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Hans Jörg Sandkühler (Hg.)

Recht und Moral

Meiner

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

eISBN (PDF): 978-3-7873-1987-9
eISBN (ePub): 978-3-7873-3110-9

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2010. Alle Rechte Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Vorbemerkung

Hans Jörg Sandkühler

Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung

Dietmar von der Pfordten

Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik

Jean-François Kervégan

Gibt es moralische Rechte?

Georg Mohr

Moralische Rechte gibt es nicht

Dagmar Borchers

»Nonsense on Stilts«? Warum einige Utilitaristen Bentham widersprechen würden und moralische Rechte für sinnvoll halten

Heiner Bielefeldt

Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte

Georg Lohmann

Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte

Herlinde Pauer-Studer

Menschenrechte zwischen Moralisierung und politischer Instrumentalisierung

Sarhan Dhouib

Philosophische Wege zu Recht und Ethik. Beispiele aus der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart

Autorinnen und Autoren

Namenregister

Vorbemerkung

Wie verhalten sich Recht und Moral zueinander? Gibt es moralische Rechte‹? Ist es sinnvoll, diesen Begriff zu verwenden oder ist er Ausdruck einer Begriffsverwirrung, gar ein Kategorienfehler? In welchem Sinne und aus welchen Gründen sollten moralische Ansprüche als Rechte verstanden werden? Sind moralische Ansprüche erst dann im strengen Sinne Rechte, wenn ihnen eine Norm des positiven Rechts entspricht? Zwischen institutionalistischen Rechtsverständnissen, denen zufolge es nur juridische, nicht aber moralische Rechte geben kann, und einem individualethischen Ansatz, dem zufolge es moralische Rechte gibt, weil Personen sie haben, gibt es einen lang anhaltenden Streit. Er wird insbesondere hinsichtlich des Status der Menschenrechte ausgefochten. Die positivierten Menschenrechte sind konkrete, immer differenzierter ausgestaltete und einklagbare Normen des Internationalen Rechts, also weit mehr als nur menschenfreundliche Ideale. Mit ihrem Rechtscharakter ist der philosophische Streit über eine wesentliche Frage aber nicht beendet: Sind Menschen- und Grundrechte sowie von ihnen abgeleitete weitere Rechte moralische und juridische Rechte, moralische oder juridische Rechte? Handelt es sich bei juridischen und moralischen Rechten um Alternativen oder stehen sie in einem Ergänzungsverhältnis zueinander?

Dies sind Fragen, die die nicht allein in der Philosophie auf der Tagesordnung stehen, sondern die von allgemeiner gesellschaftlicher und politischer Bedeutung sind. Sie sind zentral auch in der Arbeit der UNESCO, in der die Philosophie seit ihrer Gründung im Jahre 1945 eine wichtige Rolle spielt: »Es gibt keine UNESCO ohne Philosophie«. Es war und ist der Kampf gegen Barbarei und Krieg und für universelle Menschenrechte, internationale Gerechtigkeit und Demokratie, der im Rahmen der Vereinten Nationen die Programmatik der UNESCO bestimmt – die Programmatik für eine humane Welt, für eine Welt der Achtung der Menschenwürde.Die Philosophie und die Wissenschaften sind in die Strategie zur Verwirklichung dieser Ziele eingebunden, und dies heißt in erster Linie: für die Entwicklung und Verwirklichung der Menschenrechte und jener sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen, unter denen Gleichheit, individuelle und kollektive Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden möglich sind.

Die inzwischen in vielen Ländern durchgeführten ›UNESCO-Welttage der Philosophie‹ sollen einen Beitrag dazu leisten, in der Öffentlichkeit für ein Engagement für diese Ziele zu werben, ohne auf die Kontroverse über offene Fragen zu verzichten. Seit 2004 werden sie von der Deutschen Abteilung ›Menschenrechte und Kulturen‹ des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris) auch in Bremen organisiert.

Die Beiträge zu diesem Band sind aus Vorträgen und kontroversen Debatten anlässlich des UNESCO-Welttags der Philosophie hervorgegangen, der 2009 in Bremen unter dem Titel ›Moral und Recht? Recht oder Moral?‹ stattgefunden hat. Zusätzlich wurden die Aufsätze von Herlinde Pauer-Studer, Heiner Bielefeldt und Jean-François Kervégan aufgenommen. Allen, die zu diesem Buch beigetragen haben, gilt mein Dank.

Bremen, Juni 2010

Hans Jörg Sandkühler

– HANS JÖRG SANDKÜHLER

Moral und Recht? Recht oder Moral?

