image

Herzstück Musizieren

INSTRUMENTALER GRUPPENUNTERRICHT ZWISCHEN PLANUNG UND WAGNIS

HERAUSGEGEBEN VON

NATALIA ARDILA-MANTILLA, PETER RÖBKE, CHRISTINE STÖGER UND BIANKA WÜSTEHUBE

image

Bestellnummer SDP 164

ISBN 978-3-7957-2396-5

© 2021 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer UM 5016

© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Redaktion: Rüdiger Behschnitt

Inhalt

Vorwort

Ulrike Kranefeld
Herzstück Musizieren?
Ein empirischer Blick auf Handlungs- und Orientierungsmuster von Lehrenden im instrumentalen Gruppenunterricht

Elisabeth Aigner-Monarth/Natalia Ardila-Mantilla
Musizierräume – Lernräume – Spielräume.
Künstlerisches und didaktisches Handeln im instrumentalen Gruppenunterricht

Peter Röbke
Von der Unverfügbarkeit des Musiziermoments.
Eine Spurensuche in der Instrumentalpädagogik

Ulrich Mahlert
Glück im Musizieren.
Erscheinungsformen, Bedingungen, Ermöglichungen

Wolfgang Lessing
Paradoxie als Regel.
(Musik-)Pädagogische Antinomien im instrumentalen Gruppenunterricht

Bianka Wüstehube
Gruppenunterricht als künstlerisches Ereignis

Natalia Ardila-Mantilla
„Einzelunterricht ist sehr zielführend. Gruppenunterricht… hm“.
Vorstellungen von der musikalischen Wissensvermittlung und ihre didaktischen Konsequenzen im instrumentalen Gruppenunterricht

Michael Rappe/Christine Stöger
Lernen im Cypher.
Die Tanzkultur des Breaking – eine Anregung für das Musizieren

Linda Aicher
Welch ein Singen, Musiziern, Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern!
Bericht über eine Poster-Session zum Thema „Musizieren als Herzstück“

Birgit Walter
JeKits – Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen.
Überlegungen zur Konzeption des „JeKi“-Nachfolgeprogramms

Vorwort

Die Beiträge des vorliegenden Bandes spiegeln zum einen das inhaltliche Geschehen eines Symposiums, das in Kooperation der Musikhochschulen Köln, Linz und Wien zum Thema „Musizieren als Herzstück des instrumentalen Gruppenunterrichts“ am 13. und 14. März 2015 in der Wiener Musikuniversität stattfand. Zum anderen verstärken sie eine Tendenz, die in der Instrumentalpädagogik gewissermaßen aus einer Treue zur Musik und zum Musizieren heraus immer schon angelegt war: die Tendenz, erfülltes und authentisches Musizieren nicht nur als Ziel von Lehren und Lernen anzusehen, sondern schon auf dem Weg dahin immer wieder möglich zu machen. Die Instrumentalpädagogik ist – vielleicht stärker als andere pädagogische Disziplinen – dem Hier und Jetzt verpflichtet: Sie hält es nicht aus, nur Wechsel auf die Zukunft auszustellen.

Auch wenn die Schriften eines Anselm Ernst dafür stehen, dass systematisches didaktisches Denken in der Tradition der lerntheoretischen Didaktik das Fach erreicht hat und der Zusammenhang von Zielen, Inhalten und Methoden für den Instrumentalunterricht entfaltet wurde – immer bleibt in anderen zentralen Publikationen des Fachs die Sensibilität für das Künstlerische wach und mithin für ein sich selbst genügendes Geschehen, das dem zielgerichteten didaktischen Tun durchaus in die Quere kommt; immer ist die Sehnsucht spürbar, dass Musik als Kunst von früh an auch unter den Bedingungen von (Musik-)Schule Wirklichkeit werden solle.

Dieses „Andere“ der Instrumentaldidaktik, diese immerwährende Nähe zum Musizieren selbst, die der Disziplin etwas Nicht-Identisches einträgt, lässt sich im Verhältnis zum vermeintlich eigentlichen didaktischen „Geschäft“ auf unterschiedliche Weise denken. Elisabeth Aigner-Monarth und Natalia Ardila-Mantilla schildern zwei Zugänge zum Gruppenunterricht: Dieser kann als Raum expliziten Lehrens und Lernens und als Raum des Musizierens und des impliziten Lernens betrachtet werden. Anschließend bringen die beiden Autorinnen die Metapher des Oszillierens ins Spiel und verorten hier einerseits die didaktischen Qualitäten des Unterrichtens und andererseits den Ausgangspunkt eines auch der Kunst verpflichteten Handelns: „Erst die Oszillation ermöglicht, dass sich das Künstlerische im instrumentalen Gruppenunterricht vergegenwärtigen kann, dass es für die Lernenden einerseits realisierbar und andererseits präsent und erlebbar wird. Die Oszillation erzeugt sozusagen jene energetische Spannung, wodurch das Künstlerische im Hier und Jetzt hervorgebracht wird.“ Wichtig ist beiden Autorinnen, dass das solcherart hervorgebrachte Künstlerische jede Phase des Unterrichts durchdringen kann, also auch solche, die vordergründig dem expliziten Lehren und Lernen zuzurechnen wären.

