Zu Florenz, neben der Kirche Or San Michele, befanden sich die Warenlager der Färberinnung.
Unförmige Anbauten und Speicher und schiefe, von schrägen Holzbalken gestützte Erker klebten an den Häusern und ihre Ziegeldächer kamen oben einander so nahe, daß vom Himmel nur ein schmaler Spalt zu sehen war und daß die Gasse, selbst am Tage, im Finstern lag. Über den Ladentüren hingen Muster ausländischer in Florenz gefärbter Wolle. Mitten durch die Straße lief ein mit Steinplatten belegter Graben und darin flossen bunte Wässer, die aus den Färberbottichen kamen. Über den Türen der Hauptniederlagen – Fondachi – waren Wappenschilder des Kalimala, Wahrzeichen der Färberinnung, angebracht: goldene Adler über runden weißen Wolleballen auf rotem Grunde.
In einem der Fondachi saß, von Schriftstücken und dicken Geschäftsbüchern umgeben, der reiche florentiner Kaufherr und Konsul der edlen Kunst Kalimalas – Messer Cipriano Buonaccorsi.
Den Alten fröstelte im kalten Licht des Märztages und in dem feuchten Hauch, der den vollgestopften Warenkellern entströmte; er hüllte sich in seinen abgewetzten Pelz aus Eichhornfellen, der an den Ellenbogen durchlöchert war. Eine Gänsefeder steckte hinter seinem Ohr, und er studierte mit seinen schwachen und kurzsichtigen, aber doch alles sehenden Augen, anscheinend nachlässig, in der Tat aber höchst aufmerksam die Pergamentblätter eines großen Geschäftsbuches. Die Seiten des Buches waren durch wagrechte und senkrechte Linien geteilt; rechts stand »Soll«, links – »Haben«. Die Eintragungen waren mit einer gleichmäßigen runden Handschrift gemacht, und zwar ohne Majuskeln, Punkte und Kommas; die Zahlen waren in römischen Ziffern geschrieben, denn die arabischen galten als eine leichtsinnige und für den Geschäftsverkehr unpassende Mode. Auf dem ersten Blatt stand in großer Schrift:
»Im Namen unseres Herrn Jesu Christi und der heiligen Jungfrau Maria wurde dieses Kontobuch im Jahre eintausendvierhundertvierundneunzig nach der Geburt des Heilands angelegt.«
Als Messer Cipriano mit der Durchsicht der letzten Eintragungen fertig war und einen Fehler in der Aufstellung der als Pfand übernommenen Wollwaren und Posten von Pfefferschoten, Mekka-Ingwer und Zimt entdeckt und berichtigt hatte, lehnte er sich müde in seinen Sessel zurück und begann sich im Kopfe einen Geschäftsbrief zurechtzulegen, den er nach Montpellier in Frankreich, wo jetzt eine Tuchmesse stattfand, an seinen Hauptkommis schreiben mußte.
Jemand trat in den Laden. Der Alte blickte auf und erkannte den Landwirt Grillo, der das Ackerland und die Weinberge auf seiner Villa San Gervasio im Tale von Munione in Pacht hatte.
Grillo verbeugte sich. In den Händen hatte er einen Korb mit Eiern, die sorgfältig in Stroh gepackt waren, und an seinem Gürtel baumelten zwei lebende junge Hähnchen mit zusammengebundenen Beinen.
»So, du bist es, Grillo!« sagte Buonaccorsi, der im Verkehr mit Großen und Geringen immer die gleiche Freundlichkeit zeigte. »Wie geht es? Ich glaube, das Frühjahr wird nicht übel?«
»Für so alte Männer, wie wir es sind, Messer Cipriano, hat auch das Frühjahr wenig Reiz: denn die Knochen schmerzen und sehnen sich nach dem Grabe.« – Nach einer Pause fuhr er fort: »Da bringe ich Ew. Gnaden zum heiligen Osterfeste Eier und auch ein paar Hähnchen.«
Grillo zwinkerte schlau und höflich mit seinen grünlichen Augen, wobei sich in seinem Gesicht feine braune Runzeln bildeten, die allen Leuten, die viel in Sonne und Wind arbeiten, eigen sind.
Buonaccorsi bedankte sich und erkundigte sich beim Alten nach seinen Geschäften.
»Nun, wie steht es mit den Arbeiten auf dem Landgute? Werden wir noch vor Ostern fertig?«
Grillo holte tief Atem und blieb auf seinen Stock gestützt eine Weile nachdenklich stehen.
»Alles ist bereit und wir haben genügend Arbeiter. Ich will mir aber, Messere, die Frage erlauben: sollen wir nicht lieber abwarten?«
»Du hast ja neulich selbst gesagt, daß wir es nicht hinausschieben sollen, sonst könnte ja jemand von der Sache Wind bekommen.«
»Es stimmt. Und doch fürchte ich mich. Es ist ja ein sündhaftes Werk, das wir vorhaben, und in diesen heiligen Fastentagen....«
»Die Sünde will ich auf mich nehmen, habe nur keine Angst, ich verrate dich nicht. – Werden wir auch wirklich etwas finden?«
»Gewiß! Dafür haben wir untrügliche Anzeichen. Unsere Väter und Großväter kannten schon jenen Hügel hinter der Mühle am »Nassen Hohlweg«. Nachts wimmelt es über San Giovanni von Irrlichtern. Wir haben übergenug von solchem Teufelszeug im Lande. Man erzählt, sie hätten neulich im Lehm einen ganzen Teufel gefunden, als sie einen Brunnen auf dem Weinberge von Maringiole gruben.«
»Was sagst du da? Was für einen Teufel?«
»Einen kupfernen mit Hörnern. Er hatte behaarte Beine mit Hufen, wie so ein Ziegenbock. Die Schnauze war recht lustig und er lachte. Er tanzte auf einem Bein und schnalzte mit den Fingern dazu. Von Alter war er ganz grün und wie mit Moos bewachsen.«
»Was machte man mit ihm?«
»Man goß ihn zu einer Glocke für die Erzengel Michael-Kapelle um.«
Messer Cipriano geriet fast außer sich vor Zorn.