Zur Einführung

1.Moralische Erwartungen an das Recht

Wie verhalten sich Moral und Recht zueinander? Gibt es moralische Rechte‹?1 Ist es sinnvoll, diesen Begriff zu verwenden oder ist er Ausdruck einer Begriffsverwirrung, gar ein Kategorienfehler? Können moralische Ansprüche als Rechte verstanden werden? Und ist alles, was nicht positives Recht ist, nicht mehr als moralischer Anspruch? Mit diesen Fragen werde ich mich in sieben Abschnitten auseinandersetzen und zunächst zwei Beispiele zur Illustration des Sachverhalts anführen, dass moralische Ansprüche erst dann im strengen Sinne Rechte sind, wenn ihnen eine Norm des positiven Rechts entspricht.

Das erste Beispiel: Eine 39-jährige Französin ist mit ihrem Antrag gescheitert, das eingelagerte Sperma ihres verstorbenen Mannes für eine künstliche Befruchtung zu bekommen. Das Paar hatte sich dazu entschlossen, den Samen des Mannes einfrieren zu lassen, weil er an Krebs litt und offensichtlich war, dass er nach einer Chemotherapie keine Kinder mehr würde zeugen können. Ein Gericht hat die Klage abgewiesen. Die Rechtslage erlaube es nicht, das in einer Samenbank gelagerte Sperma für eine Befruchtung zu verwenden, wenn ›ein Teil des Paares‹ gestorben sei. Die intuitive moralische Einstellung zu diesem Beispiel dürfte sein, dass eine Frau ein moralisches Recht auf ein Kind hat, auch wenn es ihr juridisch nicht als Recht zugesprochen werden kann.2

Im zweiten Beispiel stimmt ein Rechtsanspruch mit bestehenden Rechtsnormen überein. Am 3. November 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHMR) – nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsmittel und entgegen vorherigen Urteilen italienischer Gerichte – einer Individualklage gegen die Republik Italien stattgegeben. Der Leitsatz des Urteils lautet, Kruzifixe in Schulen verstießen gegen Art. 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und gegen Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention. Art. 9 betrifft die ›Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit‹:»1 Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. 2 Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.«3 In Art. 2 des Zusatzprotokolls heißt es: »Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.«4 Der Klägerin wurde für erlittenen »moralischen Schaden« eine Entschädigung in Höhe von 5.000 € zugesprochen.5 Der italienische Staat hat umgehend angekündigt, gegen das Urteil des EuGHMR Beschwerde einzulegen,6 nicht aufgrund eines Rechtstitels, sondern im Namen des ›Rechts‹ einer Macht ohne Moral: »Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat im Streit um das Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Machtwort gesprochen. ›Wir behalten das Kruzifix‹, erklärte der Regierungschef […]. Das Urteil sei schliesslich kein ›Zwangsurteil‹, sagte er. Daher würden die Kreuze in italienischen Klassenzimmern hängen bleiben – unabhängig vom Ausgang der Beschwerde seiner Regierung in Straßburg.«7

2.Gibt es moralische Rechte?

Zwischen institutionalistischen Rechtsverständnissen, denen zufolge es nur juridische, nicht aber moralische Rechte geben kann, und einem individualethischen Ansatz, dem zufolge Personen moralische Rechte haben, gibt es einen lang anhaltenden Streit. Er wird insbesondere hinsichtlich des Status der Menschenrechte8 ausgefochten.

Eine Position zugunsten der Annahme moralischer Rechte vertritt z. B. Stefan Gosepath: »Menschenrechte sind eine Untermenge moralischer Rechte.«9 An anderer Stelle spitzt er zu: »Menschenrechte sind […] auf eine besondere Weise moralisch-politische Rechte. Als moralische Rechte gelten Menschenrechte auch unabhängig von ihrer faktischen Anerkennung und Befolgung. Wenn wir sie als moralische Verpflichtung anerkennen, dann gelten sie vor aller positiven Rechtssetzung.«10 Es folgt bei Gosepath allerdings eine angesichts der These der vor-positiven Geltung moralischer Rechte bemerkenswerte Wendung: »Menschenrechte haben […] eine Komponente eingebaut, die uns moralisch verpflichtet, sie auch rechtlich zu konkretisieren und zu institutionalisieren. Moralische Rechte sind ›ungesättigt‹, solange sie nicht kodifiziert und interpretiert sind. […] Die faktische Anerkennung der Menschenrechte als spezielle moralische Rechte, die lebenswichtige Interessen durch effektive Institutionen schützen sollen, basiert – so meine Vermutung – auf einem globalen, minimalen und übergreifenden Konsens unterschiedlicher Moralauffassungen.«11

