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Ulrich Mahlert

Instrumentalpädagogik
in Studium und Beruf

Eine persönliche Bestandsaufnahme

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 162

ISBN 978-3-79-578776-9

© 2021 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 23404

© 2020 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags

Umschlaggestaltung: Schott Music GmbH & Co KG, Mainz

Coverfoto: Wassily Kandinsky »Gelb – Rot – Blau« © akg-images

Satz: Maren Blaschke

Lektorat: Monika Heinrich

Inhalt

Einleitung

1.Auftakt: Eine Rede an Studienabsolventen

2.Selbstwahrnehmungen und persönliche Lernwege

Musizieren als Bildung

Zusammenhang von Kunst und Pädagogik

Begrenztheit und Offenheit

Genauigkeit, Gründlichkeit

Fremdbestimmtheit und Autonomie

Musikwissenschaftlich verortete Instrumentalpädagogik

Menschenfreundliche Grundhaltung

3.Musikpädagogik – vorläufige und alltägliche Sichtweisen

Unklarheit

Verlegenheit

Euphemismus

Geringschätzung versus Heilserwartung

Verschwimmende Konturen

Oszillierende Sichtweisen

Vorstellungen von Studienanfängern

4.Zum Berufsfeld »außerschulische Musikerziehung«

Freiwilligkeit

Arbeit mit allen Altersgruppen

Vielfalt von Vermittlungsformen

Vielfalt musikalischer Soziotope und Stilbereiche

Freizeit

Kosten

Individualität

Gestaltungsspielräume

Arbeitsverhältnisse

Kombination von Tätigkeiten

Neue Anforderungen an Lehrende

Ausweitung auf benachbarte Berufsfelder

Offenheit musikalischer Bildung

5.Studium

Aufgaben und Profil, Spannungsfeld von Berufsausbildung und Bildung

Blick in die Geschichte

Bundesweite Koordinierung

Studiengänge, Inhalte, Fächer, Unterrichtsformen, Grundkonzeption

6.Studierende

Mein Verhältnis zu Studierenden

Diversitäten

Pädagogische Anliegen

Berufswünsche

7.Lehrende

Funktionen und Lehrerbilder

Lehrende in künstlerisch-pädagogischen Studiengängen

Lehrende, Studierende, Musik

Ideale

8.Das Fach Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik

Geschichtliches

Fachliche Konzeptionen

Potenziale und Schwierigkeiten

Wertigkeit, Ansehen

Perspektiven

9.Lehren und Lernen im Fach Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik

Lehren, Lernen

Leitideen

Arbeitsformen, Vermittlungstechniken, Verhaltensweisen

Herausforderungen, Perspektiven

10.Arbeit am musikpädagogischen Selbstkonzept

Bildung musikpädagogischer Selbstkonzepte im Studium

Elemente eines persönlichen musikpädagogischen Selbstkonzepts als Hochschullehrer im Fach Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik

Musikpädagogisches Selbstkonzept im Berufsfeld Musizierpädagogik als lebenslange Aufgabe

11.Ausblick: Lebenskunst als Aufgabe von Musikschullehrenden

Gemeinsamkeiten von Musik, Musizieren und Lebenskunst

Musizieren als Lebenskunst vermitteln

Lebenskunst von Musikschullehrenden als Selbstsorge

Literaturverzeichnis

Einleitung

Grundlage dieses Buchs bilden Erfahrungen aus meiner über 30-jährigen Lehrtätigkeit im Fach Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik an der Universität der Künste Berlin, in diversen Veranstaltungen an anderen Ausbildungsinstituten sowie in Fortbildungen an Musikschulen. Ich beschäftige mich mit Potenzialen und Problemen meines Fachgebiets in Ausbildung und Beruf. Daraus resultiert eine Bestandsaufnahme, die meine persönliche Sicht des Fachgebiets vermittelt.

Meine Ausführungen sind durchweg subjektiv und daher mehr essayistisch als streng wissenschaftlich. Fachliche Reflexion verbindet sich häufig mit Selbstreflexion. Die Darstellung eigener Sichtweisen und Erfahrungen soll Leserinnen und Leser1 in diversen musikpädagogischen Tätigkeitsfeldern stimulieren, ihre individuelle Lehrpraxis sowie ihre persönlichen Wege des Lehrens und Lernens zu bedenken. Handeln ist oft von unzureichend durchschauten Impulsen gelenkt. Sich selbst auf die Spur zu kommen, bleibt ein fortwährendes Desiderat für alle Lehrenden. Manche Überlegungen werden andere Auffassungen und auch Widersprüche auslösen. Ebendies dürfte fruchtbar sein, um das hier im Mittelpunkt stehende Fachgebiet und die in ihm geschehende Arbeit produktiv weiterzuentwickeln.

Ich habe die Arbeit an diesem Buch nach meinem Eintritt in den akademischen Ruhestand begonnen. In dieser Lebensphase gewinnt man zunehmend Abstand zur »Community« des eigenen Fachs, der man viele Jahre angehört hat. Darin liegen zugleich Verlust und Befreiung. Es fehlen mir manche mit aktuellen Fragen befassten Fachgespräche; andererseits fühle ich mich in meinem Schreiben weniger dem Blick des Fachkollegiums ausgesetzt und weniger an bestehende Konventionen wissenschaftlichen Arbeitens gebunden. Das »Draußensein« gewährt mehr Freiheit, vielleicht sogar eine gewisse Narrenfreiheit. Manches Kritisieren fällt dadurch leichter: das offene Ansprechen von prinzipiellen Problemen und Mängeln des Fachs, deren Lösung nicht in Sicht ist, wie auch von Missständen, vor denen die in diesem Fach Tätigen aus Überlebensgründen leicht die Augen verschließen. Solche Überlegungen können bis zu der Frage reichen, ob das Fach vielleicht gar zur Disposition gestellt werden könnte und sollte, jedenfalls in seinen jetzigen Formen.

Das Buch ist keine stringente Abhandlung, sondern hat eine lockere Fügung. Einige Fakten und Probleme spielen in mehreren Zusammenhängen eine Rolle. Sie kehren daher mehrfach wieder und werden aus verschiedenen Perspektiven bedacht, was andere Facetten an ihnen hervortreten lässt, gelegentlich auch zu voneinander abweichenden Auffassungen und möglichen Konsequenzen führt. Auch gibt es unbeantwortete Fragen, deren weiteres Bedenken an den Leser delegiert wird. Ich bevorzuge das Erwägen und Diskutieren von Möglichkeiten gegenüber dem Formulieren dezidierter Positionen. Ich traue mich, von mir selbst zu erzählen, nicht nur von positiven, sondern auch von negativen Erfahrungen, die üblicherweise unter Verschluss gehalten werden.