»Warum hast du es mir nicht schon früher erzählt, Grillo?«
»Ihr wart ja auf einer Geschäftsreise in Siena.«
»Du konntest mir ja darüber schreiben. Ich hätte jemand schicken können; ich wäre auch selbst gekommen, hätte keine Kosten gescheut. Sie hätten von mir dort zehn Glocken gekriegt. Die Narren! Aus einem tanzenden Faun, vielleicht aus dem Werke des alten griechischen Bildhauers Skopas eine Glocke zu gießen!«
»Es sind auch wirklich Narren. Zürnet nur nicht, Messer Cipriano. Sie sind auch schon so bestraft: seit die neue Glocke hängt – es sind schon zwei Jahre – fressen Würmer ihre Äpfel und Kirschen und auch die Oliven gedeihen schlecht. Der Ton der Glocke ist, übrigens, auch nicht gut.«
»Wieso?«
»Das ist schwer zu sagen. Die Glocke hat eben nicht den richtigen Ton, sie erfreut das Christenherz nicht. Es ist ein ganz sinnloses Gebimmel. Die Sache ist ja klar: wie kann aus einem Teufel eine ordentliche Glocke werden? Mit Verlaub zu sagen, Messere: der Pfarrer hat vielleicht auch recht, wenn er sagt, daß von dem ganzen Teufelszeug, das man aus der Erde gräbt, nichts Gutes kommt. Die Sache muß man auch mit der größten Vorsicht in die Hand nehmen. Man muß sich zu solchen Arbeiten mit Kreuz und Gebet bewaffnen, denn der Böse ist stark und schlau: der Hundesohn kriecht einem in ein Ohr hinein und aus dem andern wieder hinaus! Auch mit der Marmorhand, die Sacello im vorigen Jahr im Mühlenhügel fand, haben wir wenig Freude erlebt; – sie hat uns so viel Pech gebracht, daß ich davon lieber gar nicht spreche...«
»Erzähle mir, Grillo, wie hast du die Hand gefunden?«
»Es war im Herbst, vor dem Martinstag. Wir waren gerade beim Nachtmahl und die Hausfrau hatte eben den Brotbrei auf den Tisch gesetzt, als plötzlich der Arbeiter Sacello, ein Neffe meines Gevatters, in die Stube gestürzt kam. Ich muß eben bemerken, daß ich ihn an diesem Abend auf dem Felde neben dem Mühlenhügel zurückgelassen hatte, damit er einen alten Olivenstamm aus der Erde reiße, denn ich wollte auf jener Stelle Hanf bauen. Dieser Sacello stammelt: »Herr, Herr!« wobei seine Zähne klappern und er am ganzen Leibe zittert. »Gott mit dir, Junge!« – »Auf dem Felde,« sagt er, »ist es nicht geheuer: ein Toter sitzt unter dem Olivenstamm. Wenn Ihr es nicht glaubt, so kommt mit, Ihr werdet ihn schon sehen.« Wir nahmen unsere Laternen und gingen mit. Es war ganz dunkel geworden und hinter dem Gehölz ging der Mond auf. Wir kamen also zum Baumstamm und sahen, daß die Erde aufgewühlt war und daß im Loche etwas schimmerte. Ich beugte mich zu dem Loch und sah eine weiße Hand mit schönen feinen Fingern, wie sie die Stadtfräulein haben. »Daß dich der Teufel!« denke ich mir, »was ist das wieder für ein Zauber?« Wie ich nun meine Laterne in die Grube senke, um besser sehen zu können, beginnt die Hand sich zu bewegen und zu winken. Das war mir zu viel, ich schrie auf und fiel beinahe hin. Da sagte aber die Großmutter Monna Bonda, die bei uns als Wahrsagerin und auch als Hebamme geschätzt wird (sie ist zwar sehr alt, doch recht rüstig): »Worüber erschreckt ihr, Dummköpfe? Seht ihr denn nicht, daß die Hand weder lebendig, noch tot, sondern aus Stein ist?« Sie faßte die Hand kräftig an und zog sie aus der Erde wie man eine Rübe herauszieht. Sie war über dem Handgelenk abgebrochen. »Großmutter,« sagte ich, »Großmutter, laß es sein, rühr sie nicht an, wir wollen sie wieder in die Erde vergraben, sonst gibt es ein Unglück.« – »Nein,« sagte sie, »so macht man es nicht. Man trägt sie zunächst in die Kirche zum Pfarrer, damit er aus ihr den Teufel austreibe.« Die Alte hat mich betrogen: sie trug die Hand gar nicht zum Pfarrer, sie versteckte sie in ihre Truhe, wo sie ihre Lumpen, Salben, Kräuter, Amulette und ähnliches Zeug aufbewahrt. Ich schimpfte, sie solle die Hand wieder hergeben, die Alte wollte aber nicht. Und seit jener Zeit führte Monna Bonda viele wunderbare Heilungen aus. Wenn z. B. jemand Zahnweh hatte, so berührte sie mit jener Heidenhand die Backe und die Geschwulst war gleich weg. Sie heilte auch Fieber, Leibschmerzen und Fallsucht. Und wenn eine Kuh kalben sollte und sich quälte, so legte die Großmutter der Kuh die Marmorhand auf den Bauch und da lag schon gleich das Kalb im Stroh.
Die Sache wurde in der ganzen Gegend viel besprochen. Die Alte verdiente ein schönes Geld. Nur gedieh es schlecht. Der Pfarrer – Pater Faustino, machte mir die Hölle heiß: so oft ich in die Kirche kam, überschüttete er mich vor der ganzen Gemeinde mit Vorwürfen, er nannte mich einen Sohn der Verderbnis, einen Teufelsknecht, er drohte mich beim Bischof zu verklagen und mir das heilige Abendmahl zu verweigern. Die Gassenjungen liefen mir überall nach, sie zeigten auf mich mit den Fingern und spotteten: »Da ist Grillo, er ist ein Zauberer und seine Großmutter ist eine Hexe, beide haben ihre Seele dem Teufel verschrieben.« Ihr könnt es mir glauben, oder nicht: selbst nachts fand ich keine Ruhe: immer sah ich die Marmorhand vor mir, sie näherte sich mir langsam, berührte gleichsam liebkosend mit ihren langen kalten Fingern meinen Hals und plötzlich packte sie mich bei der Gurgel und würgte mich. Ich wollte schreien und konnte nicht.
Da sagte ich mir: das ist kein Spaß mehr. Ich stand also einmal vor Sonnenaufgang auf, als die Alte gerade auf den Wiesen ihre Kräuter sammelte, und brach das Schloß an ihrer Truhe auf. Ich nahm die Hand heraus und brachte sie Euch. Der Trödler Lotti bot mir zwar zehn Soldi; Ihr gabt mir aber nur acht. Aber für Ew. Gnaden opfere ich nicht nur die zwei Soldi, sondern auch mein Leben – der Herr schenke Euch Glück und auch der Madonna Angelika und Euern Kindern und Enkelchen.«
»Nach alledem, was du da erzählst, werden wir auf dem Mühlenhügel sicher etwas finden, Grillo,« sagte Messer Cipriano etwas nachdenklich.