Auch Ernst Tugendhat hat von ›moralischen Rechten‹ gesprochen und erklärt, er verwende den Begriff des Rechts, »in einem unterbestimmten Sinn«, indem er »ihn einfach als Korrelat des Begriffs der Verpflichtung verstehe. Für alle x und y soll gelten, daß, wenn x eine Verpflichtung gegenüber y hat, dann hat y, wenn es gleichfalls eine Person und nicht identisch mit x ist, ein entsprechendes Recht. […] Jedes Mitglied einer moralischen Gemeinschaft – egal wie unegalitär sie ist, also auch in einer Kastengesellschaft – hat Verpflichtungen gegenüber anderen und auch Rechte.«12 Unter dem Titel ›Die Kontroverse um die Menschenrechte‹ hat Tugendhat aber – nicht anders als Gosepath – deutlich gemacht, worin der Grund der Transformation moralischer Rechte in positives Recht13 besteht: »[D]ie Menschenrechte können wie alle Rechte nur verliehene Rechte sein, und dass es sie gibt, hat den Sinn, dass sie zu verleihen Teil einer legitimen staatlichen Ordnung ist, und die These, dass sie universell existieren, kann also nur den Sinn haben, dass jede staatliche Ordnung, die sie nicht enthält, ihren Bürgern nicht verleiht, als nicht legitim anzusehen ist.«14

Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral gibt es also ein zweites Spannungsfeld: die Frage, ob das Recht einer Begründung durch Moral bedarf, »wenn es nicht bloß auf Legalität, sondern auch auf Legitimität Anspruch erheben will«.15 Es ist offensichtlich, dass die Legitimitätsfrage nach den Erfahrungen sowohl des Nationalsozialismus, japanischen Militarismus als auch des Stalinismus vordringlich wurde und verstärkt zu einer an Gerechtigkeit orientierten Prüfung und Begrenzung des positiven Rechts geführt hat. Niemand, auch nicht der konsequenteste Rechtspositivist, kann sich noch zu der legalistischen Aussage ›Gesetz ist Gesetz‹ berechtigt wissen, d. h. zur Behauptung, jegliches Recht sei – weil ›gesetztes Recht‹ – als ›richtiges Recht‹ anzuerkennen. Die ›Rassen‹-Gesetzgebung und andere Gesetze des Nationalsozialismus haben Gustav Radbruch, den bedeutenden Rechtsphilosophen und Rechtspolitiker der Weimarer Republik, 1946 herausgefordert, mit der nach ihm benannten ›Formel‹ die Konsequenzen zu ziehen. In ›Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‹ hat er geschrieben: »Keineswegs ist Recht alles das, ›was dem Volke nützt‹, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt. […] Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.«16

Die Frage nach der moralischen Legitimität des Rechts hat Schule gemacht, wie die Einführung des Straftatbestandes ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, das ihm folgende Völkerstrafrecht und Art. 7 (2) der EMRK vom 4. November 1950 zeigen. Im Anschluß an Radbruch ist auch die folgende Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen: »Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann«.17

Einer Antwort auf die Fragen ›Moral und Recht? Recht oder Moral?‹ scheinen wir so näher gekommen zu sein. Sind wir es? Eher nicht. Drei weitere Fragen drängen sich auf:

(1) Wenn Gerechtigkeit nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht, dann scheint es sie zu geben, wie es Entitäten gibt. Was aber, wenn der Satz, den Hans Kelsen, der von den Nazis vertriebene demokratische Verfassungsrechtler und Rechtspositivist, in seiner Reinen Rechtslehre (1934, 21960) formuliert hat, zutrifft? »Gäbe es Gerechtigkeit in dem Sinne, in dem man sich auf ihre Existenz zu berufen pflegt, wenn man gewisse Interessen gegen andere durchsetzen will, dann wäre das positive Recht völlig überflüssig und seine Existenz ganz unbegreiflich«.18 Es müsste nichts normiert, nichts gesollt werden, lebten wir bereits im Zeichen von Gleichheit und Gerechtigkeit. In der Welt, in der wir leben, ist das, was gesollt ist, freilich keine offene Frage: Gesollt ist der Schutz der Menschenwürde. Ihre Unantastbarkeit ist ein fundamentaler moralischer Wert, der aus guten Gründen (s. u. 2 und 3) als fundamentaler Rechtssatz positiviert werden musste und in den Menschen- und Grundrechten konkretisiert ist. Die Würdenorm ist als Sollen notwendig, weil die Menschenwürde de facto verletzt wird.