Peter Röbke fasst, nachdem er in der Instrumentalpädagogik auf die Suche nach den Spuren des nicht didaktisch Verfügbaren gegangen und damit Phänomenen wie Glück, Spiel, Spiritualität, Als-Ob, Affekt oder Leiblichkeit begegnet ist, das Eintreten dieses „Anderen“ eher als plötzlich eintretendes Ereignis, als etwas, das den Gang der Dinge ändern kann, Hingabe und die Bereitschaft für das Unerwartete verlangt, ein Lauern auf jene Momente nahelegt, in denen Musik wirklich erfahren werden kann. Und ohne in irgendeiner Weise den systematischen Aufbau von Fähigkeiten und Fertigkeiten in Frage zu stellen, geht es auch um ein „Musizieren als gäbe es kein Morgen“ – der Musik und der Motivation zum Musizieren zuliebe.

Ulrich Mahlerts Beitrag lässt sich zum einen lesen als Darstellung der verschiedenen Erscheinungsformen des Glücks beim Musizieren, als Nachdenken über dessen Bedingungen und als Reflexion über die glücksfördernden Verhaltensweisen von Lehrenden, zum anderen aber auch als Exemplifizierung jener von Röbke angesprochenen nicht planbaren und unverfügbaren Glücks-Momente, als ein Gewahrwerden jener Augenblicke, die nur in geringem Maß herstellbar sind, die aber eintreten können, wenn Handeln mit Sinn und Bedeutung versehen ist: „Sorgen wir also als Pädagogen mit all unserer Aufmerksamkeit und Sensibilität zunächst dafür, dass Musik und Musizieren für Lernende Sinn sowie persönliche Bedeutungen gewinnen. Helfen wir ihnen dabei, auf dieser Grundlage Ziele zu erreichen. Dann ist wahrscheinlich auch das Erleben von Glück nicht fern.“

Wolfgang Lessing bringt eine neue Denkfigur ins Spiel – den Tanz auf der Schwelle: Er plädiert in seinem Beitrag dafür, das Verhältnis von Unterrichten und Musizieren als grundlegende Antinomie der Instrumentalpädagogik zu begreifen. Erst dann, so Lessing, werde der Blick frei für die zahlreichen weiteren Antinomien des Unterrichtens und für die Möglichkeiten erfüllten Musizierens, diese Antinomien aufzuheben. Dabei sei das Eintreten jener Momente des Musizierens als Schritt über eine Schwelle zu denken, über eine Schwelle, bei der das Erreichen der Ausgangssituation allerdings jederzeit wieder möglich ist: „Als Pole, die einander positiv gegenüberstehen, identifiziere ich einmal ein Unterrichten, das auf eine Musiziersituation hinzielt, sowie zum anderen ein Musizieren, dessen Intensität bei allen Beteiligten einen im Unterricht zu bearbeitenden Verbesserungswillen erzeugt.“

Bianka Wüstehube schließlich spitzt die Argumentation insofern zu, als sie anhand eines Projekts anschaulich zeigt, wie das Musizieren durchweg den Unterricht dominieren kann: „Von Beginn meiner Unterrichtstätigkeit an ist also das gemeinsame Musizieren im Gruppenunterricht das Herzstück meines musikpädagogischen Tuns. Ich weiß aus langjähriger Erfahrung, dass das Instrument im Musizieren erlernt werden kann – diese Methode sollte oberste Priorität in einem Instrumentalunterricht haben.“ Wüstehube erhebt diese Forderung vor dem Hintergrund einer Rückschau auf die Instrumentalpädagogik der vergangenen 25 Jahre, die unter anderem durch die Impulse der Elementaren Musikpädagogik inspiriert wurde, sich dem Musizieren im Hier und Jetzt zu öffnen. Für den weiteren Weg sei vor allen Dingen das Nachdenken über die pädagogische Grundhaltung der Lehrenden von größter Bedeutung.

Was bedeuteten diese Überlegungen für die Lehrkräfte und für die Anlage des Lehrens?