»Finden werden wir schon,« sagte der Alte und atmete wieder tief auf. »Daß nur Pater Faustino nicht wieder Wind bekommt. Erfährt er etwas, so wäscht er mir den Kopf so gründlich und ohne Seife, daß ich genug habe und auch Euch wird er schaden: er wird das Volk aufwiegeln und so die Arbeiter abspenstig machen. Aber Gott ist ja gnädig. Doch ich bitte Euch: bleibt mir ein gütiger Wohltäter und legt beim Richter ein Wörtchen für mich ein.«
»Betrifft es das Grundstück, das dir der Müller wegprozessieren will?«
»Ja, Messere«. Der Müller ist habgierig und ein Schuft. Er weiß, wo der Teufel seinen Schwanz hat. Ich habe nämlich dem Richter ein Kalb geschenkt, darauf schickte ihm der Müller eine trächtige junge Kuh und nun kalbte diese während des Prozesses. Der Schelm hat mich übertrumpft. Jetzt fürchte ich, daß er den Prozeß gewinnt, denn die Kuh warf ein Stierkalb. Nehmt mich in Schutz, Wohltäter! Ich gebe mich ja nur Ew. Gnaden zu Liebe mit dem Mühlenhügel ab, – für niemand andern würde ich diese Sünde auf mich nehmen...«
»Beruhige dich, Grillo. Ich stehe mit dem Richter sehr gut und will für dich eintreten. Jetzt geh aber. In der Küche bekommst du zu essen und zu trinken. Heute nacht fahren wir nach San Gervasio.«
Grillo bedankte sich mit einem tiefen Bückling und ging. Messer Cipriano zog sich in sein kleines Arbeitszimmer am Laden zurück, das niemand betreten durfte.
Wie in einem Museum hingen und standen da allerlei Bronzen und Marmorbildwerke umher. Auf mit Tuch belegten Tafeln prangten alte Münzen und Medaillen. Mehrere Kisten waren mit noch unsortierten Bruchstücken von Statuen angefüllt. Durch Vermittlung seiner zahlreichen Handelsvertreter ließ er sich Antiquitäten von überall, wo solche nur aufzutreiben waren, kommen: aus Athen, Smyrna und Halikarnassos, aus Cypern, Leukosia und Rhodos, aus dem Innern Ägyptens und Kleinasiens. Der Konsul Kalimalas betrachtete eine Zeitlang seine Schätze und vertiefte sich dann wieder in ernste Gedanken über den neuen Einfuhrzoll auf Wolle, und als er über diese Frage reiflich nachgedacht hatte, machte er sich an den Brief an seinen Hauptkommis in Montpellier.
In der gleichen Zeit plauderten drei junge Männer: Doffo, Antonio und Giovanni hinten im Warenlager, bei den bis zur Decke aufgestapelten Wolleballen, die auch bei Tage nur von einem vor dem Madonnenbilde flackernden Lämpchen beleuchtet waren. Doffo, ein Kommis des Hauses, war rothaarig, hatte eine Stumpfnase und einen gutmütigen und heiteren Gesichtsausdruck; er trug die Ellenzahl des gemessenen Tuches in ein Lagerbuch ein. Antonio da Vinci, ein greisenhaft aussehender Jüngling mit den gläsernen Augen eines Fisches und ungefügigen struppigen Büscheln spärlichen schwarzen Haares, maß das Tuch sehr geschickt mit dem florentiner Maß – Canna. Giovanni Beltraffio, ein aus Mailand zugereister neunzehnjähriger schüchterner Kunstschüler mit großen unschuldigen traurigen grauen Augen, saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem fertigen Warenballen und hörte aufmerksam zu.
»So weit sind wir jetzt,« sagte Antonio leise und boshaft: »daß wir heidnische Götzen aus der Erde graben! – Zweiunddreißig Ellen, sechs Spannen acht Oncien rauher brauner schottischer Wolle,« fuhr er fort, sich an Doffo wendend. Dieser machte die entsprechende Eintragung in sein Buch. Antonio rollte das abgemessene Stück wieder auf und schmiß es aufgeregt, aber geschickt gerade zu jenem Haufen, wo es hingehörte. Darauf hob er den Zeigefinger und sagte mit prophetischem Ton, den Frater Girolamo Savonarola imitierend:
»Gladius Dei super terram cito et velociter! Der heilige Johannes hatte auf Patmos ein Gesicht: Der Engel ergriff den Teufel – den Drachen der Urzeiten – und legte ihn auf tausend Jahre in Ketten. Er stürzte ihn in den Abgrund, versperrte ihn da und versiegelte die Tore, damit er die Völker nicht ärgere, so lange nicht tausend Jahre und eine Zeit und eine halbe Zeit erfüllt wären. Jetzt kommt der Satan aus seinem Gefängnis. Die tausend Jahre sind um. Aus der Erde, die der Engel versiegelt hatte, kommen die falschen Götter, die Vorläufer und Knechte des Satans, um die Völker zu ärgern, wehe denen, die auf der Erde und auf dem Meere wohnen!«
»Siebzehn Ellen, vier Spannen neun Oncien glatte gelbe brabanter Wolle.«
»Ihr glaubt also,« sagte Giovanni mit dem Ausdrucke ängstlicher und gieriger Neugierde: »daß alle diese Dinge Zeichen sind?«
»Ja, gewiß. So ist es. Wachet! Die Zeit naht. Man begnügt sich nicht mehr damit, alte Götter herauszugraben, man macht auch neue nach dem Vorbild der alten. Die Bildhauer und Maler dienen heute dem Moloch, d. h. dem Teufel. Aus der Kirche des Herrn macht man einen Tempel für den Satan. Man malt unter der Maske von Märtyrern und Heiligen unsaubere Götter und betet sie an: als Johannes den Täufer malen sie den Bacchus, als die heilige Jungfrau – die Hure Venus. Solche Bilder sollte man verbrennen und die Asche in alle Winde streuen!«
In den trüben Augen des frommen Kommis brannte jetzt ein drohendes Feuer.
Giovanni schwieg. Er wagte nicht zu widersprechen und zog mit kraftloser Gebärde seine dünnen kindlichen Brauen zusammen.
»Antonio,« sagte er nach einer Weile: »es wurde mir gesagt, daß Euer Vetter Messer Leonardo da Vinci zuweilen Schüler in seine Werkstatt aufnehme. Ich habe längst die Absicht...«
»Wenn du deine Seele durchaus verderben willst,« unterbrach ihn Antonio zornig: »so geh nur zum Messer Leonardo.«
»Wieso denn?«
»Er ist zwar mein Vetter und auch um zwanzig Jahre älter als ich, doch es steht geschrieben: vom Ketzer mußt du dich nach dem ersten und zweiten Bekehrungsversuch abwenden. Messer Leonardo ist ein gottloser Ketzer. Sein Geist ist vom satanischen Hochmut verfinstert. Er wähnt mit Hilfe der Mathematik und der schwarzen Magie in die Geheimnisse der Natur eindringen zu können...«
Er hob seine Augen zum Himmel und zitierte folgende Stelle aus der letzten Predigt Savonarolas:
»Die Weisheit dieser Zeit ist Wahnsinn vor dem Herrn. Wir kennen diese Weisen: sie gehen alle in die Wohnung des Satans!«
»Habt Ihr schon gehört, Antonio,« fuhr Giovanni noch mehr eingeschüchtert fort: »daß Messer Leonardo sich jetzt in Florenz aufhält? Er ist soeben aus Mailand hergekommen.«
»Wozu?« »Der Herzog hat ihn hergeschickt, damit er sich umsieht, ob er nicht einige Bilder aus dem Nachlasse Lorenzo des Prächtigen kaufen könne.«
»Ist er hier, so ist er eben hier. Mich geht's ja weiter nichts an!« unterbrach ihn Antonio und maß nun mit doppeltem Eifer das Tuch mit der Canna.