(2) Welche Moral soll in pluralistischen Gesellschaften die Legitimität des Rechts begründen? Ist nicht der Befund zutreffend, den Uwe Wesel in Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht beschreibt? »Unsere Begriffe Ethik, Moral und Sittlichkeit […] umschreiben ein Feld innerer Einstellungen, für das sich heute im wesentlichen jeder einzelne selbst verantwortlich fühlt, unabhängig von anderen und von den eher äußerlichen Vorschriften des Rechts oder von Sitten und Gebräuchen.«19 Wie sollte angesichts der Vielfalt konkurrierender Moraleinstellungen, Überzeugungen und Wertpräferenzen eine Moral, eine Ethik, den privilegierten Anspruch erheben können, von allen als Grundlage ihres Handelns anerkannt zu werden? Eine atheistisch motivierte Moral? Eine islamische Moral? Eine ›christlich-abendländische‹ Ethik? Wie problematisch derartige Ansprüche sind, zeigen (i) sowohl ›abendländische‹ Kommentatoren des Grundgesetzes als auch (ii) gegenläufige Versuche, eine sozialistische Moral‹ in Verfassungsrang zu erheben:

(i) Im Grundgesetzkommentar Maunz/ Dürig wurde noch 1994 die These vertreten, Art. 1 (1) GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) liefere »in der Staatseinrichtung […] den wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln; denn er bestimmt und beschränkt Staatszweck und Staatsaufgabe, und er bestimmt und beschränkt die Legitimität von Staat und Recht aus den Werten personaler Ethik«.20 »Man sollte nicht um die Begriffe für diese Wertfundierung streiten. Man kann auch sagen, daß Art. 1 I das ›Naturrecht neuzeitlicher Prägung‹ rezipiert habe […] Niemals ist es jedoch unjuristisch, wenn man zur Interpretation des von der Verfassung rezipierten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christliche Lehren verwendet […] Die christliche Naturrechtsauffassung umspannt stets auch die gültige profane Lehre […] Sollte irgendwo das profane Naturrecht zu Abweichungen vom christlichen führen, so ist im Zweifel nichts anderes als die Überprüfung auf historische Abfälschungen nötig, um wieder auf die gemeinsame christliche Wurzel zu stoßen.«21

(ii) Der Bezug auf allgemeine, nicht ideologisch interpretierte juridische Menschenrechte fehlte – mit der einzigen Ausnahme der ungarischen Verfassung – in den Verfassungen der ›realsozialistischen‹ Staaten. In der Verfassung der DDR (1968, in der Fassung vom 7. Oktober 1974) wurde infolge der im Marxismus-Leninismus vertretenen Klassenrechts-Definition allen Rechts in Art. 4 auch das Prinzip der Volkssouveränität umgedeutet: Die Macht geht nicht vom Volke aus. Stattdessen heißt es: »Alle Macht dient dem Wohl des Volkes. Sie sichert sein friedliches Leben, schützt die sozialistische Gesellschaft und gewährleistet die sozialistische Lebensweise der Bürger, freie Entwicklung des Menschen, wahrt seine Würde und garantiert die in der Verfassung verbürgten Rechte.« Eine der Folgen war, dass es in der DDR keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab, in der die Machtausübung von Partei und Staat hätte überprüft werden können. Im Kapitel zu den ›Grundrechte[n] und Grundpflichten der Bürger‹ waren in Art. 19 (3) die Freiheitsrechte an Grundsätze ›sozialistischer Moral‹ gebunden: »Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln und sein Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt.«

Doch hatten nicht »die strikte Trennung von Recht und Moral und die klare Überordnung des Rechts […] in Europa historisch ihren Ursprung in der Überwindung der religiös-konfessionellen Bürgerkriege durch den religionsneutralen, tendenziell ›säkularen‹ Staat der frühen Neuzeit[?] Was kann noch Inbegriff der wahren Moral oder einer moralisch bindenden Wahrheit sein, wenn auf demselben Territorium unvereinbare Wahrheits- und daraus hergeleitete Rechtsansprüche geltend gemacht werden?«22

(3) Wenn – wie dies in modernen Gesellschaften ganz offensichtlich der Fall ist – moralische Einstellungen individualisiert und pluralisiert sind und das, was Individuen für Moral halten, konkurriert – gemäß welcher Moral sollten dann Handlungen rechtlich zurechenbar sein? Aus welcher Moral sollten Sanktionen begründet werden können? Wenn sich jemand aus politischem Fanatismus und moralischer Überzeugung ›berechtigt‹ sieht, Menschen zu foltern, dann folgt er Normen, die für ihn ›Gesetz‹ sein mögen, »die aber offensichtlich gar nicht zum Bereich dessen gehören, was üblicherweise ›Recht‹ genannt wird«; die private Moral genießt nur dann den Schutz des Rechts, wenn sie es nicht verletzt; die außerrechtliche Inanspruchnahme moralischer ›Berechtigung‹, Unrecht zu tun, führt dazu, dass sich der so Handelnde außerhalb der Rechtskultur stellt; er ist nicht mehr Autor, sondern nur noch Adressat der Rechtsnormen; in schwerwiegenden Fällen gem. Art. 7 (2) EMRK gilt für sein vermeintlich moralisch ›berechtigtes‹ Handeln selbst der »Vertrauensgrundsatz des ›nulla poena [sine lege]-Gebots‹«23 nicht.