Natalia Ardila-Mantilla betont in ihrem Beitrag, dass es vor dem Hintergrund des Anspruchs, das Musizieren solle das Herzstücks des Unterrichts sein, unbedingt notwendig ist, die unterschiedlichen Zugänge von Lehrkräften zu grundlegenden Lehrinhalten und zu deren Vermittlung zu bedenken: Es macht einen großen Unterschied, wenn etwa Spieltechnik als Voraussetzung oder als inhärenter Bestandteil des Musizierens gesehen oder deren Erwerb eher gezielt durch Übungen oder eher implizit im Spiel von Stücken angestrebt wird.

Zugleich aber tritt die Autorin entschieden dagegen ein, nun jene „umzupolen“, die von Haus aus scheinbar eine größere Ferne zum Musizieren haben könnten. Dazu verweist sie auf die Differenz, das Aufeinander-angewiesen-Sein und die Transformationen von implizitem und explizitem Wissen und folgert, dass ein „tiefes, lebendiges, differenziertes Verständnis“ vom Phänomen des Musizierens nur möglich sei, „wenn sich Phasen des Handelns und Phasen der Reflexion im Lernprozess abwechseln und die zwei Formen des Lernens einander potenzieren“. Und somit geht es um die Wertschätzung und Nutzung beider Sphären des Lernens, des Lernens im Musizieren und des systematischen, reflexiven Lernens, sowie um offenen Austausch zwischen den VertreterInnen verschiedener musikalischer Praxen und instrumentaler Welten über die je bevorzugte Weise des Lehrens und Lernens.

Michael Rappe und Christine Stöger richten in ihrem Beitrag den Blick auf die weitgehend außerhalb institutionalisierten Unterrichts entstandene Tanz- und Lernkultur des Breaking. Zunächst fallen vor allem die großen Unterschiede in der Aneignung dieses Tanzes im Gegensatz zum instrumentalen Gruppenunterricht auf. Es handelt sich um eine hochgradig performative Praxis, in der viele der gängigen Unterscheidungen oder sogar kontraproduktiven Dichotomisierungen zwischen Üben und Aufführen, Nachahmen und Erfinden, Lernen und Lehren oder Einzelnem und Gruppe keinen Sinn zu machen scheinen. Das Verhältnis dieser Dimensionen changiert vielmehr je nach Situation und Beteiligten. Gerade in diesem Punkt eröffnen sich Bezüge zu anderen Beiträgen dieses Bandes, in denen das Überwinden des Gegensatzes zwischen sinnerfülltem Musizieren und pädagogisch intendiertem Aufbau von Fertigkeiten und Fähigkeiten thematisiert wird.

Wie kam es überhaupt zur Idee des Symposiums, was war letztlich die Initialzündung auch für dieses Buch? In der Instrumentalpädagogik ist der Gruppenunterricht ein mittlerweile recht altes Thema: Die wissenschaftliche Instrumentalpädagogik wie auch die instrumentenspezifische Fachdidaktik setzen sich seit vielen Jahren damit auseinander und in vielen Musikschulen ist auch der instrumentale Gruppenunterricht schon lange eine Realität. Dann aber zeigte die empirische Forschung zum JeKi-Projekt in Bezug auf den Umgang von InstrumentallehrerInnen mit dieser Unterrichtsform auf, dass InstrumentallehrerInnen – zumindest unter den JeKi-Bedingungen – nicht immer in der Lage sind, der Gruppensituation in didaktisch-methodischer Hinsicht gerecht zu werden. Aber selbst wenn der Gruppenunterricht didaktisch-methodisch bewältigt wird: Eher selten geraten wohl JeKi-Lehrkräfte mit ihren SchülerInnen in ein gemeinsames Musizieren im Sinne einer sich selbst genügenden und ästhetisch befriedigenden Praxis.

Daher steht am Beginn der Beiträge jener von Ulrike Kranefeld, ein Beitrag, der im Umfeld der eher normativ oder konzeptionell orientierten Beiträge dieses Buchs die empirische Unterrichtsforschung ins Spiel bringt. Kranefeld arbeitet die beobachtbaren Handlungs- bzw. Orientierungsmuster von Lehrenden heraus und weist darauf hin, dass sich diese in der Realität des Unterrichtens durchdringen. Die Interaktion von Lehrenden und SchülerInnen wird deutlich im Abschnitt „Wie vollzieht sich die Aushandlung von Differenz in der Unterrichtsinteraktion selbst?“: Der schnarrende Ton eines Schülers in einer Gitarrengruppe lässt seinen MitschülerInnen keine Ruhe…

Schließlich wendet sich Kranefeld dem Stellenwert des Lernziels „Musikalische Gestaltung“ bei JeKi-Lehrenden zu: Gegenüber der „normalen“ Musikschularbeit werden von diesen zwar der spielerische Zugang zur Musik und das gemeinsame Musizieren in den Vordergrund gestellt, zugleich aber die Arbeit an der musikalischen Gestaltung als eher weniger wichtig angesehen: Es liegt auf der Hand, dass dann das gemeinsame Musizieren nicht unbedingt auch in künstlerischer Hinsicht ein „Herzstück“ wäre.