In den Kirchen läutete man zur Vesper. Doffo reckte sich und schlug vergnügt sein Buch zu. Es war Feierabend und man schloß die Läden.
Giovanni trat auf die Straße. Zwischen den nassen Dächern war ein grauer Himmel mit einem kaum merklichen rötlichen Schimmer des Abendrots zu sehen. Ein feiner Regen fiel durch die windstille Luft.
Aus einem offenen Fenster der Nebengasse erklang plötzlich das Lied:
»O vaghe montanine e pastorelle«
»Der Berge Jungfrau'n, holde Schäferinnen ...«
Die Stimme war jung und schön. Giovanni schloß nach dem das Lied begleitenden Schnurren und Klopfen, daß die Sängerin an einem Webstuhl sitze.
Er hörte eine Weile hingerissen zu und da fiel ihm ein, daß nun Frühling sei und sein Herz bebte in grundloser Trauer und Rührung.
»Nanna! Nanna! Wo bist du, Teufelsdirne? Bist du taub? Komm zum Nachtmahl! Die Nudeln werden kalt.«
Er hörte noch eilige Schritte von Holzschuhen – Joccoli – über die Fliesen und dann wurde es wieder still.
Giovanni stand noch lange da und starrte zum leeren Fenster hinauf. Durch sein Herz zog eine Frühlingsweise, wie das Spiel einer fernen Schalmei:
»O vaghe montanine e pastorelle! ...«
Dann seufzte er leise auf und trat in das Haus des Konsuls. Er stieg eine steile Holztreppe mit morschem wurmzerfressenem Geländer hinauf und gelangte in einen großen Raum, der als Bibliothek diente und in dem der Hofhistoriograph des Mailänder Herzogs – Giorgio Merula über einem Schreibpult gebeugt saß.
Merula kam nach Florenz im Auftrage seines Herrn, um seltene Werke aus der Bibliothek Lorenzo des Prächtigen anzukaufen. Er kehrte wie immer bei seinem Freunde Messer Cipriano Buonaccorsi, der gleich ihm großer Liebhaber von Altertümern war, ein. Der gelehrte Geschichtsschreiber lernte Beltraffio auf der Reise aus Mailand zufällig in einem Gasthause kennen und brachte ihn ins Haus des Cipriano, da er, Merula, einen geschickten Schreiber brauchte. Giovanni hatte aber eine schöne und deutliche Schrift.
Als Giovanni ins Zimmer trat, war Merula mit einem alten zerfetzten Buch beschäftigt, das wie ein Brevier oder Psalter aussah. Er strich vorsichtig mit einem nassen Schwamm über das zarte Pergament, das aus der Haut eines totgeborenen irischen Lammes gefertigt war; einzelne Zeilen bearbeitete er mit Bimsstein, glättete sie mit Messer und Falzbein und betrachtete dann die Blätter gegen das Licht. Er murmelte gerührt und aufgeregt:
»Ihr Lieben, Armen ... kommt doch ans Licht ... Wie lang ihr doch seid und wie schön!«
Er schnalzte mit den Fingern und hob seinen kleinen kahlen Kopf. Sein Gesicht war aufgedunsen und von weichen beweglichen Falten durchfurcht, seine Nase blaurot, seine Augen klein, bleigrau, doch voller Leben und überschäumender Freude. Auf der Fensterbank vor ihm stand ein Tonkrug und ein Becher. Der Gelehrte schenkte sich Wein ein, trank aus, räusperte sich und wollte gerade wieder sein Buch vornehmen, als er Giovanni gewahrte.
»Grüß Gott, Mönchlein!« begrüßte ihn der Alte scherzend: er nannte Giovanni so seiner Bescheidenheit wegen. – »Ich habe mich nach dir wirklich gesehnt. Wo der sich nur herumtreibt? – Ich dachte mir: Hat er sich vielleicht gar verliebt? Denn in Florenz gibt es nette Mädchen, man kann sich schon wirklich in eine verlieben. – Auch ich habe hier meine Zeit nicht vergeudet. Du hast wohl noch nie ein so spaßhaftes Ding gesehen. Soll ich es dir zeigen? Oder lieber nicht: am Ende erzählst du es noch herum. Ich habe das Ding bei einem jüdischen Trödler unter allem möglichen alten Zeug entdeckt und um wenige Groschen gekauft. Nun, es sei: ich will es dir zeigen. Sonst aber niemand.«
Er winkte ihm näher heran.
»Komm näher ans Licht!« Er zeigte ihm ein Blatt, das eng mit eckiger Kirchenschrift beschrieben war. Es waren Hymnen, Gebete und Psalmen mit großen plumpen Noten.
Dann schlug er das Buch auf einer anderen Stelle auf, hob es zum Licht vor Giovannis Augen – und da sah dieser unter den wegradierten Zeilen andere fast unsichtbare Schriftzeichen hervorschimmern; es waren eigentlich keine Schriftzeichen, vielmehr vertiefte blasse und zarte Gespenster längst entschwundener Buchstaben.
»Siehst du es jetzt?« fragte Merula triumphierend. »Da sind sie nun alle wieder da. Ich sagte dir ja, Mönchlein, daß es ein spaßhaftes Ding ist!«
»Was ist es denn? Woher?« fragte Giovanni.
»Ich weiß es noch selbst nicht. Ich glaube, es sind Bruchstücke der alten Anthologie. Vielleicht sind es auch neue, der Welt unbekannte Schätze der hellenischen Muse. Wäre ich nicht gekommen, so hätten sie nie das Licht der Welt erblickt. Sie blieben dann für alle Ewigkeit unter diesen Hymnen und Bußpsalmen begraben...«
Merula erzählte, daß manche Mönche, die im Mittelalter Bücher schrieben, von alten wertvollen Pergamenthandschriften die heidnischen Zeilen wegradierten um sie neu zu beschreiben.