Die eine Moral, die eine ethische Letztbegründung gibt es nicht in der Weise, dass jemand legitimiert wäre, sie einer Gesellschaft zu oktroyieren. Pluralismus ist in modernen Gesellschaften eine Tatsache. Hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Moral ist er auch ein Problem. Das Problem besteht nicht in erster Linie in Konflikten zwischen einander angeblich ›fremden‹ Groß-Kulturen wie Europa, Afrika und Asien. Schwierigkeiten entstehen vielmehr gerade im Inneren der Gesellschaften – zwischen Egoismus und Solidarität, zwischen Freiheit und Ordnung. Der Pluralismus führt zu Relativismus, zu partikulären Ansprüchen auf meine Wahrheit, auf meine Moral; relativiert wird auch die Geltung von Rechtsnormen: mein Rechtsverständnis gegen deines. Der Rechtsrelativismus hat Gründe zum einen in juridischem Nicht-Wissen und in der damit verbundenen Mutmaßung einer Priorität der Moral vor dem Recht sowie zum anderen in Moralen des Individualismus und Egozentrismus. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Er folgt nicht aus Individualisierung: Individualisierung ist Befreiung, das Erreichen der Autonomie der Persönlichkeit – bei Verantwortlichkeit für das individuell im Interesse des Ganzen zu Verantwortende.

Wie also soll man das Verhältnis von Recht und Moral bestimmen? Detlev Horster schlägt vor, Moral und Recht so zu unterscheiden: »1. Das Recht verzichtet auf eine rechtliche Gesinnung, weil es sich bei seiner Durchsetzung auf äußeren Zwang verlassen kann. 2. Im Recht gelten Normen und in der Moral Werte. Normen gelten absolut, Werte sind subjektiv geteilte Präferenzen. 3. Gesetze kommen durch Beschluß des Parlaments zustande. 4. Sie gelten ab einem bestimmten Datum. Undenkbar ist, daß moralische Werte zu einem bestimmten Datum in Kraft gesetzt werden könnten. 5. Im Recht gilt ein bis ins einzelne geregelter Vorrang bestimmten Rechts vor anderem. Stehen hingegen moralische Werte gleichrangig nebeneinander, ist die individuelle Entscheidung der Betroffenen gefordert.«24 Ist unter diesen Voraussetzungen die Rede von moralischen Rechten sinnvoll?

Es gibt Theoretiker, die die Verwendung des Begriffs verteidigen, so etwa J. Feinberg25 1992 in ›In Defense of Moral Rights: Their Bare Existence‹. Moralische Rechte, so seine These, existieren vor und unabhängig von ihrer Anerkennung in einem Rechtssystem.26 Sie sind nicht das Resultat gesetzgeberischen Handelns. Feinberg unterscheidet (i) juridische Rechte, (ii) im Moralkodex einer Gesellschaft anerkannte konventionelle moralische Rechte und (iii) ›wahre‹ moralische Rechte, die entweder nur in der ›wahren Moral‹ oder nur in der ›wahren Moral‹ und der konventionellen Moral oder nur in der ›wahren Moral‹ und im Rechtssystem oder schließlich als wahre moralische, konventionell moralische und juridische Rechte anerkannt sind. Auf bestimmte moralische Rechte wie Selbsttötung oder Religionsausübung haben Menschen Anspruch, selbst wenn sie keine legalen Rechte sind; andere moralische Rechte wie etwa das Frauenwahlrecht können nur aufgrund juridischer Rechte durchgesetzt werden. Schließlich gibt es moralische Rechte, die zwar verrechtlicht, aber – wie etwa der Holocaust zeigt – nicht durchsetzbar sind.27 Feinbergs Fazit: Eine angemessene Definition moralischer Rechte muss zumindest die Bedingung erfüllen, dass sie deren faktischer, von der Anerkennung in einem Regelsystem unabhängiger Existenz gerecht wird. Von einem ›moralischen Recht‹ kann gesprochen werden, wenn es durch die Prinzipien der ›wahren‹ Moral gerechtfertigt ist.28

Ob diese Verteidigung des Konzepts ›moralische Rechte‹ in sich unstimmig ist, weil die zu begründende Existenz solcher Rechte bereits vorausgesetzt ist, muss hier nicht entschieden werden. Aufklärung zum Verhältnis von Recht und Moral leistet sie letztlich nicht. Angesichts von deren tatsächlichem Spannungsverhältnis in modernen pluralistischen Gesellschaften und angesichts des faktischen Relativismus individualisierter Moraleinstellungen bleibt die Frage offen, ob und wenn ja in welcher Weise und in welchem Maße welche Moral eine Rechtsordnung legitimieren kann.