Folgerichtig steht am Ende des Buchs der Beitrag von Birgit Walter, die aufzeigt, welche Konsequenzen das Nachfolgeprojekt von JeKi – nämlich „Jedem Kind Instrumente, Singen, Tanzen“ (JeKits) – aus den angesprochenen Problemen gezogen hat: „JeKits dreht das Verhältnis zwischen Instrumentalunterricht und gemeinsamem Musizieren um: Aus einem konsekutiven ‚zuerst Instrumentalunterricht, dann gemeinsames Musizieren‘ wird ein ‚gemeinsames Musizieren, darin integriert Instrumentalunterricht‘.“ Linda Aicher schließlich bettet in ihrem Bericht über eine Poster-Session des Symposiums die Neukonzeptionierung von JeKi in eine Projekt- und Forschungslandschaft ein, in der Projekte wie das Wiener ELEMU (Elementares Musizieren), das El Sistema-inspirierte Superar oder das Monheimer Modell auf Forschungsvorhaben stoßen, die sich der Arbeit in Streicher- und Bläserklassen, Impulsen der volksmusikalischen Praxis für die traditionelle Instrumentalpädagogik oder der Orientierung in dieser Landschaft (Website IGU – Instrumental Gemeinsam Unterwegs) widmen.

Die Beiträge dieses Bandes zeigen unterschiedliche Möglichkeiten, das Musizieren als Ausgangspunkt des instrumentalen Gruppenunterrichts theoretisch zu fassen und praktisch in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen. Es bleibt zu wünschen, dass diese Möglichkeiten im theoretischen Diskurs und in der Unterrichtspraxis erprobt und weiterentwickelt werden, damit der instrumentale Gruppenunterricht sein volles Potenzial entfalten und damit den instrumentalpädagogischen Diskurs – auch jenen über den Einzelunterricht – stärker als bisher prägen und beflügeln kann.

Wir danken den AutorInnen für ihre spannenden und persönlich geprägten Beiträge, den SymposiumsteilnehmerInnen für ihre vielen bereichernden Anmerkungen, insbesondere den Rektoraten der drei beteiligten Musikhochschulen für die Unterstützung des Symposiums bzw. für die Ermöglichung dieser Publikation.

Natalia Ardila-Mantilla

Peter Röbke

Christine Stöger

Bianka Wüstehube

Herzstück Musizieren?

EIN EMPIRISCHER BLICK AUF HANDLUNGS-
UND ORIENTIERUNGSMUSTER VON LEHRENDEN
IM INSTRUMENTALEN
GRUPPENUNTERRICHT

ULRIKE KRANEFELD

Die Frage, was einen guten Instrumentalunterricht bzw. ein erfülltes Musizieren in der Gruppe ausmachen könnte, ist innerhalb der musikpädagogischen Forschung sowohl Gegenstand normativer bzw. konzeptioneller Überlegungen als auch Hintergrund empirischer Untersuchungen, wie die Beiträge in diesem Tagungsband facettenreich zeigen. Dabei beziehen die Initiatoren der Tagung in Wien 2015 schon mit der Wahl des Tagungstitels Position: Ziel bzw. Bedingung eines Unterrichts, der Musizieren als Herzstück betrachtet, sollte es demnach sein, differenziert zu lehren, individuell zu fördern und den gemeinsamen Klang zu entwickeln. Damit sind zentrale Qualitätsmerkmale benannt, die die musikpädagogische Diskussion seit jeher – aktuell verstärkt auch im Kontext des Umgangs mit heterogenen Lernvoraussetzungen in inklusiven Kontexten – beschäftigen.

Für meine folgende empirische Perspektive auf den instrumentalen Gruppenunterricht wird der Begriff der Qualität insbesondere dann produktiv, wenn man ihn auf seinen lateinischen Ursprung als qualitas, also Beschaffenheit, zurückführt. Es stellt sich also die Frage: Wie ist die Praxis des aktuellen instrumentalen Gruppenunterrichts beschaffen im Hinblick auf die Aspekte Differenzierung und Individuelle Förderung und welche Rolle spielt in der Praxis das Ziel, einen gemeinsamen Klang zu entwickeln?

