückblickend sagt sie: »Er war alles, was meine Eltern nicht mochten. Wenn ihr Leben das falsche für mich war, dann sollte das, was sie hassten, besser für mich sein. Daher wählte ich Steve.« Wie erwartet lehnen Willadene und Wes Steve als potenziellen Schwiegersohn ab, was Diane nur noch mehr in ihrem Plan bestärkt, ihn heiraten zu wollen.
Sie vertraut Steve an, dass Wes sie missbraucht hat. Dieser ist mit dem Thema völlig überfordert und geht nicht weiter darauf ein. Dennoch hat er diese Information bei Treffen mit ihren Eltern im Hinterkopf und findet solche Situationen daher besonders befremdlich. Die beiden bleiben während der Schulzeit zusammen. Diane genießt es, nun einen Mann an ihrer Seite zu haben, dem sie merklich wichtig ist und der für sie auch gegenüber anderen eintritt. Die Beziehung zu ihm ist ihr eine Stütze, als sie mit siebzehn ihre Großeltern bei einem tragischen Autounfall verliert: Das Auto wird frontal von einem betrunkenen LKW-Fahrer gerammt. In der Folgezeit erlebt Diane mehrmals, wie ihr Vater Haustiere, die ihr viel bedeuten, erschießt: ihren Hund, weil dieser angefahren wird und verletzt ist; die von ihr besonders geliebte Ziege mit deren Jungen und schließlich ihre Katze, weil sie von Würmern befallen ist. Für Wes sind Tiere Objekte, die er dann beseitigt, wenn sie ihm lästig sind oder es aus seiner Sicht einen anderen guten Grund dafür gibt. Die Empfindungen anderer Menschen spielen in seiner Wahrnehmung keine Rolle, weshalb er Dianes emotionale Reaktionen wegen des von ihm verursachten Todes ihrer geliebten Tiere nicht nachvollziehen kann.
Beim letzten Ereignis dieser Reihe von Verlusterlebnissen – der Tötung ihrer Katze – verfällt Diane in einen einstündigen, stark dissoziativen Zustand. Die vielen schmerzhaften Verlusterlebnisse in kurzer Abfolge, gepaart mit absoluter Hilflosigkeit, erzeugen eine emotionale Belastung, die zu viel für sie ist. Ihre Wahrnehmung und ihr Bewusstsein sind völlig verändert. Es ist, als würde sie neben sich stehen und ein Film würde wie automatisch ablaufen. Sie wandert ziellos durch die Straßen. Was genau sie in dieser Zeit tut, daran kann sie sich später nicht mehr erinnern. Ihre Erinnerung beginnt erst, als sie wieder in ihrem Zimmer steht und sich eine saubere Bluse anzieht. Sie bemerkt, dass ihr Fuß schmerzt und blutet. Die Fußverletzung sieht aus, als sei sie beim heftigen Tritt gegen einen Gegenstand entstanden. Diane erinnert sich nicht. Es ist der erste Zustand dieser Art, der ihr aufgrund seiner Länge auffällt.
Ausgerechnet in dieser für Diane enorm belastenden Zeit geht Steve zur Navy. Nun fühlt sie sich wieder völlig allein und beginnt, ihr Gesicht nervös aufzukratzen und ihren Vater anzuschreien, wenn er sie unter Druck setzt. Ihr ist klar, dass sie das Leben zu Hause, ohne Steve in der Nähe, nicht aushält. Immerhin hat sie einen Highschool-Abschluss mit Auszeichnung. Als sie ein Studienangebot von einer baptistischen Universität erhält, das eine Missionarstätigkeit zum Ziel hat, ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf. Sie hofft, über dieses Studium später in eine medizinische Richtung wechseln zu können, da ihr weiterhin eine Karriere als Ärztin vorschwebt. Das College ist fünf Autostunden entfernt – weit weg von den Regeln ihres strengen, verhassten Vaters.
Das erste Jahr am College empfindet Diane als Befreiung in vielerlei Hinsicht. Der Neustart an einem Ort voller konservativer Regeln und unterdrückter Sexualität bietet ihr eine große Anzahl an Verehrern. Ihr attraktives Äußeres und das einnehmende Wesen bescheren ihr sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit – ebenjene Dinge, nach denen sie sich ihr ganzes Leben lang so verzweifelt gesehnt hat. Diane wendet an, was sie durch den sexuellen Missbrauch gelernt hat: Zuwendung mit sexuellen Handlungen zu »bezahlen«. Sie verführt mehrere der häufig sexuell unerfahrenen Mitstudenten. Diese sind von ihren »Fähigkeiten« überrascht und begeistert. Diane steht im Mittelpunkt und genießt die Zuwendung wie eine Blume, die das erste Mal Sonnenlicht abbekommt. Für sie ist das sexuelle Interesse der jungen Männer gleichbedeutend mit Liebe, und Liebe ist es doch, wonach sie sich ihr Leben lang gesehnt hat. Sie erklärt später: »Wenn Jungs dich liebkosen und berühren, bedeutet das, dass sie dich lieben.« Schließlich prangert eine Kommilitonin sie bei der Schulleitung an, was ihren Rauswurf wegen »Promiskuität« zur Folge hat. Diesen nimmt Diane mit einem gewissen Stolz entgegen und kehrt zu ihren Eltern zurück.
Mit Aushilfsjobs verdient sie sich Geld dazu und wartet auf Steves Rückkehr von der Navy. Sie sieht in ihm die nächste Gelegenheit, dem Elternhaus zu entkommen. Nur drei Monate nach ihrem achtzehnten Geburtstag setzt sie ihr Vorhaben um – ohne Steve oder ihre Eltern vorher darüber zu informieren. Sie bleibt nach einem Date einfach über Nacht bei ihm und geht am nächsten Tag nicht mehr nach Hause zurück. Steve nimmt dies einfach zur Kenntnis. Bald darauf taucht Wes wutentbrannt mit einer Waffe auf und geht aggressiv auf Steve los. Entweder solle er Diane unverzüglich heimbringen oder sie heiraten – so sein Ultimatum. Steve weiß, wie unglücklich Diane zu Hause ist, und verspürt Abscheu gegen ihren Vater wegen des Missbrauchs, von dem er weiß. Daher willigt er sofort in eine Heirat ein. Diane erscheint ihm als künftige Ehefrau eine gute Wahl. Es läuft also alles genau so, wie Diane es geplant hat. Nur eine Woche später findet die Hochzeit ohne große Feierlichkeiten statt. Ihre Mutter schenkt ihr für den Start in die Ehe eine Packung Antibabypillen.