3.Müssen Moral und Recht im Interesse einer allgemein geltenden Rechtsverfassung getrennt werden?

Die Rechtstheorie, die am nachdrücklichsten die Forderung nach einer Trennung von Recht und Moral vertreten hat, ist die Reine Rechtslehre Hans Kelsens. Sie stellt sich dem Problem des faktischen Relativismus. Kelsen fordert radikal eine Wert-Indifferenz des Rechtssystems, in dem »kein dem positiven Recht transzendenter Wert bejaht« wird.29 Er kämpft gegen die in der Weimarer Republik grassierende Ideologisierung der Rechtswissenschaft und der Justiz und gegen jegliche auf ›absolute Normern‹ gestützte Instrumentalisierung des Rechts zu partikulären Zwecken. Es ist die faktische Relativität der Werte und Normen der Moral,30 die ihn vor dieser Gefahr warnen läßt. Das Recht muss vor Interessen geschützt werden, »die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können, auch wenn sie im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten«.31 Die Reine Rechtslehre lehnt es »ab, irgendwelchen politischen Interessen dadurch zu dienen, daß sie ihnen die Ideologien liefert, mittels deren die bestehende gesellschaftliche Ordnung legitimiert oder disqualifiziert wird.«.32

Die Argumentationskette ist folgende: (i) Es gelten in Gesellschaften ganz unterschiedliche, einander widersprechende Moralsysteme; (ii) es gibt deshalb nur relative Moralwerte; (iii) die Forderung, Normen müßten gerecht sein, um als Recht angesehen zu werden, kann nur bedeuten, daß diese Normen etwas enthalten müssen, was allen Gerechtigkeitssystemen gemeinsam ist; (iv) allen gemein ist aber nur, daß sie Normen sind, die ein bestimmtes Verhalten als gesollt setzen; (v) »Dann ist, in diesem relativen Sinne, jedes Recht moralisch, konstituiert jedes Recht einen – relativen – moralischen Wert. Das heißt aber: die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral ist keine Frage nach dem Inhalt des Rechts, sondern eine Frage nach seiner Form«; (vi) wenn das Recht per definitionem moralisch ist, »dann hat es keinen Sinn, unter Voraussetzung eines absoluten Moralwertes die Forderung zu stellen, daß das Recht moralisch sein soll«; (vii) die Schlußfolgerung besteht in der Trennungsthese33 – »Trennung von Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit«: »Die unter Voraussetzung einer relativistischen Wertlehre erhobene Forderung, Recht und Moral und somit Recht und Gerechtigkeit zu trennen, bedeutet […], daß, wenn eine Rechtsordnung als moralisch oder unmoralisch, gerecht oder ungerecht bewertet wird, damit das Verhältnis der Rechtsordnung zu einem von vielen möglichen Moralsystemen und nicht zu ›der‹ Moral ausgedrückt und sohin nur ein relatives, kein absolutes Werturteil gefällt wird«.34 (viii) Fazit: Die Frage, die sich stellt, ist die »nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem ›idealen‹, ›richtigen‹ Recht«.35

Im Unterschied zu Kelsen ist sowohl für Gustav Radbruch als auch für Hermann Heller die Gerechtigkeit der Maßstab richtigen Rechts. Für Radbruch ist der Rechtsbegriff ausgerichtet an der Rechtsidee: »Die Idee des Rechts kann […] keine andere sein als die Gerechtigkeit.« Die Rede ist von einer Gerechtigkeit, die nicht »am positiven Recht, sondern an der das positive Recht gemessen wird«.36