In Bezug auf den Forschungsgegenstand bedarf es der Einschränkung, dass sich die folgenden Ergebnisse grundsätzlich nur auf ein bestimmtes Praxisfeld, nämlich auf den instrumentalen Gruppenunterricht im Programm „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) beziehen, wie er in den Jahren 2008 bis 2013 in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde,1 und die Reichweite der Ergebnisse auf die untersuchten Fälle beschränkt ist. Dennoch sind die Einblicke in diese spezifische Praxis vermutlich auch für andere Kontexte instrumentalen Gruppenunterrichts relevant.

Eine Stärke des empirischen Zugriffs liegt grundsätzlich darin, Orientierungs- und Handlungsmuster der beteiligten Akteure erfassen zu können und so – auch jenseits des Blicks auf die konzeptionellen Überlegungen der Programmentwickler – die Beschaffenheit eines Programms beschreiben zu können – und zwar im Kontext seiner aktuellen Praxis. Dahinter steht die Vermutung, dass die didaktische Praxis eines solchen Programms zu einem großen Teil durch die jeweiligen individuellen Handlungsmuster der beteiligten Lehrkräfte geprägt wird. Dies gilt umso mehr für die Anschubphase eines Programms wie „Jedem Kind ein Instrument“, in dem für die Lehrenden nicht von Beginn an vollständig deutlich wurde, welche Ziele mit dem Programm verfolgt werden sollten.

Erst im Lauf der Jahre entstand ein Zieldiskurs, in dem JeKi je nach disziplinärem und weltanschaulichem Standpunkt als „kulturelle Teilhabe“ (Landmann 2012), als „flächendeckende Basismusikalisierung“ (Grunenberg und Gerland 2010), als „musikalische Alphabetisierung“ (Völckers 2007) oder doch als Chance, „die Teilnahme aller zu sichern und gleichzeitig die Spitzenleistung einiger Schüler möglich zu machen“ (Lepenies 2010), gedeutet wurde. Zudem sieht Peter Röbke in JeKi die Möglichkeit zur Verwirklichung einer „musikalischen Praxisgemeinschaft“ (Röbke 2010). Angesichts dieser Diversität und teilweise auch Pauschalität der Zielformulierungen werden die individuellen Zugänge der Lehrenden umso bedeutsamer.

Deshalb möchte ich im Folgenden exemplarisch drei Fragestellungen zu Orientierungs- und Handlungsmustern von JeKi-Lehrenden verfolgen, denen wir zuletzt in Studien2 zum instrumentalen Gruppenunterricht in JeKi nachgegangen sind, und diese dabei auf die drei Themenschwerpunkte des Tagungsthemas beziehen:

1. Differenziert lehren: Wie positionieren sich Lehrende im Spannungsfeld zwischen Einzelförderung und Gruppenfokus?

2. Individuell fördern: Wie vollzieht sich die situative Aushandlung von Differenz in der Unterrichtsinteraktion selbst?

3. Den gemeinsamen Klang entwickeln: Welche Relevanz geben Lehrende dem Lernfeld musikalische Gestaltung im instrumentalen Gruppenunterricht?

Die Varianz der methodischen Zugriffe3 reicht dabei von der videobasierten, fallübergreifenden Rekonstruktion typischer Handlungsmuster von Lehrenden (1.) über die fallbezogene Interaktionsanalyse einer Unterrichtssequenz (2.) bis hin zur quantitativen Auswertung einer Befragung von Lehrenden (3.). Deutlich wird hier, dass sich empirische Forschung aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf den Unterricht richten kann und dabei den „Gegenstand Unterricht“ jeweils neu konstituiert: als Gestaltungsraum für Lehrende (1.), als Interaktion der beteiligten Akteure (2.) und als Reflexionsgegenstand von Lehrenden (3.).

1. Differenziert lehren

Das oben erwähnte anfängliche Zielvakuum im Programm JeKi kann einerseits von Lehrenden als Belastung angesehen werden, positiv gewendet stellt es aber auch einen relativ großen individuellen Handlungsspielraum dar. Allerdings fordert dies wiederum von den Lehrkräften zwingend ein, sich mit ihrer Art und Weise der Gestaltung des Unterrichts in diesem relativ offenen Feld zu positionieren, also je eigene Inszenierungsmuster zu entwickeln. In der videobasierten Unterrichtsforschung wird der Begriff des Inszenierungsmusters verwendet, „um Sozialformen, unterschiedliche inhaltsbezogene Lehrer- und Schüleraktivitäten und vor allem deren Funktion im Lernprozess in ihrer Anordnung und Sequenzierung im zeitlichen Verlauf der Unterrichtseinheit zu beschreiben“ (Hugener 2008, 92).