Die Sonne vermochte nicht den grauen Regenschleier zu zerreißen; sie schimmerte aber durch und füllte das Zimmer mit einem rötlichen, langsam verglimmenden Schein. Bei diesem Licht traten die Schatten der alten Schriftzeichen deutlicher hervor.
»Siehst du, siehst du: die Toten stehen auf!« sagte Merula voller Entzücken: »Ich glaube, es ist eine Hymne an die Olympier. Schau nur her, die Anfangszeilen kann man jetzt deutlich entziffern.«
Er übersetzte aus dem Griechischen:
Ehre dir, prächtig mit Reben geschmückter, lieblicher Bacchus!
Ehre dir, Phöbos mit fliegenden Pfeilen aus silbernem Bogen,
Prächtig gelockter Mörder der Kinder Niobes ...
»Und das hier ist ein Lobgesang auf Venus, vor der du solche Angst hast, Mönchlein! Ich kann es nur schwer entziffern:
Ehre dir, Venus, du Mutter mit goldenen Füßen,
Freude der Götter und Menschen ...
Der Vers brach ab und verschwand unter der Kirchenschrift.
Giovanni ließ das Buch sinken; die Schriftzeichen verblaßten, die Vertiefungen verschwanden, die Schatten wurden unsichtbar. Man sah nur noch die fetten schwarzen Buchstaben des Klosterbreviers und die großen hakenförmigen plumpen Noten des Bußpsalmes:
»Erhöre, Gott, mein Gebet, vernimm mein Flehen und neige mir Dein Ohr! Ich stöhne in meinem Elend und meine Seele ist bange. Mein Herz bebt in mir und alle Schrecken des Todes bedrängen mich.«
Der rötliche Lichtschein verglomm und im Zimmer wurde es dunkel. Merula schenkte sich wieder Wein ein, trank aus und bot auch Giovanni einen Becher an.
»Da, trinke für mein Wohl! Vinum super omnia bonum diligamus!«
Giovanni lehnte ab.
»Also nicht. So trinke ich für dich. – Warum bist du heute so langweilig, Mönchlein? Wie ein begossener Pudel. Hat dir vielleicht wieder der scheinheilige Antonio mit seinen Prophezeiungen Angst eingejagt? Spuck doch drauf! Warum krächzen diese verdammten Heuchler wie die Raben? Gestehe nur, hast du wieder mit Antonio gesprochen?«
»Ja.«
»Worüber denn?«
»Über den Antichrist und Messer Leonardo da Vinci...«
»So, so! Ich glaube, du denkst jetzt nur an den Leonardo. Hat er dich denn behext? Hör' einmal, schlage dir diesen Unsinn aus dem Kopf. Bleibe mein Sekretär: du hast dann rasch deinen Weg gemacht; du sollst bei mir Latein lernen, ich werde aus dir einen Juristen, Redner oder Hofdichter machen, – du wirst Reichtum und Ruhm erlangen. Was taugt denn deine Malerei? Der Philosoph Seneca nannte die Malerei ein Handwerk, das eines Freien unwürdig sei. Schau dir nur die Maler an: es sind lauter ungebildete, rohe Menschen....«
»Ich hörte sagen,« versetzte Giovanni »Messer Leonardo sei ein großer Gelehrter.«
»Ein Gelehrter? Warum nicht gar! Er kann ja nicht einmal lateinisch lesen, er verwechselt Cicero mit Quintilian und hat vom Griechischen keinen blauen Dunst. Das will ein Gelehrter sein? Daß ich nicht lache!« »Man sagt,« versetzte Giovanni beharrlich, »er erfinde wunderbare Maschinen. Seine Beobachtungen der Natur sollen ....«
»Ach, Maschinen, Beobachtungen .... Damit kann man nicht weit kommen. In meinen »Schönheiten der lateinischen Sprache« sind mehr als zweitausend elegante Redewendungen angeführt. Hast du eine Ahnung, was das für Arbeit machte? Wenn aber einer nur Räderchen zusammensetzt und beobachtet, wie die Vögel fliegen und wie das Gras wächst, – so ist es keine Wissenschaft, sondern leerer Zeitvertreib und Kinderspiel.«
Der Alte machte eine Pause. Sein Gesicht wurde ernst. Er ergriff Giovannis Hand und sprach mit feierlichem Ernst:
»Höre mir zu, Giovanni, und merke es dir. Unsere Lehrer sind – die alten Griechen und Römer. Sie haben alles vollbracht, was der Mensch auf dieser Erde nur vollbringen kann. Wir müssen ihnen folgen und bestrebt sein, ihnen alles nachzumachen. Denn es steht geschrieben: der Schüler stehe nicht höher als sein Lehrer.«
Er nahm einen Schluck Wein. Dann warf er Giovanni einen lustigen schlauen Blick zu und die weichen Falten in seinem Gesicht schwammen plötzlich zu einem breiten Lächeln auseinander.
»Ja ja, die Jugend! Wenn ich dich so anschaue, Mönchlein, werde ich neidisch. Eine Frühlingsknospe bist du! Du trinkst keinen Wein, gehst den Weibern aus dem Wege, bist still und schüchtern. Und doch sitzt in dir ein Teufel. Ich habe dich ja durchschaut. Warte nur, Lieber: der Teufel wird noch einmal ausbrechen. Du bist so langweilig und doch unterhält man sich so gut mit dir. Du bist wie dieses Buch, Giovanni: auf der Oberfläche sind es Bußpsalmen, und darunter – eine Hymne an Aphrodite.«
»Es wird dunkel, Messer Giorgio. Soll ich nicht Licht machen?«
»Warte ein wenig. Ich liebe es, in der Dämmerung zu sitzen, zu plaudern und an meine Jugend zu denken ....«
Seine Zunge wurde schwer, seine Rede verworren.
»Ich weiß es ja, lieber Freund,« fuhr er fort, »was du dir jetzt denkst: der alte Kerl ist besoffen und redet Unsinn. Aber da fehlt es bei mir auch nicht!«
Mit diesen Worten tippte er sich auf die kahle Stirne.