Die hier im Fokus stehende Musikpädagogik zielt auf die Fähigkeit, zum Musizieren anzuleiten. Im Blick auf diese Bestimmung würde sich sachlich als übergreifende Bezeichnung das Wort »Musizierpädagogik« anbieten. Der seit dem 17. Jahrhundert geläufige Begriff »musizieren« war vor allem im vergangenen Jahrhundert in der Jugendmusikbewegung gebräuchlich. Mittlerweile hat er sich weitgehend emanzipiert und wird für diverse Musikpraxen verwendet. Allerdings löst er bei Menschen mit musikgeschichtlichen Kenntnissen und so auch bei mir immer noch Assoziationen an die vormaligen Ideale von Spielmusiken alter und neuer Provenienz aus. Zudem ist »Musizierpädagogik« als Fachbezeichnung an Hochschulen bislang nicht üblich. Ich ziehe ihm daher den etablierten Begriff »Instrumentalpädagogik« vor. Auch dieser Begriff hat allerdings Schwachpunkte.

Gern verwenden Vertreter des Arbeitsgebiets Schulmusik den Begriff Instrumentalpädagogik zur Abgrenzung: hier Schulmusik – dort Instrumentalpädagogik. Damit sind unterschiedliche Berufsfelder und die zu ihnen hinführenden Ausbildungswege gemeint. Beide Begriffe, Schulmusik und Instrumentalpädagogik, sind problematisch. Im Wort »Schulmusik« schwingt mit, dass Musik auf schulische Möglichkeiten zugeschnitten und reduziert wird, sodass die Freiheit des Umgangs mit ihr Einbuße erleidet. Schule kann schwerlich eine Bestimmung von Musik sein. Was wäre eine als »Schulmusik« zu bezeichnende Musik? Nicht befriedigend am Begriff »Instrumentalpädagogik« ist, dass er sich auf musikalische Aktivitäten bezieht, das Wort »Musik« aber nicht in ihm vorkommt. Vor die Musik bzw. das Musikmachen schiebt sich das Wort »instrumental« – ein in seiner Bedeutung nicht eben klares Wort, da »instrumental« ja auch prinzipiell eine nicht-musikbezogene Zweck-Mittel-Relation meinen kann. Dass »Instrumentalpädagogen« in erster Linie Musikpädagogen sind, nämlich Vermittler von Musik und ihrer Realisierung, wird im Begriff »Instrumentalpädagogik« weggeblendet. Die Ausrichtung auf das Instrumentale lässt leicht Vorstellungen von Mechanik und mechanistischen Exerzitien entstehen, bei denen die mit dem Instrument verknüpfte Technik über der Musik rangiert (s. dazu auch Röbke in Figdor / Röbke 2008, S. 15). Problematisch ist ferner, dass »Instrumentalpädagogik« üblicherweise als Kürzel fungiert. Gemeint ist in der Regel »Instrumental- und Vokal- (bzw. Gesangs-)pädagogik«. Diese Doppelbezeichnung ist nicht nur umständlich, sondern hat auch den Nachteil, dass sie eine Aufspaltung der als Einheit zu begreifenden Tätigkeit des Musikmachens vornimmt. In der Kurzform »Instrumentalpädagogik« wiederum fühlen sich Sänger eher ausgeschlossen als aufgehoben. Gewiss lässt sich auch die Stimme, der »Stimmapparat«, das Werkzeug des Singens, als Instrument auffassen; eine solche Sichtweise entspricht jedoch nicht dem üblichen Verständnis von »instrumental«.

Trotz dieser Mängel ist der Begriff »Instrumentalpädagogik« weiterhin üblich. Ihn durch »Musizierpädagogik« zu ersetzen, würde dem allgemeinen Sprachgebrauch zuwiderlaufen. Allerdings werden im Verlauf des Buchs vor allem dort, wo es um das Hochschulfach geht, Begriffsbildungen wie »Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik«, »Instrumental- (und Gesangs-)pädagogik«, »Allgemeine Instrumentaldidaktik« verwendet. Diese an Hochschulen üblichen Benennungen meinen durchweg dasselbe.

»Instrumentalpädagogik« als zum Musizieren anleitende Tätigkeit ist uralt. Es gibt sie, seit Menschen musizieren lernen – instrumental, stimmlich, sich bewegend, mit oder ohne Lehrende. Eine geschichtliche und vor allem eine ethnologisch ausgerichtete, interkulturell vergleichende Darstellung der in allen Kulturen anzutreffenden Erscheinungsformen von Instrumentalpädagogik steht allerdings bis heute aus.

Anders als praktische Instrumentalpädagogik ist das an Hochschulen neben dem Instrumental- und Vokalunterricht bestehende Fach, das sich instrumentenübergreifend mit der Vielfalt des Musizierenlernens und -lehrens beschäftigt, noch sehr jung – jünger als das Fach Musikpädagogik im Rahmen der Schulmusikausbildung. Die drei Jahrzehnte meiner Mitte der 1980er Jahre beginnenden Lehrtätigkeit bilden einen Zeitraum, in dem das Fach sich enorm entwickelt hat. Aus einer bieder-konservatorialen, theoretisch kaum fundierten Lehre ist eine inhaltlich vielfältige Disziplin von beachtlichem wissenschaftlichem und didaktischem Niveau geworden. Diverse anderen Disziplinen wurden einbezogen: Musikwissenschaft, Erziehungswissenschaften, Psychologie, Physiologie, Neurowissenschaften, Philosophie u. a. Die auf das Musizierenlernen gerichtete Musikpädagogik steht mittlerweile nicht mehr hinter ihrer traditionsreicheren schulischen Schwesterdisziplin zurück.

Obwohl das Buch sich überwiegend mit dem Arbeitsgebiet Musikpädagogik an Hochschulen befasst, ist es kein »Lehrbuch« im üblichen Sinn. Es bezweckt nicht, Fachwissen zu vermitteln. »Lehr-Buch« ist mein Versuch aber insofern, als es von meinem persönlichen Erleben der Lehrtätigkeit in diesem Fach ausgeht. Ich thematisiere meine Erfahrungen und Einsichten im Bereich der Instrumentalpädagogik (des Hochschulfachs Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik) und reflektiere auf ihrer Grundlage Absichten, Möglichkeiten und Grenzen des Fachgebiets. Dazu gehören vor allem das Berufsfeld, die Rahmenbedingungen im Hochschulstudium, Persönlichkeitsprofile der Lernenden und der Lehrenden, das Fach Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik, das Lehren und Lernen in diesem Fach sowie das fachliche Selbstverständnis. Gelegentlich greife ich auf frühere eigene Texte zu diesem Themenspektrum zurück.