Wie unterschiedlich solche Inszenierungsmuster aussehen können und wie Lehrende damit den Unterricht je unterschiedlich deuten, zeigt exemplarisch ein kurzer Blick in die Praxis des Ensembles Kunterbunt, einer zusätzlichen Ensemblestunde, die ab der dritten Klasse als Ergänzung des instrumentalen Gruppenunterrichts in JeKi angeboten wird und mit Gruppen bis zur Klassenstärke durchgeführt wird.4 Hier findet man ganz unterschiedliche Formate der Umsetzung, die im Folgenden in einem polarisierenden Vergleich zweier Fälle aus unserer Stichprobe zugespitzt werden:

■ Lehrkraft A stellt eine typische Schulorchestersituation her. Die Kinder werden in homogene Stimmgruppen aufgeteilt und es wird entsprechend im Raum eine feste Orchestersitzordnung mit dem Lehrenden als Dirigenten in zentraler Position etabliert. Auf dieser Basis wird eine klassische Probensituation hergestellt. Entsprechend wird in der Ensemblestunde im Modus des kontinuierlichen Wechsels von Stimmgruppenübung und Spiel im Plenum gearbeitet.

■ Lehrkraft B dagegen lässt alle Kinder sich unabhängig von ihrer Instrumentengruppe im Raum aufstellen und sie anschließend gemeinsam eine grafische Notation verklanglichen, die die Kinder zuvor in der Lerngruppe entwickelt haben. Angezeigt wird der Verlauf der Komposition von einer Schülerin, die Lehrerin tritt zur Seite und begleitet den Prozess von der „Seitenlinie“.

Allein schon der vergleichende Blick auf die beschriebenen „Raumordnungen“ (Dinkelaker und Herrle 2009, 52) spiegelt die sehr unterschiedliche Deutung des Formats Ensemble Kunterbunt durch die zwei Lehrkräfte und damit zwei kontrastierende Inszenierungsmuster.

Auch im instrumentalen Gruppenunterricht, dem anderen Unterrichtsformat in JeKi, gibt es Bereiche, in denen Lehrende durch ihr Handeln spezifische Inszenierungsmuster entwickeln. In der Bielefelder Evaluationsstudie zum Gruppen-Instrumentalunterricht (BEGIn), in der wir insgesamt siebzehn Instrumentalgruppen über zwei bzw. drei Jahre in Nordrhein-Westfalen und Hamburg5 videografisch begleitet haben, wurden Kategorien zur Beschreibung von JeKi-spezifischen Inszenierungsmustern entwickelt. Gleichzeitig wurde versucht, die Genese von möglichen Problemstellen zu verstehen. Dazu gehört zentral die Positionierung der Lehrenden im Spannungsfeld von Einzelbetreuung und Gruppenbetreuung. Hierzu konnten vier relevante Inszenierungsmuster voneinander unterschieden werden (Kranefeld et al. 2015; Kranefeld und Dücker 2013):

1. Ausschließlicher Plenumsbezug,

2. Sequenzieller Einzelunterricht,

3. Ritualisierter Wechsel von Plenumsbezug und Einzelbetreuung,

4. Aufrechterhaltung eines Beschäftigungsradius bei gleichzeitiger Einzelbetreuung.

Charakteristisch für das jeweilige Inszenierungsmuster ist – analytisch betrachtet – die je spezifische Kombination der Ausprägung der Kriterien der Involviertheit der Kinder der Lerngruppe und der Zuwendung der Lehrkräfte zu Einzelnen:

■ Beim Sequenziellen Einzelunterricht (Inszenierungsmuster 2) etwa gibt es keine Involviertheit der übrigen Kinder bei intensiver Zuwendung zu einem einzelnen Schüler oder einer einzelnen Schülerin, die nacheinander allen Kinder der Gruppe zuteil wird.

■ Im Kontrast dazu spielt beim Inszenierungsmuster Ausschließlicher Plenumsbezug (Inszenierungsmuster 1) die individuelle Rückmeldung kaum eine Rolle. So werden Korrekturhinweise hier in der Regel nicht individuell gegeben, sondern werden an das gesamte Plenum formuliert. Als Reaktion (auch auf individuelle Schwierigkeiten) lassen die Lehrenden die Passage dann noch einmal gemeinsam spielen, ohne Einzelne besonders anzusprechen. In einigen Fällen betonen Lehrkräfte den Plenumsbezug noch dadurch, dass sie sich selbst in das Plenum – zumindest sprachlich – miteinbeziehen mit Formulierungen wie: „Worauf müssen wir bei dieser schwierigen Stelle achten?“

Die beiden Extrempositionen von Sequenziellem Einzelunterricht und Ausschließlichem Plenumsbezug werden ergänzt durch zwei Inszenierungsmuster, die Einzel- und Gruppenbetreuung stärker verbinden, allerdings in sehr unterschiedlichen Formaten, die man als konsekutiv und integrativ bezeichnen könnte.