»Ich prahle nicht gern, frage aber jeden Scholaren, ob schon jemand den Merula in der Eleganz seiner lateinischen Sprache übertroffen hat. Und wer hat den Martial entdeckt? Wer hat die berühmte Inschrift auf den Ruinen des Tiburtinischen Tores entziffert? Ich bin manchmal so hoch geklettert, daß mir ganz schwindlig wurde; Steine rissen unter meinen Füßen los und stürzten hinab und ich mußte mich oft an irgend einen Strauch klammern, um nicht selbst hinabzustürzen. So saß ich ganze Tage in der glühenden Sonnenhitze, quälte mich mit alten Inschriften ab und schrieb sie mir auf. Junge Bauernmädchen, die vorbeigingen, lachten mich aus und sprachen: »Schaut nur her, was da für eine Wachtel sitzt. Wie hoch der Narr geklettert ist! Der sucht wohl nach einem vergrabenen Schatz.« Ich schäckerte ein wenig mit den Mädchen und machte mich wieder an die Arbeit. Und unter dem Geröll, unter Efeu und Dornen entdeckte ich die zwei Worte: »Gloria Romanorum.«
Er schien diesen längst vergessenen großen Worten zu lauschen und wiederholte sie dumpf und feierlich:
»Gloria Romanorum! Die Größe Roms!«
»Ach ja, was helfen alle diese Erinnerungen, das Alte kehrt doch nie zurück.« Er machte eine abwehrende Handbewegung, hob sein Glas und sang mit heiserer Stimme den Tischgesang der Scholaren:
Brüder, wenn ich nüchtern bin,
Dicht' ich keine Zeile,
Nur im Wirtshaus lebe ich
Und ich sterb' am Fasse.
Weine lieb' ich und Gesang
Und die holden Grazien;
Bin ich trunken, singe ich
Süßer als Horatius.
Bebt mein Herz im wilden Rausch –
Dum vinum potamus –
Lobet Bacchus immerfort:
Te deum laudamus!
Er hustete und kam nicht weiter.
Inzwischen war es ganz finster geworden. Giovanni konnte Merulas Gesicht kaum noch unterscheiden.
Der Regen wurde stärker, man hörte das Wasser aus der Rinne in die Pfützen fallen.
»So ist es, Mönchlein!« lallte Merula: »Worüber sprach ich noch? Ich habe eine wunderschöne Frau ... Nein, es war etwas anderes. Warte. Ja, ja ... Kennst du den Vers:
Tu regere imperio populos, Romane, memento!
Römer, gedenke, du mußt die Völker der Erde beherrschen!
»Ja, sie waren Riesen, Herrscher des Weltalls!«
Seine Stimme zitterte und Giovanni glaubte, in Merulas Augen Tränen zu sehen.
»Ja, sie waren Riesen! Und heute ist es eine Schande ... Schau dir nur unseren Herzog Lodovico Moro von Mailand an. Ich werde ja von ihm bezahlt, schreibe wie so ein Titus Livius die Geschichte seiner Taten, ich vergleiche diesen feigen Hasen und Emporkömmling mit Cäsar und Pompejus. Aber in meinem Herzen, Giovanni, in meinem Herzen ...«
Er schielte wie ein alter Höfling zur Türe, ob nicht jemand horche, und flüsterte seinem jungen Freunde ins Ohr:
»Im Herzen des alten Merula glimmt immer die Liebe zur Freiheit und sie wird darin nie erlöschen. Erzähle es nur niemand. Die Zeiten sind schlecht wie noch nie. Was da für Menschen sind, es ekelt mich sie anzusehen: es sind Zwerge, Unrat. Und dabei tragen sie die Nase hoch und wollen es den Alten nachmachen! Worin sind sie, glaubst du, groß? Worüber freuen sie sich? Da schreibt mir ein Freund aus Griechenland: neulich fanden die Wäscherinnen eines Klosters auf der Insel Chios, als sie beim Tagesanbruch zum Meere kamen, auf dem Strande einen echten alten Gott liegen, einen Triton mit Fischschwanz, Schuppen und Flossen. Die dummen Weiber erschraken, sie glaubten anfangs, es sei der Teufel. Dann sahen sie, daß er alt und schwach und wohl auch krank sei, daß ihn friere und daß er seinen mit grünen Schuppen bedeckten Rücken in der Sonne wärme, sein Haar war grau und seine Augen trüb wie die eines Neugeborenen. Die verfluchten Weiber bekamen plötzlich Mut, sie fielen über ihn mit ihren Waschhölzern her, und sangen dabei ihre christlichen Gebete. Und so schlugen sie ihn tot wie einen Hund, den alten Gott, den letzten der mächtigen Götter des Ozeans, vielleicht einen Enkel Poseidons!«
Der Alte schwieg und ließ seinen Kopf sinken. Zwei Tränen des Mitleids um das erschlagene Meerwunder rollten über seine Wangen.
Ein Diener brachte Licht und schloß die Laden. Die Schatten des Heidentums entschwebten.
Es war die Stunde des Nachtmahls. Merula war aber so betrunken, daß man ihn zu Bett bringen mußte.
Beltraffio konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen. Er lauschte dem sorglosen Schnarchen Messer Giorgios und dachte an das, was ihn in der letzten Zeit ununterbrochen beschäftigte: an Leonardo da Vinci.
Giovanni war aus Mailand nach Florenz gekommen, um im Auftrage seines Onkels des Glasmalers Oswald Ingrimm jene leuchtenden durchscheinenden Farben einzukaufen, die nur in Florenz erhältlich waren.
Oswald Ingrimm stammte aus Graz und war Schüler des berühmten Straßburger Meisters Johann Kirchheim; er hatte die nördliche Sakristei des Mailänder Doms mit Glasmalereien zu schmücken. Giovanni war ein uneheliches Kind seines verstorbenen Bruders, des Steinmetzen Reinhold Ingrimm. Den Namen Beltraffio hatte er von seiner Mutter, die aus der Lombardei stammte und, wie der Onkel erzählte, ein liederliches Frauenzimmer gewesen war und seinen Vater zugrunde gerichtet hatte.
Giovanni wuchs einsam im Hause des stets finsteren Onkels heran. Die Seele des Kindes bebte in fortwährender Angst vor den Hexen, Werwölfen, Teufeln, Zauberern und sonstigem Spuk, von dem ihm der Onkel immer erzählte. Den größten Schrecken jagte er dem Kinde mit der Erzählung von einem weiblichen Teufel ein, die Weißhaarige Mutter, oder die weiße Teufelin genannt. Diese Sage war ins heidnische Italien mit den Einwanderern aus dem Norden gekommen.
Als Giovanni ganz klein war und nachts im Bette weinte, so brauchte Onkel Ingrimm nur die Weiße Teufelin zu nennen und das Kind wurde sofort still und vergrub den Kopf in die Kissen; zu dem lähmenden Schrecken gesellte sich aber das brennende Verlangen, die Weißhaarige einmal wirklich von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Später gab Oswald seinen Neffen dem Maler Fra Benedetto in die Lehre.
Dieser war ein etwas einfältiger, gutmütiger Alter. Er lehrte seinen Schüler, vor Beginn der Arbeit immer Gott den Allmächtigen, Jungfrau Maria, die vielgeliebte Fürsprecherin der Sünder, den ersten christlichen Maler, den heiligen Lukas und alle Heiligen dem Himmels anzurufen; ferner sich mit einem Gewande aus Liebe, Gottesfurcht, Gehorsam und Geduld zu schmücken; schließlich die Tempera aus Eigelb, dem milchweißen Saft junger Zweige des Feigenbaumes, Wein und Wasser zu bereiten, die Malbretter aus altem Feigenbaum- und Buchenholz herzustellen und sie mit zu Kohle verbrannten und feingepulverten Knochen zu polieren; die Rippen und Flügel von Hühnern und Kapaunen und die Rippen und Schultern der Kammer sollten die geeignetsten Knochen liefern.