Das Buch spricht diverse Personengruppen an: Lehrende im Gebiet Musikpädagogik an Hochschulen, Musikschulen und in anderen musikpädagogischen Tätigkeitsfeldern, Studierende an Musikhochschulen, Interessenten an einem solchen Studium, bildungs- und kulturpolitische Akteure im Musikleben, musikalische Laien und Liebhaber.

Der Aufbau ist wie folgt:

Nach der Einleitung folgt als »Auftakt« eine Ansprache an Absolventen des Musikstudiums (1). Sie zeigt etwas von meiner Grundhaltung als Hochschullehrer für Musikpädagogik und bringt erste Gedanken zum Studium und Berufsfeld.

Das Kapitel »Selbstwahrnehmungen und persönliche Lernwege« (2) ist ein Versuch, einigen Motiven meines eigenen fachlichen Profils auf die Spur zu kommen.

Nicht um eine fachliche Definition des Begriffs Musikpädagogik, sondern um oft vernachlässigte, jedoch verbreitete und wirksame Vorstellungen, die sich häufig mit diesem Begriff verbinden, geht es im Kapitel »Musikpädagogik – vorläufige und alltägliche Sichtweisen« (3).

Das Kapitel »Zum Berufsfeld ‚außerschulische Musikerziehung‘« (4) erörtert prinzipielle Gegebenheiten des komplexen musikpädagogischen Tätigkeitsfeldes außerhalb allgemeinbildender Schulen.

Strukturen und Entwicklungen der auf dieses Berufsfeld vorbereitenden Ausbildung beleuchtet das Kapitel »Studium« (5).

Die beiden Kapitel »Studierende« (6) und »Lehrende« (7) rücken die im künstlerisch-pädagogischen Musikstudium agierenden Personengruppen mit ihren diversen Interessen und Prägungen ins Licht.

Es folgt eine Beschäftigung mit dem Fach »Musikpädagogik / Allgemeine Instrumentaldidaktik« (8).

Danach thematisiere ich meine Lehrerfahrungen und meine Beobachtungen und Gedanken zum Lernen in »meinem« Fach (9).

Die letzten beiden Kapitel richten den Blick in die Zukunft. Das Kapitel »Arbeit am musikpädagogischen Selbstkonzept« (10) tut dies, indem es Lehrenden im Tätigkeitsfeld Musizierpädagogik Anregungen für fachliche und persönliche Entwicklungen gibt.

Der Text »Lebenskunst als Aufgabe von Musikschullehrenden« (11) ist wie der »Auftakt« (1) eine Rede. Wurden dort Studienabsolventen angesprochen, so sind nun vor allem die seit längerem beruflich tätigen Lehrkräfte die Adressaten. Inhaltlich weitet sich die Perspektive auf die Fragen, inwiefern Musizieren als Lebenskunst gelten kann und wie Musikschullehrende ihr schwieriges Berufsfeld mit Lebenskunst meistern können.

Das Thema Instrumentalpädagogik richtet Pädagogik auf Musizieren aus. Gleichwohl haben sich beim Schreiben viele Überlegungen allgemeinpädagogischer Art ergeben. Mir scheinen sie auch für den musizierpädagogischen Kontext wichtig, ja unverzichtbar. Jede Pädagogik hat es in erster Linie mit Menschen und dann erst mit dem jeweiligen Fach zu tun.

»You are lost the moment you know what the result will be.« Diese Juan Gris zugeschriebene Äußerung meint ein experimentelles Denken und Hervorbringen, das sich und die Rezipienten vor vorausberechneten Resultaten bewahren will. Der Satz wirkte ermutigend und entlastend beim Schreiben dieses Buchs: ermutigend, es mit den eigenen Erfahrungen aufzunehmen und die Offenheit des Ergebnisses zu riskieren; entlastend davon, zu sicheren Ergebnissen kommen zu müssen.

Berlin, im August 2019

Ulrich Mahlert

1Um eine flüssige Lektüre zu erleichtern, verwende ich im Folgenden zumeist das generische Maskulinum als übergreifende Form für alle Geschlechteridentitäten.

1.Auftakt: Eine Rede an Studienabsolventen

Die folgende Ansprache hielt ich vor einigen Jahren auf einer der jährlich stattfindenden Absolventenfeiern für Studierende aller Studiengängen der Fakultät Musik der Universität der Künste Berlin. Ich versuchte mich in die Absolventen hineinzuversetzen, die sich nun von der mittlerweile vertrauten Universität lösen und den Übergang in die neue Lebensphase der Berufstätigkeit vollziehen mussten. Etliche Themen dieses Buchs klingen an: Fragen des Lernens in Studium und Beruf, Reflexion von Lernwegen, Erträge und Ziele des Studiums, Lebenskunst, persönliches Selbstkonzept u. a. Somit mag der Text als Auftakt geeignet sein.

Liebe Absolventinnen und Absolventen,

Sie stehen am Abschluss Ihres Studiums. Bei dem Gedanken daran kam mir eine prächtige Stilblüte in den Sinn, die ich vor Jahren in einer Seminararbeit über musikbezogene Entwicklungspsychologie las: »Das Kind steht an der Schwelle zum Schüler.« Sie stehen also an der Schwelle zum Berufstätigen. Schluss mit dem Studium. Neubeginn.

Einen Schluss aber gibt es nicht ohne einen vorherigen Anfang. Also denke ich noch mal kurz daran, was ich den neu aufgenommenen Studierenden meines Studiengangs immer als Hauptsache sage (und also wohl auch Ihnen gesagt habe): »Ich wünsche Ihnen, dass das vor Ihnen liegende Studium an der Universität der Künste Berlin die reichste und dichteste Zeit Ihres Lebens werden möge.«

Jetzt liegt diese Zeit schon hinter Ihnen. Und ich weiß nicht so recht, ob ich Ihnen heute, meinen Wunsch von damals aufgreifend, wünschen soll, dass dies in der Tat die reichste Zeit Ihres Lebens war. Eigentlich wünsche ich es Ihnen doch lieber nicht, denn das würde ja bedeuten, dass das Schönste bereits vorbei ist. Das soll nicht sein. Im Gegenteil wünsche ich Ihnen, dass es jetzt noch mal richtig neu losgeht in Ihrem Leben – mit vielen neuen Wegen (vorgebahnten und noch zu bahnenden), vielfältigen Entwicklungen, sicher auch mit Krisen und Schwierigkeiten, aber auch mit Steigerungen und ungeahnten Höhepunkten. Das Leben geht weiter – als man denkt.