Im Muster des Ritualisierten Wechsels von Plenumsbezug und Einzelbetreuung (Inszenierungsmuster 3) entsteht die Verbindung konsekutiv in der kurzfristigen Abfolge von Gruppenbetreuung und Einzelbetreuung. Auf Phasen des gemeinsamen Spiels eines musikalischen Abschnitts folgen jeweils sehr kurze Einzelspielphasen der Schülerinnen und Schüler mit der gleichen Passage, meist in derselben Reihenfolge und gegebenenfalls mit kurzer, individueller Rückmeldung des Lehrenden.

Fachdidaktisch besonders interessant sind die Unterrichtsszenen, in denen der Beschäftigungsradius der Gruppe aufrechterhalten wird und gleichzeitig eine Einzelbetreuung stattfindet (Inszenierungsmuster 4). Den Begriff Beschäftigungsradius nutzt Jacob Kounin als Beobachtungskategorie zur „Charakterisierung des Unterrichtsaufbaus im Hinblick darauf, wie stark sich die Gruppenmitglieder an den Aktivitäten beteiligen müssen“ (Kounin 2006, 120). Entsprechend den oben genannten Kategorien gilt die Zuwendung der Lehrkraft sowohl der Gruppe als auch speziell einem einzelnen Schüler und alle Gruppenmitglieder sind involviert. Während die Lehrerin oder der Lehrer sich individuell einem einzelnen Kind widmet, sollen die anderen Kinder zum Beispiel

■ zuhören und Töne erraten,

■ sich gegenseitig beobachten, um anschließend untereinander Feedback zu geben,

■ stumm auf dem Instrument mitspielen oder

■ das solistische Spiel eines einzelnen Schülers begleiten, der aktuell im Fokus der Zuwendung steht: Eine Cello-Lehrerin wendet sich z. B. jeweils nacheinander einem einzelnen Kind zu, unterstützt es bei der Bogenführung und gibt individuelle Hilfestellungen, leitet gleichzeitig die anderen dabei an, im Pizzicato das Streichen auf der leeren Saite zu begleiten (vgl. Kranefeld et al. 2015). Dies sind Beispiele für Versuche von Lehrenden, die Einzelbetreuung und die Aufmerksamkeit für die Gruppe integrativ zu verbinden.

Bei den beschriebenen Inszenierungsmustern handelt es sich zunächst lediglich um „beobachtbare Oberflächenstrukturen“ (Hugener 2008, 93) von Unterricht, die per se keine Auskunft über die Qualität des Unterrichts geben, sondern zunächst jenseits normativer Bewertung dazu dienen können, Handlungsmuster von Lehrenden systematisch zu beschreiben und zu unterscheiden.

Diese können anschließend unter unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, etwa auch in Bezug auf Merkmale guten Unterrichts, wie sie die Unterrichtsqualitätsforschung diskutiert, etwa die Frage nach dem Anteil aktiver Lernzeit6 an der Unterrichtszeit: Wird etwa ein Sequenzieller Einzelunterricht konsequent und ausschließlich durchgeführt, so werden die Kinder in der Regel nacheinander „instruiert“, die übrigen Kinder sind in der Zeit unbeschäftigt und es entsteht für sie die Situation, die Kounin als „untätiges Warten“ (Kounin 2006, 124) und Lohrmann als „ungenutzte Lernzeit“ (Lohrmann 2008, 97) beschrieben haben und die dort als Ursache für Störungen bzw. für Langeweile assoziiert wird. Bei einem so ausgerichteten JeKi-Unterricht wird dann die steigende Gruppengröße unweigerlich zum Problem, das Unbeschäftigtsein der Kinder wird durch die Anzahl der Einzelbetreuungsphasen vervielfacht. Gerade der Anteil aktiver Lernzeit wird aber in der empirischen Unterrichtsforschung als „wichtigste Voraussetzung für wirkungsvolles und erfolgreiches Lernen“ (Weinert 1996, 124) angesehen. Anders verhält es sich beim Inszenierungsmuster 4, bei dem durch die Aufrechterhaltung eines Gruppen-Fokus (Kounin 2006) ein hoher Anteil aktiver Lernzeit für alle Kinder in der Stunde entsteht.