Es war eine unerschöpfliche Fülle van Weisheiten. Giovanni kannte genau die verächtliche Gebärde, mit der Fra Benedetto die Brauen hob, so oft die Rebe auf die Farbe »Drachenblut« kam, und die darauffolgende Bemerkung: »Denke nicht zu viel an diese Farbe und laß sie lieber sein: sie kann dir unmöglich Ehre einbringen.« Giovanni fühlte, daß Fra Benedetto diese Worte noch von seinem eigenen Lehrer, und dieser sie wiederum von dem seinigen hatte. Ebenso unveränderlich war das stille stolze Lächeln, mit dem der Mönch dem Schüler die Geheimnisse seiner Kunst anvertraute, die ihm als der höchste Gipfel der menschlichen Weisheit erschienen; so z.B., daß man zur Untermalung jugendlicher Gesichter Eigelb von Stadthühnern verwenden solle, denn dieses sei heller als das von Landhühnern; das rötliche Eigelb der letzteren eigne sich dagegen sehr zur Darstellung alter bräunlicher Gestalten.
Trotz aller dieser Weisheiten war Fra Benedetto in seiner Kunst naiv wie ein Kind. Er rüstete sich zur Arbeit mit Fasten und Gebet. Er fiel auf die Knie, und bat zu Gott, er möchte ihm Kraft und Weisheit spenden. So oft er den Gekreuzigten malte, schwamm er in Tränen.
Giovanni liebte seinen Lehrer und hielt ihn für den größten Meister. In der letzten Zeit hatte er aber manchmal Zweifel; so z. B., wenn der Lehrer ihm seine einzige anatomische Regel dozierte: »die Länge des männlichen Körpers beträgt acht und zwei drittel der Kopflänge,« wobei er noch mit dem gleichen wegwerfenden Ton wie beim Drachenblut bemerkte: »Was aber den weiblichen Körper betrifft, so wollen wir ihn lieber unberücksichtigt lassen, denn das Weib hat in sich keinerlei Proportionen«, von der Nichtigkeit dieser Sätze war der Mönch ebenso überzeugt, wie von dem, daß die Fische und alle unvernünftigen Geschöpfe oben dunkel und unten hell seien und daß der Mann um eine Rippe weniger als das Weib habe, denn Gott nahm ja dem Adam eine Rippe heraus, um Eva zu formen.
Einmal sollte er die vier Elemente durch vier Tiergestalten versinnbildlichen. Fra Benedetto wählte den Maulwurf für Erde, den Fisch für Wasser, den Salamander für Feuer und das Chamäleon für Luft. Er hielt aber das Wort Chamäleon für einen Superlativ von camelo, was Kamel bedeutet und so stellte er die Luft als ein Kamel dar, das den Rachen weit offen hielt, um tiefer zu atmen. Die jüngeren Maler lachten viel über diesen Fehler, der Mönch hielt aber ihrem Spott mit wirklich christlicher Demut stand und blieb bei seiner Überzeugung, daß Chamäleon und Kamel dasselbe sei.
Ähnlich waren auch alle anderen Ansichten des Mönches über die Natur.
In Giovanni stiegen schon seit geraumer Zeit allerlei Zweifel auf, er spürte in sich inneren Aufruhr, oder den »Teufel der Philosophie«, wie der Mönch solche Dinge nannte. Als aber der Schüler des Fra Benedetto kurz vor seiner Reise nach Florenz einige Zeichnungen Leonardo da Vincis zu Gesicht bekam, so wurden die Zweifel so mächtig, daß er ihnen nicht länger widerstehen konnte.
Auch in dieser Nacht, an der Seite des friedlich schnarchenden Messer Giorgio liegend, dachte er zum tausendsten Mal über alle diese Dinge nach; doch je mehr er sich in sie vertiefte, um so verworrene? wurden sie.
Endlich entschloß er sich, die Hilfe des Himmels anzurufen. Er richtete seine gläubigen Blicke in die Finsternis der Nacht und betete also:
»Herr, hilf mir und verlasse mich nicht! Ist Messer Leonardo wirklich ein gottloser Mensch und sind seine Lehren Ärgernis und Sünde, so richte es so ein, daß ich ihn und seine Zeichnungen vergesse, bewahre mich vor Versuchung, denn ich will nicht vor Dir sündigen. Wenn es aber möglich ist, Dir gefällig zu sein und Deinen Namen in der edlen Kunst der Malerei zu heiligen und zugleich auch das zu wissen, was dem Fra Benedetto verborgen ist und wonach meine Seele dürstet – Anatomie, Perspektive und die herrlichen Gesetze von Licht und Schatten, – so gib mir, Herr, einen festen Willen, erleuchte meine Seele, auf daß ich nicht länger zweifle. Richte es so ein, daß mich Messer Leonardo in seine Werkstatt aufnimmt und daß Fra Benedetto, der so gut ist, mir darob nicht zürnt und begreift, daß ich mich vor Dir nicht versündige.«
Dieses Gebet brachte Giovanni Erleichterung und Ruhe. Seine Gedanken wurden matt: er hörte plötzlich das angenehm zischende Geräusch, mit dem die weißglühende Spitze des Glaserwerkzeugs Glas schneidet; er sah, wie aus einem Hobel die schlangenförmigen Bleibänder kamen, die zur Verbindung einzelner Glasstücke dienen. Und eine Stimme, die wie die Stimme des Onkels klang, sprach: »Mehr Einkerbungen am Rande, dann hält das Glas fester!« Und dann war alles verschwunden. Er legte sich auf die andere Seite und schlief ein.
Giovanni hatte einen Traum, der sich tief in sein Gedächtnis einprägte: er sah sich in das Dunkel eines großen Domes vor ein buntes Glasfenster versetzt. Das Bild auf dem Fenster stellte die Lese des mystischen Weinstocks dar, von dem es im Evangelium heißt: »Ich bin ein rechter Weinstock und mein Vater ein Weingärtner«. Der nackte Leib des Herrn lag auf der Kelter und aus seinen Wunden floß Blut. Päpste, Kardinale und Kaiser fingen es auf und gossen es in Fässer. Die Apostel brachten Trauben herbei, der heilige Petrus zerstampfte sie. Im Hintergrunde standen Propheten und Patriarchen, sie pflegten den Weinberg und lasen die Trauben. Ein großer Bottich mit Wein wurde in einem Wagen vorbeigefahren, dem die Tiere des Evangeliums – Löwe, Stier und Adler vorgespannt waren; der Engel des heiligen Matthäus lenkte sie. Giovanni hatte schon oft in der Werkstatt seines Onkels ähnliche Glasmalereien, doch noch nie solche Farben gesehen: sie waren dunkel und zugleich leuchtend wie Edelsteine. Am schönsten war das tiefe Rot des Blutes Christi. Von der Kuppel des Doms erklangen die zarten gedämpften Töne seines liebsten Chorals:
O flor di castitate,
Odorifero giglio,
Con gran soavitate
Sei di color vermiglio!O Blüte der Keuschheit,
Duftende Lilie!