Wie verhält sich das hinter Ihnen liegende Studium zu dem, was nun kommt? Hier, an dieser Uni, sind Sie jetzt »die Großen« unter den Studierenden – so ähnlich, wie Sie damals, am Ende Ihrer Schulzeit, »die Großen« der Schule waren – diejenigen, die es hinter sich hatten und von den jüngeren Jahrgängen bewundert wurden, weil sie »fertig« waren und einen reichen Erfahrungsschatz gesammelt hatten. Am Anfang Ihres Studiums waren Sie zunächst wieder die Kleinen. Langsam haben Sie Orientierung gewonnen, wie es hier läuft, haben Ihr Terrain erobert, haben die offiziellen Wege und die vielen informellen, in Jahrzehnten durch Gewohnheiten und Routine eingespurten Trampelpfade durch den Hochschul-Dschungel kennen- und nutzen gelernt.

Dieses Insiderwissen haben Sie nicht nur Studienanfängern, sondern auch vielen Lehrenden voraus. Denn wer sieht die Hochschule mit ihren vielen Ungereimtheiten differenzierter als Sie, die sie letztlich all das ausbaden mussten, was trotz fortwährender Reformen und Neuerungen im Studienbetrieb nicht gut gelingt?

Und nun kommt das Berufsleben. Sie müssen erst mal wieder klein anfangen, sich neu orientieren und aufstellen, sondieren, was die Lage hergibt, neue Wege erschließen, auch mit Schocks und mit anfänglichen Misserfolgen rechnen. Die »Großen«, die Berufserfahrenen, von denen Sie ja viele kennen, werden Ihnen dabei helfen – ähnlich wie Ihnen damals, als Sie mit dem Studium begonnen haben, die höheren Semester geholfen haben. Es klappt nicht alles am Anfang. Mit Worten von Robert Gernhardt: »Vor den Erfolg haben die Götter den Scheiß gesetzt.« (Gernhardt 2001, S. 184) Sie kennen das aus vielen Erfahrungen ihrer bisherigen Lernkarriere.

Noch mal: Wie verhält sich das hinter Ihnen liegende Studium zu dem, was nun kommt? Ich hoffe und wünsche Ihnen, dass diese Studienjahre viele gute Fernwirkungen in Ihre Zukunft haben werden. Was man gelernt hat, entfaltet sich ja meist erst mit zeitlicher Verzögerung. Natürlich: Lernen ist ein lebenslanger Prozess, das weiß jeder. Aber nicht nur das Lernen, sondern auch die Entfaltung, das Zutagetreten und Fruchtbarwerden von Gelerntem ist ein lebenslanger Prozess. Das Gelernte, auch das scheinbar längst Vergessene, wirkt unterschwellig weiter. Es vollzieht sich wie das Wachsen eines Pilzgeflechts: Über weite Strecken geschieht es unterirdisch – und plötzlich tauchen an ungeahnten Stellen die schönsten Pilzkulturen auf. Und so wünsche ich Ihnen vor allem, dass es in der vor Ihnen liegenden Lebensphase viele solcher Pilzkulturen des an dieser Uni Gelernten geben möge – oder mit einem anderen Bild ausgedrückt: ein zeitlich breit ausgedehntes Feuerwerk von Spätzündungen.

Wenn Sie nach diesen Jahren an der Universität, nach der Zeit Ihres Studiums als Maler Ihres Lebensbilds einen Schritt von der Staffelei zurücktreten und das in Arbeit befindliche, bisher entstandene Gemälde Ihres Lebens betrachten, finden Sie bestimmt vieles gut gelungen und freuen sich über viele schöne Details. Bei anderen Bildelementen dagegen haben Sie vielleicht das Gefühl, dass sie noch besser hätten ausgeführt werden können. Verpasste Chancen, nicht genutzte Möglichkeiten – das kennt jeder, der Rückschau hält.

Ich hatte einen Freund, der nach seinem fünfjährigen Studium in Freiburg aus dieser schönen Stadt fortzog. Als er seine Sachen gepackt hatte und sich von mir verabschiedete, sagte er, er wolle jetzt noch schnell in das Freiburger Münster (bekanntlich eine der schönsten gotischen Kathedralen). Das habe er sich im Studium immer schon vorgenommen, aber leider bislang nicht geschafft. Bestimmt geht es Ihnen am Ende des Studiums mit manchem ähnlich. Auf die kulturellen Reichtümer von Berlin bezogen natürlich sowieso, aber wohl auch auf die Möglichkeiten, die Ihnen diese Universität in ihrer enormen Fülle geboten hat. Ja, wir sind eine Universität der Künste, ein kleines Universum, und wir können glücklich darüber und stolz darauf sein – und doch machen wir nur sehr begrenzt Gebrauch davon. Selbst an kleineren Hochschulen, die nur mit Musik zu tun haben, werden die vorhandenen Angebote oft nur zum Teil genutzt. Allzu gern nistet man sich in seinem Studiengang-Biotop ein und schaut, dass man mit den Anforderungen und den Menschen dort einigermaßen zurechtkommt. Zusätzliche Aktivitäten, die den eigenen Fachhorizont ausweiten, sind zwar anregend, bringen aber auch Unsicherheit, Selbstzweifel und Verwirrung mit sich. Davor möchte man sich schützen. Auch bei Ihnen wäre bestimmt noch vieles möglich gewesen. Manches hat man einfach verpasst, und jetzt, am Ende des Studiums, kann der Gedanke aufkommen: Wenn ich jetzt noch mal anfangen würde, würde ich vieles ganz anders machen …

Ich glaube, jetzt zu hadern, wäre nicht gut. Lassen Sie Ihr Studium gut sein. So wie es sich gefügt hat, war es bestimmt neben manchem Misslichen, Ärgerlichen, Verfehlten gut. Damit will ich Ihr Studium nicht gesundbeten und Ihnen kein Trostpflaster aufkleben. Es geht um Ihre persönliche Einstellung bei Ihrem Rückblick. Förderlich wäre, ein Gefühl für den Reichtum von all dem zu entwickeln, was Sie in den zurückliegenden Jahren erlebt, erfahren und gelernt haben. Psychologen wissen, dass man sich nie realitätsgenau an früher Erlebtes erinnert. Erinnerungen verändern sich. Menschen schreiben ihre Biografie fortlaufend um, übermalen Segmente ihres Lebensgemäldes, kratzen Farbschichten weg, tragen neue auf. Und da ist es gut, wenn Sie, jedenfalls zunächst einmal, die zurückliegende Zeit mit einem positiven Blick überschauen, mit einem Blick, der in der Erinnerung immer wieder die in den letzten Jahren angehäuften Erfahrungen aktualisiert, sie als einen Schatz entdeckt und als Ausstattung für das Bestehen neuer Aufgaben nutzt.