Keine der von uns beobachteten Lehrpersonen hat ausschließlich ein einziges Inszenierungsmuster genutzt, dennoch ließ sich bei den meisten Lehrkräften eine Bevorzugung eines dieser Inszenierungsmuster konstatieren, die bei der oben beschriebenen Überbetonung zu charakteristischen Problemstellen führen kann. Dies gilt ebenso für die konsekutive Verknüpfung von Einzelzuwendung und Plenumsphasen, wenn – wie in einem beobachteten Fall – der ritualisierte Wechsel zum bestimmenden Muster einer gesamten Unterrichtsstunde wird und die Abläufe für die Schülerinnen und Schüler somit monoton und vorhersehbar werden und damit wenig Überraschungen oder Abwechslung bieten.

Neben dem Aspekt einer aktiven Lernzeit kann man die unterschiedlichen Inszenierungsmuster auch vor dem Hintergrund eines anderen häufig genannten Merkmals guten Unterrichts diskutieren, etwa unter dem Aspekt des angemessenen Umgangs mit Differenz. Bestimmte Formate des instrumentalen Gruppenunterrichts können ein grundsätzliches Dilemma sichtbar machen: Sobald individuelle Rückmeldungen vor dem Plenum der Gruppe (als Publikum) stattfinden, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, Kinder (auch unabsichtlich) zu exponieren, insbesondere wenn sie in der musikalischen Aktivität isoliert werden, indem sie noch einmal gesondert vorspielen müssen.7 So könnte etwa ein Ausschließlicher Plenumsbezug wie im Inszenierungsmuster 1 dazu beitragen, kein Gruppenmitglied besonders hervorzuheben oder den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber zu exponieren. Im integrativen Inszenierungsmuster 4 wird die Exposition,8 die durch die Zuwendung zum Einzelnen entstehen könnte, abgemildert, weil die anderen Kinder ebenfalls in die musikalische Aktivität involviert sind. So wird eine „Isolierung in der musikalischen Aktivität“, die Kerstin Heberle und Ulrike Kranefeld (2012 b) als einen möglichen Beitrag zur Exposition von Schülerinnen und Schülern in der Gruppe identifiziert haben, vermieden: Die übrigen Kinder bleiben nicht unbeteiligte Zuschauer, sondern Akteure im gemeinsamen Spiel.

Unterricht als Gestaltungsraum für Lehrende

Die Rekonstruktion von Inszenierungsmustern auf der Ebene von Oberflächenstrukturen fokussiert in der Tradition der empirischen Unterrichtsforschung fast ausschließlich das Lehrerhandeln. Unterricht wird hier also durch den spezifischen Forschungszugriff als Gestaltungsraum der Lehrenden gedeutet, um ihre Inszenierungsmuster systematisch zu erfassen. Dass durch die ausschließliche Fokussierung auf die Lehrerrolle automatisch wichtige Phänomene, die sich innerhalb der Interaktion der beteiligten Akteure vollziehen, ausgeblendet werden, zeigt zum Beispiel Peter Röbkes Idealbild einer musikalischen Praxisgemeinschaft, in der Lernimpulse nicht unweigerlich nur von der Lehrkraft ausgehen: „Wissen und Können zirkulieren unter allen Beteiligten. Lehrer- und Schülerrollen bilden sich vielleicht für den Moment heraus, lösen sich auf, bilden sich wieder neu.“ (Röbke 2010, 49)

Inwieweit man solche Interaktionsprozesse als wesentlichen Bestandteil der Praxis rekonstruieren kann, zeigt die folgende Perspektive.

2. Individuell fördern

Die hier vorgestellte zweite Perspektive auf den instrumentalen Gruppenunterricht richtet sich auf die individuelle Förderung in der Gruppensituation und die damit verbundene Frage zum Verhältnis von individueller Rückmeldung bei Fehlern und der möglichen Gefahr einer negativen Exposition. Zu bedenken ist dabei, dass der instrumentale Gruppenunterricht etwa im Vergleich zum Klassenunterricht in der allgemeinbildenden Schule wie kaum ein anderes Unterrichtssetting Leistungsdifferenzen präsent werden lässt, weil sie für alle hörbar werden (Heberle und Kranefeld 2014).

An einer Unterrichtssequenz soll im Folgenden gezeigt werden, wie ein Lehrender versucht, die Gefahr einer Exposition zu umgehen, und wie sich die damit verbundene Aushandlung von Differenz in einem Gruppenprozess vollziehen kann. Im Gegensatz zum Vorherigen wird nun aber nicht die Oberflächenstruktur des Unterrichts betrachtet, sondern die Interaktion der beteiligten Akteure als Tiefenstruktur des Unterrichts in den Blick genommen.

Zum Kontext der Situation