So rot wie Blut
Strahlst du in Lieblichkeit!
Das Lied verklang, das Glasgemälde erlosch und da raunte ihm die Stimme des Kommis Antonio da Vinci zu: »Fliehe, Giovanni, denn sie ist hier!« Er wollte fragen »Wer?«, doch er fühlte, daß die Weißhaarige hinter ihm sei. Es wehte ihn kalt an und eine schwere Hand packte ihn am Nacken und würgte ihn. Er glaubte, es sei sein Tod.
Er schrie auf, erwachte und sah Messer Giorgio, der vor ihm stand und an seiner Bettdecke zerrte:
»Steh auf! Steh auf! Sonst reisen sie ohne uns weg! Es ist die höchste Zeit!«
»Wohin? Was gibt's?« fragte Giovanni noch ganz schlaftrunken.
»Weißt du es nicht mehr? Nach San Gervasio, zu den Ausgrabungen im Mühlenhügel.«
»Ich will nicht mitkommen.«
»Was heißt das? Wozu habe ich dich dann geweckt? Ich habe ja eigens das schwarze Maultier satteln lassen, auf dem wir zu zweit reiten können. Also sei so gut und steh auf. Wovor fürchtest du dich, Mönchlein?«
»Ich fürchte mich gar nicht. Ich habe einfach keine Lust.«
»Hör einmal, Giovanni: der Maler Leonardo da Vinci, für den du so schwärmst, wird auch dabei sein.«
Giovanni sprang auf und machte sich ohne Widerspruch fertig.
Sie traten in den Hof.
Alles war zur Abreise bereit. Grillo lief geschäftig hin und her und gab Ratschläge. Man machte sich auf den Weg.
Einige Freunde des Messer Cipriano, darunter auch Messer Leonardo da Vinci sollten etwas, später auf einem andern Wege direkt nach San Gervasio kommen.
Es regnete nicht mehr, denn der Nordwind hatte die Wolken verscheucht. Die Sterne flimmerten am mondlosen Himmel wie Lampen, die im Winde flackern. Die Pechfackeln rauchten, knisterten und warfen Funken um sich.
Sie ritten durch die Strada Ricasoli am San-Marco vorbei und erreichten das mit Zinnen geschmückte Tor San Gallo. Die Wächter waren verschlafen und konnten lange nicht begreifen, um was es sich handelte; sie zankten und schimpften, und erst nach Erhalt eines ansehnlichen Trinkgeldes ließen sie die Gesellschaft das Stadttor passieren.
Der Weg ging durch das tiefe Munione-Tal. Sie passierten einige ärmliche Dörfer, deren Straßen ebenso eng waren wie die in Florenz und deren Häuser aus roh behauenen Steinen an Festungen gemahnten, und erreichten den Olivenhain, der den Bauern von San Gervasio gehörte. Am Kreuzweg saßen sie ab und stiegen dann durch die Weinberge Messer Ciprianos zum Mühlenhügel.
Hier warteten bereits die Arbeiter mit Spaten und Schaufeln.
Hinter dem Hügel, jenseits des Sumpfes, den man »Nasser Hohlweg« nannte, schimmerte zwischen den Bäumen die weiße Villa Buonaccorsi. Unten am Munione stand eine Wassermühle. Auf dem Gipfel des Hügels wuchsen schlanke Cypressen.
Grillo zeigte die Stelle, an der man nach seiner Ansicht graben sollte. Merula empfahl eine andere Stelle – am Fuße des Hügels, wo man einmal die Marmorhand fand. Der älteste Arbeiter – der Gärtner Strocco behauptete wieder, die geeigneteste Stelle sei unten am Nassen Hohlweg zu suchen, denn der Teufel bevorzuge die Nähe von Sümpfen.
Messer Cipriano befahl an der von Grillo angegebenen Stelle zu graben.
Die Spaten schlugen auf, man roch das aufgewühlte Erdreich.
Eine Fledermaus flog empor und streifte beinahe Giovannis Gesicht. Er zuckte zusammen.
»Fürchte dich nicht, Mönchlein, fürchte dich nicht!« ermutigte ihn Merula und klopfte ihm auf die Schulter. »wir werden hier keinen Teufel finden. Denn dieser Grillo ist ja ein Esel ... Wir haben schon ganz andere Ausgrabungen mitgemacht! so z. B. in Rom, in der vierhundert fünfzigsten Olympiade.« (Merula ignorierte die christliche Zeitrechnung und gebrauchte stets die griechische) »Da fanden in den Tagen des Papstes Innocenz VIII. auf der Via Appia lombardische Erdarbeiter einen altrömischen Sarkophag mit der Inschrift: »Julia, Tochter des Claudius«; und darin lag in Wachs die Leiche eines fünfzehnjährigen Mädchens, das so frisch aussah, als ob es schlafe. Ihre Wangen waren rosig, man glaubte, sie atme. Eine unzählige Volksmenge stand immer herum, viele Leute reisten eigens hin, um die Leiche zu sehen, denn Julia war so schön, daß niemand, ohne sie selbst gesehen zu haben, den Beschreibungen ihrer Schönheit Glauben schenken würde, wenn solche Beschreibungen überhaupt möglich wären. Der Papst erfuhr, daß das Volk eine tote Heidin anbete; er erschrak und befahl sie heimlich nachts am Pincio-Tore zu beerdigen. Ja, solche Ausgrabungen kann man zuweilen erleben.«
Merula blickte verächtlich auf die Grube, die immer tiefer wurde.
Plötzlich gab der Spaten eines Arbeiters einen klirrenden Ton. Alle beugten sich zur Grube.
»Es sind Knochen!« sagte der Gärtner, »hier war vor vielen Jahren ein Friedhof.«
In San Gervasio heulte plötzlich gedehnt und dumpf ein Hund.
»Ein Grab haben sie geschändet ...« ging es Giovanni durch den Kopf. »Ich glaube, ich gehe lieber fort ... Daß ich mich nicht mit ihnen versündige ...«
»Es ist ein Pferdegerippe!« sagte Strocco schadenfroh und mit diesen Worten warf er einen halbverfaulten länglichen Schädel heraus.