Ich möchte diesen Gedanken ein wenig vertiefen. Dazu eignet sich eine seltsame Bemerkung von Goethe, die er beiläufig in einem Brief an einen Freund formuliert hat. Goethe schreibt da, man müsse »Geschehenes […] immer als eine Gottheit verehren […]; so möge das daraus Erfolgende heilsam werden!« (Brief an Sulpiz Boisserée, Tennstedt 7. August 1816, Goethe 1965, S. 362) »Geschehenes […] als eine Gottheit verehren« klingt gewaltig und befremdlich zugleich. Was meint Goethe? Geschehenes soll nicht als »Schnee von gestern« beiseitegeräumt, sondern als etwas Bedeutsames mental gehegt und gepflegt, ja wie etwas Heiliges verehrt werden. Das Geschehene ist wertvoll. Wir »verehren« es, indem wir es uns vergegenwärtigen und es meditieren. Dadurch kann »das daraus Erfolgende heilsam werden«. Im »Verehren« von Geschehenem öffnet sich unser Sinn für den Wert, der in ihm steckt und den es für unser zukünftiges Leben haben kann. Es ist ein kostbares Geschenk, dessen Wert sich im Laufe der Zeit entfaltet.

Je nachdem, wie das »Geschehene« betrachtet wird, beeinflusst es die Zukunft. Wenden wir den Gedanken auf das zurückliegende Studium und all das darin »Geschehene« an. Wenn mein Rückblicken vordergründig bleibt, kommt mir vielleicht neben vielem, was mich weitergebracht hat, manches andere als wenig nützlich oder gar überflüssig vor, als etwas, mit dem ich meine Zeit vertan habe. Vielleicht habe ich überhaupt das Gefühl, viel Zeit verplempert zu haben. Je sorgfältiger ich aber das scheinbar Belanglose, Beiläufige betrachte und bedenke, desto produktiver wird es. Dann zeigt sich: Nichts davon ist wertlos – selbst die verbummelte Zeit nicht. Vermeintliche Leerlaufzeiten waren notwendige Latenzphasen, in denen sich unterschwellig Wichtiges entwickelt hat. Mancher »Groschen« wäre ohne sie »nicht gefallen«, manche Einsicht und manche Entscheidung nicht gereift. Auch in dem vielleicht zufällig und belanglos Erscheinenden schlummern Potenziale, die im weiteren Verlauf des Lebens wichtig werden können. In sorgfältiger Rückschau merken wir oft, dass Zufälle und Nebensächlichkeiten glückliche Fügungen waren. Begegnungen mit bestimmten Menschen in bestimmten Situationen, ungeplante und unvorhersehbare Ereignisse, der Zeitpunkt ihres Eintretens zeigen sich im Nachhinein als wichtige Weichenstellungen, manchmal mit Wirkungen für das ganze Leben.

Wir können »Geschehenes« als kostbare Möglichkeit der Selbsterfahrung und -erkenntnis nutzen. Bestimmt haben Sie im Studium Stärken und Schwächen an sich entdeckt, die Sie vorher noch nicht so genau kannten. Vielleicht waren Sie überrascht, dass Ihnen manches schwer, anderes leicht fiel. Neue Interessensgebiete, ungeahnte Fähigkeiten sind hervorgetreten. Schwerpunkte haben sich verschoben, neue Optionen gebildet. Einstellungen zum Musikmachen, zum Unterrichten und zu anderen beruflichen Möglichkeiten sind im Laufe des Studiums in Bewegung geraten. Beim Vergleichen »vorher – nachher« merken Sie, was sich alles verändert hat. Diese Veränderungsfähigkeit ist eine ermutigende, mit Goethes Wort: »heilsame« Perspektive für die Zukunft. Das Geschehene ist nicht abgeschlossen, sondern offen. Es ist keine statische Verfügungsmasse, sondern ein dynamisches Potenzial. Es wartet darauf, sich zu entfalten und entfaltet zu werden.

Womöglich war auch gerade das Krumme, nicht so Tolle im Studienalltag wichtig – möglicherweise ergiebiger als ein glatt und perfekt durchlaufendes Studium. Vielleicht haben Sie dabei gelernt, sich »durchzulavieren«, Spielräume geschickt zu nutzen, für eigene Anliegen zu kämpfen, sich von Unzuträglichem zu distanzieren. All das sind wichtige Lebenskünste. Selbst wenn Sie neben Ihren vielen hervorragenden Lehrern vielleicht mit dem einen oder anderen etwas Pech gehabt haben sollten, gilt immerhin der alte Sponti-Satz: »Wir hatten schlechte Lehrer – das war eine gute Schule.« Das mag zynisch klingen. Aber auch darin liegt letztlich eine mögliche Bedeutung von Goethes Postulat, man solle »Geschehenes […] immer als eine Gottheit verehren«. Auch und vielleicht sogar gerade aus Misslichem und Misslungenem lässt sich Wichtiges lernen. Und Lernen geschieht ja letztlich sowieso immer autodidaktisch – durch die Art, wie man mit Erfahrenem umgeht.

Für mich bleibt es eine offene Frage, was eigentlich Ausbildungsziele eines Hochschulstudiums sind. Beim Diskutieren und Schreiben von Studien- und Prüfungsordnungen, zu denen wir ja immer wieder nicht zuletzt durch unsere Kultusbürokratie genötigt werden, fällt einem auf, wie sehr man notgedrungen zum Dichter wird. Um die Ziele, Inhalte und die angestrebten »Kompetenzen« in den Jargon solcher Ordnungen zu bringen, drechseln wir mühselig ungereimte Pseudo-Poesie, blumige Formulierungen, wohlklingende, aber bei Lichte besehen ziemlich hohle Versatzstücke aus dem Wörterbuch der amtlichen Bildungslyrik. Was ist beispielsweise von folgendem Satz zu halten: »Allgemeine Aufgabe der Instrumental- und Gesangspädagogik ist die Vermittlung von Musik im Sinne einer Äußerung menschlicher Kultur sowie als Möglichkeit und Zeugnis aktiver Lebensgestaltung.« Fast jedes Wort eine hohle Nuss, ein faules Ei … Zwar wurde der Satz an einer anderen Hochschule kreiert, aber auch bei uns sieht es nicht viel besser aus. Immer wieder ist auch in unseren Ordnungen die Rede von »grundlegenden künstlerischen Kompetenzen«, »umfassenden« oder »vertieften Kenntnissen und Fähigkeiten«, »historisch und systematisch fundierten Kompetenzen«, »eigenverantwortlichem Umgang mit erarbeiteten Methoden«, »Fähigkeiten zur stilistischen Einordnung und Differenzierung«. Das klingt nicht besser als die uferlose Flut von unerquicklichen, hochtrabenden, verstiegenen, bramarbasierenden, pseudointellektuellen, Orgien leerer Abstraktion feiernden Hohlformeln, die man in Zielbestimmungen von schulischen Lehrplänen findet. Ich denke an Formulierungen wie »Verständnis für grundlegende wissenschaftstheoretische und philosophische Fragestellungen«, »Gleichgewicht im Menschen zwischen Verstehen und gefühlsmäßigem Erleben«, »problem- und prozessbezogenes Denken in Zusammenhängen«, »Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft«, »Konzentrationsfähigkeit«, »Offenheit für andere Sichtweisen«, »kognitive Aktivierung«, »Wissen flexibel einsetzen können«, »Methoden-, Orientierungs- und Bewertungskompetenzen«, »methodischtheoretisches Grundlagen- und Vermittlungswissen«, »Vermittlung einer allgemeinen Studierfähigkeit«. All dies sind aufgeblasene Abstraktionen ohne Inhalt, die eher verdunkeln als klären. Solche schlotternden Formeln wollen alles erfassen und sagen in Wirklichkeit nichts.