Wenn moderne Gesellschaften durch Pluralismus und moralischen Relativismus gekennzeichnet sind, dann gibt Kelsen ein triftige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Moral für das Recht. Und doch hat seine Variante des Rechtspositivismus eine Achillesferse, weil sie im Unterschied etwa zu H.L.A. Harts gemäßigter Version »a partial overlap between legal and moral obligations«37 nicht einräumt. Die an sich begrüßenswerte strikte Begrenzung der Rechtsordnung auf positiv-rechtliche Normen führt bei Kelsen auch zu fragwürdigen Ergebnissen wie dem, »daß die Ordnung der Sowjetrepublik ganz ebenso als Rechtsordnung begriffen werden soll wie die des faschistischen Italien oder die des demokratisch-kapitalistischen Frankreich«.38 Auch seine Forderung nach Aufhebung der Unterscheidung zwischen Recht und Staat ist problematisch: »Durchschaut man […] die Identität von Staat und Recht, begreift man, daß das Recht, das positive, mit der Gerechtigkeit nicht zu identifizierende Recht, eben dieselbe Zwangsordnung ist, als welche der Staat einer Erkenntnis erscheint, die nicht in anthropomorphen Bildern steckenbleibt, sondern durch den Schleier der Personifikation zu den durch menschliche Akte gesetzten Normen durchdringt, dann ist es schlechthin unmöglich, den Staat durch das Recht zu rechtfertigen.«39

Mit H. Hellers Staatslehre (1934) kann man Kelsen entgegenhalten: »Die Übereinstimmung eines staatlichen Aktes mit dem Gesetz, des Gesetzes mit der positivrechtlichen […] Verfassung kann immer nur Legalität, niemals rechtfertigende Legitimität begründen.«40 Und man kann G. Radbruchs Kritik beipflichten, der Positivismus sei »gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen. Aber auf Macht läßt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen.«41 Über Legalität können auch autoritäre Regimes und Diktaturen verfügen. Ihre Legitimität aber bemisst sich nicht allein an dem Maßstab, dass sie eine Rechtsordnung haben.

In dieser Perspektive hat sich mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, Recht und Moral müssten sich ergänzen – und ergänzten sich de facto auch.

4.Moral und Recht – ein Ergänzungsverhältnis?

»Kann« – fragt Jean-François Kervégan – »eine Rechtsgesellschaft ohne Rekurs auf moralische und politische ›substanzielle‹ Wahrheiten bestehen? Ist ein wertneutraler Positivismus fähig, die rechtliche […] Kohärenz einer pluralen Gesellschaft zu garantieren?«42 Jürgen Habermas gibt in Faktizität und Geltung (41994) eine Antwort, die ›Nein‹ zu lauten scheint. Im Kontext anderer seiner Schriften gelesen, klingt sie allerdings eher nach einem unentschiedenen ›Jein‹: »Dem positiven Recht bleibt, über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben. […] Die autonome Moral und das auf Begründung angewiesene positive Recht stehen […] in einem Ergänzungsverhältnis.« Habermas schränkt jedoch sofort ein: »Aber dieser Moralbezug darf uns nicht dazu verleiten, die Moral dem Recht im Sinne einer Normenhierarchie überzuordnen.«43 Im Rahmen seiner »funktionalen Erklärung« des Rechts erläutert er: »Das Recht abstrahiert erstens von der Fähigkeit der Adressaten, ihren Willen aus freien Stücken zu binden, und rechnet mit deren Willkür. Das Recht abstrahiert ferner von der lebensweltlichen Komplexität der jeweils berührten Handlungspläne und beschränkt sich auf das äußere Verhältnis der interaktiven Einwirkung von sozialtypisch bestimmten Aktoren aufeinander. Das Recht abstrahiert schließlich […] von der Art der Motivation und begnügt sich mit dem Effekt der wie immer zustandekommenden Regelkonformität des Handelns.«44 Für Habermas begründen diese Abstraktionen keine Schwäche des Rechts, die durch Moral behoben werden müsste: »Wenn man […] das demokratische Verfahren nicht (wie Hans Kelsen […]) positivistisch versteht, sondern als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität begreift, entsteht kein Geltungsdefizit, das durch ›Sittlichkeit‹ ausgefüllt werden müsste.«45

Als Zwischenbilanz bietet sich – bezogen auf das Ergänzungsverhältnis von Recht und Moral – eine Formulierung Peter Stemmers an, für den moralische ›Rechte‹ »soziale Artefakte«46 sind: »Moralische Forderungen stehen […] in einem rechtlichen Kontext, sie setzen ein rechtliches Beziehungsgefüge, eine rechtliche Ordnung voraus. Moralische Forderungen sind berechtigte Forderungen, ihnen liegt ein Recht zugrunde. Und dies bedeutet, dass ihnen ein Verpflichtetsein auf seiten derer, an die sich sich richten, entspricht.«47