Lässt sich denn überhaupt bestimmen, was an »Kompetenzen« am Ende eines Studiums stehen muss? Und lassen sich solche »Kompetenzen« wirklich erfassen und bewerten? Ich bin skeptisch. Prüfungsergebnisse sagen nichts über den späteren beruflichen Erfolg aus. Ich will niemandem die Freude an einer guten Examensnote kleinreden, an der Genugtuung und dem Stolz, durch viel Fleiß Erfolg gehabt zu haben. Es ist großartig, wenn Ihre Zeugnisse sehr gut sind! Aber auch: Nicht schlimm, wenn Sie in einigen Fächern nicht so gut abgeschnitten haben. Trotzdem können Ihre Karrieren sehr erfolgreich verlaufen.

Ob man produktiv gelernt hat und was man gelernt hat, zeigt sich nur zum kleinen Teil in Prüfungen. So richtig zum Tragen kommt Gelerntes erst in der Zukunft, im Berufsleben, in der Arbeit, die jetzt vor Ihnen liegt – ob als Lehrer an allgemeinbildenden Schulen oder Musikschulen, als Musiker im Orchester, Ensemble oder auch mal allein auf der Bühne, beim Komponieren und Arrangieren, beim Kooperieren mit Kollegen, beim Schreiben von Texten, beim »Vermitteln« von Musik, nicht zuletzt auch: beim umsichtigen Planen und Steuern, beim Management der eigenen Karriere. Fast beängstigend, was einem alles an erforderlichen und wünschenswerten Fähigkeiten in den Sinn kommen kann – beängstigend nicht nur für Sie, die das Studium nun hinter sich haben (Frage: »Kann ich das alles?«), sondern auch für die Lehrenden an dieser Hochschule (Frage: »Habe ich / haben wir das alles beim Unterrichten mitbedacht?«). Sehr tröstlich und entlastend finde ich, was mir aus einem Gespräch mit einem klugen Bildungspolitiker in Erinnerung ist. Er warnte davor, das Studium in guter Absicht, aber schlechter Wirkung immer weiter zu überfrachten mit immer noch mehr (angeblich) berufsbezogenen Inhalten. »Für fünf Pfennig in sechs Tüten« nannte er das in Anspielung auf die Art, wie er als Kind für sich und seine Freunde Bonbons gekauft hatte. Er wusste: Über 50 Prozent dessen, was in den meisten Berufen gefordert ist, lernt man nachweislich nicht im Studium. Und er fügte hinzu: »Das ist auch gut so.« Er war der Ansicht, dass ein Studium etwas anderes sein solle als der (vergebliche) Versuch, passgenau auf die Anforderungen eines Berufs vorzubereiten. Ein Studium solle den Horizont der Studierenden weiten und nicht verengen.

Also verzichten wir darauf, zu grübeln, ob die Studienziele erreicht wurden. Vertrauen Sie lieber darauf, dass Sie, gestärkt mit dem Rüstzeug des in der Ausbildung Gelernten und Erlebten, mit Lust in den nächsten Lebensabschnitt gehen. Letztlich ist ja, wenn Sie an die besagten 50 Prozent denken, die Sie für den Beruf noch brauchen, das Berufsleben eine permanente Verlängerung des Studiums. Genau so hat es der Dichter Clemens Brentano 1811 beschrieben, als er die Philister attackierte, kleingeistige Spießbürger, die meinen, ausgelernt zu haben, Leute mit engem Horizont und vermeintlich sicherem Wissen. Philister waren für Brentano alle, »die keine Studenten waren, und nehmen wir das Wort Student im weitern Sinne eines Studierenden, eines Erkenntnisbegierigen, eines Menschen, der das Haus seines Lebens noch nicht wie eine Schnecke […] zugeklebt, eines Menschen, der in der Erforschung des Ewigen, der Wissenschaft oder Gottes, begriffen, der alle Strahlen des Lichtes in seiner Seele freudig spiegeln läßt, eines Anbetenden der Idee, so stehen die Philister ihm gegenüber, alle sind Philister, welche keine Studenten in diesem weitern Sinne des Wortes sind.« (Brentano 1811/2013, S. 147; vgl. dazu Rüdiger 2002) Also: Das Studium ist noch gar nicht zu Ende – und damit auch nicht die schönste Zeit Ihres Lebens. Bleiben Sie, bleiben wir ewige Studenten! (Exmatrikulieren müssen Sie sich allerdings trotzdem, falls Sie es noch nicht getan haben.)

2.Selbstwahrnehmungen und persönliche Lernwege

Der Versuch, ein Fachgebiet zu überblicken, in dem man viele Jahre tätig war, ist unvermeidlich von persönlichen Erfahrungen geprägt. Zunächst stammen sie aus der beruflichen Arbeit und dem Nachdenken über das eigene Tun. Sie reichen aber noch weiter zurück, nämlich in die frühere Lerngeschichte. Sozialisation und Personalisation in Kindheit und Jugend – wie auch immer weiterentwickelt, bejaht, kritisch betrachtet oder gar bekämpft – bilden die Grundlage späterer Aktivitäten und wirken in sie hinein. Man gelangt kaum heraus aus dem Bedingungsgefüge gemachter Erfahrungen.

Der Einfluss persönlicher Lernwege auf die Art, das eigene Arbeitsgebiet zu betrachten, zeigt sich auch an der Position des Betrachters. Sie erfolgt von einem bestimmten Punkt der eigenen Lebensgeschichte aus. Selbst der mögliche Versuch, verschiedene, weniger subjektive Positionen zu beziehen, wird bestimmt von der persönlichen Begrenztheit: Im Wunsch, sie auszuweiten, ist deren Wahrnehmung wirksam.

Ich spüre eine Hemmung, in der Ich-Form und dann auch noch von mir selbst zu schreiben. Dabei habe ich es persönlich gern, wenn Autoren im Blick auf eine gewählte Thematik auch sich selbst ins Spiel bringen und sich als Darstellende reflektieren. Es interessiert mich, welche Beziehungen sie zu ihren Gegenständen haben und welche Geschichte die Autoren zu ihnen geführt hat. Dadurch verstehe ich das Dargestellte besser und tiefer. Es wird mir deutlich, wie die Ausführungen an die Person des Schreibenden gebunden sind. Das regt an, auch aus alternativen Perspektiven auf die Thematik zu blicken.

Die Scheu, in Veröffentlichungen über ein Fachgebiet »ich« zu sagen, hat mit den Normen wissenschaftlichen Schreibens zu tun. Auch ich habe diese Normen im Studium gelernt und bis heute weitgehend praktiziert. Ihnen zufolge sind persönliche »Ansichten« möglichst zu vermeiden. Denn zur Wissenschaftlichkeit gehört eine objektive Betrachtungsweise, die sich von den Bedingtheiten, Zufälligkeiten und Beschränktheiten persönlicher Erfahrungen frei macht. Tatsächlich aber sind Objektivität und Subjektivität unlöslich miteinander verschränkt. Objektivität ist nicht entsubjektivierbar. In jeder Bemühung um Objektivität steckt ein subjektiver Impuls, und umgekehrt lässt sich die Einbeziehung subjektiver Erfahrungen in die Reflexion durchaus mit einem Streben nach Objektivität verbinden.

Die in diesem Kapitel ausgeführten Überlegungen zu meinen fachlich relevanten Eigenschaften und den ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen können kaum im engeren Sinn als wissenschaftlich gelten. Trotzdem erscheinen sie mir unverzichtbar, um das Anliegen dieses Buchs – eine persönliche Bestandsaufnahme des eigenen Fachs und seines Umkreises – zu verwirklichen. Der beabsichtigte Versuch macht es erforderlich, mich nicht nur fachlich zu positionieren, sondern zumindest ein Stück weit meinen persönlichen Bildungsprozess zu klären. Denn er prägt meine Wahrnehmung meines eigenen Fachs und meiner Position in ihm. Vielleicht werden meine Einblicke in die eigene Lerngeschichte immerhin einem nicht unwesentlichen Kriterium von Wissenschaftlichkeit gerecht: dem der Nachvollziehbarkeit. Darum jedenfalls bemühe ich mich. Meine Selbstbesinnungen sollen nachvollziehbar sein – als Versuch, eigene frühe und spätere Lernerfahrungen in ihrer nachhaltigen Wirkung auf die berufliche Arbeit erkennbar zu machen.

Klar ist, dass meine Bemühung um Selbstklärung nicht vollständig gelingen kann. Subjektivität lässt sich nur begrenzt objektivieren. Zum einen ist die eigene Selbstbeobachtung durch viele blinde Flecken eingeschränkt, zum anderen hat jedes Ich und so auch das eines sorgfältig Reflektierenden keine feste Identität; seine Kontur ist nicht scharf gezogen, sondern schemenhaft und frei flottierend. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (Bloch 1963, S. 11) Die an sich selbst wahrgenommenen Eigenschaften sind nicht starr und normiert, sondern Qualitäten, die sich im alltäglichen Handeln immer wieder in diversen Mischungen und Dominanzen verbinden. Und die Lernerfahrungen, die ihr Entstehen und ihre Regsamkeit mutmaßlich verursacht, mitbewirkt oder verstärkt haben, sind autoreflexive Wahrnehmungen, aber keine in ihrem Wirkungspotenzial sicher verifizierbare Geschehnisse.

In die Bemühung um Selbstklärung mischt sich Scheu vor Selbstbespiegelung und Selbstinszenierung. Anderen Menschen vorgeführte Autoreflexionen bewegen sich zwischen der Skylla der Eitelkeit und der Charybdis des bescheidenen Understatements. Besonders Deutungen, die nach Geschlossenheit und Rundung streben, erscheinen fragwürdig. Aus dieser Gefahr gibt es keinen sicheren Ausweg. Aber vielleicht kann sie durch das Bewussthalten der beiden virulenten Tendenzen etwas gemindert werden.

Das Prinzip, das ich für meine berufsbezogene Selbstreflexion wähle, soll transparent sein. Ich versuche nicht, mein Leben und meine persönliche Entwicklung als Zusammenhang darzustellen. Das wäre Sache einer Autobiografie. Vielmehr konzentriere ich mich auf einige Motive und Eigenschaftsmuster, die ich häufig in meiner beruflichen Arbeit an mir wahrgenommen habe, und versuche, deren Hintergründen und Motiven in früheren Lebensphasen nachzuspüren. Je älter ich werde, desto größer wird die Bedeutung bestimmter früher Lernerfahrungen – vielleicht auch deshalb, weil ich immer wieder über sie nachgedacht habe und sie so zu Modellen pädagogischen Lernens wurden.

Manchmal wirken einzelne, mitunter sogar kurze, blitzartige Erfahrungen lebenslang weiter, darunter positive wie negative. Es entstehen nicht nur Tugenden und Ideale, sondern zum Teil auch Hypotheken. Einige entwickeln sich im Berufsleben zu Leitmotiven, andere sind polare Tendenzen, zwischen denen fortlaufend Bewegungen und Positionierungen stattfinden. Licht- und Schattenseiten gehören zusammen. Für manche Probleme können nicht immer befriedigende Lösungen und Verhaltensweisen gefunden werden.

Ich wünsche und hoffe, dass meine selbstexplorativen Ausführungen den Leser anregen, sich mit der Gemengelage der eigenen beruflichen Identität zu beschäftigen und ihrer Genese nachzugehen. Selbstreflexive Gedanken an das Gelesene zu knüpfen, Folgerungen daraus zu ziehen, zwischen dem Profil der geschilderten Person und den eigenen Bedingungen, Erlebnissen und Erfahrungen hin- und herzudenken – das kann zur Selbstklärung beitragen. Und diese ist eine nützliche, ja unverzichtbare Voraussetzung mündigen Handelns, das dem Handelnden selbst und anderen guttut. (Kapitel 10 wird die Thematik des persönlichen Selbstkonzepts aufgreifen und weiterführen.)

Nun also einige Punkte meiner persönlichen beruflichen Selbstdiagnose mit Gedanken zu ihrer Vermitteltheit. Nur wenige besonders prägende Personen möchte ich ansprechen – Lehrer vor allem. Ich verzichte darauf, näher ins Familiäre zu gehen, obwohl sicher mancherlei beruflich relevante Motive durch meine Eltern, Brüder und das »Klima« in der Familie beeinflusst wurden.