5.Gründe für die Transformation moralischer Ansprüche in positives Recht48

Moralische Ansprüche kann man geltend machen, sich selbst gegenüber und gegenüber Dritten. Aber wie können sie durchgesetzt werden?49 In seiner Theorie der Grundrechte antwortet Robert Alexy: »Als moralische Rechte können Menschenrechte zwar eingefordert werden, und es ist auch möglich, ihre Verletzung moralisch zu verurteilen, derartige Durchsetzungsinstrumente bestehen aber […] ›aus einem sehr ätherischen Material‹. Niemand wäre ›vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher‹. Wenn es ein moralisches, also gegenüber jedem begründbares Recht zum Beispiel auf Leben gibt, dann muß es auch ein gegenüber jedem begründbares Recht darauf geben, daß eine gemeinsame Instanz geschaffen wird, die jenes Recht durchsetzt. Andernfalls wäre die Anerkennung moralischer Rechte keine ernsthafte Anerkennung, was ihrem fundamentalen und vorrangigen Charakter widerspräche. Die zur Durchsetzung der Menschenrechte einzurichtende gemeinsame Instanz ist der Staat. Es gibt also ein Menschenrecht auf den Staat. Durch die Einrichtung eines Staates als Durchsetzungsinstanz werden die moralischen Rechte, die die einzelnen gegeneinander haben, in inhaltsgleiche Rechte des positiven Rechts transformiert. Zusätzlich entstehen als neue Rechte die Rechte der einzelnen gegen den Staat auf Abwehr, Schutz und Verfahren.«50

Auch überstaatliche Einrichtungen können Durchsetzungsinstanzen sein: Beispiele sind die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse oder UN-Kriegsverbrechertribunale. Den Umkehrschluss, dass es im Falle der Nicht-Durchsetzbarkeit auch keine keine Begründbarkeit moralischer Ansprüche gäbe, legt Alexy nicht nahe. Moralische Ansprüche wie das Recht auf Leben bleiben auch dann legitim, wenn sie – wie im Falle z. B. von Völkermord – nicht rechtlich durchsetzbar sind.

Der Perspektivenwechsel von individueller Moralität zum Rechtstaat als dem Garanten legitimer moralischer verrechtlichter Ansprüche gründet im Misstrauen sowohl in die Bedeutung als auch in die Durchsetzbarkeit moralischer Ansprüche. Der tiefste Grund und das triftigste Argument für die Notwendigkeit der Transformation moralischer Ansprüche in positives Recht ergeben sich – seit der Anthropologie und politischen Philosophie der Moderne, seit Hobbes, Locke und Kant – aus der fehlenden Sicherheit, dass die Moralität der Menschen eine hinreichende Grundlage für die Achtung von Gleichheit und Freiheit aller sowie friedlichen und gerechten Zusammenlebens ist. Ganz offensichtlich ist das Recht die Form, mit der wir selbst unserer moralischen Willkür Rechnung tragen. Habermas trifft den Kern dieses Problems: »Das Rechtssystem entzieht den Rechtspersonen in ihrer Adressatenrolle die Definitionsmacht für die Kriterien der Beurteilung von Recht und Unrecht. Unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität von Recht und Moral bedeuten das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, die gerichtlich institutionalisierte Entscheidungspraxis und die professionelle Arbeit einer Rechtsdogmatik, die Regeln präzisiert und Entscheidungen systematisiert, für den Einzelnen eine Entlastung von den kognitiven Bürden der eigenen moralischen Urteilsbildung.«51 Diese These zur Funktion des Rechts bedeutet keine moralische Entlastung der Handelnden, sondern stellt in Rechnung, dass in normativer Perspektive subjektiven moralischen Präferenzen im Rechtsstaat insofern keine ›Definitionsmacht für die Kriterien der Beurteilung von Recht und Unrecht‹ zukommen kann, als de facto eine mit den Menschen- und Grundrechten konforme moralischen Urteilsbildung aller nicht gegeben ist.

Es ist deshalb nicht recht einzusehen, warum Habermas dennoch darauf besteht, »das einklagbare positive Recht als funktionale Ergänzung zur Moral aufzufassen«. Angesichts des tatsächlichen Zustands individualisierter moralischer Einstellungen ist zwar die von ihm wiederholt variierte These plausibel, das Recht habe die notwendige Funktion, »die urteilenden und handelnden Personen von den […] Anforderungen einer auf das subjektive Gewissen umgestellten Moral« zu entlasten. Aber seine Schlußfolgerung »Politik und Recht [sollen] mit der Moral – auf einer gemeinsamen nachmetaphysischen Begründungsbasis – doch in Einklang stehen«52, ist so lange problematisch, wie nicht geklärt ist, auf welche Moral sich das Recht beziehen könnte, wenn es zugleich die Funktion der Entlastung von den ›Anforderungen einer auf das subjektive Gewissen umgestellten Moral‹ hat.

6.Verrechtlichung

Verrechtlichung5354Verrechtsstaatlichung