Musizieren als Bildung

Mitte der 1950er Jahre, vor meiner Schulzeit und bevor ich selbst mit dem Musizieren begann, hörte ich zu Hause am Schallplattenapparat (befindlich in einer gediegenen »Musiktruhe«) viel Musik – hauptsächlich klassische, daneben auch etwas Unterhaltungsmusik, die dem damaligen Geschmack meiner Eltern entsprach. Es gab zu Hause ein Musiklexikon mit Bildern vieler Komponisten. Ich sah sie mir oft an und ließ mir die Namen vorlesen. Bald kannte ich sie alle und konnte die Komponisten den gehörten Musikstücken zuordnen. Der Einstieg ins Klavierspiel, mit dem ich im Alter von neun Jahren auf Wunsch meiner Eltern begann, fiel mir schwer. Ich empfand ein Missverhältnis zwischen meinem bereits erworbenen Wissen über Musik und den dürftigen und mühsamen Exerzitien. Im Kopf, beim Hören von Musik, war ich ästhetisch weiter als beim Spiel der mir aufgenötigten simplen Übungen und Stücke.

Erst als ich Originalwerke mir bekannter »großer« Komponisten spielen konnte, gewann das Klavierspiel für mich an Bedeutung. Stücke von Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Chopin, Debussy, Bartók u. a. zu üben, bedeutete für mich mehr als ein Können zu erwerben; eher war es ein aktives »Einbilden« der Musik (ein Bildungsvorgang also), ein durch Identifizierung mit ihr gelingendes Integrieren ihrer Botschaften und Energien in die eigene, nach Orientierungen und Stärkungen suchende Persönlichkeit, eine geistige und leibliche Aneignung, die mir neue Empfindungen, Gedanken, Bewegungen, Gesten, Mienenspiele, Haltungen etc. vermittelte. Im Spielen konnte ich mich emotional und körperlich ausweiten, konnte in der Vorstellung ein anderer werden (nämlich der Komponist bzw. ein imaginäres, in der Musik sich ausdrückendes Ich) und gleichzeitig genau dadurch noch mehr »Ich« werden. Und selbst wenn das Spiel zu Ende war, empfand ich einen Zuwachs an Erfahrungen und Selbstwertgefühl, ja an persönlicher Würde. Damit gewann die Musik für mich als Kind und pubertierenden Jugendlichen eine enorme Bildungskraft.

Diese frühen musikalischen Erfahrungen sind bis heute wirksam geblieben. Sie haben den Wunsch geweckt, Musizieren als einen intensiven Bildungsvorgang zu begreifen, es in diesem Sinne selbst zu praktizieren, zu vermitteln und zu nobilitieren.

Ein Motiv für dieses Musizieren war wohl auch das Bedürfnis, mich von meinen Eltern abzusetzen, mich ihnen gegenüber in meinem Selbstwertgefühl zu stärken und aufzuwerten. Während meiner Schulzeit und auch noch danach bedrückte es mich, dass meine Eltern zwar mein Musikmachen unterstützten, die Musik ihnen aufgrund ihres begrenzten musikalischen Horizonts aber letztlich eher als schönes Beiwerk des Lebens galt. Die intensiven Erlebnisse, die sich im Musizieren ereignen können, waren ihnen weitgehend verschlossen. Bei allem Respekt, den sie meinen musikalischen Leistungen entgegenbrachten, fühlte ich mich doch nur bedingt verstanden und gewürdigt. Auch dieses Defizit spielt wohl als Impuls in mein fortwährendes Anliegen hinein, Musizieren als intensiven Bildungsvorgang zu begreifen und einsichtig zu machen.

Ein weiteres Motiv ist die Erweiterung der Bildung des Musizierenden. Zwar bilden sich Musiker wie beschrieben in ihrem Tun auch dann, wenn sie sich nicht oder nur wenig für die Hintergründe der von ihnen gespielten Musik, für Musik- und Kulturgeschichte, Analyse, verbale Interpretation, Rezeption etc. interessieren. Ich hatte (und habe) allerdings ein anderes Ideal: das des gebildeten Musikers, der sich die gespielte Musik auch intellektuell erschließen und das eigene Verhältnis zu ihr reflektieren möchte. In diesem Sinne ist Musik kein Spielmaterial, sondern eine geistige Äußerungsform neben Sprachen, Literatur, bildender Kunst, Philosophie und anderen Wissenschaften. Ich wollte wissen, was ich spiele und wie ich es tue. Das Interesse für Musikwissenschaft ergänzte und vertiefte das Bedürfnis, Musik darzustellen.

Nicht zuletzt wurden meine Idealvorstellungen von gebildeten und gebildet Musizierenden durch meine Lehrerin im Klavierstudium an der Freiburger Musikhochschule angeregt: Edith Picht-Axenfeld. Als exzellente Pianistin und Cembalistin spielte sie ein immenses Repertoire für Tasteninstrumente: von den englischen Virginalisten bis hin zu Boulez, Nono und Holliger. Auch Barmusik konnte sie improvisieren. Zudem beschäftigte sie sich intensiv mit Philosophie, Literatur und anderen Künsten. All das floss in ihren Unterricht ein, nicht dozierend, sondern mehr in behutsamen Bemerkungen, beiläufigen Anregungen, Hinweisen. Ihr Unterricht hatte ein geistiges Klima, in dem Musik in Verbindung mit diversen anderen Disziplinen stand, mit Bildungsphilosophie, Ethik, Ökologie u. a. Musikalisches und Außermusikalisches wirkten unforciert ineinander. Zusammen mit einer hervorragenden pianistischen Ausbildung erhielten ihre Schüler immer auch Impulse, gegenwärtige Lebensverhältnisse und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven wahrzunehmen und zu reflektieren. Es ging darum, die durch Musik geweckten und sensibilisierten Sinne als Grundlage des Denkens zu begreifen. »Die Sinne entdecken, was der bloßen Reflexion unerreicht bleibt. Die Sinne denken.« (Picht 1986, S. 336) Diese für die Erfahrung von Kunst und für Pädagogik höchst bedeutungsvollen Sätze formulierte der Philosoph Georg Picht, der Mann von Edith Picht-Axenfeld. Er war langjähriger Leiter des Internats Birklehof in Hinterzarten, wo die große Familie Picht in einem alten Bauernhof wohnte. Später lehrte er Religionsphilosophie in Heidelberg. Ich erlebte ihn bei Besuchen in Hinterzarten, war beeindruckt von der ruhigen Intensität seines Denkens und Sprechens, las Schriften von ihm, z. B. den Band Die Verantwortung des Geistes (1965), darin besonders den mich nachhaltig beeindruckenden Aufsatz »Die Stellung der Musik im Aufbau unserer Bildung« (ebd. S. 151–172). Im Rückgriff auf Plato und in aktualisierender Ausrichtung führt Picht hier aus, die Musik diene »jener mittleren Sphäre zwischen Körper und Denken, in der sich die Lebenshaltung des Menschen formt und die deshalb die eigentlich ethische Sphäre ist.« (Ebd. S. 155)

Ästhetik